Georg Büchner als Rebell - Revolutionäre Ideen während der Studienzeit in Gießen 1833/34


Magisterarbeit, 2008

90 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Problemaufriss
1.2. Verfahrensweise und Zielsetzung

2. Die Zustände in Gießen - „Ich komme nach Gießen in die niedrigsten Verhältnisse“
2.1. Büchners Krise - Der Grundstein für sein politisches Handeln
2.1.1. Exkurs: Zu Büchners revolutionärer Vorprägung in Straßburg
2.2. Rebellion gegen die bestehenden hessischen Verhältnisse
2.3. „Die Gesellschaft der Menschenrechte“ - Ein revolutionärer Geheimbund

3. Die Verarbeitung von Studienerfahrungen - Idee zur „Doktor-Figur“
3.1. Das Studium der Medizin an der „Ludoviciana“
3.2. Johann Bernhard Wilbrand als Vorbild für den Doktor in Woyzeck
3.3. Protest und Leiden bei Büchner und Woyzeck
3.3.1. Büchner und Wilbrand
3.3.2. Woyzeck und der Doktor
3.4. Zum revolutionären Gehalt in Woyzeck

4. Der Hessische Landbote - Eine revolutionäre Flugschrift
4.1. Die Entstehung des Hessischen Landboten
4.2. Büchners sozialrevolutionärer Ansatz
4.3. Biblische Rhetorik
4.4. Die Bildlichkeit im Text
4.5. Rezeption und revolutionäre Bedeutung des Hessischen Landboten im 19. Jahrhundert

5. Schlussbetrachtung

Anhang

A Literaturverzeichnis

Siglenverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchner. Biographie. Metzler, Stuttgart 1993.

Abb. 2 Mayer, Thomas Michael (Hg.): Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog der Ausstellung zum 150. Jahrestag des „Hessischen Landboten“. Jonas, Marburg, 3., verbesserte und vermehrte Auflage 1987, S.119.

Abb. 3 Büchner, Georg: "Boire sans soif...". Notiz Büchners aus der Studienzeit, auf das Formular einer Inskriptionsliste der Universität Gießen geschrieben. Vervielfältigung aus dem Bestand des Goethe- und Schiller Archivs Weimar.

Abb. 4 Glück, Alfons: Der Menschenversuch: Die Rolle der Wissenschaft in Georg Büchners „Woyzeck“. In: Mayer, Thomas Michael u.a. (Hg.): Georg Büchner Jahrbuch 5 (1985). Europäische Verlagsgesellschaft, Frankfurt/M 1986, S. 174. Original Abb. aus: Büchner, Georg: Woyzeck. Teilentwurf 2, Szene 2,7 „Strasse.“

Abb. 5 Leonhard, Leo: Radierungen zum „Hessischen Landboten“. In: Boehncke, Heiner und Hans Sarkowicz (Hg.): Ein Haus für Georg Büchner. Jonas, Marburg 1997, S. 33.

1. Einleitung

Politischer Agitator, Schriftsteller und Menschenfreund - mit diesen Begriffen beschrieb Wolfgang Hildesheimer den Hessen Georg Büchner (1813-1837) im Jahre 1966 bei seiner Rede zur Verleihung des Büchner- Preises[1]. Damit würdigte er einen überragenden Autor des deutschen Vormärz, der unter anderem mit dem revolutionären Pamphlet Der Hessische Landbote sowie mit der Sozialtragödie Woyzeck zwei außergewöhnliche Werke schuf, die seit rund 170 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt haben. Büchners literarische Arbeiten faszinieren das heutige Publikum ebenso stark, wie einst die Menschen im 19. Jahrhundert. Weniger bekannt als sein ^uvre sind jedoch die Hintergründe und Voraussetzungen, die den in Goddelau geborenen Schriftsteller zu jener Person werden ließen, auf die Hildesheimers Bezeichnungen zutreffen. Die Wurzeln hierfür sind in Büchners Gießener Studienzeit (Oktober 1833 bis September 1834) zu finden, während welcher der mit den Unterdrückten „mitleidende[ ] Dichte"[2] begann, sich erstmals aktiv in die deutsche Politik einzumischen und gleichzeitig den ersten Schritt in die schriftstellerische Tätigkeit zu wagen.

Bisher beschäftigte sich die Forschung lediglich am Rande mit Büchners Aufenthalt in der ehemals oberhessischen Universitätsstadt, so dass es an einer ausführlichen Analyse seiner dort entwickelten revolutionären Ideen noch fehlt. Besonders interessant ist die Tatsache, dass Büchner an seinem ersten Studienort Straßburg (1831-1833) von den Nachwirkungen der Französischen Revolution inspiriert wurde und diese Anstöße in Gießen zu eigenen sozialrevolutionären Ansätzen weiterentwickelte, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland absolute Innovationen darstellten. Das Ideengut, das er während der Gießener Zeit sammelte, verarbeitete er sowohl im Hessischen Landboten als auch Jahre später in Woyzeck.

Das Hauptanliegen dieser Arbeit ist es, eine Verknüpfung von Büchners eigenen Erfahrungen aus der Gießener Studienzeit mit seinem Wirken als

Schriftsteller und politischer Agitator sichtbar zu machen, um schließlich dessen revolutionäre Errungenschaften, die aus diesem Lebensabschnitt hervorgegangen sind, herauszuarbeiten. Zum ersten Mal sollen nun Büchners gesamte Neuerungen aufgezeigt werden, die er während einer für ihn höchst brisanten Zeit entwickelt hatte.

1.1. Problemaufriss

Büchners Gießener Studienzeit ist geprägt von zwei Phasen: Der anfänglichen psychosomatischen Krise des jungen Studenten, die als Voraussetzung für die Entscheidung zum politischen Handeln gesehen werden kann, und der anschließenden rebellischen Reaktion, wobei in dieser Phase die eigentlichen revolutionären Ideen Büchners entstanden sind. Im Hauptteil dieser Arbeit sollen zunächst diese beiden Probleme im Vordergrund stehen. Darüber hinaus muss untersucht werden, warum Büchner sich gerade in Gießen dazu entschied, politisch aktiv zu werden und welche Wirkung er mit seinen Taten erzielte.

In die beiden Werke Der Hessische Landbote und Woyzeck sind revolutionäre Ideen eingeflossen, welche im Folgenden analysiert und interpretiert werden sollen. Hierzu ist anzumerken, dass in dieser Arbeit keine komplette Analyse der Texte erfolgen wird, sondern lediglich eine Untersuchung jener Aspekte, die für die Fragestellung von Bedeutung sind. Es können daher nur die Probleme berücksichtigt werden, die mit Büchners Aufenthalt in Gießen in Verbindung stehen.

Da die Arbeit lediglich die Person Georg Büchner und dessen revolutionäre Ideen während seines Lebensabschnitts von 1833/34 fokussiert, werden gegebenenfalls einige geschichtliche Ereignisse stark verkürzt dargestellt oder ausgelassen. War der Aufenthalt in Gießen durchweg eine positive Zeit für Büchner? Oder gar die Unruhigste seines Lebens? Die Antworten auf diese Fragen sollen im Hauptteil der Arbeit ermittelt werden.

1.2. Verfahrensweise und Zielsetzung

Der Hauptteil dieser Arbeit gliedert sich in drei Kapitel. In Kapitel 2. werden zunächst die Zustände in der Stadt Gießen behandelt, welche die Grundlage für die weitere Analyse bilden. Ausgehend davon soll Büchners Entwicklung vom unauffälligen Studenten zum entschlossenen Revolutionär aufgezeigt werden. Für dieses Kapitel liefern unter anderem die Büchner­Biografien von Jan-Christoph Hauschild[3] hervorragendes Forschungsmaterial. Abschnitt 2.1. widmet sich Büchners Krise, die durch seine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben in der kleinen oberhessischen Stadt bedingt war. Sie ist Voraussetzung für die sich allmählich entwickelnde Rebellion und verlangt daher nach einer ausführlichen Beschreibung. Der Exkurs zu Büchners Studienzeit in Straßburg in Abschnitt 2.1.1. soll dem Verständnis von Büchners Krise in Gießen dienen. Er erläutert, wie Büchner zu seiner revolutionären Vorprägung kam und soll verdeutlichen, dass er entscheidende Ideenansätze aus Frankreich nach Deutschland mitbrachte und diese zur Lösung der deutschen Misere anwenden wollte. In Abschnitt 2.2. wird Büchners Wandel vom resignierenden Studenten zum rebellierenden Aktivisten erörtert, worauf in Abschnitt 2.3. die Beschreibung des ersten Ergebnisses seiner politischen Handlungen folgt: Die Gründung der konspirativen „Gesellschaft der Menschenrechte“.

Kapitel 3. untersucht Büchners Studium an der Gießener Landesuniversität. Hierbei soll der Bogen zu seinem Drama Woyzeck geschlagen werden, in welchem er einem seiner Gießener Professoren die Rolle der unmenschlichen „Doktor-Figur“ zuschrieb. Die wichtigste Quelle zu diesem Kapitel ist die Autobiografie Carl Vogts[4], einem Kommilitonen Büchners, denn dieser liefert notwendige Informationen zu Büchners Professoren. Abschnitt 3.1. widmet sich zunächst der Situation an der Gießener Landesuniversität sowie Büchners Studienpensen, wobei stets auf dessen Unzufriedenheit mit dem Medizinstudium hingewiesen wird. Zu dieser

Unzufriedenheit trug auch die Person Professor Johann Bernhard Wilbrand bei, dessen fragwürdige Unterrichtsmethoden in Abschnitt 3.2. intensiv behandelt werden sollen. Hier soll geklärt werden, warum Büchner gerade Wilbrands Charakterzüge auf den Doktor in Woyzeck übertrug. In Abschnitt

3.3. wird erläutert, welche persönlichen Leidenserfahrungen Büchners sich in der Figur Woyzeck widerspiegeln. In den dazugehörigen Unterpunkten 3.3.1. und 3.3.2. soll dargelegt werden, inwiefern Büchner und Woyzeck gegen die ihnen zugefügten Leiden durch Wilbrand und den Doktor rebellieren. Schließlich zeigt Abschnitt 3.4. jene revolutionären Aspekte in Woyzeck auf, zu welchen Büchner während seiner Zeit in Gießen inspiriert wurde.

In Kapitel 4. wird Büchners revolutionäre Flugschrift Der Hessische Landbote besprochen. Es werden darin die Gründe für die Entstehung des Landboten und seine Wirkungsabsichten dargelegt. Die Forschungsliteratur, die für dieses Kapitel unerlässlich ist, ist Hans-Joachim Ruckhäberles Werk über „Flugschriftenliteratur im historischen Umkreis Georg Büchners“[5]. In Abschnitt 4.1. wird zuerst geklärt werden, wie Büchner die Idee zu seinem Pamphlet in die Tat umsetzte. Anschließend soll in Abschnitt 4.2. sein darin enthaltener sozialrevolutionärer Ansatz mit Hilfe eines Vergleiches der Juli- und November-Fassungen des Landboten diskutiert werden. Im folgenden Abschnitt 4.3. wird auf die Wirkung der biblischen Rhetorik im Text einzugehen sein, sowie auf die Absicht, die Büchner damit verfolgte. In Abschnitt 4.4. soll Büchners Verwendung von Sprachbildern und ihre Wirkung auf die Adressaten im Mittelpunkt stehen. Der letzte Abschnitt 4.5. behandelt sein Scheitern als Revolutionär und gibt Aufschluss über die Frage, warum man den Hessischen Landboten als revolutionäre Flugschrift bezeichnen kann.

In allen drei Kapiteln soll besonderer Wert auf die Herausarbeitung von Büchners Neuerungen und revolutionären Ideen in den Jahren 1833/34 gelegt werden. Am Ende erfolgt die Darlegung seiner Erfolge und Misserfolge in der Schlussbetrachtung, in der die zentralen Ergebnisse der Analyse präsentiert werden.

2. Die Zustände in Gießen - „Ich komme nach Gießen in die niedrigsten Verhältnisse"

„Er war einer der Ersten, bei denen man spürte, daß die klassischen Phänomene rissig geworden sind, daß es deshalb an der Zeit sei, den Bildungsbegriff zu erweitern durch den Trieb zu Erkenntnis, Analyse und Humanität. “ Martin Kessel (Büchner-Preisträger 1954)

2.1. Büchners Krise - Der Grundstein für sein politisches Handeln

Am 31. Oktober 1833 brach für den 20-jährigen Georg Büchner mit der Eintragung in das Matrikelbuch der Universität Gießen eine höchst unangenehme Zeit an. Studierte er doch zuvor „rund zwei Jahre in Straßburg, die ihm rückblickend als außerordentlich glücklich erschienen“[6], war er nun nach den damaligen gesetzlichen Bestimmungen verpflichtet, sein Medizinstudium an der großherzoglichen Landesuniversität zu beenden[7]. Büchner versprach sich von vornherein nicht viel von seiner künftigen Universitätsstadt, die in der tiefsten hessischen Provinz lag und, im Gegensatz zur „elsässischen Metropole‘[8] Straßburg, mit ihren bloß „7224 Seelen‘[9] fast ein Dorf war. Was das Kulturelle, Politische und Progressive betraf, war Frankreich Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts weit voraus. Nach seiner Rückkehr in die Heimat spürte Büchner die enormen Unterschiede zwischen den beiden Ländern noch intensiver und er ahnte längst, dass die Stadt Gießen mit Straßburg in vielen Dingen nicht mithalten würde. Am Studienort angekommen, bestätigten sich seine negativen Vorahnungen: Gießens Gassen waren schmutzig und verwinkelt, an jeder Ecke stank es abscheulich und Trottoirs für Fußgänger existierten nicht. Auch die Häuser machten keinen besonders soliden Eindruck, denn es schien, als ob sie „sich [...] aneinander lehnten, um nicht umzufallen“[10].

Die Bevölkerung im Gießen der 1830er Jahre bestand zum größten Teil aus Bauern und Handwerkern, der Rest gliederte sich in liberales Bürgertum, Beamte und Akademiker. Ihren Lebensunterhalt verdienten die selbständigen Bauern mit Ackerbau und Viehzucht, die Handwerksmeister waren zumeist als Schuster tätig. Andere ausgeübte Handwerksberufe waren Metzger, Schneider, Bäcker, Schlosser, Schreiner, Maurer und Seifensieder. Außerdem existierte eine verachtete gesellschaftliche Unterschicht zu der Juden, ungelernte Arbeiter, Kleinstgewerbetreibende, Tagelöhner und Dienstboten zählten [11]. Es muss hier die Tatsache berücksichtigt werden, dass die Stadt Gießen zur Region Oberhessen gehörte, welche zu Büchners Zeit eines der ärmsten und rückständigsten Gebiete Deutschlands war. Als Untertanen des Großherzogs Ludwig II. von Hessen-Darmstadt waren die Bauern gezwungen, hohe Feudalabgaben zu entrichten, die sie unweigerlich in die Verschuldung trieben. Demnach lebte der Großteil der Bevölkerung erheblich unter dem Durchschnittsniveau des Großherzogtums, das ohnehin schon überaus niedrig war, so dass „die Urwüchsigkeit (der Gießener, C.N.) oft in Grobheit und Roheit“ [12] ausartete. Der gesellschaftliche Unterschied zum fortschrittlichen Straßburg, wo zu Büchners Studienzeit schon rund 50.000 Menschen lebten, war also prägnant und verlangte eine radikale Umstellung des jungen Studenten in vielerlei Hinsicht.

Der Name „Studentendorf“[13], den Georgs Bruder Alexander Büchner dem kleinen oberhessischen Gießen verlieh, rechtfertigte sich durch die durchschnittliche Zahl von „400-600 Studenten“[14], die einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor für die Stadt bildeten. Sie mieteten sich in die Häuser der Bürger ein, die sich durch die Mieteinnahmen ihr geringes Einkommen aufbessern konnten, und waren auch der Grund für den Zuzug von neuem

Gewerbe, beispielsweise Buchhandlungen oder Kliniken, das „sich spezifisch um eine Universität anzusiedeln pfleg[te]“[15]. Auch Büchner musste sich in Gießen eine Unterkunft suchen und wohnte in seinem ersten Semester an der Landesuniversität, genannt „Ludoviciana“, bei dem Kaufmann Karl Hoffmann im Seltersweg, der zu jener Zeit zum Stadtquartier C gehörte, unter der Hausnummer C 20 [16]. In Hoffmanns dreistöckigem Haus war er der einzige studentische Untermieter. Nach Aussage von Carl Vogt, eines Gießener Ortsansässigen und Kommilitonen Büchners, war der Stadtteil C „damals der neueste Stadtteil“[17], in dem hauptsächlich Beamtenfamilien mit ihren Kindern lebten. Als Student konnte sich Büchner also glücklich schätzen im schöneren Teil der Stadt mit „ziemlich geräumigen Grundstücken“ [18] wohnen zu können.

Dennoch beklagte er die Enge Gießens sowie die Begrenztheit der näheren Umgebung, von der aus man nicht einmal einen freien Blick auf den Horizont hätte:

„Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Täler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und die Stadt ist abscheulich.“[19]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1

Die Stadt Gießen um das Jahr 1830.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2

Der Seltersweg im Jahre 1897.

In seinem ersten Semester in Gießen wohnte Georg Büchner bei dem
Kaufmann Karl Hoffmann im ersten Haus auf der linken Seite.

Neben die Ablehnung der „abscheulichen“ Stadt traten noch weitere Faktoren, die Büchners Studienbeginn in Gießen erschweren sollten. Diese wären zum einen die ihn einengenden politischen Verhältnisse im Land, zum anderen seine derzeitige private Situation, die ihm alles andere als glücklich erschien. Da er an der „Ludoviciana“ noch ungefähr zwei Jahre zu studieren hatte, um anschließend sein Medizinstudium mit dem Doktordiplom abzuschließen, betrachtete der junge Student seinen zukünftigen Lebensweg als bereits fest vorgegeben. Sollte er danach entweder eine eigene „Praxis eröffnen oder eine akademische Karriere anstreben‘[20], würde ihn dies als „Knecht mit Knechten [...] einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener- Aristokratismus“[21] unterwerfen, was ihm ganz und gar zuwider war, zumal er die erbarmungslose Machtpolitik des Großherzogtums nicht billigen konnte. Seit dem Moment, in dem er in Oberhessen ankam, wurde Büchner täglich mit der sozialen Misere des Volkes konfrontiert, die ihn nicht mehr unberührt lassen sollte:

„Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu d. Laternen.[22]

Seine hier geäußerte Kritik am politischen System zielte auf die ergebnislosen Auseinandersetzungen zwischen der hessischen Regierung und der liberalen Opposition, die beide nicht an sozialen Reformen interessiert waren, während die Bevölkerung im Land permanente Ausbeutung ertragen musste und in kläglicher Armut lebte. Büchner deutet in diesem Zitat voller Wut auf seine „eigene Passivität“[23] hin, denn er konnte zu jener Zeit nichts anderes tun, als sich durch Beten die längst überfällige Revolution herbei zu wünschen.

Großen Zorn empfand Büchner auch über die Art und Weise, wie die Behörden gegen die republikanische Bewegung in Hessen vorgingen. Nach dem gescheiterten Frankfurter Wachensturm am 3. April 1833, bei dem auch einige ehemalige Mitschüler Büchners „als Gießener Burschenschafter [...] beteiligt waren[24], wurden von den etwa 50 Attentätern noch 28 verfolgt, fünfzehn waren bereits inhaftiert. Bei seiner Ankunft in Gießen Ende Oktober dauerten die Ermittlungen gegen die Beteiligten immer noch an und er beklagte sich, dass „wieder zwei Studenten verhaftet[25] wurden. Die Wachenstürmer hatten ursprünglich das Ziel, zuerst die Frankfurter Polizei zu überwältigen und anschließend das Bundestagsgebäude gewaltsam zu besetzen, um dann die Republik auszurufen, doch der Plan „eine allgemeine Revolution zu initiieren“[26] schlug durch Verrat fehl. Der Deutsche Bund und Fürst von Metternich reagierten auf den Putschversuch mit der Gründung der Frankfurter Bundeszentralbehörde, die eine „Verfolgung und gegenseitige[] Auslieferung von Aufrührern und politischen Flüchtlingen“[27] unter den Bundesländern garantierte und weitere einschneidende Einschränkungen zur Bundesverfassung hinzufügte, wie die strengere Überwachung von Universitäten und eine stärkere Vernetzung der Länder-Geheimpolizei untereinander. Da Büchner sich mit den Zielen der Wachenstürmer verbunden fühlte und sich ebenfalls eine Republik mit neuen sozialen Reformen erhoffte, konnte er das radikale Vorgehen der Obrigkeit nicht tolerieren. Die gegenwärtigen Zustände im Land waren für den sozial engagierten Studenten untragbar:

„Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen.

[...] Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? [...] Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? [...] dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, [...]‘[28]

Ein weiteres Problem für Büchner war der Konflikt mit dem Vater, der seine berufliche Zukunft betraf. Durch den Druck seines Vaters wechselte Büchner von der Universität Straßburg nach Gießen, denn jener fürchtete, dass der Anspruch seines Sohnes auf ein Amt im hessischen Staatsdienst mit einem längeren Studienaufenthalt im Ausland gefährdet sein könnte[29]. Nach dem damaligen Gesetz mussten alle hessischen Landeskinder zwei Jahre ihres Studiums in ihrem Heimatland absolvieren; Büchner hätte andernfalls den Arztberuf in Hessen nicht ausüben dürfen. Da er seinen Vater nicht enttäuschen wollte, fügte er sich widerwillig dem „medizinischen Brotstudium“[30] in Gießen, wohl wissend, dass Straßburg ihm bessere Forschungsmöglichkeiten im naturwissenschaftlichen Bereich hätte bieten können, und er musste von nun an seine eigenen Bedürfnisse weitgehend zurückstellen. Gewiss erwartete der Vater, der ebenfalls in Gießen studiert hatte und dort das „Doktordiplom für Chirurgie und Geburtshilfe“[31] erwarb, dass sein Sohn ebenfalls den Beruf des Arztes ergreifen und damit in seine Fußstapfen treten würde. Doch der junge Büchner hatte bereits andere Pläne für seine Zukunft: Er strebte schon länger eine naturwissenschaftliche Karriere an. Dennoch musste er sich nun „zu der ihm widerstrebenden Beschäftigung“[32] eines Medizinstudiums zwingen, das ihm die Zeit für seine wahren Interessen nahm, und fiel daher immer mehr in eine tiefe Depression.

Wäre die neue Situation für Büchner, sich mit der „abscheulichen“ Stadt und der vom Vater vorgegebenen beruflichen Zukunft erst einmal zu arrangieren, nicht schon nervenaufreibend genug gewesen, so kam erschwerend noch die Trennung von seiner zukünftigen Braut Wilhelmine Jaegle und seinen Freunden hinzu, die er in Straßburg zurücklassen musste. Er fühlte sich „wie in [sich] vernichtet"[33] seit er das Elsaß in Richtung Hessen verließ, abgestumpft und ohne jedes Gefühl im Inneren. So kam es, dass sich der normalerweise so lebensfrohe Mensch während dieser Gießener Studienzeit zum ersten Mal in einer derart seelischen und körperlichen Krise befand, wie er es noch nie vorher erlebt hatte. Seiner Familie klagte er in einem Brief sein Leid: „Ich komme nach Gießen in die niedrigsten Verhältnisse, Kummer und Widerwillen machen mich krank. “[34] Nur fünf Wochen nach seiner Ankunft musste Büchner wegen einer Hirnhautentzündung zurück zu seinen Eltern nach Darmstadt reisen. Während seines dortigen Aufenthaltes reflektierte er in einem Brief an seinen Freund August Stöber über seinen Krisenzustand und nannte einige mögliche Gründe hierfür:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Ich klagte über mich und spottete über andere; beides kann Dir zeigen, wie übel ich mich befand. [...] Du magst entscheiden ob die Erinnerung an 2 glückliche Jahre, und die Sehnsucht nach all dem, was sie glücklich machte oder ob die widrigen Verhältnisse unter denen ich hier lebe, mich in die unglückselige Stimmung setzen. [...] Hier ist Alles so eng und klein. Natur und Menschen, die kleinlichsten Umgebungen, denen ich auch keinen Augenblick Interesse abgewinnen kann. “[35]

Doch auch nach seiner Genesung und der anschließenden Rückkehr nach Gießen Anfang Januar 1834 schwand seine melancholische Stimmung nicht. Sogar Ludwig Wilhelm Luck, einem ehemaligen Klassenkameraden, der ebenfalls in Gießen studierte, fiel auf, dass „sich seiner (Büchners, C.N.) eine leidenschaftliche Unruhe bemächtigt hatte und er vieles verschlossen in sich herumwälz[t]e‘[36]. Der Versuch Büchners, sich mit der Metaphysik auseinander zu setzen, endete ebenfalls lediglich in Melancholie. Er „schien mit der Philosophie, mit sich und der Welt zu zerfallen“, da er weder seelisch noch körperlich mit sich im Einklang war und „die Nächte zu Tagen und die Tage zu Nächten mach[t]e‘[37], wie Luck weiter feststellte. Zweifellos war Luck einer der wenigen Menschen, die in Gießen über Büchners Befinden Bescheid wussten, denn dieser hielt sich in der ersten Zeit abseits und ließ kaum jemanden an sich heran. Die Einzigen, denen er während seiner Krisenwochen vertraute, waren seine alten Schulfreunde Ludwig Wilhelm Luck und die Brüder Georg und Friedrich Zimmermann, die er als seine „ treffliche[n] Freunde1[38] bezeichnete. Ebenso hielt sich Büchner von studentischen Treffen und Vergnügungen fern, denen er nicht das Geringste abgewinnen konnte. Zwar war er noch während seiner Darmstädter Zeit „in der Liste der revolutionär orientierten ,Germania’ verzeichnet[39], doch burschenschaftlichen Verbindungen konnte er in Gießen genauso wenig Interesse abringen wie den anderen gemeinschaftlichen Aktivitäten. Viel zu sehr war er damit beschäftigt „den Dingen, wie sie vor ihm lagen, auch den schwärzesten, so tief wie möglich in die Eingeweide zu sehen"[40] und er blieb abends lieber auf seinem Zimmer, wenn andere ihre Zeit in der Kneipe verbrachten. Wegen dieser Verhaltensweise wurde er von seinen Mitstudenten für unsympathisch und überheblich gehalten. Carl Vogt, ein Kommilitone, berichtete Folgendes über Büchner:„Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. [...] Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, [...] so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: ,Der Erhalter des europäischen Gleichgewichts, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!’"[41]

Anfang März 1834 erkrankte Büchner erneut an „unaufhörliche[m] Kopfweh und Fieber"[42]. Als er sich besser fühlte, teilte er Wilhelmine Jaegle in einem Brief seinen derzeitigen seelischen Zustand mit. Zum ersten Mal wurde er sich darüber bewusst, dass er sein Leben unter diesen Umständen nicht weiter führen wollte:

„Ich bin mir selbst schuldig, einem unerträglichen Zustand ein Ende zu machen. Meine geistigen Kräfte sind gänzlich zerrüttet. Arbeiten ist mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat sich meiner bemeistert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell wird. ‘[43]

Zur Auslegung dieser Aussage Büchners gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre zwei kontroverse Meinungen. Jan-Christoph Hauschild geht davon aus, dass Büchner während seiner Krisenmonate lediglich „streßkrank“ war und sich bis zur Erschöpfung überarbeitete[44]. Außerdem schreibt er dessen geistige Anspannung dem Sehnen nach der zukünftigen Braut zu[45]. Demgegenüber ist Henri Poschmann der Ansicht, dass der „unerträgliche Zustand“ Büchners auf die Geheimhaltung des Liebesverhältnisses mit Wilhelmine anspielt, das die Braut bald offiziell machen wollte. Büchner fürchtete die negative Reaktion seines Vaters, von dem er wusste, dass dieser das Verhältnis nicht billigen würde. Darüber hinaus passte das innerliche Verlangen, etwas an den politischen Verhältnissen des Großherzogtums zu ändern, ebenfalls nicht zu den Erwartungen, die man an einen zukünftigen Ehemann und Vater im 19. Jahrhundert richtete. So geriet der junge Mann immer mehr in einen unangenehmen Zwiespalt, der ihn bis zur Erschöpfung belastete. Letztlich war Büchner psychisch nicht im Stande, sein Geheimnis länger mit sich herumzutragen und wollte dem bedrückenden Zustand endlich ein Ende bereiten[46]. Für Poschmanns Interpretation spricht die Tatsache, dass Büchners Krise, die wohl doch schwerwiegender war als Hauschild vermutete, seinen weiteren Lebensweg prägte. Dafür sind besonders die politischen Aspekte, mit denen sich Büchner während der kritischen Zeit auseinander setzte, von Bedeutung. Seine psychische Verfassung kann deshalb gewiss nicht nur als „streßkrank“ abgetan werden, denn seine Ängste hatten, wie bereits erwähnt, einen tieferen Ursprung. Als Beispiel für die Auswirkung der Krise auf Büchners Zukunft kann seine Reaktion auf die politischen Verhältnisse in Hessen gesehen werden, die in Abschnitt 2.3. in Verbindung mit der „Gesellschaft der Menschenrechte“ und in Kapitel 4. den Hessischen Landboten betreffend noch ausführlich diskutiert werden soll.

2.1.1. Exkurs: Zu Büchners revolutionärer Vorprägung in Straßburg

„Manchmal fühle ich ein wahres Heimweh nach euren Bergen."[47] - Je mehr Büchner mit der deutschen Misere konfrontiert wurde, desto stärker sehnte er sich nach Straßburg, das ihm nach seinem zweijährigen

Studienaufenthalt als ein angemessener Ort zum leben erschien. Vor allem der vielfältigen Natur des Elsaß fühlte sich Büchner stark verbunden, denn er fand in ihr eine „Harmonie, die er in der von Widersprüchen zerrissenen Gesellschaft schmerzlich vermißte"[48]. Dazu kam, dass er dort Wilhelmine, die Tochter seines Vermieters Johann Jakob Jaegle, kennen lernte und sich in sie verliebte. Auch intellektuell konnte ihm die Stadt im Elsaß viel bieten: Die medizinische Fakultät der Akademie Straßburg, bei der er sich am 9. November 1831 einschrieb, besaß „tüchtige Lehrer"[49]. Büchner hörte vergleichende Anatomie und Zoologie bei Karl Heinrich Ehrmann und Georges-Louis Duvernoy, einem Schüler des bedeutenden französischen Naturforschers Georges Cuvier. Aus diesen Gründen, und auch seiner vielen Straßburger Freunde wegen, erklärte Büchner Straßburg zu seiner „zweiten Vaterstadt‘[50]. Betrachtet man im Gegensatz zu diesem „intellektuelle[n] und politischen[n] Zentrum von europäischem Format"[51] die furchtbaren Zustände im hessischen Gießen, so ist es nicht verwunderlich, dass Büchner dort in eine schwere Depression verfiel.

Bevor er schließlich von Straßburg nach Gießen ging, hatte sich der junge Student ein Bild von dem immer noch gegenwärtigen Engagement der französischen Bevölkerung machen können, die schon im Jahre 1830 beschlossen hatte, sich radikal gegen die reaktionäre Politik ihrer Regierung zur Wehr zu setzen - und das mit Erfolg. Die noch spürbaren Auswirkungen der Juli-Revolution kurbelten „gesellschaftliche Prozesse in einem gegenüber seiner (Büchners, C.N.) hessischen Heimat fortgeschrittenen politischen System“[52] an, welche Büchner voller Interesse mitverfolgte, als er fünfzehn Monate nach den Kämpfen nach Straßburg kam. Zwar kritisierte er, dass nach dem Sturz der Bourbonenherrschaft Karls X. die Geldaristokratie unter „Bürgerkönig“ Louis-Philippe von Orleans immer mächtiger wurde, doch er nahm auch wahr, und das war für ihn der entscheidende Punkt, dass die französischen Bürger wiederum couragiert darauf reagierten: Sie begannen regionale und nationale

Geheimverbindungen, Pressevereine und Lesegesellschaften zu bilden, deren Aufbau von der konspirativen bis zur legalen Verbindung reichte[53]. Nach dem Vorbild der geheimen Vereinigung „Societe des Droits de l’Homme et du Citoyen“, die mit den von Maximilien de Robespierre verfassten Grundsätzen die radikalste unter allen Verbindungen war und eine straffere Organisation als der Rest besaß, gründete Büchner in Gießen, und als Sektion in Darmstadt, im Frühjahr 1834 die konspirative „Gesellschaft der Menschenrechte“[54].

Unter dem neuen König Louis-Philippe erlebten die französische Wirtschaft und das Bürgertum einen gewaltigen Aufschwung, jedoch missachtete die Regierung die sozialen Missstände im Land völlig, was Büchner Anlass zur Erregung bot: „[...] das Ganze ist doch nur eine Komödie. Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt.“[55] Während der Zeit, in der sich der 18-jährige Büchner mitten im politischen Brennpunkt aufhielt, konnte sich dessen „Humanitätsgedanke“[56] weiterentwickeln. Der
zukünftige Beruf des Arztes, mit dem Büchner schon in früher Kindheit durch seinen Vater vertraut gemacht wurde, verlangte von einem Medizinstudenten von vornherein „die vorurteilsfreie Achtung des Menschen“[57]. Doch Büchner war jemand, der viel mehr suchte, als die Menschen nur zu achten: In Frankreich sowie in Deutschland ging es um gesellschaftliche Not und er war fest entschlossen, wenigstens das Volk seiner Heimat vor einem „Geldaristokratismus“[58], wie er sich in Frankreich immer mehr herausbildete, zu bewahren.

Büchners radikaler Republikanismus blieb gegenüber seinen Straßburger Freunden nicht lange ein Geheimnis. Bei den Sitzungen der Studentenverbindung „Eugenia“, der er sich um Pfingsten 1832 als ständiger Gast anschloss, legte er ihnen seine Ansichten über die deutsche politische Lage dar. Waren die anwesenden Eugeniden bei Diskussionen eher zurückhaltend, so regte Büchner die Gespräche zu hitzigen Debatten an und brachte die Dinge schnell auf den Punkt. Das Sitzungsprotokoll vom 5. Juli 1832 hielt fest, dass Büchner, „dieser so feurige und so streng republikanisch gesinnte deutsche Patriot [...] einmal wieder alle möglichen Blitze und Donnerkeule, gegen alles was sich Fürst und König nennt[59] feuerte. Anschließend wetterte er ebenso gegen die französische Verfassung, da auch die Aristokratie neben Fürsten und König berechtigt sei, Gesetze mitzubestimmen und daher das Wohl des französischen Volkes völlig unberücksichtigt bliebe[60].

Die Erfahrungen, die er während seiner Zeit in Frankreich gesammelt hatte, versuchte Büchner noch vor Ort zu verarbeiten und gedanklich auf Deutschland zu übertragen. Hilfreich war dabei, dass seine Eltern ihm in Briefen von der Situation in Hessen berichteten, so dass er über die aktuellen Vorgänge dort stets informiert war. Ihnen gegenüber äußerte er sich von Straßburg aus zum ersten Mal über seine zukünftigen revolutionären Absichten:

„Heute erhielt ich Euren Brief mit den Erzählungen aus Frankfurt. Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. [...] dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, [...] ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann. ‘[61]

In Büchners Straßburger Jahren lagen die Wurzeln zu seinem politischen Handeln in Oberhessen. Sein demokratisches Ideengut, das er verwendete, um von Gießen aus die hessischen Bauern zur Revolution aufzurufen, stammte aus den Erkenntnissen, die er durch die Französische Revolution von 1789 und die Juli-Revolution von 1830 gewonnen hatte. Ein Vorwissen über die erste große Revolution eignete sich Büchner schon während seiner Schulzeit am neuhumanistischen Gymnasium in Darmstadt an. Von da ab beschäftigte den glühenden „Vergötterer der Französischen Revolution‘[62] das Thema kontinuierlich bis es ihn endlich als Student selbst in das Land der Ereignisse verschlug. Mit Blick auf die gegenwärtigen Nachwirkungen der Juli-Revolution festigten sich Büchners Absichten, eine eigene Revolution in Deutschland zu entfachen.

Während des Aufenthaltes in Straßburg wurde sich Büchner über die Ablehnung des bürgerlichen Liberalismus bewusst, der „auch in seinen aktivistischen Vertretern seinem eigenen Wollen nicht genugtun konnte;[63]. Nach der Juli-Revolution gab es dort eine Reihe von bürgerlichen Liberalen, mit denen er aber keinen näheren Kontakt hatte und auch nicht haben wollte. Ihre politische Richtung konnte Büchner keineswegs überzeugen und er lehnte diese auch nach der Straßburger Zeit strikt ab. Auf diesen Aspekt wird noch in Verbindung mit Friedrich Ludwig Weidig und dem Hessischen Landboten einzugehen sein[64]. Im Zusammenhang mit Büchners negativer Einstellung gegenüber dem Liberalismus muss außerdem auf seinen Umgang mit der Lehre Saint-Simons hingewiesen werden, in der „er die tiefere Begründung seines Widerwillens gegen Liberalismus und Liberale“[65] fand. Saint-Simon war der Schöpfer des nach ihm benannten sozialistischen Systems, dem „Saint-Simonismus“, der die gesellschaftlichen Zustände nach der Französischen Revolution von 1789 als ungerecht beurteilte. Er kritisierte, dass die Umwälzung den Armen folglich das aufstrebende Bürgertum anstatt der adeligen Grundherren als neue Herrscher gegenübergestellt hatte, wodurch sich an ihrer misslichen Lage jedoch weiterhin nichts änderte. Büchner nahm sich die saint- simonistische Sozialkritik zum Vorbild, was durch seine „Bewertung der Produktivität oder Unproduktivität der verschiedenen Gesellschaftsklassen"[66] zum Ausdruck kam. Er erkannte, dass auch in Deutschland der produktive Teil der Bevölkerung der ärmste war, während der unproduktive Teil, nämlich die Regierung, die Herrschenden und neuerdings auch das Bürgertum, ihre Untätigkeit genossen und sich lieber am arbeitenden Volk bereicherten. Seine Ablehnung des Liberalismus begründete sich also damit, dass das aufstrebende Bürgertum für das Elend des Volkes mitverantwortlich war und Büchner fand, „es sei keine Kunst, ein ehrlicher Mann (ein Liberaler, C.N.) zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen habe‘[67]. Das Wohl des Volkes lag ihm so sehr am Herzen, dass er es nicht tatenlos seinem Schicksal überlassen wollte.

Noch in Straßburg entschied sich Büchner zu seiner ersten bewussten Handlung, die in Richtung der politischen Konspiration ging. Wie bereits oben im Zusammenhang mit dem Frankfurter Wachensturm erwähnt, war Büchner außer sich über die Reaktion der Behörden, die einige seiner früheren Darmstädter Mitschüler strafrechtlich verfolgten[68]. Er plante diese zu entlasten, da er selbst deren republikanische Gesinnung teilte. Seine Solidarität mit den Wachenstürmern ging sogar so weit, dass er „zwischen dem 10. August und 5. September 1833 vor dem Hofgericht seiner Heimatstadt‘[69] Darmstadt, wo er die restlichen Sommerferien verbrachte, bevor er zum Wintersemester an die Universität Gießen ging, eine Falschaussage zugunsten seines ehemaligen Mitschülers Christian Kriegk machte: „Ich wollte die Unschädlichkeit dieser Verschwörer eidlich

[...]


[1] Vgl. Hildesheimer, Wolfgang: Büchner-Preis-Rede 1966. In: Büchner-Preis-Reden 1951­1971. Reclam, Stuttgart 1972, S. 170.

[2] Berg, Klaus: Georg Büchner, ein hessischer Autor. In: Boehncke, Heiner und Hans Sarkowicz (Hg.): Ein Haus für Georg Büchner. Jonas, Marburg 1997, S. 72.

[3] Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchner. Biographie. Metzler, Stuttgart 1993 und Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchner. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004.

[4] Vogt, Carl: Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. Hg. von Eva-Maria Felschow u.a. Verlag der Ferber’schen Universitäts-Buchhandlung Gießen, Gießen 1997.

[5] Ruckhäberle, Hans-Joachim: Flugschriftenliteratur im historischen Umkreis Georg Büchners. Scriptor Verlag, Kronberg/Ts. 1975.

[6] Hauschild 2004, S. 45.

[7] Vgl. Mayer, Thomas Michael (Hg.): Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog der Ausstellung zum 150. Jahrestag des „Hessischen Landboten“. Jonas, Marburg, 3., verbesserte und vermehrte Auflage 1987, S. 114.

[8] Hauschild 2004, S. 30.

[9] Hauschild 1993, S. 238.

[10] Vogt 1997, S. 28.

[11] Vgl. Hauschild 1993, S. 238f.

[12] Vogt 1997, S. 68.

[13] Hauschild 1993, S. 237. Zitiert nach: Büchner, Alexander: Das „tolle“ Jahr. Vor, während und nach 1848. Von einem, der nicht mehr „toll“ ist. Erinnerungen. Gießen 1900, S. 374.

[14] Hauschild 1993, S. 237.

[15] Brinkmann, Heinrich: Politische Strategien im Vormärz (1815-1848) - Büchner und Liebig. In: Brake, Ludwig und Heinrich Brinkmann (Hg.): 800 Jahre Gießener Geschichte 1197-1997. Brühlscher Verlag, Gießen 1997, S. 153.

[16] Vgl. Geiß, Philipp H.: Büchners Wohnungen in Gießen. Eine Rekonstruktion. In: Georg Büchner Jahrbuch 6 (1986/87). Hg. von Thomas Michael Mayer. Hain, Frankfurt am Main 1990, S. 254.

[17] Vogt 1997, S. 69.

[18] Ebd.

[19] Büchner, Georg: Brief an Wilhelmine Jaegle (Gießen Mitte/Ende Januar 1834). In: Büchner, Georg: Schriften, Briefe, Dokumente. Hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 377.

[20] Hauschild 2004, S. 46

[21] Büchner, Georg: Brief an die Familie (um den 30. März 1834). In: Büchner 2006b, S. 386

[22] Büchner, Georg: Brief an August Stöber (9. Dezember 1833). In: Büchner 2006b, S. 376f

[23] Hauschild 1993, S. 268.

[24] Hauschild 2004, S. 41.

[25] Büchner, Georg: Brief an die Familie (1. November 1833). In: Büchner 2006b, S. 374.

[26] Wenzel, Manfred: Georg Büchner. Berühmter Student der Gießener Alma Mater. In: Carl, Horst u.a. (Hg.): Panorama 400 Jahre Universität Gießen. Akteure, Schauplätze, Erinnerungskultur. Societätsverlag, Frankfurt/M 2007, S. 73.

[27] Schaub, Gerhard: Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig „Der Hessische Landbote“. Texte, Materialien, Kommentare. Hanser, München/Wien 1976, S. 105.

[28] Büchner, Georg: Brief an die Familie (um den 6. April 1833). In: Büchner 2006b, S. 366

[29] Vgl. Wenzel 2007, S. 74.

[30] 30 Hauschild 2004, S. 52.

[31] 31 Dedner, Burghard: Georg Büchner aus Goddelau. In: Boehncke, Heiner und Hans Sarkowicz (Hg.): Ein Haus für Georg Büchner. Jonas, Marburg 1997, S. 9.

[32] 32 Hauschild 1993, S. 264.

[33] 33 Büchner, Georg: Brief an Wilhelmine Jaeglé (Mitte/Ende Januar 1834). In: Büchner 2006b, S. 378.

[34] 34 Büchner, Georg: Brief an die Familie (um den 30. März 1834). In: Büchner 2006b, S. 386.

[35] 35 Büchner, Georg: Brief an August Stöber (9. Dezember 1833). In: Büchner 2006b, S. 375.

[36] 36 Hauschild 1993, S. 264.

[37] 37 Hauschild 1993, S. 267.

[38] 38 Büchner, Georg: Brief an August Stöber (9. Dezember 1833). In: Büchner 2006b, S. 376.

[39] 39 Knapp, Gerhard Peter: Georg Büchner. Metzler, Stuttgart, 3., vollständig überarbeitete Auflage 2000, S. 20.

[40] 40 Büchner 2006b, S. 1095. Zitiert nach: Zimmermann, Georg: Georg Büchner und die Gesamtausgabe seiner Werke. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (Augsburg), Nr. 143 vom 22.5.1880, S. 2081.

[41] 41 Vogt 1997, S. 128.

[42] 42 Büchner, Georg: Brief an Wilhelmine Jaeglé (8./9. März 1834). In: Büchner 2006b, S. 380.

[43] 43 Ebd., S. 381.

[44] 44 Vgl. Hauschild 1993, S. 276.

[45] 45 Vgl. Hauschild 2004, S. 59.

[46] 46 Vgl. Poschmann, Henri: Briefe von und an Georg Büchner. Stellenkommentar. In: Büchner 2006b, S. 1095f.

[47] 47 Büchner, Georg: Brief an August Stöber (9. Dezember 1833). In: Büchner 2006b, S. 375.

[48] 48 Poschmann, Henri: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. Aufbau Verlag, Berlin/Weimar 1983, S. 18.

[49] 49 Viëtor, Karl: Georg Büchner als Politiker. Francke, Bern, 2. Auflage 1950, S. 31.

[50] 50 Hauschild 2004, S. 45.

[51] 51 Ebd, S. 31.

[52] 52 Hauschild 2004, S. 32.

[53] 53 Vgl. Ebd.

[54] 54 Vgl. hierzu Abschnitt 2.3., S. 24ff dieser Arbeit.

[55] 55 Büchner, Georg: Brief an die Familie (Dezember 1832). In: Büchner 2006b, S. 365.

[56] 56 Poschmann 1983, S. 19

[57] 57 Poschmann 1983, S. 19.

[58] 58 Becker, August: Verhör vom 1. November 1837. In: Büchner 2006b, S. 665.

[59] 59 Hauschild 2004, S. 38.

[60] 60 Vgl. Ebd.

[61] 61 Büchner, Georg: Brief an die Familie (um den 6. April 1833). In: Büchner 2006b, S. 366f.

[62] 62 Hauschild 2004, S. 25.

[63] 63 Viëtor 1950, S. 32.

[64] 64 Vgl. hierzu Kapitel 4., S. 52ff dieser Arbeit.

[65] 65 Mayer, Hans: Georg Büchner und seine Zeit. Limes Verlag, Wiesbaden 1946, S. 93.

[66] 66 Mayer 1946, S. 93.

[67] 67 Becker, August: Verhör vom 4. Juli 1837. In: Büchner 2006b, S. 662.

[68] 68 Vgl. hierzu Abschnitt 2.1., S. 10 dieser Arbeit.

[69] 69 Hauschild 1993, S. 266.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Georg Büchner als Rebell - Revolutionäre Ideen während der Studienzeit in Gießen 1833/34
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,8
Autor
Jahr
2008
Seiten
90
Katalognummer
V149777
ISBN (eBook)
9783640608348
ISBN (Buch)
9783640608799
Dateigröße
3168 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Georg, Büchner, Rebell, Revolutionäre, Ideen, Studienzeit, Gießen
Arbeit zitieren
Corinna Nauheimer (Autor:in), 2008, Georg Büchner als Rebell - Revolutionäre Ideen während der Studienzeit in Gießen 1833/34, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149777

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