Das Zugehörigkeitsgefühl Elsass-Lothringens im deutschen Kaiserreich (1870/71-1918)


Hausarbeit, 2011

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Einleitung

Das Elsass ist eine Region, an dem die enge Verflechtung der deutschen und französischen Geschichte deutlich wird. Diese hat im Elsass, welches die Funktion einer Art Schutzgürtel zwischen diesen beiden mächtigen Nationen inne hatte, sichtbare Spuren und offene Wunden über Generationen hinweg hinterlassen. Zwischen 1870 bis 1945 war das Elsass Schauplatz dreier Kriege zwischen Deutschland und Frankreich und wechselte während dieser Zeit vier Mal seine staatliche Zuordnung. So scheint es keineswegs verwunderlich zu sein, dass die Menschen dieser Region immer wieder Erschütterungen ihrer Loyalität und Identität durch die vielen einschneidenden Veränderungen und politischen Wechsel ausgesetzt waren. Hinsichtlich dieses Ringens um das in Folge des deutsch-französischen Krieges 1871 annektierte Elsass-Lothringen, besteht Klärungsbedarf, wie diese neu geschaffene Region damals wahrgenommen worden ist. Obgleich die staatliche Zugehörigkeit Elsass-Lothringens völkerrechtlich festgelegt war, wird in der Forschung von einem „umstrittenen Territorium“1 gesprochen, da Frankreich auf diese Region Anspruch erhebt und dieser einen beachtenswerten Rückhalt bei der elsässisch-lothringischen Bevölkerung findet. Aus französischer Sicht waren diese Gebiete vor dem deutsch-französischen Krieg kulturell, wirtschaftlich und politisch sowie sprachlich voneinander unabhängig. Aufgrund der Annexion und dem Zusammenschluss von Elsass und Lothringen entstand eine völlig neue Situation, welche die Bewohner kulturell sowohl zusammenführte als auch voneinander abgrenzte. Die willkürliche Grenzziehung, welche Sprachgebiete und historische Regionen voneinander trennte, hatte für Elsass-Lothringen und Frankreich weitreichende Folgen und führten zu einem „spezifisch elsässischen Identitätsbewusstsein“.2 Die verlorenen Provinzen symbolisierten das durch die Niederlage von 1870/71 verletze französische Nationalbewusstsein und schürten den Revanchegedanke und die Rückgewinnung von Elsass- Lothringen.

Ziel der vorliegenden Untersuchung soll es nun sein das Wesen der elsässisch-lothringischen Gesellschaft und vor allem der elsässisch-lothringischen Identität im deutschen Kaiserreich genauer zu betrachten. Zudem werden die unterschiedlichen Auffassungen der verschiedenen Bevölkerungsschichten über die neue, zumindest völkerrechtlich definierte, Nationalität analysiert, welche sich auch auf alle anderen Unterkapitel der Hauarbeit projizieren lässt. Dabei gilt es auch zu klären, ob sich eine Identitätskrise schon vor der Annexion Elsass- Lothringens 1871 feststellen lässt. Des Weiteren behandelt die Hausarbeit knapp die Gründe und den Verlauf des deutsch-französischen Krieges 1870/71, welcher im weiteren Verlauf Aufschluss über die Politik und die Administration des annektierten Elsass-Lothringens geben kann. Die Interaktion und Wahrnehmung der Bevölkerung der daraus resultierenden neuen Grenzen werden zudem in einem separaten Kapitel behandelt. Insbesondere der Begriff des Optionsrecht und dessen Verwendung spielen dabei eine wichtige Rolle. Obwohl der thematisierte zeitliche Rahmen der Hausarbeit im 19. Jahrhundert liegt, wird dennoch ein kurzer Ausblick auf die Veränderungen durch den Ersten Weltkrieg gegeben.

Die der Hausarbeit zugrunde liegenden Fachliteratur, welche hinsichtlich des Datums der Herausgabe einen Zeitraum von etwa 90 Jahren umfasst und soziale, historische und politische Themenfelder beinhaltet, bietet die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestimmter Kapitel der Hausarbeit zu analysieren. Im Zentrum steht in erster Linie die Region Elsass, da es sich schon vor der Annexion auf der Suche nach seiner Zugehörigkeit befand und daher die Thematik der Hausarbeit nachvollziehbarer untersucht werden kann.

1. Die Zwiespältigkeit des Elsass vor der Annexion - Zwischen französischer État-nation und deutscher Kulturnation Um den Wandel der Gesellschaft und die spezielle Identität von Elsass-Lothringen während der deutschen Kaiserzeit besser verstehen zu können, ist es notwendig, das Elsass vor der Annexion zu untersuchen. Nach der französischen Revolution 1789 und im Zeitalter des Nationalismus, welches „in latenter oder manifester Form […] eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts [ist]“3 wie der

Soziologe Norbert Elias treffend formuliert hat, richtete sich das aufgeklärte französische Bürgertum nicht nur gegen den Adel, sondern auch gegen deren deutsche Abstammung. Die deutsche Sprache als Ausdruck alles Germanischen4, so Michael Essig, und später sogar alle nicht-französischen Sprachen waren Ziele der Bewegung. Im Zuge der zweiten Phase der französischen Revolution und der „Totalumwälzung“5 als Grundlage, bildete sich der Gedanke der État-nation aus, dessen Grundsatz die Verbindung einer gemeinsamen französischen Sprache, einer „langue unique“6 und der Nation ist. So versuchte man mit Hilfe einer veränderten Schulpolitik und einer besonderen französischen Sprachpolitik aggressiv die Nationalsprache durchzusetzen und alle anderen Regionalsprachen auszumerzen. Michael Essig ist der Ansicht, dass dieser sprachliche Reinigungsprozess „zu einer französischen Sonderentwicklung der Soziolinguistik führte und [zur Folge hatte], daß [sic] eine Untersuchung der lokalen französischen und nicht-französischen Mundarten als nicht wissenschaftswürdig galt.“7 Wer voll und ganz zur französischen Nation gehören wollte, musste seit 1794 französisch sprechen. Das Elsass, vor allem das Bürgertum, bzw. die Oberschicht waren aktiv an der französischen Revolution beteiligt und teilten, zumindest zu Beginn, deren offenes Denken, deren Ansichten und Absichten. Doch mit dem Eintreten der radikalen Sprachpolitik geriet das deutschsprachige Elsass immer weiter in die Kritik von Frankreich, welche das Elsass mit dem Deutschen Reich als Gegner der französischen Republik gleichstellten. Dies führte zu einer Art elsässischem Minderwertigkeitskomplex; denn um zur französischen Nation anzugehören, sollten die Elsässer ihre deutsche Sprache aufgeben und französisch sprechen. Obwohl das Elsass wirtschaftlich und kulturell mit dem deutschen Reich interagierte, fühlten sich die Elsässer mehrheitlich als Franzosen. Dieses rechtlich-politische Zugehörigkeitsgefühl mit Frankreich, verbunden mit dem Überlebensdrang ihrer eigenen kulturellen und sprachlichen Identität und der partiellen Orientierung nach Osten, brachte das Elsass in einen inneren Zwiespalt der Zugehörigkeit. Michael Essig bringt in seiner Untersuchung der elsässischen Identität ein sehr treffendes Beispiel für diese Problematik: Das Elsass ist in dieser Hinsicht ein Adoptivkind, welches zum einen vom Mutterland vollständig als Kind akzeptiert werden will, gleichzeitig aber auch versucht, sich selbst zu verwirklichen. Zusätzlich zu dieser Konstellation tritt aber noch die alte Adoptivmutter, das Vaterland, hinzu, was die ganze Beziehung erschwert8

Bedingt durch die Auswirkungen der französischen Revolution und des Konzepts der französischen État-nation forderten die Deutschen eine Art staatliches Dach über ihre gemeinsame Sprache. Unter dem Leitmotiv: „eine Sprache - eine Nation“ entstand daher das Konzept der deutschen Kulturnation, welches sicherlich als Gegenstück zur französischen État-nation aufgefasst werden kann. Die Deutschen sollten wieder stolz auf ihre Nationalität, auf ihre Identität und besonders auf ihre Sprache sein:

„Die Fürsten müssen (…) wieder deutsch leben, müssen wieder mit Deutschen leben lernen wie in den besseren, längst verschollenen Tagen unserer Väter. Es war einst eine Zeit, wo die Kaiser und die Fürsten freundlich und gesellig durch die Städte und Orte des Reichs zogen, wo sie gemeinsam tagten und ratschlagten, wo die weiseren und älteren unter ihnen mit allem Volk lebten und sprachen, wo sie in offener Reichsversammlungen in ernsten Dingen, wie im Scherz und Reigen miteinander verkehrten. Die Zeit ist wieder da, ihre Notwendigkeit ist wieder da.“9

Diese Ansicht Arndts‘ teilte die Mehrheit der damaligen deutschen Bevölkerung, worauf hin das Elsass aufgrund der meist gemeinsamen deutschen Sprache als Teil dieser Kulturnation angesehen wurde. So sah sich das Elsass genau zwischen der französischen État-nation und der deutschen Kulturnation, also zwischen zwei Nation-Konzepten, welche vehement ihre jeweilige Ideologie durchzusetzen versuchten. In einer Schrift vom 27. Oktober 1870 beschreibt der ehemalige Professor der Universität Straßburg, Numa-Denis Fustel de Coulanges die elsässische Identitätskrise mit folgenden Worten: „Il se peut que l’Alsace soit allemande par la race et par le langage; mais par la nationalité et le sentiment de la patrie, elle est française.“10 Die Entscheidung über die Sprache als Ausdruck einer gemeinsamen Nationalität, einer gemeinsamen Kultur, sollte zur Feststellung der elsässischen Zugehörigkeit dienen. Im Zuge dieser Entscheidungsfrage lässt sich auch eine gewisse Differenz in den verschiedenen elsässischen Bevölkerungsschichten darstellen. Obwohl die Oberschicht im Elsass Französisch sprach und für die Ausübung bestimmter Berufe die französische Sprache notwendig wurde, blieb die Mittel- und Unterschicht ihrem deutschen Dialekt treu, da man befürchtete, mit dem Verlust der einheimischen Sprache auch die einheimische Kultur und Identität zu verlieren.

[...]


1 Siehe: Eberhard Kolb: Elsaß-Lothringen / Trient-Triest - umstrittene Grenzregionen 1870-1914. Einige Beobachtungen und Bemerkungen, in Angelo Ara / Eberhard Kolb (Hrsg.): Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen. Elsaß-Lothringen / Trient-Triest, 1870-1914, Berlin 1998, S. 301-305, hier S. 301. [Im Folgenden abgekürzt durch Kolb: Elsass-Lothringen - umstrittene Grenzregion (Berlin 1998).]

2 Siehe: Stefan Fischer: Das Elsass im deutschen Kaiserreich (1870/71-1918). Zwischen Frankreich und Deutschland: Nation und Integration, in Michael Erbe (Hrsg.): Das Elsass. Historische Landschaft im Wandel der Zeiten, Stuttgart 2002, S. 123-147, hier S. 123. [Im Folgenden abgekürzt durch Fischer: Das Elsass im deutschen Kaiserreich (Stuttgart 2002).]

3 Siehe: Norbert Elias, Zitat bei: Michael Essig (Hrsg.): Das Elsaß auf der Suche nach seiner Identität, München 1994, S. 105. [Im Folgenden abgekürzt durch Essig: Identität (München 1994).]

4 Vgl.: Essig: Identität (München 1994), S.105.

5 Ebd.

6 Siehe: Abbé Baptiste Henri Grégoire, Zitat bei: Essig: Identität (München 1994), S. 111.

7 Siehe: Essig: Identität (München 1994), S. 111.

8 Vgl.: Essig: Identität (München 1994), S. 114.

9 Siehe: Ernst Moritz Arndt, Zitat bei: Essig: Identität (München 1994), S. 116

10 Siehe: Numa-Denis Fustel de Coulanges, Zitat bei: Essig: Identität (München 1994), S. 121

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Details

Titel
Das Zugehörigkeitsgefühl Elsass-Lothringens im deutschen Kaiserreich (1870/71-1918)
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
16
Katalognummer
V194965
ISBN (eBook)
9783656224518
ISBN (Buch)
9783656227021
Dateigröße
621 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Elsass, Lothringen, Kaiserzeit, Identität, Menschen, Frankreich, Deutschland
Arbeit zitieren
Florian Stoll (Autor:in), 2011, Das Zugehörigkeitsgefühl Elsass-Lothringens im deutschen Kaiserreich (1870/71-1918), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194965

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