Fontanes „Effi Briest“ auf der Leinwand

Eine Eltern-Kind-Beziehung im Wandel der Zeit


Magisterarbeit, 2011

92 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Zum Forschungsgegenstand Literaturverfilmung
1. Die Literaturverfilmung: Ein Rückblick
2. Die Wechselbeziehung von Literatur und Film
3. Zum Konfliktfeld Literaturverfilmung

III. Historisch-sozialer Bezugsrahmen: Das 19. Jahrhundert
1. Die Gesellschaft im 19. Jahrhundert: Eine Skizze
2. Adliges Familienleben im 19. Jahrhundert
2.1 Standestypisches Verhalten als höchstes Erziehungsziel
2.2 Die adlige Ehe

IV. Fontanes Romanvorlage
1. Elisabeth von Ardenne als historisches Vorbild
2. Effi und ihre Eltern im Roman: Ein Überblick
3. Familie Briest: Ein zeittypisches Eltern-Kind-Konzept?

V. Effi Briest auf der Leinwand
1. Gustaf Gründgens: Der Schritt vom Wege (1939)
1.1 Politischer und nicht politischer Film im Nationalsozialismus
1.2 Familie in Ideologie und Film
1.3 Der Schritt vom Wege: Kurzcharakteristik
1.4 Rollentausch der Eltern
1.4.1 Szenenanalyse: Die verstoßene Tochter
1.4.1.1 Die Handlungsanalyse
1.4.1.2 Analyse der Bauformen
1.4.1.3 Darstellung von Luise und Briest
2. Rudolf Jugert: Rosen im Herbst (1955)
2.1 Familie in Heimatfilm und Adenauer-Ära
2.2 Rosen im Herbst: Kurzcharakteristik
2.3 Ablehnung der elterlichen Unterstützung
2.3.1 Szenenanalyse: Verzicht
2.3.1.1 Die Handlungsanalyse
2.3.1.2 Analyse der Bauformen
2.3.1.3 Darstellung der Vater-Tochter-Beziehung
3. Wolfgang Luderer: Effi Briest (1970)
3.1 Film zur Zeit der DDR
3.2 Familie in der DDR
3.3 Effi Briest: Kurzcharakteristik
3.4 Instetten als Vaterfigur
3.4.1 Szenenanalyse: Erziehung
3.4.1.1 Die Handlungsanalyse
3.4.1.2 Analyse der Bauformen
3.4.1.3 Darstellung von Effi und Instetten
4. Rainer Werner Fassbinder: Fontane Effi Briest (1974)
4.1 Rainer Werner Fassbinder als Vertreter des Neuen Deutschen Films
4.2 Die Westdeutsche Familie in den 70er Jahren
4.3 Fontane Effi Briest: Kurzcharakteristik
4.4 Gesellschaftliches Ansehen versus Kinderliebe
4.4.1 Szenenanalyse: Effis Tod
4.4.1.1 Die Handlungsanalyse
4.4.1.2 Analyse der Bauformen
4.4.1.3 Darstellung der Eltern Briest
5. Hermine Huntgeburth: Effi Briest (2009)
5.1 Familie heute
5.2 Effi Briest: Kurzcharakteristik
5.3 Mutter und Tochter als Konkurrentinnen
5.3.1 Szenenanalyse: Intime Briefe
5.3.1.1 Die Handlungsanalyse
5.3.1.2 Analyse der Bauformen
5.3.1.3 Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung

VI. Schlussbetrachtung

VII. Abbildungsverzeichnis

VIII. Glossar zur Filmanalyse

IX. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Insgesamt fünfmal wurde der Gesellschaftsroman Effi Briest von Regisseuren verschiedenster Generationen verfilmt. 1939 während des Nationalsozialismus drehte Gustaf Gründgens Der Schritt vom Wege. Zu Zeiten der Adenauer-Ära und der Heimatfilmwelle folgte 1955 die zweite Verfilmung von Rudolf Jugert mit dem Titel Rosen im Herbst. In der DDR entstand unter der Regie von Wolfgang Luderer 1969 Effi Briest. Nur wenige Jahre später widmete sich Rainer Werner Fassbinder in Westdeutschland Fontanes Klassiker. 1974 drehte der Autorenfilmer mit Fontane Effi Briest seine Version des Romans. Die aktuellste Verfilmung, Effi Briest von Hermine Huntgeburth, ist 2009 erschienen und betrachtet die Vorlage erstmals aus weiblicher Perspektive.

Da die fünf Verfilmungen zugleich Filmgeschichte, Regiestile und Epochen der Geschichte Deutschlands widerspiegeln, erwies sich eine vergleichende Analyse als reizvolle Aufgabe für eine Magisterarbeit. Fontanes Werk als Thema zu wählen, ist auch aus Sicht der Literaturwissenschaft spannend. Schließlich bilden die fünf Adaptionen fünf zum Teil sehr unterschiedliche Interpretationen des Klassikers im Zuge des literarischen Rezeptionsprozesses. Als Untersuchungsschwerpunkt der Arbeit wurde die Darstellung der Eltern-Kind-Beziehung zwischen Protagonistin Effi und ihren Eltern gewählt. Gerade die Sicht auf das Familiensystem hat sich in der bemerkenswerten Entstehungsspanne von rund 70 Jahren stark verändert. So ist nicht nur die vergleichende Betrachtung der fünf Filme Ziel dieser Arbeit. Zusätzlich soll versucht werden, die unterschiedlichen Darstellungsweisen der Regisseure in den Kontext der Entstehungszeit zu bringen.

Einleitend wird zunächst ein entsprechender Überblick über das Genre der Literaturverfilmung und dessen Entwicklung geschaffen, um die einzelnen Verfilmungen einordnen zu können. In Ansätzen soll zudem die intensive Beziehung zwischen Literatur und Film aufgezeigt und somit gleich zu Beginn auf die Problematik dieses Verhältnisses hingewiesen werden. Um Effi Briest sozialhistorisch einordnen zu können, folgt ein kurzer Abriss relevanter Themen zu Gesellschaftssystem und Familie im 19. Jahrhundert. Wie Fontane dies in seinem Roman verarbeitet hat, wird im nächsten Schritt aufgezeigt. Eine kurze, chronologisch aufgebaute Betrachtung der Familie Briest soll dabei den Filmanalysen vorangehen.

Da die vorliegende Arbeit keine Werktreue-Diskussion darstellen soll, wird auf eine explizite Analyse des Romanstoffs an dieser Stelle verzichtet. Fontanes Vorlage wird als Ausgangspunkt betrachtet und lediglich bei Verknüpfungspunkten, die einen Vergleich unbedingt fordern, herangezogen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt vielmehr auf der Herausarbeitung der wesentlichen Unterschiede zwischen den fünf filmischen Bearbeitungen. Die hierfür ausgewählten Szenen werden aufgrund ihrer besonders starken Aussagekraft bezüglich der Eltern-Kind-Beziehung analysiert. Ein abschließendes Resümee, das die gewonnenen Ergebnisse noch einmal aufgreift und miteinander verbindet, bildet das Ende der Arbeit.

II. Zum Forschungsgegenstand Literaturverfilmung

Das Verhältnis von Literatur und Film ist seit jeher ein enges. Seit den Anfängen des kinematografischen Mediums ist die Verarbeitung literarischer Stoffe selbstverständlich.1 Die intensive Beziehung mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu kennen, ist Voraussetzung für die Analyse einzelner Literaturverfilmungen. Vor dem praktischen Teil der Arbeit soll deshalb der Forschungsgegenstand theoretisch betrachtet werden. Hinsichtlich der unterschiedlichen Entstehungszeiten der Filme wird zunächst rückblickend auf die Geschichte dieses Genres eingegangen. Im Mittelpunkt soll die Literaturverfilmung in Deutschland stehen. Bedeutende Entwicklungen in Frankreich oder den USA werden ebenfalls angedeutet, um den Gesamtprozess besser nachvollziehen zu können. Die folgenden Ausführungen zum Verhältnis von Literatur und Film werden sich dem Thema entsprechend auf den Roman und den Spielfilm beziehen. Mit einer ergänzenden Erörterung der allgemeinen Problematik, mit der sich die Literaturverfilmung auseinandersetzen muss, schließt die theoretische Betrachtung zum Forschungshintergrund des Genres.

1. Die Literaturverfilmung: Ein Rückblick

Für das neue kinematografische Medium bildete die Literatur schon in der Frühzeit seiner Herausbildung das wichtigste Stoffreservoir in Form von epischer Dichtung und Bühnenstücken. Ausschnitte aus beliebten literarischen Werken wurden in langen, nur aus einer einzigen Einstellung bestehenden Filmen wiedergegeben. Wegen der bekannten Vorlage war es für das Publikum ein Leichtes, den Handlungszusammenhängen des Stummfilms zu folgen. Ab 1907 erleichterten erklärende Zwischentitel das filmische Erzählen. Zu den wichtigsten kinematografischen Werken der Frühphase zählen unter anderem Le voyage dans la lune (Frankreich 1902), Alice in Wonderland (U.K. 1903) und Call oft the wild (USA 1908). In der Zeit des Stummfilms, der sich gerade von 1912 bis 1929 stark entwickelte, kam es zu einer Differenzierung der Technologie und künstlerischer Verfahren. Die bewegliche Kamera, die Großaufnahme, Rück- und Zwischenblenden oder die Montage mit Schnitttechniken wurden schon 1915 vom amerikanischen Regisseur David Wark Griffith in Birth of a nation eingesetzt. Mit der Einführung des Tonfilms verringerte sich für die Filmemacher die Bedeutung literarischer Werke für ihre Arbeit. Die neuen Errungenschaften in der Gestaltung des Films wie etwa Filmmusik oder sprechende Schauspieler zogen das Interesse des Publikums auf sich.

Die Literaturverfilmung blieb jedoch international ein beständiger Faktor der Spielfilmproduktion.2

Auf Wiederstand stieß die Begegnung zwischen altehrwürdiger Kunst und neuem Medium in Europa. In Frankreich kam es zur Gründung von Gesellschaften wie der Film d`Art im Jahr 1907, die den Film kulturfähig machen und ihn gleichzeitig für den kommerziellen Gebrauch erschließen sollten.3 Die Literaturverfilmung erschien als ein geeignetes Mittel, auch das Bürgertum ins Kino zu bewegen. Gleichzeitig entfachte eine Diskussion darüber, ob die Anwendung des neuen Mediums auf die Literaturtradition legitim sei. Die Forderung der Werktreue wurde laut und zum wichtigen Maßstab erhoben. Um 1920 kam es zu einer Gegenbewegung, bei der Mitglieder der literarischen Avantgarde das Potenzial des neuen Mediums, das sogar das Theater übertreffen könne, betonten. Sie waren einer Meinung mit den Filmtheoretikern, die die Abwendung des kinematografischen Mediums von der Literatur und die Schaffung eines reinen Films forderten. Ende der 1950er Jahre verbreitete die Schule der Cahiers du Cinéma jedoch erneut einen literarisch reflektierten Ansatz. Regisseure wie Francois Truffaut oder Jean-Luc Godard vertraten die Meinung, dass dem Film ein Literaturbegriff von größerer Bedeutung innewohne, ein Regisseur einen Film wie Literatur erschaffe und die Realisierung eines literarischen Textes zu einem persönlich gefärbten Film führen müsse.4

In Deutschland wurde seit 1912 überwiegend Gegenwartsliteratur verfilmt. Schriftsteller versuchten sich im Sinne des „Autorenfilms“5 als Dramaturgen und bearbeiteten eigene oder fremde Texte. Dem kinematografischen Medium wurde einerseits Kunstlosigkeit wegen des fehlenden verbalen Elements vorgeworfen und vor allem auch die Zerstörung des Originals. Andererseits jedoch wurde ihm ebenso veröffentlichter literarischer Texte als auch Originaldrehbücher literarisch etablierter Autoren verstanden. Vgl. Franz-Josef Albersmeier, Von der Literatur zum Film, S. 28.

der Rang einer visuellen Kunstform zugesprochen.6 Mit Einführung des Tonfilms konnte das literarische Wort stärker gewichtet werden. Bedeutende Leistungen waren hierbei unter anderem Der blaue Engel (1930) oder Berlin Alexanderplatz (1931).7 Neben Gustaf Gründgens` Effi-Briest-Verfilmung Der Schritt vom Wege (1939) entstanden nur sehr wenige Literaturverfilmungen zur Zeit des Nationalsozialismus. In seinen „Sieben Film-Thesen“ forderte Joseph Goebbels, dem alle filmpolitischen Institutionen unterstanden, dass sich der Film von anderen Künsten lösen und auf eigenen Beinen stehen müsse.8

Nach Kriegsende und der Teilung Deutschlands in Ost und West wurde die Filmproduktion in Ostdeutschland zum einen kulturpolitisch reglementiert, zum anderen agierten Regisseure künstlerisch selbstbestimmt. In der Frühphase spielten Filme zur Aufarbeitung des Faschismus wie Die Mörder sind unter uns (1946) eine wichtige Rolle. Im Folgenden wurden vermehrt Gegenwartsfilme gedreht, darunter Die Legende von Paul und Paula (1970). Auch Literaturverfilmungen wie Wolfgang Luderers Effi Briest (1970) erlebten im Osten Deutschlands einen Aufschwung, überwiegend um das kulturelle Erbe zu aktualisieren.9

In Westdeutschland waren es vor allem Auslandsproduktionen, die das Kino dominierten. Das folgende Jahrzehnt wird filmkulturell als stagnierende Phase betrachtet. Die Produktion von Literaturverfilmungen nahm zwar wieder zu, doch besondere Leistungen bleiben dabei aus.10 Literaturverfilmungen in den 1950er Jahren wie Rudolf Jugerts Rosen im Herbst (1955) verweigerten ebenso wie die damals beliebten Heimat- und Unterhaltungsfilme experimentelle Elemente und die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Sie bebilderten lediglich ihre literarische Vorlage.11 Im Jahr 1962 änderte sich dieses Konzept. Mit dem Oberhausener Manifest kam es zu einer intellektuell bestimmten Wende. Junge Filmemacher wie Alexander Kluge oder Rainer Werner Fassbinder vertraten die Meinung, ein Regisseur müsse wie ein Autor arbeiten. Er sei für das Gesamtkonzept seines Films verantwortlich und Ziel einer Literaturverfilmung sei es, der eigenen Interpretation Ausdruck zu verleihen. Dem Begriff „Autorenfilm“ kam somit eine neue Bedeutung zu.12 Unter den Werken des Neuen Deutschen Films sind zahlreiche Literaturverfilmungen zu finden, die durch ihren hohen Anspruch eine Herausforderung an das Publikum darstellten.13

Bis zum Ende der 70er Jahre kam es zu einer Hochphase der Literaturverfilmung, die sich nicht zuletzt auch mit der Gremienförderung, die auf die Filmadaption als Kulturförderung setzte, erklären lässt. Hierzu zählen Projekte wie Rainer Werner Fassbinders Fontane Effi Briest (1974), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) und Die Blechtrommel (1979).14 Das Ende des Neuen Deutschen Films wird allgemein mit dem Tod Rainer Werner Fassbinders 1982 in Verbindung gebracht. Das Autorenkino verlor für die Mehrzahl des Publikums seinen Reiz. Schnell hielten auf kommerziellen Erfolg ausgerichtete Filme Einzug in die deutschen Kinosäle. Den größten Anteil an den Besucherzahlen hatten Produktionen aus den USA. Der Marktanteil deutscher Filme, darunter vermehrt Komödien, betrug 1991 gerade einmal 13,6 Prozent. Immerhin vier Literaturverfilmungen gehörten zu den einhundert größten Kassenerfolgen zwischen 1980 und 1987: Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981), Die unendliche Geschichte (1984), Momo (1986) und Der Name der Rose (1986).15

Als ein „Sammelsurium, in dem die Strömungen und Tendenzen, die inhaltlichen wie ästhetischen Richtungen und Autorenhaltungen der vergangenen Jahrzehnte isoliert nebeneinander standen“16 beschreibt Katja Nicodemus den Film der 90er Jahre. US- Produktionen und deutsche Komödien waren weiter erfolgreich. Die großstädtische Beziehungskomödie war dabei das aufstrebendste Genre des deutschen Films.

Literarische Bestseller wie Das Superweib (1996) von Hera Lind dienten als Vorlage. Auch die Schwarze Komödie mit Verfilmungen wie Die Apothekerin (1997) oder Die Häupter meiner Lieben (1999) von Werken Ingrid Nolls war beim Publikum beliebt.17 Als Symbolfilm eines neuen deutschen Kinowunders gilt Tom Tykwers Lola rennt (1998). Nach einer langen Zeit des belanglosen Unterhaltungskinos war der Weg endlich frei für ein neues Kino. Junge Regisseure entdeckten das Interesse an Figuren und Geschichten wieder. Überwiegend wurden Originaldrehbücher genutzt, von denen ein Großteil wie zu Zeiten des Autorenkinos von den Regisseuren selbst verfasst wurde. Doch auch literarische Stoffe, bevorzugt von Autoren der Gegenwart, dienten ihnen als Vorlage. So verfilmte Hans-Christian Schmid Benjamin Leberts Crazy (2000), Caroline Link Stefanie Zweigs Nirgendwo in Afrika (2001) oder Tom Tykwer Patrick Süskinds Roman Das Parfum (2006). Auch Verfilmungen von Klassikern wie Die Buddenbrooks (2008) von Heinrich Breloer oder Effi Briest (2009) unter der Regie von Hermine Huntgeburth waren zuletzt im deutschen Kino zu sehen.18

In den USA rangierten Literatur und Film nahezu nebeneinander in der hierarchischen Ordnung. Die in Frankreich oder Deutschland ständig zu beobachtende Kluft zwischen den beiden Medien hat keine Entsprechung in den USA. Das kinematografische Medium konnte sich neben dem älteren etablieren und wurde sogar zu einem Markenzeichen für die amerikanische Kultur. Viele Schriftsteller arbeiteten mit der Filmindustrie zusammen und von Beginn an war die Literaturverfilmung stark in der Spielfilmproduktion vertreten. Beinahe alle Klassiker der nationalen Literatur sowie unzählige Werke der Trivialliteratur wurden in Spielfilme transformiert. Der Rückgriff auf literarische Vorlagen schien in den USA nahezu selbstverständlich.19

2. Die Wechselbeziehung von Literatur und Film

„Das Aufgreifen bereits vorhandener, literarisch oder in anderer künstlerischer Form gestalteter Stoffe, Handlungen, Motive stellt eine Grundform kultureller Überlieferung und Traditionsbildung dar“20, schreiben Gast, Hickethier und Vollmers über die Adaptionsgeschichte. Zahlreiche ältere Werke liegen uns nicht mehr im Original, sondern lediglich in einer Kopie, Bearbeitung oder Neufassung vor. Gerade im Zeitalter moderner Massenmedien wurde die Adaption zu einem selbstverständlichen Prozess.21 Doch die Beziehung von Literatur und Film ist eine komplexe und zugleich intensive, eine Beziehung voller Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die sich auch auf die Konzeption von Literaturverfilmungen auswirkt.

Am engsten verknüpft ist der Spielfilm nach James Monaco nicht mit der Malerei oder dem Drama, sondern wie bei vorliegendem Beispiel Effi Briest mit dem Roman. Sowohl Film als auch Roman erzählen lange Geschichten mit einer Fülle an Einzelheiten. Sie entführen Leser oder Zuschauer in eine fiktionale Welt.22 Bei Roman und Spielfilm handelt es sich jedoch um zwei grundlegend verschiedene Medien mit unterschiedlichen Kommunikationssystemen. Literatur besteht aus Schriftsprache und verfügt somit über eine linguistische Erzählweise, der Film kombiniert verschiedene Zeichensysteme miteinander. Das Wichtigste ist hierbei die Bildsprache, das Zweitwichtigste die gesprochene Sprache. Hinzu kommt die nonverbale Sprache wie Mimik und Gestik der Schauspieler. In der Stummfilmzeit kam dieser Form eine außerordentlich wichtige Bedeutung zu.23 Mit Schrift- und Bildsprache kann jedoch auch in besonderer Weise gespielt werden, wie etwa Fassbinders Fontane Effi Briest zeigt. Hans Vilmar Geppert merkt hierzu an, dass die statisch agierenden Personen der Sprache hierbei manchmal ausdrücklich mehr Bedeutung als Bildern oder Bewegungen zukommen lassen.24

Des Weiteren gilt der Film allgemein als begrenzter, da dieser in tatsächlicher Zeit stattfindet. In den letzten Jahren waren erfolgreiche Romane häufig Material für kommerzielle Spielfilme, was für Verlage einen nicht unerheblichen ökonomischen Faktor bedeutet. Die zeitliche Spanne eines Romans kann der Film jedoch meist nicht reproduzieren. Durchschnittlich hat ein Drehbuch etwa 125 bis 150 Seiten, ein Roman häufig das Vierfache. So merkte Filmemacher Alexander Kluge zu seiner Arbeit an Die Patriotin (1979) an: „Um dieses Buch zu verfilmen, müßte man 600 Stunden Film herstellen.“25 Auch Fontanes Effi Briest erstreckt sich auf über 350 Seiten. Folglich gehen Handlungsdetails bei einer Übertragung oftmals zwangsläufig verloren. Selbst Fassbinders Verfilmung musste trotz Überlänge von 143 Minuten einige wenige Seitenthemen des Romans opfern.26

Auf der anderen Seite hat ein Film visuelle Möglichkeiten, die einem Roman fehlen. Durch ein Bild lässt sich schnell zeigen, was durch Beschreibung nicht oder nur schwer vermittelt werden kann.27 Nach George Bluestone wendet sich ein Film an die wahrnehmenden Sinne, die Literatur hingegen funktioniert über eine symbolisch- vermittelnde Ebene mit Hilfe von Sprache, womit sich erst im Kopf des Lesers Bilder erzeugen lassen.28 Gerade bei einem realistischen Autor wie Fontane ist es spannend zu beobachten, wie Filmemacher die zum Teil sehr ausführlichen Schilderungen in Bilder übersetzen. Sie haben die Möglichkeit, mit nur einer Einstellung zu zeigen, was Fontane seitenlang beschreibt. Die zahlreichen Landschaftsaufnahmen in allen fünf Verfilmungen sind ein gutes Beispiel für eine solche Übertragung.

Literatur eröffnet aber auch Deutungsspielräume, die ein Spielfilm nicht schaffen kann. Eine Ausnahme bilden hierbei experimentelle Filme. Literatur kann keine Wirklichkeit abbilden, auch wenn dies mit Dokumentarliteratur oder Texten des Naturalismus oder der Neuen Sachlichkeit versucht wurde. Ein Film kann dies nach Stefan Neuhaus zwar ebenso wenig leisten, doch er kann es besser behaupten: „Filme wirken authentischer, weil sie den Weg vom Ereignis zur Vorstellung kurzschließen.“29 Der Gewinn an Deutungsspielräumen, den die Literatur einräumt, bedeutet jedoch nicht, dass Filme grundlegend zu Passivität verführen. Laut Irmela Schneider wird dem Zuschauer ermöglicht, passiv zu sein, doch ein Muss sei dies nicht.30

Neuhaus unterscheidet weiter zwei „Arten der Lektüre“31, die sowohl auf den Film als auch auf die Literatur zutreffen: die identifikatorische und die reflektierende. Bei der identifikatorischen konzentriert sich der Rezipient auf Figuren und Handlung, bei der reflektierenden auf die Funktionen und Strukturen.32 Je nach Absicht des Regisseurs evozieren Filme folglich eine unterschiedliche Lektüre. Am konkreten Beispiel wird sichtbar, dass sich Hermine Huntgeburths Effi Briest mit natürlichem Schauspiel, einer kurzweiligen Handlung sowie authentisch wirkenden Kostümen dem identifikatorischen Konzept bedient. Fassbinders antirealistische Verfilmung in Schwarz-Weiß, mit vielen Standbildern und künstlich agierenden Figuren hingegen fordert in besonderer Weise den reflektierenden Ansatz.

Laut Alfred Estermann gibt es zudem Textstellen, die nicht verfilmt werden können.33 Ein Roman kann beispielsweise auf den für ihn so wichtigen inneren Monolog oder die Ich-Erzählung zurückgreifen, will er Gedanken und Gefühle einer Person zum Ausdruck bringen. Auch Fontane greift auf die Technik des inneren Monologs mehrmals zurück. So sagt Effi sich schon auf den ersten Seiten des Romans, ihre Freundin Hulda werde sich sicher ärgern, ist sie ihr nun doch zuvor gekommen mit dem Heiraten. Der Film hingegen muss dies etwa durch Mimik der Schauspieler leisten. Es hat nur einen Film gegeben, der versucht hat, eine reine Ich- Erzählung nachzuahmen, Robert Montgomerys Lady in the Lake aus dem Jahr 1946.34

Spielfilm und Roman unterscheiden sich dadurch, dass Letzterer von seinem Autor erzählt wird. Im Film gibt es in der Regel keinen Erzähler, auch wenn Fassbinders Fontane Effi Briest etwa eine Ausnahme bildet. Stattdessen gibt es laut Schwab verschiedene Vermittlungstechniken, die einen Point of View entstehen lassen: „Die kinematographische Information hat keinen `Vermittler`, sondern ist direkt an den Rezipienten gerichtet.“35 An dieser Stelle knüpfen auch die Produktionsbedingungen von Literatur und Film an. Ein Roman wird in den allermeisten Fällen von einer Person verfasst. Der Aufwand gilt allgemein als relativ gering. So können – um nur ein Beispiel zu nennen – auch Juristen wie Bernhard Schlink neben ihrem Beruf weltweiten Erfolg mit ihren Büchern haben. Das kinematografische Medium betreffend gibt es zwar Autorenfilmer wie Fassbinder, doch in der Regel ist der Produktionsaufwand bei einem Film um ein Vielfaches höher. Der Film wird durch Drehbuchautor, Regisseur, Tontechniker, Kameramann und viele Weitere zu einer Art Gruppenarbeit.36 Dementsprechend ist das kinematografische Medium wegen hoher Personal- und Materialkosten auch einem enormen finanziellen Druck ausgesetzt. Um leichter Erfolge zu erzielen, setzen viele Produktionsfirmen auf ein Massenpublikum. Laut Estermann muss Verfilmung damit in einer „Vermassung der Literatur“37 enden. Diesen Vorwurf und die damit verbundene Vereinfachung muss sich das Genre der Literaturverfilmung zwangsläufig gefallen lassen.

Auch wenn beim Verhältnis von Literatur und Film eine Betrachtungsweise überwiegt, die wie bei Effi Briest vom Text zum Film führt, sollte dennoch nicht unbeachtet bleiben, dass diese Beziehung längst auch in umgekehrter Richtung existiert. Ein Film kann ebenso als Vorlage dienen und die Schaffung eines literarischen Werkes nach sich ziehen. Derartige Bücher finden sich häufig unter dem Slogan „Das Buch zum Film“ auf dem Markt und haben derzeit Hochkonjunktur, wie etwa King Kong (2005) von Christopher Golden oder Der Fluch der Karibik (2006) von Rebecca und Wolfgang Hohlbein beweisen. Auch zum Film Das Leben der Anderen von Florian Henckel von Donnersmarck, der 2007 bei der Berlinale ausgezeichnet wurde, erschien beim Suhrkamp-Verlag ein gleichnamiges Buch.38 Nach Franz-Josef Albersmeier ist es demnach wenig sinnvoll, die Literaturverfilmung lediglich als eine „Einbahnstraße“39 zu begreifen.

3. Zum Konfliktfeld Literaturverfilmung

Die Literaturverfilmung ist nicht nur dem Vorwurf der Vermassung ausgesetzt, sondern aufgrund ihres ambivalenten Charakters automatisch auch folgender Problematik: Einerseits möchte sie als eigenständiges Werk verstanden werden, andererseits wird von ihr erwartet, dass sie der literarischen Vorlage gerecht wird.40 Wenngleich die Kategorie der Werktreue laut Ulrike Schwab vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet längst als überholt gilt, spielt sie immer noch eine entscheidende Rolle.41 Vom breiten Publikum sowie von Filmkritikern wird eine nahe Arbeit am Buch und im Sinne des Autors nach wie vor gefordert.

Gerade bei einem Klassiker wie Fontanes Effi Briest ist dieser Anspruch für die Verfilmung problematisch.

Im Vergleich von Literatur und Film lässt sich grundsätzlich feststellen, dass es zu einer Abwertung des audiovisuellen Mediums gegenüber der älteren Buchkultur kommt. Dies lässt sich mit der Vorstellung von einer Hierarchie der Künste erklären.42 Die Entwicklung des Künstewettstreits, auch Paragone genannt, reicht bis zum Beginn der Frühen Neuzeit zurück. Damals hatten die Künste versucht, sich voneinander abzugrenzen und eine Stellung möglichst weit oben in der Rangordnung einzunehmen.43 Tritt ein neuer Konkurrent zu bereits bestehenden Medien hinzu, kommt es in der Kultur- und Mediengeschichte immer wieder zu einer gesteigerten Hierarchisierung. So wurde auch das Kino zu Beginn des 20. Jahrhunderts als bedrohlich für die Vormachtstellung von Literatur und Theater empfunden.44 Nicht nur die künstlerische Konkurrenz ist hierbei ein wichtiger Faktor, sondern auch die wirtschaftliche, da der Film als kommerziell ausgerichtetes Massenmedium galt und gilt. Zur Abwertung des Films und der Literaturverfilmung trug ebenso die Gewohnheit bei, sich frei an literarischen Texten zu bedienen. Demgegenüber ist eine solche Verwertung von Literatur innerhalb und zwischen den einzelnen Künsten laut Schwab durchaus als legitim anzusehen. Das Verfahren der Adaption diene dem Wiederaufbereiten und Tradieren von künstlerischer Information.45

Literarische Texte haben zudem den Vorteil, nicht reglementierbar zu sein. Stilmittel wie Metaphern, Allegorien oder Symbole liefern die Möglichkeit der Vieldeutigkeit. Der Leser übersetzt den Text visuell in Figuren, Räume oder Ereignisse. Ralf Schnell spricht hierbei von „innerer Bild-Produktion“46. Der Film jedoch legt diesen Vorstellungsreichtum auf nur eine mögliche Variante fest. So ist es beim Beispiel Effi Briest doch beachtlich, dass es zwar nur einen Roman, jedoch fünf Verfilmungen gibt. Figuren bekommen auf der Leinwand ein Gesicht und eine Stimme, Räume eine Einrichtung, Ereignisse werden zusammengefasst oder ausgespart. „Der Film reicht nicht an die Vorlage heran, zumindest nicht an die durch Lektüre geweckten Phantasien der Leserinnen und Leser, und diese, soweit sie liebende sind, erfahren eine narzißtische Kränkung“47, wie Schnell hierbei treffend formuliert. Die Vorstellungswelt, die wir uns selbst geschaffen haben, kann durch die Verfilmung zerstört werden. Denn der Film bleibt letztendlich immer eines: das Ergebnis der Lektüre eines anderen Menschen, nämlich der des Regisseurs.48

III. Historisch-sozialer Bezugsrahmen: Das 19. Jahrhundert

„Der moderne Roman soll ein Zeitbild sein, ein Bild seiner Zeit“49, lautet der Anspruch Fontanes einige Jahre bevor er seinen ersten Roman Vor dem Sturm 1878 veröffentlichte. Die Geschichte von Effi Briest ist die einer jungen Frau aus dem Milieu des preußischen Landadels zur Zeit des zweiten deutschen Kaiserreichs zwischen 1870 und 1889. Wilhelm I. ist deutscher Kaiser, Otto von Bismarck Reichskanzler. Das erste Lesepublikum hat diese Epoche miterlebt. Effi Briest war für sie ein Zeitroman. Über hundert Jahre später wird die dargestellte Situation zu einer historischen und Fontanes Werk damit zum Gesellschaftsroman.50 Um gesellschaftliche Zusammenhänge und insbesondere familiäre Beziehungen besser einordnen zu können, soll im Folgenden auf einige Kernelemente des 19. Jahrhunderts eingegangen werden. In Bezug auf Effi Briest sind gerade die adlige Ehe und die Erziehung junger Frauen aufschlussreiche Themen, wenn es darum geht, die sozialen Umstände, die für den Gesellschaftsroman von so enormer Bedeutung sind, nachzuvollziehen. Wie Fontane diese in seinem Werk Effi Briest, das erstmals 1894 erschien, verarbeitet hat, wird im Anschluss skizziert.51

1. Die Gesellschaft im 19. Jahrhundert: Eine Skizze

Einstellungen und Wertvorstellungen der Gesellschaft zur Zeit des 19. Jahrhunderts waren von der altpreußischen Tradition bestimmt und hatten bis zu dessen Ende hin Bestand. Das Selbstwertgefühl der Menschen orientierte sich an Stand, Titeln, Vermögen, Größe des Grundbesitzes sowie der Familientradition. Gesellschaftlicher Erwartungsdruck wurde im 19. Jahrhundert bewusst oder unbewusst ausgeübt, etwa um ständehomogene Ehen oder rollentypisches Verhalten zu sichern. Nicht erst bei der Betrachtung des Duells als freiwilliger Zweikampf zur Wiederherstellung der Ehre wird deutlich, welcher Zwangscharakter von der Gesellschaft ausging. Die Moral im spät-bismarckschen Preußen-Deutschland hielt selbst dann noch an Äußerlichkeiten fest, wenn Pflicht und Ehre ihre Opfer forderten. Stütze dieser Gesellschaft war der preußische Adel mit dessen Leitfiguren Kaiser Wilhelm und Fürst Bismarck.52 Das gesellschaftliche Ordnungsmuster gestaltete sich wie folgt: „Uradel sticht Adel, Landadel sticht Beamtenadel, der Ritterschaftsrat den Leutnant, der Oberförster den Förster.“53

Soziale Kontakte fanden fast ausschließlich im eigenen Umfeld statt. Als nachrangig wurden im 19. Jahrhundert Angehörige des Bürgertums und der Arbeiterschaft betrachtet. Um seine Stellung aufrechtzuerhalten, musste der Adel seine Geschlossenheit wahren. Ständehomogene Ehen und rollentypisches Verhalten bildeten die Grundlage dafür. Die Verhaltensmaßstäbe Ehre und Pflicht standen bei sämtlichen Handlungen und Entscheidungen stets im Vordergrund. Seine Pflicht erfüllte ein Angehöriger des Adels, indem er die Ansprüche seines Standes erfüllte. Er war im Status der Ehre, wenn er diesen Ansprüchen voll und ganz genügte. Forderungen nach persönlichem Glück oder selbstbestimmten Handeln, wie vom bürgerlich-liberalem Denken gefördert, hatten im Wertesystem des Adels keinen Platz.54

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich das Bürgertum in ökonomischer und politischer Hinsicht langsam als bedeutende Gesellschaftsschicht hervorgetan. Innerhalb dieser Klasse stieg damit auch der Lebensstandard an und Unternehmer, Beamte oder Akademiker erwarben immer mehr finanziellen Reichtum.55

2. Adliges Familienleben im 19. Jahrhundert

Fontanes Protagonistin Effi Briest ist dem Milieu des preußischen Landadels entsprungen. Eine Frau wurde im 19. Jahrhundert entweder durch Geburt oder aber durch entsprechende Eheschließung eine Adlige. Männer hingegen hatten die Möglichkeit, ihren Stand durch berufliche Leistung zu erhöhen. Der Rang einer Frau richtete sich stets nach dem ihres Ehemannes. Grundsätzlich galt in adligen Familien die patriarchalische Herrschaft des Vaters über Ehefrau, Kinder und Gesinde.56 Um familiäre Beziehungen und die Rolle einer Tochter zur Zeit des 19. Jahrhunderts im Einzelnen besser nachvollziehen zu können, soll einführend kurz die standestypische Bern: 2002, S. 49 f.

Erziehung im 19. Jahrhundert angesprochen werden. Ein wichtiger Untersuchungsgegenstand ist zudem die adlige Ehe. Sie bildet die zentrale soziale Institution in einer Familienordnung, die auf Kontinuität ausgerichtet ist. Die Ehe sichert die Legitimität der Nachkommen und somit die zukünftige Existenz der Adelsfamilie.57

2.1 Standestypisches Verhalten als höchstes Erziehungsziel

Für die Betreuung eines Neugeborenen – sogar zum als unfein geltenden Stillen – wurde in adligen Familien meist eine Amme angestellt. Größere Kinder wurden von Kindermädchen betreut. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind gestaltete sich deshalb oftmals schwierig, merkt Gross hierzu an. Sie sahen sich selten und so fand das Kind keinen Zugang zur Mutter, war doch eine andere Frau seine engste Bezugsperson.58

Das höchste Erziehungsziel zur Zeit des 19. Jahrhunderts war laut Wienfort standestypisches Verhalten. Nicht Bildung, sondern das Einüben traditioneller Denk- und Verhaltensmuster stand im Vordergrund. In der Regel übernahmen Gouvernanten und Hauslehrer die Erziehung der Kinder. Hochadlige Eltern beobachteten ihren Nachwuchs nur aus der Distanz, gerade die Mutter schien wegen repräsentativer Aufgaben, die sie zu erfüllen hatte, weit entfernt. Im Landadel kann von einer zumindest teilweisen Übernahme bürgerlicher Erziehungsvorstellungen ausgegangen werden, wobei die Mutter innerhalb der Familie durchaus ein Stück weit Intimität herstellte. Unterschiede blieben dennoch gerade in dem Bemühen bestehen, den Kindern Standesbewusstsein und ein Gefühl der Exklusivität zu vermitteln.59

Manieren spielten dabei nach Gunga eine besonders wichtige Rolle. Junge Adlige erlernten einen bestimmten Sprachstil und adelsspezifische Tischsitten. Verboten war es, bei Tisch zu reden, das Essen zu loben oder über Geld zu sprechen. Wer diese Regeln missachtete, hatte mit drastischen Strafen zu rechnen. So erwartete die Kinder etwa tagelanger Essensentzug oder körperliche Züchtigung. Ohne zu klagen musste dies hingenommen werden. Schließlich zeigte sich Charakter dadurch, dass Schmerzen ertragen und Haltung in jeder Lebenslage bewahrt werden konnte.60

In den militäradligen Familien Preußens waren zudem körperliche Fähigkeiten wie Reiten oder Schießen wichtig. Sie spielten eine größere Rolle als Griechisch oder Latein. Im katholischen Adel war Frömmigkeit das wichtigste Ziel von Erziehung. Dass Kinder von Privatlehrern ausgebildet wurden, schienen der Reichtum und die gehobene Stellung der Eltern selbstverständlich zu rechtfertigen.61 Junge Mädchen wurden von Erzieherinnen oder der Mutter in Tanz und in Fremdsprachen unterrichtet. Diese Kenntnisse sollten ihnen vor allem zur vollendeten Konversation – auch mit Blick auf eine spätere Verheiratung – dienen. Eine berufliche Verwendung sollte dies nicht finden.62

2.2 Die adlige Ehe

Im Adel heiratete im 19. Jahrhundert laut Fehrenbach etwa die Hälfte aller Töchter. Der Status des Verheiratetseins war für ihr gesellschaftliches Ansehen von großer Bedeutung. Der Druck lastete auf den jungen Frauen entsprechend schwer. Das gängige Heiratsalter war mit 25 Jahren erreicht.63 Eine adlige Eheschließung wurde wie bei Fontanes Effi meist durch elterliches Arrangement geregelt. Die Wahl des Partners war davon beeinträchtigt, ob sich die Adelsklasse steigern oder das Vermögen vermehren ließ. Bälle waren wichtige gesellschaftliche Anlässe, auf denen Ausschau nach einer standesgemäßen Partie gehalten werden konnte. Gerade Mütter hatten nach Gross gegenüber ihren Töchtern eine machtvolle Position inne, da sie in der Phase der Verheiratung eine zugleich beratende und kontrollierende Funktion erfüllten.64

Junge adlige Frauen wuchsen häufig in ländlicher Idylle auf und hatten kaum Berührung mit dem Leben außerhalb ihrer Welt. Sie fanden keine Anregung zur Selbstfindung und verinnerlichten somit unhinterfragt die ständischen Normen und Werte.

[...]


1 Vgl. Martina Sölkner: Über die Literaturverfilmung und ihren „künstlerischen Wert“. In: Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung. Hg. von Stefan Neuhaus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 49.

2 Vgl. Ulrike Schwab: Erzähltext und Spielfilm. Zur Ästhetik und Analyse der Filmadaption. Berlin, Münster: Lit 2006, S. 16.

3 Vgl. Franz-Josef Albersmeier: Von der Literatur zum Film. Zur Geschichte der Adaptionsproblematik. In: Literaturverfilmungen. Hg. von Franz-Josef Albersmeier und Volker Roloff. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 24 f.

4 Vgl. Schwab, Erzähltext und Spielfilm, S. 16 f.

5 Im Sprachgebrauch von 1913 wurden unter „Autorenfilmen“ sowohl Verfilmungen bereits

6 Vgl. Franz-Josef Albersmeier, Von der Literatur zum Film, S. 29.

7 Vgl. Schwab, Erzähltext und Spielfilm, S. 37.

8 Vgl. Joseph Goebbels: Die sieben Film-Thesen. In: Film und Gesellschaft in Deutschland. Dokumente und Materialien. Hg. von Wilfried von Bredow und Rolf Zurek. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 178 ff..

9 Vgl. Schwab, Erzähltext und Spielfilm, S. 38.

10 Vgl. ebd., S. 37 f.

11 Vgl. Christian-Albrecht Gollub: Deutschland verfilmt. Literatur und Leinwand 1880-1980. In: Film und Literatur. Literarische Texte und der neue deutsche Film. Hg. von Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis und Henry A. Lea. Bern, München: Francke 1984, S. 32.

12 Vgl. Der alte Film war tot. 100 Texte zum westdeutschen Film 1962-1987. Hg. von Hans-Helmut Prinzler und Eric Rentschler. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2001.

13 Vgl. Gollub, Deutschland verfilmt, S. 34 f.

14 Vgl. Schwab, Erzähltext und Spielfilm, S. 37 f.

15 Vgl. Eric Rentschler: Film der achtziger Jahre. Endzeitspiele und Zeitgeistszenerien. In: Geschichte des deutschen Films. Hg. von Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes und Hans Helmut Prinzler. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 282-288.

16 Katja Nicodemus: Film der neunziger Jahre. Neues Sein und altes Bewußtsein. In: Geschichte des deutschen Films. Hg. von Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes und Hans Helmut Prinzler. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 319.

17 Vgl. Nicodemus, Film der neunziger Jahre, S. 319-328.

18 Vgl. ebd., S. 333 ff.

19 Vgl. Franz-Josef Albersmeier, Von der Literatur zum Film, S. 30 ff.

20 Wolfgang Gast, Knut Hickethier und Burkard Vollmers: Literaturverfilmungen als ein Kulturphänomen. In: Literaturverfilmung. Hg. von Wolfgang Gast. Bamberg: Buchners 1993, S. 12.

21 Vgl. Gast, Hickethier, Vollmers, Literaturverfilmungen als ein Kulturphänomen, S. 12 f.

22 Vgl. James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009, S. 38.

23 Vgl. Stefan Neuhaus: Literatur im Film. Eine Einführung am Beispiel von Gripsholm (2000). In: Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung. Hg. von Stefan Neuhaus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 11 f.

24 Vgl. Hans Vilmar Geppert: Literatur im Mediendialog. S. 118.

25 Alexander Kluge: Die Patriotin. Texte/ Bilder 1-6, Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1979, Titelseite.

26 Vgl. Peter W. Jansen und Wolfram Schütte (Hg.): Rainer Werner Fassbinder. Frankfurt am Main: 1992. S. 172.

27 Vgl. Monaco, Film verstehen, S. 50.

28 Vgl. George Bluestone: Kinematographische Äquivalente für sprachlich-literarische Tropen. In: Literaturverfilmungen. Hg. von Gerhard Adam. München: Oldenbourg 1984, S. 54.

29 Neuhaus, Literatur im Film, S. 13.

30 Vgl. Irmela Schneider: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung. Tübingen: Niemeyer 1981, S. 115.

31 Neuhaus, Literatur im Film, S. 19.

32 Vgl. Neuhaus, Literatur im Film, S. 19.

33 Vgl. Alfred Estermann: Das Problem der Transformation, vom Standpunkt rezeptionaler Möglichkeiten betrachtet. In: Literaturverfilmungen. Hg. von Gerhard Adam. München: Oldenbourg 1984, S. 37.

34 Vgl. Monaco, Film verstehen, S. 50.

35 Schwab, Erzähltext und Spielfilm, S. 89.

36 Vgl. Neuhaus, Literatur im Film, S. 12.

37 Estermann, Das Problem der Transformation, S. 35.

38 Vgl. Eva Binder und Christine Engel: Film und Literatur. Von Liebeleien, Konflikten und langfristigen Beziehungen; In: Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung. Hg. von Stefan Neuhaus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 46.

39 Albersmeier, Von der Literatur zum Film, S. 17.

40 Vgl. Binder/ Engel, Film und Literatur, S. 45 f.

41 Vgl. Schwab, Erzähltext und Spielfilm, S. 40.

42 Vgl. Franz-Josef Albersmeier: Literatur und Film. Entwurf einer praxisorientierten Textsystematik. In: Literatur intermedial. Musik, Malerei, Photographie, Film. Hg. von Peter V. Zima. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 237 f.

43 Vgl. Joachim Paech und Jens Schröter: Vorwort. In: Intermedialität analog/ digital. Theorien – Methoden – Analysen. Hg. von Joachim Paech und Jens Schröter. München: Fink 2008, S. 9.

44 Vgl. Albersmeier, Literatur und Film, S. 236 f.

45 Vgl. Schwab, Erzähltext und Spielfilm, S. 38-42.

46 Ralf Schnell: Medienästhetik. Zur Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 156.

47 Schnell, Medienästhetik, S. 157.

48 Binder/ Engel, Film und Literatur, S. 47.

49 Theodor Fontane „Gustav Freytag. Die Ahnen“. In: Theodor Fontane, Werke, Schriften, Briefe, Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, München 1962 ff., Abt. III, Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen, S. 319.

50 Vgl. Theodor Pelster: Theodor Fontane: Effi Briest. Lektüreschlüssel. Stuttgart: Reclam 2003. S. 6 f.

51 Vgl. Elsbeth Hamann: Theodor Fontane Effi Briest. Oldenbourg Interpretationen. München: Oldenbourg 2001, S. 136.

52 Vgl. Hanns-Peter Reisner und Rainer Siegle: LektürenhilfenThedor Fontane „Effi Briest“. Stuttgart: Klett 2004, S. 97 f.

53 Reisner/ Siegle, Lektürehilfen, S. 98.

54 Ebd., S. 100 f.

55 Vgl. Gabrielle Gross: Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann. Peter Lang AG, Europäischer Verlag der Wissenschaften.

56 Vgl. Sylvia Palatschek: Adelige und bürgerliche Frauen (1770-1870). In: Elisabeth Fehrenbach (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770 – 1848: [Kolloquium zumThema "Adel und Bürgertum in Deutschland 1770 - 1848" vom 6. bis 9. Juli 1992 im HistorischenKolleg gehalten.]München: Oldenbourg 1994, S. 160.

57 Vgl. Monika Wienfort: Der Adel in der Moderne. Stuttgart: UTB 2006, S. 111.

58 Vgl. Gross, Der Neid der Mutter auf die Tochter, S. 54 f.

59 Vgl. Wienfort, Der Adel in der Moderne, S. 122 ff.

60 Vgl. Luise Gunga: Adlige Erziehungsideale. „Charakter ist alles" - Drill für den feinen Unterschied. Wissenschaftsdienst der TU Berlin. Ausgabe Jg. 2 / Nr. 1 / März 2001. In: http://www.an-morgen- denken.de/wissenschaftsdienst/01mar/drill.htm. Vom: n.d. Letzter Abruf: 01.04.2011.

61 Vgl. Wienfort, Der Adel in der Moderne, S. 122 ff.

62 Vgl. ebd., S. 127.

63 Vgl. Elisabeth Fehrenbach (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848. Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 31. München: Oldenbourg 1994, S. 173 f.

64 Vgl. Gross, Der Neid der Mutter auf die Tochter, S. 49 f.

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Fontanes „Effi Briest“ auf der Leinwand
Untertitel
Eine Eltern-Kind-Beziehung im Wandel der Zeit
Hochschule
Universität Augsburg
Note
1,5
Autor
Jahr
2011
Seiten
92
Katalognummer
V191851
ISBN (eBook)
9783656171676
ISBN (Buch)
9783656171874
Dateigröße
1912 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Effi, Briest, Literaturverfilmung
Arbeit zitieren
Daniela Fischer (Autor:in), 2011, Fontanes „Effi Briest“ auf der Leinwand, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191851

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