Unterrichtsstörungen: Präventive und reaktive Maßnahmen im Vergleich zwischen Theorie und Praxis

Befragung eines gymnasialen Kollegiums.


Examensarbeit, 2012

112 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Zielsetzung der Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Definitionen und Begriffsklärungen
2.1 Unterrichtsstörungen
2.1.1 Definition nach Karlheinz Biller (1979)
2.1.2 Definition nach Rainer Winkel
2.1.3 Definition nach Gert Lohmann
2.2 Klassenführung – Classroom Management

3 Forschungsstand
3.1 Prävention und Intervention von Unterrichtsstörungen
3.1.1 Erste Studien zum Classroom Management
3.1.2 Jacob Kounins Befunde
3.1.3 Befunde Evertsons et. al
3.1.4 Führungsstil (Tausch/Tausch)
3.1.5 Haertel, Wang und Walberg
3.1.6 Helmke (Scholastik-Studie)
3.2 Vergleich zwischen Theorie und Praxis
3.2.1 Erfolgreiche Strategien und Typen - Mayr et al.
3.2.2 LCH-Befragung zu Disziplinschwierigkeiten in den deutschschweizerischen Schulen
3.2.3 Umfrage Noltings
3.3 Kritische Reflexion des Forschungsstandes
3.4 Aktuelle Literatur zum Thema

4 Strategien im Umgang mit Unterrichtsstörungen
4.1 Präventive Strategien
4.1.1 Disziplin-Managementebene und Organisation
4.1.2 Prävention auf der Unterrichtsebene
4.1.3 Prävention auf der Beziehungsebene
4.2 Reaktive Strategien
4.2.1 Interventionsstrategien auf der Beziehungsebene
4.2.2 Interventionen auf der Disziplin-Managementebene
4.2.3 Interventionsstrategie auf der Unterrichtsebene
4.2.4 Bedeutung präventiver Strategien

5 Zusammenfassung des theoretischen Teils

6 Die Studie – Fragestellung und Hypothesen
6.1 Fragestellungen
6.2 Hypothesen

7 Methodik
7.1 Forschungsdesign
7.2 Erstellung des Fragebogens
7.3 Aufbau des Fragebogens
7.4 Vorstellung der Schule (Stichprobe)
7.5 Durchführung
7.6 Datenanalyse

8 Auswertung und Ergebnisse
8.1 Stichprobe
8.2 Kenntnis der Strategien
8.2.1 Kenntnis der Strategien
8.2.2 Kenntnis der Strategien in Abhängigkeit der Dienstjahre
8.3 Verwendung der Strategien
8.3.1 Verwendung der vorgestellten Strategien
8.3.2 Verwendung präventiver und reaktiver Strategien im Ver- gleich
8.3.3 Von den Lehrkräften angegebene Strategien
8.3.4 Eingeschätzte Verwendung an der Schule
8.4 Effektivität der Strategien
8.4.1 Effektivität der vorgestellten Strategien
8.4.2 Effektivität präventiver und reaktiver Strategien im Ver- gleich
8.5 Gründe für den seltenen Einsatz präventiver Strategien
8.6 Aneignung der Strategien
8.7 Bewusste bzw. unbewusste Verwendung

9 Diskussion
9.1 Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
9.2 Methodenkritik
9.3 Ausblick

10 Zusammenfassung

11 Literaturverzeichnis

12 Selbstständigkeitserklärung

13 Danksagung

I Abbildungsverzeichnis

II Tabellenverzeichnis

III Anhang

1 Einleitung

Unterrichtsstörungen bilden einen festen Bestandteil des Alltags einer jeden Lehrkraft. Die Ursachen für solche Störungen sind sehr verschieden, ihre Ausprägung äußerst unterschiedlich und ein Unterricht ohne sie stellt schlicht eine Utopie dar. Ebenso mannigfaltig sind die Strategien und Vorgehensweisen der Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit Unterrichtsstörungen. In der Fachliteratur hat sich in den letzten Jahren viel auf diesem Gebiet getan, was mein Interesse geweckt hat.

Durch meine Tätigkeit als Vertretungslehrer eines Gymnasiums sah ich mich persönlich mit dem Problem der Unterrichtsstörungen konfrontiert. Gleichzeitig musste ich feststellen, dass meine universitäre Ausbildung mir kaum Handreichungen zur Bewältigung dieses Themas zu vermitteln vermocht hatte. Obgleich dieses Problem bereits seit Beginn der Schulgeschichte kritisiert wird (vgl. Keller 2005, S. 27), folgte auch in diesem Fall der allseits berüchtigte Praxisschock. Aufgrund dessen begab ich mich auf die Suche nach Handlungsmöglichkeit und Strategien, um dieses Problems Herr zu werden. In der pädagogischen Literatur wurde ich von der Fülle an Erscheinungen, vor allem aus jüngster Zeit, überrascht. Darin war eine zunehmende Dominanz der Prävention gegenüber traditionellen Maßnahmen wie dem Ermahnen und Strafen zu entdecken. Angesichts des bekanntermaßen psychisch belastenden Lehrberufs mit der Tendenz zum sogenannten Burn-out-Syndrom erscheint in diesem Zusammenhang die Analogie zur Medizin und zu Antonovskys Konzept der Salutogenese nicht weit entfernt. Dieser stellte die fast revolutionäre Frage, was den Menschen gesund halte, statt wie üblich lediglich die Krankheitsentwicklung und damit verbunden das Heilen zu fokussieren. Die Verwendung präventiver Maßnahmen im Unterricht zur Vorbeugung von Störungen erscheint folglich ebenso plausibel. Doch sind diese in der Theorie vorzufindende Erkenntnisse in der Praxis, konkret in den Klassenzimmern, angekommen? Hans-Peter Nolting stellt 2003 fest:

"Das Ausmaß von Unterrichtsstörungen hängt entscheidend vom Lehrerverhalten ab. Nicht so wichtig ist dabei die Art des Umgangs mit eingetretenen Störungen, sondern eine Klassenführung, die Störungen präventiv entgegenwirkt. Wie diese aussieht, ist zwar in der Forschung seit langem bekannt, kaum hingegen, so zeigt eine Umfrage, in der Lehrerschaft." (Nolting 2003, S 53).

Aber auch die entgegengesetzte Bewegungsrichtung, von der Praxis hin zur Theorie, scheint defizitär zu sein und eine Forschungslücke darzulegen. So beklagt der Pädagoge Jürg Rüedi das Fehlen von Untersuchungen, die zeigen, was im Zusammenhang mit „Disziplin und Strafe“ in den Klassenzimmern tatsächlich getan werde und wie sich diese Vorgehensweisen aus Lehrersicht bewährt hätten (vgl. Rüedi 2007, S. 170).

1.1 Zielsetzung der Arbeit

Die geschilderte Sachlage wirft die Frage auf, wie sich dieser Vergleich zwischen Theorie und Praxis aktuell gestaltet. Wie ist in der Praxis die Verteilung von präventiven und reaktiven Maßnahmen? Auf welche Strategien greifen Lehrkräfte tatsächlich zurück und wie bewerten sie deren Effektivität? Die vorliegende theoretische und empirische Untersuchung will diese und weitere damit im Verhältnis stehende Fragen beantworten und einen Abgleich zwischen Theorie und Praxis schaffen. Dazu wurde eine Querschnittstudie in Form einer exemplarischen Befragung eines gymnasialen Kollegiums durchgeführt. Die dafür relevanten Fragestellungen und damit verbundenen Ziele werden an dieser Stelle stichwortartig dargestellt.

Fragestellungen:

I. Wie viele der in der aktuellen Literatur diskutierten Strategien sind den Lehrkräften bekannt?
II. Erweitern bzw. mindern Lehrkräfte ihr Repertoire an Maßnahmen mit zunehmender Berufserfahrung?
III. Welche der den Lehrern bekannten Strategien aus der aktuellen Literatur werden auch tatsächlich angewandt?
a. Wie ist in der Praxis das Verhältnis zwischen den präventiven und reaktiven Maßnahmen verteilt?
b. Welche sind die am häufigsten vorkommenden Strategien?
IV. Wie beurteilen die Lehrkräfte die Effektivität der angewandten Strategien?
a. Was halten Lehrkräfte von präventiven Maßnahmen?
b. Welches sind die Gründe für einen möglicherweise geringen Einsatz präventiver Maßnahmen in der Schule?
V. Wie kamen Sie zu diesen Strategien?
VI. Wie groß ist der Anteil unbewusst angewandter gegenüber bewusst angewandten Strategien?

Ziele:

- Erarbeitung der in der Literatur diskutierten präventiven und reaktiven Maßnahmen
- Hervorhebung der Bedeutung der präventiven Maßnahmen gegenüber den reaktiven
- Feststellen, ob die in der aktuelleren Literatur hervorgebrachten Maßnahmen in der Praxis angekommen sind
- Feststellen, welche Strategien bekannt sind und welche angewandt werden
- Feststellung der im Schulalltag am häufigsten angewandten Strategien
- Feststellen, inwieweit die Bewältigung von Unterrichtsstörungen unbewusst geschieht
- Erfassung der Standpunkte der Lehrerinnen und Lehrer bzgl. der verschiedene Maßnahmen, speziell der präventiven
- Abgleich von Theorie und Praxis

1.2 Aufbau der Arbeit

Der Aufbau dieser Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Der erste Teil erschließt dabei die Theorie in Hinblick auf Unterrichtsstörungen und deren Bewältigungsstrategien. Dazu erfolgt zunächst eine Einführung in die für diese Arbeit essentiellen Begriffe „Unterrichtsstörungen“ und „Klassenführung“, deren verschiedene Definitionen zu erläutern sind. Im daran anschließenden Kapitel wird der Forschungsstand rund um die Klassenführung und weiterer Erkenntnisse im Hinblick auf die Bewältigung von Unterrichtsstörungen aufgeführt, sowie kritisch reflektiert. An dieser Stelle finden sich ebenso die Befunde, welche für die im praktischen Teil der Arbeit durchgeführte Querschnittsuntersuchung von Relevanz sind. Der Forschungsstand stellt die Basis für die Herausarbeitung der in der aktuellen Literatur anzutreffenden präventiven und reaktiven Strategien im Umgang mit Unterrichtsstörungen dar, die in Kapitel vier gesammelt und beleuchtet werden. Die Sichtung und Erarbeitung der Theorie konstituiert einen wesentlichen Teil dieser Arbeit und endet mit einer Hervorhebung der Bedeutung präventiver Maßnahmen gegenüber der Intervention.

Der zweite, praktische Teil beinhaltet die eigentliche Studie. Zunächst werden die zu untersuchenden Fragestellungen aufgeführt und daraus Hypothesen generiert. Das darauffolgende Kapitel erläutert explizit die Methodik und das Forschungsdesgin der empirischen Untersuchung, die für die Beantwortung der gestellten Forschungsfragen und Überprüfung der Hypothesen gewählt wurden. Dieser Passus impliziert sowohl die Vorstellung des Erhebungsinstruments, einen eigens dafür konzipierten Fragebogen, als auch die Präsentation der Stichprobe, d. h. des gymnasialen Kollegiums. Die Erhebung wird schließlich in Kapitel acht ausgewertet und deren Ergebnisse strukturiert gesammelt. Diese werden darauffolgend in der Diskussion unter Heranziehung des Forschungsstandes interpretiert. Die Diskussion schließt mit der Methodenkritik der durchgeführten Untersuchung und einem Ausblick. Zuletzt wird die gesamte Arbeit in Kapitel zehn zusammengefasst.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit schließt die männliche Form die weibliche Form im folgenden Text mit ein.

Theoretischer Teil

2 Definitionen und Begriffsklärungen

2.1 Unterrichtsstörungen

Der Begriff „Unterrichtsstörungen“ stellt heutzutage für niemanden ein Verständnisproblem dar. Eine genaue und einheitliche Definition findet sich in der Wissenschaft allerdings nicht, was die Komplexität des Themas widerspiegelt. Zu zahlreich sind die Antworten auf die Fragen, was eine Unterrichtsstörung ist, ab wann es sich um eine Unterrichtsstörung handelt und wer festlegt, wann und ob es sich um diese handelt.

In der Folge werden die in der neueren Literatur gängigen Definitionen vorgestellt und der Begriff gegenüber im gleichen Kontext stehenden Termini abgegrenzt.

Spricht man in der neueren Fachliteratur von „Unterrichtsstörungen“, wurden zuvor sinnverwandte Begriffe wie Disziplinschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten verwendet. Da sie eine gewisse Schuldzuweisung implizieren, erscheinen sie heute nicht mehr als sinnvoll. So rückt der Begriff „Disziplinschwierigkeiten“ den Lehrer in den Mittelpunkt, der für Disziplin in der Klasse zu sorgen hat und bei entsprechenden Problemen alleine dafür verantwortlich gemacht wird, während die Begriffe „Verhaltensauffälligkeit“ und „Erziehungsschwierigkeiten“ den Schüler fokussieren und ihm allein die Schuld für den gestörten Unterricht zuweisen.

2.1.1 Definition nach Karlheinz Biller (1979)

Karlheinz Biller löst sich von diesen schuldbehafteten Termini und verwendet den Begriff „Unterrichtsstörungen“, den er folgendermaßen definiert:

“Alles, was den Prozess oder das Beziehungsgefüge von Unterrichtssituationen unterbricht oder unterbrechen könnte, ist als konkrete oder potentielle Unterrichtsstörung definierbar“ (Biller 1979, S. 28).

Der von ihm gewählte Begriff zeichnet sich nunmehr durch Wertneutralität aus und stellt einen näheren Bezug zur Unterrichtspraxis dar. Biller macht ferner deutlich, dass der Lehr-Lern-Prozess ein komplexes Gefüge darstellt und die Ursachen für Störungen des Unterrichts situativ von unterschiedlichen Faktoren abhängig sind. Er interpretiert die Störung nicht nur vom Lehr-Lern-Prozess und damit dem Unterrichtsgeschehen her, sondern sieht vielmehr die Existenz sowie den Grad der „Störung“ abhängig von den Einschätzungen durch die beteiligten Lehrer und Schüler. Auffallend an Billers Definition ist zudem, dass sie neben den tatsächlichen Unterbrechungen auch mögliche Unterbrechungen des Unterrichts beinhaltet (vgl. Biller 1979, S. 26 ff.).

2.1.2 Definition nach Rainer Winkel

Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Rainer Winkel, der sich davon distanziert, Begriffe wie „Disziplin-“ und „Verhaltensstörungen“ in der Pädagogik zu verwenden, die aus dem „Teufelskreis von Verurteilen und Entschuldigen“ nicht heraus kämen. Er spricht sich dagegen aus, Unterrichtsstörungen nur vom Lehrer oder nur vom Schüler her zu definieren und kennzeichnet stattdessen Unterrichtsstörungen ausgehend vom Unterricht und damit, wie zuvor Biller, vom Lehr-Lern-Prozess:

„Eine Unterrichtsstörung liegt dann vor, wenn der Unterricht gestört ist, d.h. wenn das Lehren und Lernen stockt, aufhört, pervertiert, unerträglich oder inhuman wird“ (Winkel 2009, S. 29).

Auch Winkel ist sich der Relativität bezüglich der Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen, die von Lehrern und Schülern verschieden interpretiert werden, bewusst. Im Gegensatz zu Biller sieht er allerdings darin eine permanente Konfliktquelle, resultierend aus den unterschiedlichen Sichtweisen der Beteiligten. Daher nimmt er Abstand von einer „personalen Definitionsrichtung“. Gemeint ist die Abhängigkeit der Unterrichtsstörung von der Einschätzung durch Lehrer und Schüler, die Biller neben dem Lehr-Lern-Prozess als maßgebend definierte. Nur wenn „der Unterrichtsprozess bedroht ist, abbricht oder in der Perversion endet“, liegt eine Unterrichtsstörung vor. Bei allem anderen handelt es sich laut Winkel um „Kennzeichnungen persönlicher Meinung, aber keine Unterrichtsstörungen“. Aus diesem Grund stellen die meisten Unterrichtsstörungen Signale der Schüler dar, die dem Lehrer etwas mitteilen wollen (vgl. Winkel 2009, S. 31).

2.1.3 Definition nach Gert Lohmann

Unterrichtsstörungen sind Ereignisse, die den Lehr-Lern-Prozess beeinträchtigen, unterbrechen oder unmöglich machen, indem sie die Voraussetzungen, unter denen Lehren und Lernen erst stattfinden kann, teilweise oder ganz außer Kraft setzen. Zu den Voraussetzungen zählen äußere und innere das Lernen ermöglichende Bedingungen, wie z.B. physische und psychische Sicherheit, Ruhe, Aufmerksamkeit, Konzentration.“ (Lohmann 2012, S. 13)

Lohmann sieht ebenfalls Unterrichtsstörungen als Beeinträchtigungen des Lehr-Lern-Prozesses. Allerdings definiert er das Phänomen der Unterrichtsstörungen von allen erwähnten Autoren am umfassendsten, da die Ursache hierfür im Lehrer- sowie Schülerverhalten, als auch in äußeren Bedingungen begründet sieht. Er unterstreicht ebenso den subjektiven Charakter hinsichtlich der Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen bedingt durch verschiedene Normvorstellungen und Erwartungen auf Seiten der Schüler und Lehrer (Lohmann 2012, S. 13).

Die vorliegende Arbeit orientiert sich der Definition Lohmanns. Zugleich soll betont werden, dass auch die Lehrkraft einen nicht unwesentlichen Teil der Verantwortung für das Aufkommen von Unterrichtsstörungen hat. Akzentuiert wird, dass der Begriff Unterrichtsstörung einer Objektivität entbehrt.

2.2 Klassenführung – Classroom Management

Auch wenn es bei der „effizienten Klassenführung“ bzw. dem „Classroom Management“ nicht primär um die Bewältigung von Unterrichtsstörungen geht, so spielt das Classroom Management dennoch eine wesentliche Rolle hinsichtlich der Prävention und Intervention von Unterrichtsstörungen. Aufgrund dessen soll das Classroom Management im Folgenden definiert und die damit in Verbindung stehenden Studien vorgestellt werden.

Definition Classroom Management

Für den eng mit Unterrichtsstörungen in Zusammenhang stehenden Begriff „Classroom Management“ finden im deutschsprachigen Raum die Synonyme Klassenführung und Klassenmanagement breite Verwendung. Jedoch sind die Bedeutungen der Begriffe sehr heterogen.

In Deutschland wird Klassenführung vor allem mit disziplinierenden Maßnahmen als Reaktion auf Störungen durch Bestrafungen und Belehrungen in Verbindung gebracht und greift damit zu kurz. Dieser traditionelle, behavioristisch geprägte Ansatz gilt allerdings nicht mehr als zeitgemäß.

Die international am weitesten verbreitete Interpretation der Klassenführung setzt deutlich breiter an und umfasst präventive, proaktive sowie reaktive Aspekte, wobei der Fokus auf der Vorbeugung liegt. Unterrichtsqualität und Klassenführung werden zwar begrifflich unterschieden, jedoch wird auf die enge reziproke Abhängigkeit und Interdependenz hingewiesen. Eine effiziente Klassenführung wird übereinstimmende als Schlüsselqualifikation der Unterrichtsqualität gesehen (vgl. Helmke 2009, S. 172). Für Weinert (1998, S. 27) beinhaltet die Kompetenz Klassenführung das Motivieren der Schüler zu möglichst konzentrierter Lernarbeit, das Vorbeugen von Störungen durch eine entsprechende Unterrichtsgestaltung, und das Regulieren, d. h. auftretende Störungen schnell und unauffällig zu beenden. Weinert beschreibt eine „effiziente Klassenführung“ wie folgt:

"Die wichtigste Voraussetzung für wirkungsvolles und erfolgreiches Lernen ist das Ausmaß der aktiven Lernzeit, das heißt der Zeit, in der sich die einzelnen Schüler mit den zu lernenden Inhalten aktiv, engagiert und konstruktiv auseinandersetzen. Je mehr Unterrichtszeit für die Reduktion störender Aktivität verbraucht bzw. verschwendet wird, desto weniger aktive Lernzeit steht zur Verfügung. Je häufiger einzelne Schüler im Unterricht anwesend und zugleich geistig abwesend sind, umso weniger können sie lernen. Der Klassenführung kommt deshalb eine Schlüsselkompetenz im Unterricht zu“ (Weinert 1996, S. 124).

Hier wird die Bedeutung der Klassenführung hinsichtlich des Lernens im Unterricht und speziell in Bezug auf Störungen während dieses Prozess ersichtlich.

Während aber im deutschen Sprachraum, so auch bei Weinert, Klassenführung stärker mit der klaren Regelung des Unterrichts und vor allem einer effektiven Zeitnutzung in Verbindung gebracht wird, wird der Begriff Classroom Management im anglo-amerikanischen Bereich im weiteren Sinne verwendet. Der Ansatz von Evertson betont nicht nur das dem eigentlichen Unterrichten vorausplanende Handeln, etwa durch das Treffen von Vereinbarungen, das Einführen von Regeln zu Schulbeginn oder das Einholen von Informationen über Schüler vor der Klassenübernahme. Es schließt zudem auch das emotionale und soziale Lernen ein. So definieren Evertson und Weinstein Classroom Management als

„…the actions teachers take to create an environment that supports and facilitates both academic an social-emotional learning ... It not only seeks to establish and sustain an orderly environment so students can engage in meaningful academic learning, it also aims to enhance students´ social and moral growth“ ( Evertson/Weinstein 2006, S. 14).

Die Heterogenität des Begriffs wird deutlich. Für diese Arbeit soll das Classroom Management als Gesamtheit aller Maßnahmen zur Sicherstellung eines geordneten und lernwirksamen Unterrichtsablaufs verwendet werden.

3 Forschungsstand

3.1 Prävention und Intervention von Unterrichtsstörungen

(Forschungsstand des theoretischen Teils der Arbeit)

In der Folge soll nun der für die Prävention und Intervention von Unterrichtsstörungen relevante Forschungsstand skizziert werden, der vor allem Studien zu Classroom Management und Führungsstil einschließt. Die im nächsten Kapitel angeführten Strategien basieren zu großen Teilen auf diesen Studien, weshalb sie an dieser Stelle Beachtung finden.

3.1.1 Erste Studien zum Classroom Management

Nach Evertson und Weinstein war William Chandler Bagley (1907) einer der ersten, der Studien zu Classroom Management erhob. An dem Glauben festhaltend, dass Schule Kinder auf das zivilisierte Leben vorbereiten sollte, propagierte er für diesen Zweck die Verwendung von „management principles“ in der Schule. Anhand der Beobachtungen von Lehrern, die er als erfolgreich und effizient betrachtete, sowie seiner eigenen Erfahrungen und generellen psychologischen Grundsätzen stellte er Managementprinzipien auf, die hilfreich für das Formen und Ausbilden des Schülerverhalten waren (Everston/ Weinstein 2006, S. 19)

3.1.2 Jacob Kounins Befunde

Die Tatsache, dass die Klassenführung und damit verbunden präventive Strategien neben der Intervention immer stärker in den Fokus der Forschung rückten, ist auf die Untersuchungen Jacob Kounins in den 70er Jahren zurückzuführen. Aufgrund der hohen Bedeutung seiner Studien, sollen diese an dieser Stelle genauer vorgestellt werden.

Der Ursprung seiner Untersuchungen lässt sich auf einen Zwischenfall zurückzuführen. In einer von ihm gehaltenen Vorlesung rügte er verärgert einen Studenten, der während seines Vortrages in einer weit aufgeschlagenen Zeitung las. Die Maßregelung zeigte Erfolg. Der Student unterließ es, die Zeitung zu lesen. Bemerkenswerter für Kounin war aber die beobachtbare Wirkung auf die übrigen Studenten. Diese zeigten sich ebenso von der Maßnahme betroffen, wenngleich sie nicht gegen sie selbst gerichtet war. Diesen „Welleneffekt“ versuchte er in der Folge an verschiedenen Schulen näher zu untersuchen und ging der Frage nach, welche Zurechtweisung in Reaktion auf eine Störung den bestmöglichen Effekt habe (vgl. Kounin 2006, S. 17 ff.).

Trotz zahlreicher Untersuchungen mit verschiedenen Forschungsmethoden gelangten seine Kollegen und er nur zu widersprüchlichen Befunden ohne eindeutige Ergebnisse. Es konnte keine Korrelation zwischen dem Zurechtweisungsverhalten der Lehrer und der Mitarbeit bzw. dem Störverhalten der Schüler festgestellt werden. Was bei Lehrer A Erfolg zeigte, erwies sich bei Lehrer B wirkungslos. Ermahnungen, die in einer Klasse für Ruhe sorgten, misslangen in den Parallelklassen. Die Art der Reaktion auf eine Störung erwies sich folglich als wenig bedeutsam. Erst als die Forscher durch Videoanalyse verschiedener Klassen den Fokus auf das Geschehen vor der Störung legten, statt nur auf die Lehrerhandlung danach, kamen sie zu nützlichen Ergebnissen. Demnach steht der angestrebte Effekt weniger in Abhängigkeit der Zurechtweisung als vielmehr in Abhängigkeit anderer Dimensionen des Lehrerverhaltens, die belegbar mit dem gewünschten Schülerverhalten korrelierten. Kounin stellt auf Grundlage dessen vier Dimensionen auf, die in der Folge genauer beschrieben werden und sich an Noltings begrifflich vereinfachter Einteilung orientieren (vgl. Kounin 2006, S. 84).

Die erste Dimension bezeichnet er im Original als „withitness and overlapping“, das mit „Allgegenwärtigkeit und Überlappung“ übersetzt wird (vgl. Kounin 2006, S. 85). Damit ist die Fähigkeit des Lehrers gemeint, den Schülern das Gefühl zu vermitteln, er sähe alles, was sich im Klassenzimmer abspielt und ihm nichts entgehe. Besonders relevant in Hinblick auf Störungen erwies es sich dabei, keine „Zeit- und Objektfehler“ zu begehen. Zeitfehler entstehen bei zu später Reaktion der Lehrkraft auf eine einsetzende oder bereits vorliegende Störung hin, welche sich in der Folge ausbreitet und auf andere Schüler übergeht. Wird der falsche Schüler ermahnt, der lediglich ein Zuschauer oder „Mitangesteckter“ der eigentlichen Störungsquelle ist, spricht Kounin von einem „Objektfehler“ (Kounin 2006, S. 90 ff.).

Allgegenwärtigkeit beinhaltet ebenso die „Überlappung“. Damit ist die Fähigkeit der Lehrkraft gemeint, sich um zwei Dinge synchron kümmern zu können, beispielsweise einer Gruppe eine Aufgabe zu erklären und fast gleichzeitig einen störenden Schüler zu ermahnen.

Die zweite Dimension „Reibungslosigkeit und Schwung“ bezieht sich vor allem auf flüssige Übergänge einzelner Aktivitäten innerhalb des Unterrichtsgeschehens. Unnötige Verzögerungen, unvermittelte Übergänge sowie thematische Sprünge behindern den Unterrichtsfluss und sind daher möglichst zu unterlassen. Dazu zählen auch lange „Predigten“ der Lehrkräfte in Reaktion auf banale Vorkommnisse, abrupte Wechsel der Aufgaben oder Ablenkungen durch belanglose Reize (Wo ist denn Susi heute?). Kounin betont, dass die erfolgreiche Klassenführung durch einen Lehrer von einem außenstehenden Beobachter kaum wahrgenommen wird und als leicht erscheint, während schlecht geführte Klassen Gelegenheit bieten, Fehler zu erkennen. So ist auch die Beachtung der Dimension „Reibungslosigkeit und Schwung“ nach außen kaum erkennbar, erfülle aber ihren Zweck (vgl. Kounin 2006, S. 101 ff.).

Als dritten Punkt führt Kounin die „Aufrechterhaltung des Gruppen-Fokus“ an. Dieser sorgt dafür, dass sich nicht nur einzelne zur Mitarbeit bewegt fühlen, sondern alle Schüler gleichzeitig aktiviert werden, auch wenn sie gerade nicht „dran“ sind. Vor allem zwei Aspekte erweisen sich dabei als ausschlaggebend: die „Gruppenmobilisierung“ und das „Rechenschaftsprinzip“. Erstere beschreibt, in welchem Ausmaß es dem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit der nichtaufgerufenen Schüler aufrecht zu erhalten. Dies wird beispielsweise erreicht, wenn der Schüler damit rechnen muss, aufgerufen zu werden. Möglich ist auch die Erzeugung von Spannung vor dem Aufrufen der Schüler durch einen schweifenden Blick in die Klasse oder eine Ankündigung wie: „Jetzt lasst uns doch mal sehen, wer…“ (Kounin 2006, S. 124). Den zweiten Aspekt stellt das „Rechenschaftsprinzip“ dar. Es beschreibt, in welchem Ausmaß die Schüler hinsichtlich ihrer Leistung Rechenschaft ablegen müssen und kontrolliert werden. Wenn die Lehrkraft etwa die Schüler zum Hochhalten der Aufgabenhefte auffordert oder die Klasse um Meldungen bittet, um dann mehrere aufzurufen, werden gleichzeitig mehrere Schüler aktiviert und das Prinzip erfüllt (vgl. Kounin 2006, S. 117 ff.).

Die letzte Dimension bezeichnet Kounin als „programmierte Überdrussvermeidung“. Danach gilt es den Überdruss auf Seiten der Schüler durch „negative Motivation“ in Form von häufigen Wiederholungen zu vermeiden. Stattdessen sind durch Abwechslung in Bezug auf Methoden, Inhalt und kognitive Herausforderungen die Schüler zu stimulieren, um die Wahrscheinlichkeit für das Aufkommen von Störungen zu vermindern (Kounin 2006, S. 131 ff.).

Nun liegen Kounins Befunde bereits über vierzig Jahre zurück. Seine Untersuchungen fokussierten lediglich das Verhalten des Lehrers und einen lehrerzentrierten Unterricht, was nicht mehr der heutigen Unterrichtsqualität entspricht. Dennoch stellen sie Meilensteine in der Erforschung des Classroom Managements dar und sind auch aktuell noch von großer Bedeutung. Seine Ergebnisse lenken die Aufmerksamkeit weg von der Kontrolle und dem Sanktionieren des Verhaltens einzelner Schüler hin zum effektiven Unterrichten der gesamten Klasse, die Vorrang vor dem Einzelnen hat. Überdies stellten sie den Anstoß für weitere Forschungen dar, die Kounins Befunde überwiegend bestätigten und durch neue Erkenntnisse erweitern konnten.

3.1.3 Befunde Evertsons et. al

Die Befunde Kounins konnten in nachfolgenden Forschungen größtenteils repliziert werden (vgl. Brophy 2006, S. 28 ff.). Zahlreiche Studien dazu wurden vor allem durch Emmer, Evertson und Sanford zu Beginn der 80er Jahre an Grund- und weiterführenden Schulen gemacht. Evertson und Harris (1992) fassten die Erkenntnisse innerhalb der Prozess-Produkt-Forschung zusammen. Demzufolge zeigten Lehrkräfte mit effektivem Classroom Management folgenden Verhaltensweisen:

1. Möglichst effektive Zeitnutzung
2. Implementierung von Gruppenstrategien mit hohem Involviertheitsgrad und niedrigem Störungsniveau
3. Wahl der Aufgaben, die zu einer hohen Beschäftigung der Schüler führt
4. Kommunizieren klarer Regeln zur Partizipation
5. Implementierung eines Regelsystems zu Jahresbeginn (Evertson/ Harris 1992, S. 76)

Die Dimensionen Kounins wurden durch die Herstellung beständiger Ordnungsstrukturen, besonders durch die Einführung von Regeln ergänzt. Diese stellen innerhalb der effektiven Klassenführung einen bedeutenden Teil dar, deren Bedeutung empirisch gut belegt ist (vgl. Nolting 2011, S. 39).

Auf Grundlage der Ergebnisse aus der Effektivitätsforschung konzipierte Evertson ein Programm für Lehrer und veröffentlichte die Bücher „Classroom Management for Elementary School Teachers“ (Evertson et al. 2002) und „Classroom Management for Secondary School Teachers“ (Emmer et al. 2002), welche zu den Bestsellern der Literatur in der Klassenführung zählen.

3.1.4 Führungsstil (Tausch/Tausch)

In Zusammenhang mit der Bewältigung von Unterrichtsstörungen und Klassenführung erscheint auch eine Beleuchtung des Führungsstils notwendig.

Schon 1933 vertrat John Dewey die Meinung, dass ein Lehrer der intellektuelle Führer einer Klasse sein müsse: „In reality the teacher is the intelectual leader of a social group“ (Dewey, 1933, zitiert nach Apel, 2002, S. 18). Damit widerspricht er der traditionellen Vorherrschaft des Lehrers im Unterricht seiner Zeit und betont stattdessen das geistige Anleiten einer Gruppe. Die Voraussetzung für Disziplin sah er schon damals in einer anregenden Lehr-Lern-Situation, was sich mit der Klassenführung im heutigen Sinne deckt

Diese Lehr-Lern-Situation versuchte Kurt Lewin in den 50er Jahren zu untersuchen und verglich dazu den „autokratischen“, den „demokratischen“ und den „Laissez-faire“-Führungsstil. Dabei erwies sich der demokratische Führungsstil den anderen insgesamt als klar überlegen. Er führte nicht nur zu guten Leistungen, sondern sorgte ebenso für eine hohe Zufriedenheit der Schüler. Eine positive und vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre, der Zusammenhalt in der Klasse und die Förderungen der Selbstständigkeit waren damit ebenso verbunden. Der autoritäre Führungsstil zeigte zwar im Gegensatz zum Laissez-faire-Stil ebenfalls gute Leistungsergebnisse, allerdings waren diese ohne Kreativität. Zudem generierte er ein sehr negatives soziales Verhalten innerhalb der Gruppe in Form von Reizbarkeit, Feindseligkeit und Dominanz (vgl. Lewin 1953, S. 121).

Annemarie und Reinhard Tausch bauten auf diesen Erkenntnissen Lewins auf und entwickelten das Interaktionskonzept. Um eine bessere Differenzierung der von Lewin verwendeten Stile zu ermöglichen, schlugen sie die Dimensionen „Geringschätzung-Wertschätzung“ und „minimale-maximale Lenkung“ vor. Das von ihnen favorisierte „Typenkonzept sozialintegratives Verhalten“ zeichnet sich durch mittlere Lenkung und eine hohe Wertschätzung aus, die emotionale Wärme und Zuneigung miteinschließt. Dies seien Voraussetzung für fruchtbare Disziplin und eine erfolgreiche Klassenführung (Tausch/Tausch 1973, S. 175 ff.). Tausch und Tausch belegen die Bedeutung von Wertschätzung, Verständnis, Aufrichtigkeit und Echtheit durch zahlreiche empirische Belege, wie den Schülerbefragungen von Witty (1947) und Ruppert (1959) (vgl. Tausch/Tausch 1973, S. 325).

Sie machten damit deutlich, wie wichtig eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung ist, die durch Warmherzigkeit, Achtung, Hilfe, Höflichkeit und Ermutigung gekennzeichnet ist. Weidemann und Krapp halten fest, dass ein hoch wertschätzender und mittelstark lenkender Erziehungsstil in der Pädagogischen Psychologie übereinstimmend als günstig gehalten werde. Ferner sei nachgewiesen, „dass Kinder sich in einem solchen Erziehungsklima zu empathiefähigen, kooperativen und selbständigen Individuen entwickeln“ (Weidenmann/Krapp 1986, S. 308). Horst Nickel hat in seinen Studien zum Führungsstil das Konzept von Tausch und Tausch um die Dimension des Anregens und Anleitens erweitert, die zusätzlich notwendig sei, um das pädagogische Handeln in der Klasse zu erfassen. Diese kennzeichnet sich durch Förderung von Selbstständigkeit, Eigeninitiative und allgemeiner psychischer Leistungsfähigkeit (vgl. Nickel 1974, S. 74). In der Führungsstildiskussion erreichte sein Konzept allerdings kaum Bedeutung.

Die Ergebnisse Tauschs und Tauschs geben zwar nützliche allgemeine Hinweise für den sozialen Umgang im Klassenzimmer, sind aber für die Praxis insofern nicht ausreichend, als dass sie keine konkreten Vorschläge zur Umsetzung ihres theoretischen Gerüsts im Unterricht anbieten.

Der hier favorisierte demokratische bzw. sozial-integrative Führungsstil deckt sich mit bedeutenden Aspekten des heutigen Classroom-Management-Konzeptes und kann durch seinen kooperationsfördernden und wertschätzenden Charakter als Präventionsstrategie in Hinblick auf Unterrichtsstörungen gesehen werden, während autokratisches Verhalten des Lehrers „Verschlechterung des Beziehung zu Erziehern, späterer Unangepasstheit, negativen gefühlsmässigen Erfahrungen [und] ablehnenden Reaktionen“ führe (Tausch/Tausch 1973, S. 175).

3.1.5 Haertel, Wang und Walberg

Eine der wichtigsten Studien im Zusammenhang mit Unterrichtsqualität ist die Meta-Analyse zu den Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen von Wang, Haertel und Walberg (1993). Die Meta-Analyse basierte auf 11000 Vergleichen zwischen gutem und schlechtem Unterricht. Klassenführung wird dabei in der Rangreihe von Einflussfaktoren auf guten Unterricht an erster Stelle aufgeführt, gefolgt von den Eigenschaften der Schüler, die Unterstützung der Eltern, der Lehrer-Schüler-Interaktion, dem Klassenklima usw. (Wang/Haertel/Wahlberg 1993, S. 272 ff.).

3.1.6 Helmke (Scholastik-Studie)

Helmke konstatiert: „Die internationale Forschung zeigt, dass kein anderes Merkmal so eindeutig und konsistent mit dem Leistungsniveau und dem Leistungsfortschritt von Schulklassen verknüpft ist wie die Klassenführung“ und verweist auf mehrere Studien (Helmke 2009, S. 174).

Helmke selbst konnte in der Scholastik-Studie durch Videoaufzeichnungen des Unterrichts und eine Befragung der Schüler einen positiven Effekt der Klassenführung auf das Lernen der Schüler feststellen. Demnach zeigte sich ein systematischer Zusammenhang zwischen der von den Schülern empfundenen Aufmerksamkeit und der Lernzeitausnutzung (Helmke/Weinert 1997, S. 136).

Die Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit und eine hohe Lernzeitausnutzung implizieren ein vermindertes Auftreten von Störungen, weshalb auch diese Studie hinsichtlich der Begegnung von Störungen im Unterricht von Relevanz ist.

3.2 Vergleich zwischen Theorie und Praxis

(Forschungsstand zum praktischen Teil der Arbeit)

Rüedi stellt fest, dass eine Forschungslücke in Bezug auf die in Klassenzimmern tatsächlich angewandten Strategien und Vorgehensweisen im Zusammenhang mit „Disziplin und Strafe“ besteht. Viel zu wenig sei empirisch erforscht, was getan wird und inwiefern sich die verwendeten Maßnahmen aus Lehrersicht bewährt haben (Rüedi 2007, S. 170). An dieser Stelle möchte diese Arbeit anknüpfen.

Der eher spärliche Forschungsstand, welcher für den im praktischen Teil dieser Arbeit relevant ist, soll an dieser Stelle kurz vorgestellt werden.

3.2.1 Erfolgreiche Strategien und Typen - Mayr et al.

In einer österreichischen Studie wurde untersucht, welche pädagogischen Handlungsstrategien erfolgreiche Lehrer einsetzen, um gute Mitarbeit und wenige Störungen zu erzielen (vgl. Lohmann 2012, S. 34). Die Autoren Mayr und Fartacek fassten dazu disziplinbezogene Handlungsstrategien aus der Fachliteratur, sowie diverser Lehrer- und Schülerumfragen zusammen und bündelten sie in drei Handlungsmustern:

- Sozialpädagogisches Handeln (Beziehungen fördern)
- Korrektes, sachorientiertes Handeln (Unterrichts gestalten)
- Disziplinierendes Handeln (Verhalten kontrollieren)

Die Untersuchung kam zum Ergebnis, dass zu einer Prävention und Bewältigung von Unterrichtsstörungen alle drei Dimensionen berücksichtigt werden müssen. Bemerkenswert war, dass die Kombination von Strategien aus den drei Bereichen bei den erfolgreichen Lehrern unterschiedlich gewichtet waren. Während die einen die sozialen Beziehungen stärker förderten, fokussierten andere hauptsächlich einen anregenden Unterricht, wieder andere eher kontrollierende Strategien. Die Verteilung hängt gewiss von den Einstellungen und persönlichen Charaktermerkmalen der einzelnen Lehrkräfte ab. Die Wahl der Strategien variiert aber u. a. auch in Abhängigkeit von der jeweiligen Klasse (vgl. Lohmann 2012, S. 36). Eine Übersicht über die Studien der Forschergruppe findet sich bei Mayr (2008).

3.2.2 LCH-Befragung zu Disziplinschwierigkeiten in den deutschschweizerischen Schulen

Von besonderem Interesse hinsichtlich der oben beschriebenen Lücke zwischen Theorie und Praxis ist die vom Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) durchgeführte Befragung zum Thema „Disziplinschwierigkeiten“ (LCH 1998). Der von 648 Teilnehmern ausgefüllte Fragebogen enthielt mehrere Themenbereiche, darunter auch die angewandten Strategien zur Begegnung der Schwierigkeiten und die Handlungsprioritäten zur Vorbeugung und Überwindung der Disziplinschwierigkeiten

Erhellend ist der Vergleich zwischen Literaturempfehlungen und den letztendlich wirklich verwendeten Maßnahmen im Falle einer Disziplinschwierigkeit. Das disziplinarische Handeln lässt sich zu fünf Strategien zusammenfassen, nämlich zu kommunikativen, autoritären und isolierenden, sowie zu Sofortmaßnahmen und Zusatzstrafen. Dabei wurden die kommunikativen Strategien am häufigsten angewandt und gleichzeitig als am wirkungsvollsten eingeschätzt – entsprechend zu Ergebnissen anderer Studien“ (vgl. Kummer 2000, zitiert nach Rüedi 2007, S. 170).

Innerhalb der kommunikativen Strategien werden der Dialog und das Gespräch mit der Klasse von den Lehrern als am effektivsten in der Begegnung von Disziplinschwierigkeiten gesehen. Die entspricht prinzipiell den pädagogischen Literaturempfehlungen. Bezogen auf Sofortmaßnahmen, werden weiterhin Ermahnungen am häufigsten angewandt, wenngleich ihre Wirksamkeit sehr gering eingeschätzt wird. Am effektivsten wird das Umsetzen des störenden Schülers beurteilt, das oft Verwendung findet. Zusatzstrafen werden in ihrer Effektivität an zweiter Stelle angesiedelt (vgl. Rüedi 2007, S. 171).

3.2.3 Umfrage Noltings

Eine ähnliche Befragung im kleineren Rahmen stellte Nolting an. Der Satz „Damit in der Schulklasse nur wenig Disziplinprobleme auftreten, ist es vor allem wichtig, dass man…“ wurde von 101 Lehrkräften ergänzt. Die Antworten wurden von Nolting in vier Kategorien eingeordnet. Am stärksten vertreten war das Stichwort „Regeln“ (18,6 %). Reaktion auf Störungen (12,9 %) wie das Besprechen des Vorfalls und Erteilen von Sanktionen bilden einen weiteren Block. Den größten Komplex stellt mit 22,3 % die Unterrichtsführung dar, die qualitative Merkmale wie z. B. eine gute Strukturierung und Methodenwechsel beinhaltet. Ebenso wichtig erschien den Befragten die Gestaltung der sozial-emotionalen Beziehungen. So bezogen sich etwa 20 % der Angaben auf Aspekte wie das Schaffen eines positiven Klimas (4,9 %) oder der Aufbau guter Beziehungen zu den Schülern. Der Rest verwies auf unterschiedliche Gesichtspunkte wie Vorbild sein, kompetent sein, Freiräume gewähren etc. (vgl. Nolting 2011, S. 26 f.)

3.3 Kritische Reflexion des Forschungsstandes

Die hier dargebrachten Forschungen sollen an dieser Stelle kritisch beleuchtet werden. Generell ist es als Mangel zu sehen, dass vor allem im deutschen Sprachraum, bedingt durch die überwiegend geisteswissenschaftliche Orientierung in der Pädagogik, die empirische Forschung zu kurz kommt. Helmke stellt fest:

„Es gibt zwar zahlreiche Praxisberichte, theoretische Abhandlungen, Modellversuchsberichte und Ratgeberliteratur zum Unterricht, aber nur wenige empirische Untersuchungen, deren Stichprobenplan, Design und statistische Auswertung methodischen Standards entspricht“ (Helmke 2009, S. 17).

Angesichts dieser Aussage müssen die eben dargestellten Befunde mit Vorsicht betrachtet werden. Dies gilt ebenso für die in den anschließenden Kapiteln vorgestellten Strategien im Hinblick auf Unterrichtsstörungen, welche vor allem auf aktueller Ratgeberliteratur zum Unterricht basieren. Der theoretische Teil wird deshalb partiell mit empirischen Befunden und Ergebnissen aus der Forschung untermauert.

Kritisch zu sehen sind ebenso Korrelationen zwischen einem Unterrichtsmerkmal und einem Zielkriterium wie z. B. einem störungsarmen Unterricht. Diese allein reichen für den Nachweis der Wirksamkeit nicht aus, da die Interdependenz von Merkmal und Zielkriterium das Ziehen eindeutiger Rückschlüsse erschwert (vgl. Helmke 2009, S. 24).

Einfache Korrelationen, wie sie bei den Surveystudien (PISA, DESI, TIMMS, IGLU) gestatteten „grundsätzlich keine Aussagen über Wirkungszusammenhänge und sind deshalb stets sehr vorsichtig zu interpretieren“ (vgl. Helmke 2009, S. 24). Nur Studien mit experimentellem oder quasiexperimentellem Design, bei denen einzelne Unterrichtsmerkmale systematisch variiert und andere Merkmale konstant gehalten werden, sowie eingeschränkt auch Längsschnittstudien seien aussagekräftig (ebd.).

Eine offensichtliche Hürde innerhalb der Unterrichtsforschung ist die Komplexität des Unterrichts mit seinen zahlreichen Einflussfaktoren, die ineinander verwoben sind und sich wechselseitig bedingen. In der pädagogischen Literatur spricht man von der „Faktorenkomplexion des Unterrichts“. Eine Isolierung einzelner Merkmale ist schwierig. In einem solch komplexen Geflecht fällt es nicht schwer zu verstehen, dass Forschungsergebnisse nicht mit völliger Gewissheit auf einzelne Unterrichtsmerkmale oder Führungsstrategien zurückgeführt werden können. Meyer und Jank sprechen von einer unumgänglichen „rabiaten Komplexitätsreduktion“ in der Forschung, welche die Gültigkeit ihrer Ergebnisse „grundsätzlich beschränkt“ (Jank/Meyer 2003, S. 103).

Ein Zusammenhang zwischen Prozess- und Produktqualität, d. h. zwischen einzelnen zu untersuchenden Unterrichtsmerkmalen und deren vermeintlichen Resultaten ist niemals deterministisch, sondern immer probabilistisch. Bei den entsprechenden Studien kann demnach lediglich von einem Wahrscheinlichkeitscharakter gesprochen werden (vgl. Helmke 2009, S. 25).

In Anbetracht dieser kritischen Punkte, müssen die oben dargelegten Befunde und Studien mit Vorsicht genossen werden. Sicherlich vermögen weder sie, noch die darauf basierenden und im Anschluss vorgestellten Strategien, Gewissheit und eine Garantie dafür zu geben, wie Unterrichtsstörungen am besten begegnet werden sollte und welche Merkmale wissenschaftlich zweifelsfrei als fundiert gelten. Dennoch stellen die Forschungen von Kounin, Evertson etc. entscheidende und bedeutende Errungenschaften in der Erziehungswissenschaft dar, die vor allem in der Praxis von hoher Relevanz sind und eine Bereicherung für Lehrer und Schüler bilden.

3.4 Aktuelle Literatur zum Thema

Das Thema „Unterrichtsstörungen“ ist in der pädagogischen Literatur vor allem in den letzten Jahren verstärkt vorzufinden. So finden sich auch im deutschsprachigen Raum zahlreiche aktuellere Untersuchungen und Ratgeber für Lehrer zum Umgang mit Unterrichtsstörungen. Gert Lohmanns „Mit Schülern klarkommen. Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen“ (2012) und Hans-Peter Noltings „Störungen in der Schulklasse“ (2011) erschienen beide bereits in der 9. Auflage, was die wachsende Bedeutung und Nachfrage in Bezug auf dieses Thema unterstreicht. Beide Autoren skizzieren darin das Problem um Störungen und Konflikte im Unterricht und versuchen in der Folge, Lehrkräften Präventions- und Reaktionsstrategien für deren Umgang an die Hand zu geben. Michaels Pfitzners „Kevin tötet mir den letzten Nerv“ (2007), Christas D. Schäfers „Wege zur Lösung von Unterrichtsstörungen“ (2006), Gustav Kellers „Disziplinmanagement in der Schulklasse“ (2008) und vor allem Rainer Winkels „Der gestörte Unterricht“ sind weitere bekannte Bücher auf diesem Gebiet.

Im angloamerikanischen Raum findet sich vor allem hinsichtlich des Classroom Managements eine ganze Bandbreite an Werken. So bietet das äußerst erfolgreiche Lehrbuch „Effective Teaching Methods“ (Borich 2006) zwei umfangreiche Kapitel zum Thema „Classroom Management“ und „Classroom Order and Discipline“. Neben den bereits oben erwähnten Büchern Evertsons zum Classroom Management sei das von ihm und Weinstein 2006 herausgebrachte und sehr umfassende „Handbook of Classroom Management“ erwähnt.

4 Strategien im Umgang mit Unterrichtsstörungen

Die in der Folge erläuterten präventiven und reaktiven Strategien basieren vor allem auf Lohmanns Metastrategien zum professionellen Umgang mit Unterrichtsstörungen und werden durch die zum Großteil bereits erwähnten Quellen aus der erziehungswissenschaftliche Literatur und Forschung ergänzt und erweitert. Die Unterteilung in Disziplin-Managementeben, Beziehungseben und Unterrichtseben ist Lohmann entnommen und ist den von Mayr et al. herausgearbeiteten Dimension (s. o.) angelehnt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Unterrichtsstörungen: Präventive und reaktive Maßnahmen im Vergleich zwischen Theorie und Praxis
Untertitel
Befragung eines gymnasialen Kollegiums.
Hochschule
Deutsche Sporthochschule Köln
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
112
Katalognummer
V210130
ISBN (eBook)
9783656377412
ISBN (Buch)
9783656377818
Dateigröße
878 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine umfassende Arbeit zum Thema Unterrichtsstörungen, speziell der in der aktuellen Literatur diskutierten präventiven und reaktiven Strategien, die im theoretischen Teil vorgestellt und im praktischen Teil der Arbeit hinsichtlich ihrer Effektivität und tatsächlichen Verwendung im Klassenzimmer untersucht werden.
Schlagworte
unterrichtsstörungen, präventive, maßnahmen, vergleich, theorie, praxis, befragung, kollegiums
Arbeit zitieren
Matthias Gonszcz (Autor:in), 2012, Unterrichtsstörungen: Präventive und reaktive Maßnahmen im Vergleich zwischen Theorie und Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210130

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