Leitung einer pädagogischen Kleingruppe innerhalb der systemisch-orientierten stationären Familientherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Viersen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

38 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


1.Themen- und Praxisrahmen

Das Projekt "Kinder- und Jugendpsychiatrie" an der Fachhochschule Niederrhein wurde über zwei Semester unter der fachlichen Leitung von Prof. Dr. Kreuzer und dem Lehrbeauftragten Herrn Leven, der als Sozialpädagoge in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Kliniken in Viersen - Süchteln auf der Station K 41 tätig ist, durchgeführt. In dieser Zeit beteiligten sich 14 Sozialpädagogik- bzw. Sozialarbeit - Studenten je ein Semester an einer Fallbegleitung und einem "Projekt im Projekt".

Die Fallbegleitungen wurden alle auf der Station K 41 der Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt. Die K 41 ist eine Aufnahme-, Therapie- und Diagnostikstation für 10 - 14 Jahre alte Mädchen und Jungen. Es sind maximal 12 Kinder auf der Station, die wegen emotionalen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten behandelt werden.

Bei dieser Fallbegleitung wurden die Studenten in die pädagogische Arbeit innerhalb des Stationsalltages während der Behandlung eines Patienten/In einbezogen. Die Studenten hatten die Möglichkeit an therapeutischen Gesprächen oder Gruppen, sowie an pädagogischen Angeboten teilzunehmen. Die nötige Unterstützung erfolgte durch Herrn Leven und den jeweiligen Bezugsbetreuer des Kindes. Im theoretisch verankerten Seminar stellten die Studenten/Innen ihre jeweils begleiteten Fälle vor, so daß gemeinsam reflektiert und diskutiert werden konnte. Viele Symptome und Auffälligkeiten, die während der Fallbegleitungen auftraten, wurden ebenfalls im Seminar besprochen.

Neben der Fallbegleitung mußten alle Studenten an einem "Projekt im Projekt" teilnehmen. Für diese Projekte schlossen sich 2 - 4 Studenten in einer Arbeitsgruppe zusammen. Zwei Projekte, wie das Anti - Gewalt -Programm oder die Gestaltung eines Flures mit Eingangstür wurden auf der Jugendlichenstation K 32 durchgeführt. Die K 32 arbeitet mit einer Gruppe von etwa 10 Jugendlichen von 13 - 16 Jahren. Das Angebot umfaßt Krisenintervention, Diagnose und Behandlung z.B. bei Eßstörungen, sexuellen Auffälligkeiten, depressiven Phasen oder anderen Symptomen.

Auf der K 41 entstanden die Projektgruppen "Bistro", Bewegungs- und Entspannungsgruppe und "Stationszeitung". Letzteres stand zu Beginn unter meiner Leitung und wurde im zweiten Semester von einer anderen Gruppe übernommen. Dieses Projekt werde ich im weiteren Verlauf dieser Ausarbeitung noch näher vorstellen.

Ziel der Projektveranstaltung ist die Integration von Theorie und Praxis, d.h. die Studenten beschäftigen sich mit einem relativ offenen Betätigungsgebiet, entwickeln einen Arbeitsrahmen, führen verschiedene Tätigkeiten durch und beurteilen die erreichten Arbeitsergebnisse.

Prof. Dr. Kreuzer diskutierte mit den Studenten im theoretischen Seminar u.a. den Fachbegriff "Verhaltensstörung", erläuterte den Übergang von der Familientherapie zur Systemtherapie und stellte verschiedene wissenschaftliche Methoden und Arbeitsansätze vor, wie z.B. das Systemische Fragen oder die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD - 10). Zudem erläuterte er den Studenten den Aufbau und das therapeutische Konzept der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie die Systematik des KJHG und andere rechtliche Bestimmungen. Letztlich besprach er mit den Studenten verschiedene psychische Störungen, vor allem Depression in der Kindheit und Angststörungen.

Fachliche Hauptliteratur war das Buch von Wilhelm Rotthaus, dem ärztlichen Leiter des Fachbereichs Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Kliniken Viersen mit dem Titel: "Stationäre systemische Kinder- und Jugendpsychiatrie".

Für die Praxis - Reflexion war der Lehrbeauftragte Herr Leven zuständig. Die Studenten mit den Fallbegleitungen stellten "ihre" Kinder regelmäßig vor, so daß alle anderen Studenten über die Entwicklung des Kindes informiert wurden und gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen konnten. Auch die Arbeit in den Projekten wurde vorgestellt.

Zusätzlich besprach er mit den Studenten u.a. die auf der K 41 aufgetretenen psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, wie z.B. das Hyperkinetische Syndrom (HKS), Aggressivität und dissoziales Verhalten.

Im folgenden werde ich zunächst die Grundargumente der systemischen Therapie und ihre Entwicklung erläutern. Daran schließt sich ein Überblick über die Arbeit mit Gruppen, speziell mit Kleingruppen, bezüglich ihrer Bedeutung, Planung und Gestaltung. Letztlich beschreibe ich meine praktischen Erfahrungen während meiner Leitung des Projekts "Stationszeitung".

2.Die systemische Familientherapie

2.1. Geschichtliche Entwicklung der systemischen Familientherapie

Die Familientherapie hat sich in den 50er Jahren aus der Kinderpsychologie entwickelt. Die historisch wichtigsten Impulse erhielt die Familientherapie aus der analytischen Kindertherapie (hier ist vor allem Sigmund Freunds "Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben" zu nennen) und den Studien des englischen Kommunikationsforschers Gregory Bateson in Palo Alto, der als Vater der heutigen Familientherapie gilt. In seinem Forschungsprojekt über die sogenannte schizophrene Kommunikation waren viele Wissenschaftler, Psychologen und Psychiater beschäftigt, die später eigene familientherapeutische Schulen gründeten, z.B. Watzlawick, Satir, Minuchin, Healey und andere. In seiner double - bind Hypothese, die er gemeinsam mit dem Psychiater Jackson erstellte (1956), brachte er das schizophrene Verhalten seiner Patienten in einen Zusammenhang mit dem Verhalten der übrigen Familienmitglieder, und sorgte so für eine neue Sicht psychischer Krankheiten. Bateson zeigte die "Zwickmühle" bzw. "Beziehungsfalle" auf, in die Menschen geraten können, wenn sie auf unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation miteinander reden, so daß sie in ihren Denk- und Handlungsweisen gelähmt werden (vgl. Rotthaus, W., 1998, S.28). Auf der Basis der theoretischen Überlegungen von Bateson entwickelten sich in den 60er und 70er Jahren unterschiedliche familientherapeutische Schulen, z.B. die strukturelle Familientherapie von Salvador Minuchin mit der Analyse der Struktur des Familiensystems. In diesem Konzept wurde die Bedeutung von Grenzen und Strukturen thematisiert (vgl. von Schlippe/ Schweitzer, 1998, S.25). Aus der strategische Familientherapie von Jay Haley, dessen Aufmerksamkeit auf die Funktion des Symptoms im familiären Kontext gerichtet war, "bezieht die systemische Therapie bis heute eine besondere Sensibilität für die verschiedenen Positionen, in die man als Therapeut geraten kann" (ebd., S.25).

Ende der 60er Jahre entwickelte eine Gruppe von Mailänder Psychoanalytikern unter der Leitung von Mara Selvini - Palazzoli die erste Form der später sogenannten systemischen Familientherapie (oder auch Mailänder Modell). Hier liegt der Schwerpunkt der Betrachtung mehr auf den beobachtbaren Interaktionen der beteiligten Personen, während die Analyse ihrer intrapsychischen Eigenschaften in den Hintergrund tritt. Das Mailänder Team nimmt an, daß lediglich eine zentrale Regel in der Kommunikation des Familiensystems ausgewechselt werden müsse, um die Familienpathologie zu beseitigen (vgl. Körner, W., 1992, S.126). Die Familie wird damit zum Regelsystem: Gesunde Familien zeichnen sich durch flexible Regeln, pathologische dagegen durch starre Regeln aus ( vgl. ebd., S.129). Leitlinien der Mailänder Gruppe sind die Prinzipien des Hypothetisierens, der Zirkularität und der Neutralität. Mit ihrer Hilfe soll das Spiel der Familie schnell erkannt und verändert werden können. Sie gelten heute als Standardausrüstung in der systemischen Therapie ( vgl. von Schlippe/Schweitzer, 1998, S.31).

2.2. Grundlinien der Systemtheorie

Systemtheoretiker betrachten Menschen und Geschehnisse nicht im Hinblick auf ihre Merkmale und Eigenschaften, sondern vor dem Hintergrund ihrer Interaktionen. Nicht der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das System Familie und ihre Interaktionsprozesse. Die Familie ist das primäre System, dem wir Menschen im Laufe unseres Lebens angehören. Es bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die als funktionales Ganzes interagieren. Das soziale, emotionale und körperliche Wohlbefinden eines Familienmitglieds steht in einer wechselseitigen Abhängigkeit vom Familiensystem.

Mit der Systemtheorie entstanden ganz neue Behandlungsstrategien. Man geht davon aus, daß jedes Element (Einzelperson) von den anderen bestimmt wird und diese wiederum beeinflußt. Es gibt also keine einfachen Ursache - Wirkungs - Kombinationen, sondern nur komplexe Ereignisketten, Rückkoppelungsprozesse und zirkuläre Vorgänge. Veränderung kann erst dann geschehen, wenn die Menschen ihre Sichtweise verändern können und sich daraus neue Verhaltensweisen ergeben.

Menschen konstruieren sich über Gespräche und soziale Aktionen mit Mitmenschen ihre eigene Wirklichkeit. In einer solchen „konstruktivistischen“ Systemtheorie fragt man nicht mehr nur nach den Regeln eines Interaktionssystems, sondern vor allem nach der Entstehung von Verhaltensweisen und von Symptomen. Nach den chilenischen Biologen Maturana und Varela ist hier die Autopoiese (Selbsterzeugung) die Grundvoraussetzung. Autopoiese umfaßt die Begriffe selbsterzeugend, selbstorganisiert und selbsterhaltend. Autopoietische Systeme existieren unabhängig von einer weitergehenden Zielorientierung und haben den alleinigen Zweck, sich selbst zu reproduzieren. In ihnen wird die Außenwelt nur soweit zur relevanten Umwelt, als sie im System Eigenzuständigkeiten anstößt. Umwelt ist hierbei die im System ermöglichte Umwelt und nicht "Umwelt an sich". Aus der Sicht der Autopoiese ist jedes Verhalten angemessen, solange es nicht zur Auflösung der Organisation führt (vgl. Rotthaus, W., 1998, S.35ff).

In der Systemtheorie wird das gestörte Individuum lediglich als "Symptomträger" bezeichnet, da seine Symptome auf pathogene Familienstrukturen und -prozesse verweisen. Das Symptomverhalten schützt und erhält ein Gleichgewicht, das rund um eine Konfliktsituation aufgebaut wurde, und damit funktional wird (vgl. Andolfi, M., 1982, S.32). Aus dieser Sichtweise ergibt sich, daß das Beziehungsnetz des Symptomträgers zur eigentlichen Behandlungseinheit werden muß. Gefühle und Gedanken eines Einzelnen sind nur für den Einzelnen selbst zugänglich, das Verhalten der Teilnehmer in einem System aber ist für einen Außenstehenden direkt beobachtbar. Für den Therapeuten ist es also wesentlich leichter die Funktionsregeln von Interaktionssystemen zu beobachten, als Hypothesen über die Psyche der einzelnen Person aufzustellen. Er kann dem System die immer wiederkehrende und charakteristische Interaktion und Kommunikation beschreiben, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Probleme beteiligt sind. So hilft der Therapeut bei der Veränderung von Rollen, Kommunikationsprozessen, Beziehungsdefinitionen, und Systemeigenschaften. Die Störungen oder Probleme des Symptomträgers werden demnach wegfallen, sobald die sie aufrechterhaltenden interpersonalen Ursachen wegfallen (vgl. Textor, M. R.(Hrsg)., 1990, S.420). In der systemischen Therapie soll sich also nicht die Person ändern, sondern die sich selbst erhaltenden, negativen und zum Problem gewordenen Handlungsweisen.

Für eine effektive Therapie ist zudem eine deutliche Trennung der Aufgabenbereiche innerhalb der Klient – Therapeut – Beziehung wichtig: Der Klient/ die Familie ist für ihr Familienleben verantwortlich; der Therapeut für sein therapeutisches Handeln (vgl. Rotthaus, W., 1998, S.57).

2.3. Systemische Familientherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Viersen

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist eine noch relativ junge und eigenständige Fachdisziplin. In den 80er Jahren änderte sich die Arbeitsweise in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken nach systemischen Gesichtspunkten. Der stationäre Alltag wurde umgestaltet, z.B. durch die neue Zusammenarbeit von Familientherapeuten oder durch Einbeziehung der Eltern als Erziehungsverantwortliche in den Klinikaufenthalt, um ihnen wieder mehr elterliche Kompetenz zukommen zu lassen (vgl. von Schlippe/Schweitzer, 1998, S.250).

Auch die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Kliniken in Viersen arbeitet mit diesem systemtheoretischen Konzept. Schwerpunkt der Behandlung ist die Gestaltung des täglichen Lebens auf der Station. Durch die Vielzahl von unterschiedlichen Mitarbeitern (Erzieher, Stationsärzte, Psychologen, Sozialpädagogen und Krankenschwestern) sowie deren Interaktionen fließen immer wieder neue Behandlungsideen und -möglichkeiten in die Systemtherapie ein. Zusätzlich gibt es außerstationäre Gruppen- und Einzeltherapien, wie z.B. die Musik- oder Kunsttherapie. Eine Ergänzung zum therapeutischen Setting stellt die Klinikschule auf dem Gelände dar. Hier erhalten die Kinder von 8.00 bis 12.00 Uhr vormittags Unterricht.

Die Vorteile der stationären Systemtheorie liegen vor allem in der hohen Komplexität und der vielfältigen Interaktionen im therapeutischen System. Die gegenseitige Beeinflussung aller Mitarbeiter birgt Vor- und Nachteile für die Familie und ihre Entwicklung. Die Familie kann sich z.B. voneinander erholen, neue Umgangsmuster erlernen und durch den Kontakt mit den vielen anderen Mitgliedern neue Sichtweisen kennenlernen. Das Kind kann durch das Leben in einer neuen Umgebung ermutigt werden, neue Wege auszuprobieren und erkennen, daß auch andere Kinder Schwierigkeiten haben. Andererseits verliert es auch den Kontakt zu Freunden zu Hause und in der Schule, und muß vielleicht mit dem Stempel leben, daß es in der Psychiatrie behandelt wurde. Bei der Familie /den Eltern kann z.B. Frustration auftreten, weil sie ihren Erziehungsauftrag als gescheitert ansehen. Je größer jedoch die Einbeziehung der Eltern in die Therapie und der Umgang mit den übrigen Mitarbeitern der Klinik, desto seltener treten die Nachteile auf.

Die Klinik vermeidet es, die Schwierigkeiten und Inkompetenz der Eltern bzgl. der Erziehung des Kindes zu betonen, sondern bietet der Familie Hilfe bei dem Erkennen und Nutzen von Ressourcen oder positiven Verhaltensweisen. Sie stellt sich nicht als „bessere“ Eltern zur Verfügung oder nimmt den Eltern die Verantwortung ab, sondern verbündet sich mit den Eltern und zeigt ihre Wertschätzung.

Die Eltern stellen häufig Forderungen an die Klinik, vor allem den Wunsch nach Erziehung und Betreuung, nach Therapie und letztlich die Bitte um Stärkung und Förderung ihrer elterlichen Kompetenz ( vgl. Rotthaus, W., 1998, S.68 ff).

[...]

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Leitung einer pädagogischen Kleingruppe innerhalb der systemisch-orientierten stationären Familientherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Viersen
Hochschule
Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach  (Fachbereich Sozialwesen)
Veranstaltung
Projekt Kinder-und Jugendpsychiatrie
Note
1,7
Autor
Jahr
2002
Seiten
38
Katalognummer
V14448
ISBN (eBook)
9783638198479
ISBN (Buch)
9783656768524
Dateigröße
449 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leitung, Kleingruppe, Familientherapie, Kinder-, Jugendpsychiatrie, Viersen, Projekt, Kinder-und, Jugendpsychiatrie
Arbeit zitieren
Bärbel Backhaus (Autor:in), 2002, Leitung einer pädagogischen Kleingruppe innerhalb der systemisch-orientierten stationären Familientherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Viersen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14448

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