Ein Quantum Buddhismus


Essay, 2010

22 Seiten


Leseprobe


Abstract. Rudyard Kipling, der berühmte Autor des „Dschungelbuches“, schrieb einmal die folgenden Worte „Oh, East is East and West is West, and never the twain shall meet“. „Oh, Osten ist Osten und Westen ist Westen und die beiden werden sich nie treffen“. In meinem Aufsatz werde ich zeigen, daß Kipling nicht vollständig recht hatte.

Ich versuche auf die gemeinsame Grundlage der buddhistischen Philosophie und der Quantenphysik hinzuweisen. Es gibt eine überraschende Parallelität zwischen dem philosophischen Wirklichkeits-begriff der Philosophie Nagarjunas und den physikalischen Wirklichkeits-begriffen der Quantenphysik. Für beide besteht die fundamentale Wirklichkeit nicht aus einem festen Kern, sondern aus Systemen wechselwirkender Gegensätze. Diese Wirklichkeitsbegriffe lassen sich nicht mit den substantiellen oder holistischen und instrumentalistischen Wirklichkeitsbegriffen vereinbaren, die den modernen Denkweisen zugrunde liegen.

1. Nagarjunas Wirklichkeitsbegriff

Nagarjuna war der bedeutendste buddhistische Philosoph Indiens. Nach Etienne Lamotte lebte er in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts nach Christus.(1) Seine Philosophie ist von großer Aktualität. Bis heute bestimmt sie das Denken aller Traditionen des tibetischen Buddhismus. Über seine Person haben wir wenig gesicherte Erkenntnisse, aber viele Legenden, auf die hier nicht eingegangen werden soll. Allerdings gilt die Authentizität von dreizehn seiner Werke in der wissenschaftlichen Forschung als gesichert.

Um die Überprüfung und Übersetzung dieser dreizehn Werke hat sich besonders der dänische Wissenschaftler Chr. Lindtner bemüht.(2) Nagarjunas Hauptwerk, Mulamadhyamaka-Karikas, Merkverse der mittleren Lehre (abgekürzt: MMK), ist 1997 in einer anspruchsvollen deutschen Übersetzung erschienen.(3) Der Indologe Claus Oetke hat für die Übersetzung viele interessante Verbesserungsvorschläge gemacht, die von mir berücksichtigt worden sind.(4) Nagarjuna ist der Begründer der philosophischen Schule des mittleren Weges, Madhyamaka. Der mittlere Weg stellt einen spirituellen und philosophischen Weg dar, der extreme metaphysische Konzepte vermeiden möchte, ganz besonders die Konzepte des substantiellen Denkens in ihren verschiedenen Formen. In Nagarjunas Hauptwerk MMK wird der mittlere Weg folgendermaßen beschrieben: "24.18 Das Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit (pratītyasamutpāda), dies ist es, was wir ‚Substanzlosigkeit‘ (sunyata) nennen. Das ist (aber nur) ein abhängiger Begriff; gerade sie (die Substanzlosigkeit) bildet den mittleren Weg".

Nagarjunas Philosophie besteht hauptsächlich aus zwei Aspekten. Zum einen aus der Darlegung eines eigenen Wirklichkeitsbegriffs, nach dem die grundlegende Wirklichkeit keinen festen Kern hat und nicht aus unabhängigen, substantiellen Grundbausteinen, sondern aus Zwei-Körper-Systemen besteht, deren materielle oder immaterielle Körperwechsel-wirken. Dieser Wirklichkeitsbegriff wird einem der Schlüsselbegriffe der traditionellen Metaphysik Indiens dichotomisch entgegengestellt: svabhava [eigenes Sein]. Zum anderen aus Hinweisen auf die inneren Widersprüche von vier extremen Wirklichkeitsbegriffen, die nicht ausführlich, sondern nur in ihren Prinzipien dargestellt werden. Allerdings kann man leicht erkennen, auf welche Denkweisen sich diese Prinzipien beziehen und das ist wichtig, denn dabei geht es gerade um unsere extremen metaphysischen Denkweisen, die es uns nicht gestatten, die Wirklichkeit zu erkennen. Es geht nicht nur um eine Auseinandersetzung mit der traditionellen Metaphysik Indiens. Diese vier extremen Ansätze beziehe ich auf die substantiellen I, substantiellen II, holistischen und instrumentalistischen Denkweisen der modernen Welt.

Um diese Denkweisen wirkungsvoll unterlaufen zu können, muss man sie als solche erste einmal erkannt haben. Deswegen sollen sie hier ohne Vollständigkeitsanspruch in kurz gefasster Form skizziert werden:

1. Idealismus. A. Die Welt der Ideen. Platon hatte zwei Formen des Seins unterschieden. Er unterschied besonders im zweiten Teil des 'Parmenides' Einzeldinge, die alles, was sie sind, nur durch Teilhabe sind und insofern kein eigenes Sein haben, und Ideen, die ein eigenes Sein haben. Die Ideen sind unveränderlich, sich slbst ewig gleich, von nichts anderem abhängig, durch sich selbst existierend. Sie sind der Daseinsgrund für alles andere, die immaterielle Grundlage der Welt, in der wir leben. Diese dualistische Trennung der Welt wurde von der traditionellen Metaphysik übernommen. Seit Kant hat die traditionelle Metaphysik an Boden verloren. Allerdings sind ihre zentralen Begriffe, wie Idee, Sein, Substanz, durch substantielle Denkweisen moderner Naturwissenschaftler ersetzt worden. Nun sollen Atome, Elementarteilchen, Energie, Kraftfelder, Naturgesetze, invariante Strukturen, Symmetrien der Daseinsgrund für alles andere sein.
2. Idealismus. B. Die Welt der Einzeldinge. „Die Materie für sich allein existiert nicht, zur Wirklichkeit wird sie erst durch die Ideen erweckt, die in ihr anwesend sind“, Georgi Schischkoff (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1991, Seite 704 Auch der moderne Subjektivismus gehört dazu. Er reduziert die Welt der Ideen und die Welt der Einzeldinge auf den dualistischen Gegensatz von Subjekt & Objekt. „Subjektivismus. Die durch Descartes eingeleitete 'Wendung zum Subjekt', d.h. die Lehre, daß das Bewußtsein das primär gegebene sei, alles andere aber Inhalt, Form oder Schöpfung des Bewußtseins. Den Höhepunkt dieses Subjektivismus stellt der 'Idealismus' Berkeleys dar. Als gemäßigter Subjektivismus dieser Art kann der Kantianismus betrachtet werden“, Georgi Schischkoff, op.cit., Seite 704
3. Holismus. Der dritte Ansatz versucht dem verhängnisvollen Entweder-Oder-Schema der ersten beiden Ansätze zu entgehen, indem er die beiden Körper zu einem Ganzen fusionieren läßt, bei dem es genau genommen keine Teile mehr gibt, nur eine Identität, es ist alles eins. Das Ganze wird verabsolutiert und mystifiziert, es wird zu einer selbständigen Einheit, die unabhängig von ihren Teilen besteht. Ganzheit wird nun offenbar als etwas Konkretes verstanden, so als ob das Ganze ein Erfahrungsbegriff sei. Als eine philosophische Grundhaltung aller großen Epochen der europäischen Philosophiegeschichte ist dieser Ansatz mit den Namen Thomas von Aquin, Leibniz, und vor allem mit Schelling verbunden und durch David Bohm für die Quantenphysik vertreten.
4. Instrumentalismus. Der vierte Ansatz besteht in einer Zurückweisung oder Ignorierung der Existenz von Subjekt & Objekt. Statt den einen oder den anderen Ansatz zu bevorzugen oder beide zusammen, weist dieser metaphysische Ansatz beide zurück. Die Frage nach der Wirklichkeit ist für ihn belanglos oder sinnlos. Der Instrumentalismus ist modern, klug [beispielsweise in der Person des Philosophen Ernst Cassirers] und manchmal auch etwas spitzfindig. Es ist schwer, sich ihm zu entziehen. Er besteht darin, als eine Fortsetzung des Subjektivismus Denken als ein Denken in Modellen, als eine Informationsverarbeitung zu betrachten und sich nicht mehr wirklich darum zu kümmern, über welche Phänomene die Informationen informieren. Das ist ein Problem, das er vom Subjektivismus geerbt hat, über den der Philosoph Donald Davidson schreibt: "Hat man sich erst einmal für den cartesianischen Ausgangspunkt entschieden, weiß man - wie es scheint - nicht mehr anzugeben, wofür die Belege eigentlich Belege sind".(5). Instrumentalismus ist ein Sammelbegriff, er bezeichnet unterschiedliche wissenschaftstheoretische Auffassungen, die darin übereinkommen, menschliche Erkenntnis insgesamt oder wissenschaftliche Begriffs-bildungen, Sätze und Theorien nicht bzw. nicht primär realistisch, als Wiedergabe der Struktur der Wirklichkeit, sondern als Resultat menschlicher Interaktionen mit der Natur zum Zweck erfolgreicher theoretischer und praktischer Orientierung anzusehen. Für den Instrumentalismus sind Theorien nicht Weltbeschreibungen, sondern Instrumente zur systematischen Ordnung und Erklärung von Beobachtung und zur Prognose von Tatsachen.(6) In Kurzform wird der instrumentalistische Ansatz von dem experimentellen Physiker Anton Zeilinger wiedergegeben. Zeilinger sagt in einem Interview: "In der klassischen Physik sprechen wir von einer Welt der Dinge, die irgendwo das draußen existieren, und wir beschreiben diese Natur. In der Quantenphysik haben wir gelernt, dass wir da sehr vorsichtig sein müssen. Die Physik ist letztlich nicht die Wissenschaft über die Natur, sondern die Wissenschaft von den Aussagen über die Natur. Die Natur selbst ist immer eine geistige Konstruktion. Niels Bohr hat das einmal so gesagt: Es gibt keine Quantenwelt, es gibt nur eine quantenmechanische Beschreibung".(7)

[...]


(1) Etienne Lamotte, Traité de la Grande Vertu de Sagesse de Nagarjuna, Tome I-V, Louvain 1944 ff, Tome III, p. IX

(2) Vgl. Chr. Lindtner, Nagarjuniana, Copenhagen 1982. Die neuere Forschung hat jedoch einige Zweifel an der Authentizität einiger dieser 13 Werke zum Ausdruck gebracht. Vgl. beispielsweise Tilmann Vetter, On the Authenticity of the Ratnavali, in: Asiatische Studien XLVI (1992), S.492-506

(3) Vgl. Nagarjuna, Die Philosophie der Leere, Nagarjunas Mulamadhyamaka-Karikas, Bernhard Weber-Brosamer/Dieter M. Back (Hg.), Wiesbaden 1997 (abgekürzt: MMK).

(4) Vgl. Claus Oetke, Materialien zur Übersetzung und Interpretation der Mulamadhyamakakarikas, Reinbek 2001

(5) Donald Davidson, Der Mythos des Subjektiven, Stuttgart 1993, S. 90

(6) Vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bände, Jürgen Mittelstraß (Hg.), Stuttgart, Weimar 1980 ff, Bd. 2, S. 252 f

(7) Anton Zeilinger in einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 20. Dezember 1999

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Details

Titel
Ein Quantum Buddhismus
Autor
Jahr
2010
Seiten
22
Katalognummer
V146913
ISBN (eBook)
9783640577613
ISBN (Buch)
9783640577927
Dateigröße
419 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nagarjuna, Quantenphysik, Wirklichkeit, Sunyata, Verschränkungen, Wechselwirkungen, Komplementarität, Abhängigkeit
Arbeit zitieren
Christian Thomas Kohl (Autor:in), 2010, Ein Quantum Buddhismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146913

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