Mai 1968 in der Retrospektive des Regisseurs Louis Malle. Eine Untersuchung narrativer und filmischer Gestaltungsmittel in "Milou en Mai"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung

2. Milou en Mai als filmische Heterotopie

3. Malles Bewertung durch die Konstruktion der Charaktere und Utopien
3.1. Transformation der Protagonisten
3.2. Die gemeinsame Utopie
3.3. Der Rückfall in die alten Rollen und die Zerstörung der Utopie

4. Zur filmischen Gestaltung

5. Fazit

6. Literatur

7. Filmmaterial

Anhang:

Sequenzprotokoll zu Milou en MaiI

1. Einleitung

In den 60er Jahren kam es in Europa und Amerika zu einer neuen Protestbewegung mit einem breit gefächerten Spektrum an Forderungen, Kritik an bestehenden Institutionen und alternativen Lebensentwürfen.[1] In den USA entstand aus der Anti- Vietnam-Bewegung die Hippiekultur als Lebensweise mit (psychedelischer) Rockmusik, Kunst, der „sexuellen Befreiung“ und dem Konsum von Marihuana und dem neu entdeckten LSD.[2] In Deutschland waren es vor allem die Studenten, die durch Besetzungen von Universitäten und Demonstrationen eine Reform der Staats- und Bildungspolitik forderten. Andere Strömungen wie die Abrüstungsbewegung und die seit 1959 existierende Opposition gegen die Notstandsgesetze trugen zur Gründung der außerparlamentarischen Opposition (APO) als Gegengewicht zur ‚Großen Koalition’ bei.[3]

In Frankreich hingegen solidarisierten sich die Studenten bis zum Höhepunkt der Proteste im Mai 1968 mit den politischen Gewerkschaften und somit mit der Arbeiterschaft. Ziele und Forderungen der Proteste gegen die konservative Regierung de Gaulles waren unter Anderen eine Reform der Bildungspolitik und die Einführung von Mindestlöhnen. Den Höhepunkt der Proteste bildete der größte Generalstreik der Geschichte Frankreichs mit landesweit bis zu neun Millionen Beteiligten der Gewerkschaften und Studenten am 13. Mai.[4] Durch Blockaden und massive Streiks an den Universitäten und in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft wurde die Infrastruktur des Landes erheblich gestört. Nach einer Fernsehansprache de Gaulles am 24. Mai kommt es zu heftigen Kämpfen zwischen Demonstranten und der Polizei mit über 1000 Verletzten und auch Todesopfern. Nachdem Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften gescheitert sind und große Teile Frankreichs im Chaos versinken, flüchtet De Gaulle zu General Massu nach Baden-Baden. Durch das entstandene Machtvakuum entstand unter der Bevölkerung große Furcht vor einer Revolution und einem Umsturz in die Anarchie. In einer zweiten Rede am 30. Mai gibt de Gaulle die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen für Juni 1968 bekannt.

Daraufhin kommt es zu spontanen Gegendemonstrationen von de Gaulles Anhängern. Unter dem Versprechen für soziale, tarifliche und bildungspolitische Reformen gewinnt er die Neuwahlen im Juni 1968 mit einer deutlichen Mehrheit. Seit dieser Epoche werden die Geschehnisse dieser Zeit immer wieder in wissenschaftlicher Literatur und Romanen, in der Musik und der Kunst thematisiert, reflektiert und retrospektiv kritisiert. Robert Frank nach stellte sich hier bald eine gewisse Eigendynamik ein:

„Dieser Geist von 1968 entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einem Mythos. Symbol einer neuen politischen Kultur, die durch Solidarität, eine kritische und wachsame Haltung und ein neues Set kultureller Praktiken gekennzeichnet ist, übernimmt dieser Mythos des sozialen Wandels, eines verbindenden Gründungsmythos, der als Legitimationsbasis für das Handeln einer Generation dient.“[5]

Diese Transformation der Protestkultur in Mythen und Stereotypen lässt ein vages Bild entstehen, das Michael Lommel auch mit „Chiffre 68“ bezeichnet:

„Keine politische Bewegung ist so auf ihre eigenen Mythen und Klischees hereingefallen wie die 68er. Die meisten dieser Klischees sind sogar nicht einmal falsch. Trotzdem sage ich: Alles war anders, nämlich viel widersprüchlicher, mehrdeutiger, spielerischer. Schon in der Definition „68“ verengt sich alles zur Schablone“[6]

J. Tanner zufolge „sei die Subkultur mit ihrem demonstrativen Konsum von Drogen, Rock- oder Popmusik selbst von einer ‚Unterhaltungskomponente’ mit ‚Kom- merzialisierungstendenz’ geprägt gewesen“[7]. Gerade in der retrospektiven Betrachtung dringt der Vorwurf der opportunistischen, ‚karnevalesken’ Teilnahme an der Protestbewegung ohne wirkliche politische Partizipation durch.

Diese Arbeit entsteht im März 2008. Im Laufe der letzten Monate kam es in der Medienlandschaft zu einer zunehmenden Berichterstattung zu diesem Thema. In verschiedenen Zeitschriften gibt es Sonderreihen zur Hippie-Bewegung, den Studentenrevolten, und dem Terrorismus der RAF. Besonders in den politisch linken Milieus dringt die Stimmung eines 40-jährigen „Jubiläums“ durch.

Milou en Mai entstand 1989, fast 20 Jahre nach den Revolten in Paris und der letzten Woche im Mai 1968, in der die Handlung des Films spielt. Malle selber stammt aus der südfranzösischen Provinz und ist das fünfte von sieben Kindern einer der reichsten Industriellenfamilien Frankreichs.[8] Nachdem er in Indien längere Zeit an einem Dokumentarfilm gearbeitet hatte, kehrte Malle im Mai 1968 nach Frankreich zurück und beteiligte sich aktiv an den Protesten. Nachdem es an der Cinémathèque Française schon im Februar Demonstrationen gegen die Absetzung des Direktors Alain Touraine gegeben hatte, erklärte Malle den Rücktritt der Jury in Cannes und beendete die Filmfestspiele damit vorzeitig.[9]

In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit der Frage, wie Malle die Ereignisse im Mai 1968 bewertet und welche narrativen Strategien und filmischen Mittel er dazu in Milou en Mai verwendet. Dazu werde ich in Kapitel 2 auf die Konzeption des Films als Komödie und filmische Heterotopie eingehen. In Kapitel 3 beschäftige ich mich zunächst mir dem dritten Teil der Komödie. Hier werde ich herausstellen, wie Malle seine Bewertung und Kritik in die Transformation der Protagonisten (Kap. 3.1.) und ihre gemeinsame Utopie (Kap. 3.2.) einbringt und welcher filmischen Mittel er sich dabei bedient (Kap. 3.3.). Die Ergebnisse werde ich in Kapitel 4 mit dem vierten Teil und dem Ende des Films in Relation setzen. In meinem Fazit werde ich anhand der Ergebnisse der Analyse die Bewertung Malles in der Retrospektive nach zwanzig Jahren zusammenfassen.

2. Milou en Mai als filmische Heterotopie

Die Handlung von Milou en Mai spielt in der letzten Maiwoche 1968 in der südfranzösischen Provinz zwischen Toulouse und Bordeaux[10], fernab von den Protesten in der französischen Hauptstadt. Malle drehte Milou en Mai (deutscher Titel: Komödie im Mai) nach dem aristotelischen Prinzip der Komödie in fünf Teilen[11], mit der Etablierung der Verhältnisse, der Zuspitzung der Problemstellung bis zur Klimax im dritten Teil, der Katastrophe im vierten und der Entspannung[12], der Wiederkehr in die gewohnten Verhältnisse im fünften Teil. Malle wahrt auch hier die Einheit der Zeit[13] und des Ortes[14]. Durch die erste Szene, in der Milou und der Hausangestellte Leonce einen Bienenschwarm mit lateinischen Zitaten von Vergil beruhigen, rückt Malle den Film in eine utopische Landschaft, in der die verschiedenen Protagonisten die an den Ereignissen der 1968er beteiligten Gruppen, ihre Meinungen und Forderungen darstellen. Der Film wird immer wieder durch surreale Elemente wie das Erscheinen einer Eule oder der Katze oder dem plötzlichen Auftreten von Milous toter Mutter bis hin zum surrealen Ende, an dem sie zuerst am Piano, dann mit Milou tanzend wieder aufersteht.

Lommel grenzt die Heterotopie nach Foucault im Gegensatz zur Utopie ab, in der „[…] Projektionen der realen Gesellschaft […] gänzlich außerhalb der Gesellschaft platziert und doch umso enger an das Bestehende gekoppelt“ [15] sind. In Milou en Mai kombiniert Malle sowohl Vergangenheit und Gegenwart, als auch An- und Abwesenheit zum Geschehen in einer filmischen Heterotopie und Heterochronie.[16] Durch die Verortung der Handlung in die ländliche Abgeschiedenheit des Anwesens kann Malle die Protagonisten und somit die Gruppen und die Ideologien, die sie darstellen, auf engstem Raum miteinander koexistieren und reagieren lassen. Der räumliche Abstand der französischen Provinz zur Hauptstadt ermöglicht gleichzeitig aber auch die Distanz auf der Zeitebene, nämlich die zwanzig Jahre, die zwischen der Mairevolte und dem Dreh des Films liegen und

die retrospektive Bewertung ausmachen. Während des Films spielt das Radio eine wichtige Rolle zur Herstellung der Zeitbezüge. Malle setzt durch das Radio die Zeit, die die Familie in dem Anwesen in der Provinz verbringt, in konkreten Zusammenhang mit den Ereignissen in Paris. Gleich zu Beginn des Films meldet das Radio die Ausweitung des Generalstreiks auf nahezu alle Bereiche des Landes, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studenten und die Beteiligung der Arbeiter am Streik. Im Folgenden aktualisieren die Radiomeldungen im O-Ton immer wieder den Zeitbezug, indem konkrete Eckdaten der Maiproteste wie zum Beispiel die Ausweisung Daniel Cohn-Bendits oder die Ansprachen de Gaulles erwähnt werden.

3. Malles Bewertung durch die Konstruktion der Charaktere und Utopien

In diesem Teil werde ich mich nicht primär auf die Etablierung der Protagonisten und ihrer Symbolik im zweiten Teil des Filmes beziehen, sondern auf die Transformation der Einstellungen und das abweichende Verhalten der Charaktere während der letzten Maiwoche. Im Folgenden werde ich die Entwicklung der Charaktere im dritten Teil von Milou en Mai beschreiben. Dabei werde ich auch die Strategien untersuchen, die Malle benutzt, um dem Zuschauer ein bestimmtes Bild zu vermitteln und die Interpretation in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Bewertung Malles äußert sich hier vor allem in zwei Aspekten: Der Entwicklung der Charaktere und der Erschaffung einer gemeinsamen Utopie.

3.1. Die Transformation der Protagonisten

Louis Malle lässt die Protagonisten opportunistisch und ‚karnevalesk’ an den Ereignissen in Paris teilhaben. Immer wieder nutzt er die kindliche Perspektive, um die Aussagen und Forderungen der Erwachsenen in Frage zu stellen. Camilles Tochter Françoise blickt neugierig, amüsiert und prüfend auf, wenn sie die Gespräche der Erwachsenen belauscht. Ihren zumeist an Milou gerichteten Fragen geht dieser jedoch nur peinlich berührt aus dem Weg; nicht zuletzt aus fehlender Legitimation seines eigenen Handelns. Im Gegensatz zu den an der Revolte beteiligten Gruppen gehören die Protagonisten in Milou en Mai bis auf wenige Ausnahmen der gehobenen Mittelschicht an, die von den Demonstranten gestellten Forderungen nach Sozialreformen und Mindestlöhnen tangieren sie kaum. Die bourgouise Claire und der Gaullist George lehnen die Proteste anfangs ab, sie sind empört über die aus den Blockaden und dem Generalstreik resultierende Lebensmittel-und Treibstoffknappheit. Claire empfiehlt beim gemeinsamen Essen die Armee zur Bekämpfung der Revolte: „Ein bisschen mehr die Peitsche und alles hätte längst ein Ende haben können. In Frankreich will doch keiner eine Revolution“[17]

Nachdem Milou, angesichts des Wegfalls der ‚Macht’ durch den Tod seiner Mutter, als Erster revolutionäre Tendenzen zeigt (er bandelt mit Georges Freundin Lilly an und singt als erster die „Internationale“), stimmen auch die anderen Protagonisten zur Hälfte des Films (mit der ersten Ansprache de Gaulles vom 24. Mai) in die revolutionäre Stimmung ein. Mit dem Eintreffen von Grimaldi und Pierre (zeitgleich mit dem Stromausfall auf dem Anwesen) ist die Gemeinschaft schließlich vollständig besetzt und die Aufstände in Paris und ganz Frankreich in vollem Gange. Obwohl die Protagonisten noch in ihren vorgeprägten Vorstellungen und Werten denken und handeln, erhöht sich der Diskurs um die Revolten in Paris, die nun von verschiedenen Seiten diskutiert werden. Die bruchstückhafte Übertragung durch das Radio lässt hierbei die individuelle Interpretation in der Imagination der Protagonisten zu.

Durch die stark heroisierten und romantisierten Neuigkeiten, die Pierre und Grimaldi aus der Hauptstadt bringen (Pierre: „Alle umarmen sich.“[18]), lösen sich die Anderen nach und nach von ihren Einstellungen und entwickeln Sympathie für ihre Situation. Pierre zeigt Lilly und Marie seine Verletzungen von den Kämpfen mit der Polizei und bezieht sich auf die tatsächlichen Orte der Demonstrationen (die Börse, die Rue del Sac), jedoch nur um ihnen zu imponieren. Anstatt über politische Inhalte zu reden, schwärmt er eher von freier Liebe und Revolution. Malle zeigt in vielerlei Hinsicht die gute Situierung jedes Einzelnen der Familie. Sie alle gehören der gehobenen Mittelschicht an und repräsentieren somit eine Schicht, die an den realen Aufständen in Paris keine tragende, sondern eher eine passive bis Opferrolle spielte. Sogar Pierre, der sich in Paris aktiv an den Protesten beteiligte, stammt aus diesem wohlhabenden Milieu und muss sich wahrscheinlich um die Finanzierung seiner Ausbildung keine Gedanken machen. Aufgrund fehlender realpolitischer Legitimation

[...]


[1] Neben Sekundärliteratur von Ingrid Gilcher-Holtey und anderen Autoren wurde zur Vorbereitung auf dieses Thema auch „La Chienlit - Dokumente zur französischen Mai-Revolte“ herangezogen. In diesem, im Auftrag des Komitees der Bewegung des 22. März herausgegebenen, Sammelband finden sich auf 500 Seiten die Texte von Flugblättern, politischen Reden und Pressemeldungen aus Frankreich und der ganzen Welt zum Pariser Mai.

[2] Vgl.: Gilcher-Holtey, 1998, S.4-8.

[3] Vgl.: Ebd. S.5.

[4] Vgl.: Ebd. S. 22-24.

[5] Frank, S. 307.

[6] Lommel, S. 6.

[7] Lommel, S. 7.

[8] Vgl.: Arnold, S. 125-127.

[9] Ein Ausschnitt aus dem französischen Fernsehen zeigt Louis Malle mit Jean-Luc Godard, Roman Polanski, Francois Truffaut und anderen Regisseuren von einem großen, studentischen Publikum. Nach dem Rücktritt der Jury kommt es zur Besetzung des Gebäudes und Auseinandersetzungen mit der Polizei mit zahlreichen Festnahmen und Verletzungen auf beiden Seiten. Vgl.: http://de.youtube.com/watch?v=zgWVrZbXmJE (Letzter Abruf: 20.03.2008).

[10] Louis Malle stammt aus dieser Gegend. Er ist das dritte von sieben Kindern einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie. Vgl.: Arnold, S. 126-129.

[11] Vgl. Jeßing/Köhnen, S. 100.

[12] Zeitgleich mit der Wiederaufnahme der Macht durch de Gaulle am 31.Mai 1968.

[13] Die sechs Tage, in denen der Film spielt, sind deckungsgleich mit der Zeit zwischen den beiden Reden de Gaulles vom 24. bis zum 30 April, der letzten Woche im Mai 1968.

[14] Die Handlung des gesamten Films spielt auf dem Anwesen und dessen unmittelbaren Umfeld.

[15] Lommel, S. 30-31.

[16] Vgl.: Lommel 31-35.

[17] 00:26:30

[18] 00:50:20

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Mai 1968 in der Retrospektive des Regisseurs Louis Malle. Eine Untersuchung narrativer und filmischer Gestaltungsmittel in "Milou en Mai"
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien)
Veranstaltung
Mai 68 in Film und Fernsehen
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
22
Katalognummer
V139051
ISBN (eBook)
9783640487042
ISBN (Buch)
9783640487141
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Milou, Retrospektive, Regisseurs, Louis, Malle
Arbeit zitieren
Marcel Neumann (Autor:in), 2008, Mai 1968 in der Retrospektive des Regisseurs Louis Malle. Eine Untersuchung narrativer und filmischer Gestaltungsmittel in "Milou en Mai", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139051

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