Unzuverlässiges Erzählen im aktuellen Mainstreamkino. Eine Analyse von "Lucky Number Slevin"


Seminararbeit, 2009

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Aktueller Forschungsstand

3. Unzuverlässiges Erzählen im Film
3.1 Unzuverlässiges Erzählen und unzuverlässige Erzähler
3.2 Faktisch-mimetische und normativ-ideologische Unzuverlässigkeit
3.3 Misreporting und Underreporting

4. Unzuverlässiges Erzählen in LUCKY NUMBER SLEVIN
4.1 LUCKY NUMBER SLEVIN: Daten und Fakten
4.2 LUCKY NUMBER SLEVIN: Die Handlung
4.3 Ausprägungen unzuverlässigen Erzählens in LUCKY NUMBER SLEVIN
4.4 Handlungsverlauf und Zuschauerwissen
4.5 Hinweise, Andeutungen, Unstimmigkeiten

5. Fazit

6. Film- und Literaturverzeichnis

7. Internetquellen

8. Anhang

1. Einführung

Als Erzähler gilt „[i]n narrativen Texten diejenige Instanz, die die Information über die erzählte Welt vermittelt“.[1] Doch nicht immer vermittelt diese Instanz die Wahrheit. Narrative Unzuverlässigkeit gilt „als ein der Ironie verwandtes, widersprüchliches Erzählverhalten“.[2] Es ist „bereits in der antiken Romanliteratur zu finden“[3] und dementsprechend in der Literaturwissenschaft ausgiebig untersucht worden. Auch im Film gibt es „Erzähler, deren Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müssen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist.“[4] Filmcharaktere können Informationen verschweigen, und sie können lügen. Doch auch die Vorstellung der Filmkamera als neutraler Vermittlungsinstanz der erzählten Welt muss hinterfragt werden. Im Rahmen dieser Arbeit soll dargelegt werden, welche filmtypischen Formen des unzuverlässigen Erzählens existieren und wie sich diese analysieren und kategorisieren lassen. Anhand eines konkreten Analysebeispiels soll zudem gezeigt werden, wie es unzuverlässig erzählenden Filmen gelingt, das Publikum in die Irre zu führen – und wie das Publikum dies anhand typischer „Markierungen“ hätte bemerken können. Angelehnt an den im Rahmen des Seminars erarbeiteten „Mind-Bender“-Begriffs handelt es sich bei möglichen zu analysierenden Filmen um kommerziell erfolgreiche bzw. ausgerichtete Kinofilme, die den Zuschauer kognitiv herausfordern, ohne ihn zu überfordern. Die Herausforderung des Zuschauers wird typischerweise durch die Verwendung der narrativen Techniken des nonchronologischen, unzuverlässigen und/oder metaleptischen Erzählens hergestellt, gegen Ende des Films erfolgt jedoch eine lückenlose Aufklärung aller im Laufe des Handlungsverlaufs konstruierten Unklarheiten. Der Film LUCKY NUMBER SLEVIN erfüllt diese Voraussetzungen durch seine über weite Strecken analeptische und elliptische sowie durchgehend hochgradig unzuverlässige Erzählstruktur. Bei unzuverlässig erzählenden Filmen, die gegen Ende auf eine für den Zuschauer überraschende Auflösung zusteuern, unterscheidet sich die Erstrezeption fundamental von möglichen Folgerezeptionen. Wenn in dieser Arbeit vom Zuschauer oder Rezipienten die Rede ist, ist damit zu jeder Zeit ein prototypischer Erstrezipient ohne handlungs- oder figurenspezifisches Vorwissen gemeint.

2. Aktueller Forschungsstand

In der Filmnarratologie finden sich vermehrt Publikationen, die sich mit dem Phänomen der narrativen Unzuverlässigkeit auseinandersetzen, denn seit Mitte der 1990er Jahre ist zu beobachten, dass auch Filme, die in hohem Maße gezielt narrative Strategien zur Verunsicherung des Zuschauers einsetzen, finanziell erfolgreich sind. Als Prototyp dieses relativ jungen Mikrogenres gilt PULP FICTION. Der inzwischen zum Kultfilm avancierte Gangsterfilm bewies durch seinen enormen – wenn auch zunächst unerwarteten – Erfolg, dass auch Filme mit komplexer Erzählstruktur beim Publikum durchaus Anklang finden. In der Folge versuchten zahlreiche Hollywood-Produktionen, an den Erfolg von PULP FICTION anzuknüpfen. Diese von Steven Johnson als „mind-bender“[5] titulierten Produktionen „[are] built around fiendishly complex plots, demanding intense audience focus and analysis just to figure out what’s happening on the screen“.[6] Laut David Bordwell zeichnen sie sich durch „paradoxical time schemes, hypothetical futures, digressive and dawdling action lines, stories told backwards and in loops, and plots stuffed with protagonists“[7] aus und beinhalten nicht selten unzuverlässige Erzähler bzw. unzuverlässig erzählte Handlungsabläufe. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen erfolgt auch im deutschsprachigen Raum. Der Sammelband „Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film“ aus dem Jahr 2005 wagt die Grenzüberschreitung zwischen Literatur- und Filmwissenschaft und stellt neben den Ursprüngen und Gemeinsamkeiten dieser Disziplinen auch die spezifischen Charakteristika des unzuverlässigen Erzählens im Medium Film heraus.[8] Es erschienen in den letzten Jahren zudem zahlreiche Aufsätze, die sich mit unzuverlässigem Erzählen ausschließlich im Film befassen. Beispielhaft genannt sei hier ein von Jörg Helbig und Angela Krewani im Jahr 2006 herausgegebener Sammelband.[9] Dieser vereint zahlreiche Analysen unzuverlässig erzählender Filmproduktionen der letzten Jahre. Der anhaltende Trend einer zunehmenden narrativen Komplexität moderner (Hollywood-)Produktionen soll so wissenschaftlich greifbar gemacht werden.

3. Unzuverlässiges Erzählen im Film

Das Verständnis einiger grundlegender Begriffe und Analysewerkzeuge der Filmnarratologie kann für die tiefer gehende Auseinandersetzung mit unzuverlässig erzählenden Filmen als obligatorisch gelten. Die zu differenzierenden filmcharakteristischen Merkmale des unzuverlässigen Erzählens seien im Folgenden zusammenfassend dargelegt.

Unter dem Schlagwort der Fokalisierung wird in der Literaturwissenschaft untersucht, aus welcher Sicht ein Geschehen erzählt wird. Nach Genette wird dabei zwischen Nullfokalisierung (der Erzähler weiß mehr als die Figur), externer Fokalisierung (der Erzähler weiß weniger als die Figur) und interner Fokalisierung (das Erzählerwissen deckt sich mit dem Wissen der Figur) unterschieden.[10] Dieses Fokalisierungsverständnis ist für die Filmanalyse nicht adäquat; im Film existiert zusätzlich zu möglichen sprachlichen Erzählern immer auch eine (audio-)visuelle Erzählinstanz, die „nachfolgend grundsätzlich als Perspektive einer Fokalisierungsinstanz betrachtet“ wird.[11] Nach Jörg Helbig „kann die Fokalisierung mehr oder weniger eng an eine Figur gebunden sein […]. Es lässt sich daher zwischen persönlichen (figurengebundenen) und unpersönlichen (nicht figurengebundenen) Fokalisierungsinstanzen unterscheiden“.[12] Die visuelle Erzählinstanz im Film wird oft als eine allwissende, unpersönliche und damit neutrale Erzählinstanz betrachtet. Obwohl oder gerade weil es im Film häufig „zu einer großen Schere zwischen dem Blickpunkt der Kamera und dem Standort der Erzählerfigur“[13] kommt, kann auch die visuelle Erzählinstanz eine nicht neutrale Position einnehmen. Sie kann bestimmte Inhalte ausblenden oder gezielt in den Vordergrund rücken. Im Hinblick auf die Analyse unzuverlässiger Erzählformen ist dies von besonderer Bedeutung, da bei unzuverlässig erzählenden Filmen nicht selten „eine scheinbar unpersönliche [bildlogische] Fokalisierung in Wahrheit figurengebunden“[14] und der Glaubwürdigkeit vermittelnde Eindruck einer anscheinend neutralen audiovisuellen Erzählinstanz somit trügerisch ist.

3.1 Unzuverlässiges Erzählen und unzuverlässige Erzähler

Das Medium Film unterscheidet sich von Textmedien wie Büchern grundlegend dadurch, dass eine visuelle Vermittlungsinstanz existiert, die dem Rezipienten unabhängig von der sprachlichen Erzählinstanz Informationen liefert – und auch diese Informationen können falsch sein. Werden dem Zuschauer Bilder oder Töne gezeigt, deren Inhalt auf der Bedeutungsebene nicht der Realität entspricht, wird dies als unzuverlässiges Erzählen durch die audiovisuelle Erzählinstanz bezeichnet. Werden von einer durch eine Filmfigur oder einer durch eine Off-Stimme repräsentierten sprachlichen Erzählinstanz Fehlinformationen verbreitet, spricht man dagegen von einem unzuverlässigen Erzähler. Der unzuverlässige Erzähler muss nicht zwingend bewusst lügen. Nicht selten resultiert die Unzuverlässigkeit ihrer Darstellungen aus psychischen Erkrankungen bzw. Wahnvorstellungen der jeweiligen Charaktere.[15]

3.2 Faktisch-mimetische und normativ-ideologische Unzuverlässigkeit

Unterschieden werden muss zudem zwischen der faktisch-mimetischen und der normativ-ideologischen Unzuverlässigkeit. Die nicht korrekte oder unvollständige Wiedergabe eines unabänderlich feststehenden Sachverhalts wird als faktisch-mimetische Unzuverlässigkeit bezeichnet. Dies bezieht sich sowohl auf unzuverlässiges Erzählen als auch auf die Ausführungen eines unzuverlässigen Erzählers (vgl. Kapitel 4.1). Eine normativ-ideologische Unzuverlässigkeit liegt vor, wenn „sich die Aussagen eines Erzählers tendenziell nicht im Einklang mit den moralischen Normen des Textes befinden“.[16] Diese Form der Unzuverlässigkeit ist jedoch selten zu finden und spielt zudem für das weitere Verständnis des im Folgenden zu analysierenden Films keine Rolle.

3.3 Misreporting und Underreporting

Eine weitere Differenzierung betrifft Ausmaß und Qualität der erzählerischen Unzuverlässigkeit. Diese Unterscheidung bezieht sich sowohl auf die sprachliche als auch auf die audiovisuelle Erzählinstanz. Misreporting bezeichnet die bewusste oder unbewusste Vermittlung nicht zutreffender Bedeutungsinhalte. Diese kann entweder als audiovisuelle Darstellung nicht zutreffender Handlungselemente durch die audiovisuelle Erzählinstanz oder durch Falschaussagen der handelnden Charaktere bzw. Off-Stimmen erfolgen. Werden dem Rezipienten Informationen vorenthalten, die zur korrekten Rekonstruktion bzw. Deutung der Handlung notwendig sind, liegt dagegen eine Form von Underreporting vor. Weder die sprachliche noch die audiovisuelle Erzählinstanz stellen in diesem Fall Sachverhalte falsch dar, es werden stattdessen wesentliche Handlungsaspekte nicht dargestellt.

Helbigs Fokalisierungsverständnis und die auf ihn zurückgehende Kategorisierung narrativer Unzuverlässigkeit bilden die Basis der folgenden Analyse von LUCKY NUMBER SLEVIN als typisches Beispiel eines unzuverlässig erzählenden Films.

[...]


[1] Weimar, Klaus (Hrsg.) (2007): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin/New York: Verlag Walter de Gruyter, S. 502.

[2] Liptay, Fabienne; Wolf, Yvonne (Hrsg.) (2005): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Richard Boorberg Verlag, S. 12.

[3] vgl. Martinez, Matias; Scheffel, Michael (1999): Einführung in die Erzähltheorie (7. Auflage). München: Verlag C.H. Beck, S. 100.

[4] Ebd.

[5] Johnson, Steven (2005): Everything Bad Is Good For You – how today’s popular culture is actually making us smarter. New York: Riverhead Books, S. 129.

[6] Ebd.

[7] Bordwell, David (2006): The way Hollywood tells it. Story and Style in Modern Movies. Berkeley, Kalifornien: University of California Press, S. 73.

[8] vgl. Liptay; Wolf: Was stimmt denn jetzt?

[9] Helbig, Jörg; Krewani, Angela (Hrsg.) (2006): Camera doesn’t lie. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier.

[10] Martinez, Matias; Scheffel, Michael (1999): Einführung in die Erzähltheorie (7. Auflage). München: Verlag C.H. Beck, S. 64.

[11] Helbig, Jörg: ‚Follow the White Rabbit!’ Signale erzählerischer Unzuverlässigkeit im Zeitgenössischen Spielfilm. In: Liptay; Wolf: Was stimmt denn jetzt? S. 134.

[12] Ebd.

[13] Koebner, Thomas: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen im Film. In: Liptay; Wolf: Was stimmt denn jetzt? S. 30.

[14] Helbig: ‚Follow the White Rabbit!’, S. 134.

[15] vgl. Helbig; Krewani: Camera doesn’t lie.

[16] Helbig: ‚Follow the White Rabbit!’, S. 134.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Unzuverlässiges Erzählen im aktuellen Mainstreamkino. Eine Analyse von "Lucky Number Slevin"
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Germanistik II)
Veranstaltung
Von komplizierten Geschichten und unzuverlässigen Erzählern: ‚Mind-Bender’ im aktuellen Mainstreamkino
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
21
Katalognummer
V164930
ISBN (eBook)
9783640802173
ISBN (Buch)
9783640802654
Dateigröße
612 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medienwissenschaft, Filmanalyse, Unzuverlässiges Erzählen, Unzuverlässiger Erzähler, Mainstreamkino, Lucky Number Slevin, Mind-Bender, Mindbender, Erzähltheorie, Literaturwissenschaft, Erzählperspektive, Sequenzprotokoll, Figurenkonstellation, Hollywood, Kino, Film, Filmgenre, Filmtheorie, Kinofilm, Genre
Arbeit zitieren
Jan Horak (Autor:in), 2009, Unzuverlässiges Erzählen im aktuellen Mainstreamkino. Eine Analyse von "Lucky Number Slevin", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164930

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