Medienfreiheit in Estland und Ungarn

Ein Vergleich der Entwicklung in den postkommunistischen Jahren


Bachelorarbeit, 2012

45 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand
2.1. Normative Grundlage: Das Konzept der Medienfreiheit
2.2. Komparative Mediensystemforschung
2.3. Mediensystemtransformation

3. Estland
3.1. Transformation des Mediensystems nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
3.2. Jüngste Entwicklung der Medienfreiheit

4. Ungarn
4.1. Transformation des Mediensystems nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
4.2. Jüngste Entwicklung der Medienfreiheit

5. Im Vergleich: Entwicklung von Mediensystem und Medienfreiheit in Estland und Ungarn

6. Fazit und Ausblick

7. Literaturverzeichnis

8. Anhang

Tabelle 1: Die Transformation des estnischen Mediensystems unter Zuhilfenahme des analytischen Rasters

Tabelle 2: Die Transformation des ungarischen Mediensystems unter Zuhilfenahme des analytischen Rasters

Tabelle 3: Vergleich zwischen den Mediensystemen Estlands und Ungarns mit Stand Juni 2012

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Es ist der 3. Mai 2012, der Internationale Tag der Pressefreiheit: Weltweit würdigen demokratische Regierungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Bedeutung freier Medien für die demokratische Gesellschaft. Zeitgleich veröffentlicht die US-amerikanische Organisation Freedom House (FH), die als einzige Organisation weltweit die Lage der Medienfreiheit schon seit 1980 durchgehend bewertet, die neueste Auflage ihres Medienfreiheits-Ranking. Einer der großen Absteiger in diesem Jahr: Ungarn. FH stuft die Medien in dem mittelosteuropäischen Land nur noch als Teilweise Frei ein (vgl. Deutsch Karlekar/Dunham 2012: 2) – ein Jahr zuvor waren die ungarischen Medien noch als Frei bewertet worden (vgl. FH 2011: 2)[1]. Die Organisation selbst bezeichnet den deutlichen Rückfall Ungarns als „extremely unusual in the history of the index.“ (Deutsch Karlekar/Dunham 2012: 2)

Zeitgleich findet sich ein anderes osteuropäisches Land deutlich weiter vorne in der FH-Rangliste: Estlands Medien werden von der Organisation als frei bewertet (vgl. ebd.: 13). In der Medienfreiheits-Rangliste von Reporter ohne Grenzen (ROG) steht das Land Anfang 2012 sogar auf dem dritten Platz von 179 untersuchten Ländern (vgl. ROG 2012a).

Warum hat sich die Medienfreiheit in Ungarn und Estland offenbar unterschiedlich entwickelt? Ungarn und Estland gehören zu den Staaten, die in den vergangenen 25 Jahren einen bemerkenswerten Wandel von unter Sowjetherrschaft stehenden, repressiven Regimen zu westlich beeinflussten, demokratischen Staaten vollzogen haben. Mit der estnischen und ungarischen Gesellschaft haben sich auch ihre jeweiligen Mediensysteme[2] gewandelt. Welche Faktoren haben die Mediensystementwicklung – und damit auch die Medienfreiheit – in Ungarn und Estland beeinflusst? Wo liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Mediensystemtransformation? Mit dieser Fragestellung setzt sich die vorliegende Arbeit auseinander.

Um die Forschungsfrage zu beantworten, bedient sich die Arbeit unterschiedlicher Theorien und Modelle aus der vergleichenden Mediensystem- und Mediensystemtransformationsforschung. Diese werden im zweiten Kapitel vorgestellt. Bei der Auswahl der Theorien wurde insbesondere auf Aktualität und Relevanz geachtet. Das erste Unterkapitel 2.1 definiert zunächst, welcher Medienfreiheitsbegriff der Arbeit zugrunde liegt. Kapitel 2.2 setzt sich mit der Methode des Vergleichs in der Kommunikationswissenschaft sowie mit verschiedenen Typologien der Mediensystemforschung auseinander. Das dritte Unterkapitel 2.3 befasst sich schließlich mit speziellen Theorien zur Mediensystemtransformation. Das dritte und vierte Kapitel wenden den im zweiten Kapitel entworfenen, theoretischen Rahmen dann jeweils auf die nationale Medienfreiheitsentwicklung in Estland und Ungarn an. Die Analyse umfasst hierbei einen Zeitraum von den späten 1980er Jahren bis Juni 2012. Das fünfte Kapitel fasst im Anschluss vergleichend Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Mediensystementwicklung in Ungarn und Estland zusammen, bevor das sechste Kapitel schließlich Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Medienfreiheit in Ungarn und Estland identifiziert. Dabei wird nicht der Anspruch erhoben, eine vollständige oder gar hierarchisch geordnete Liste an Einflussfaktoren auf die Medienfreiheit zu erstellen. Bei der Mediensystemtransformation handelt es sich um einen vielschichtigen, komplexen Prozess, der mono- und polykausale Deutungsversuche überfordert (vgl. Töpfl 2011: 201). Vielmehr zieht das abschließende Kapitel Schlussfolgerungen, die sich aus der vergleichenden Analyse in den Kapiteln drei bis fünf ergeben. Das Vorgehen ist also klar theoriegeleitet und verfolgt dabei eine Komplexitätsreduktion des Phänomens Mediensystemtransformation. Die zugrunde liegende Methode ist der Mediensystemvergleich, der sich wiederum auf eine Dokument- und Literaturanalyse stützt. Diese Methode wird sowohl von Thomaß (2007a: 29) als auch von Kleinsteuber (2003: 83f.) explizit als Methode des wissenschaftlichen Vergleichs benannt.

Die Analyse in den Kapiteln drei bis fünf nimmt vorwiegend eine Makroperspektive ein, wobei einzelne Akteure[3] insofern eine Rolle spielen können, als sie Einfluss auf die Medienfreiheitsentwicklung genommen haben. Einzelne Medienorganisationen stehen in der Regel nicht im Vordergrund der Analyse. Der analytische Schwerpunkt liegt auf den Subsystemen Print und Rundfunk. Onlinemedien haben gerade zu Beginn der Transformation in Estland und Ungarn keine Rolle gespielt und werden deshalb in der Analyse nur kurz behandelt. Vor allem in Estland hat die Bedeutung der Onlinemedien aber zuletzt zugenommen (vgl. Örnebring 2011: 15).

Ein vergleichendes Forschungsdesign, das für diese Arbeit gewählt wurde, erfordert ein behutsames methodologisches Vorgehen. Wirth und Kolb (2003: 104) kritisieren die Kommunikationswissenschaft dafür, dass sie bis in die 2000er Jahre nur wenig über Methoden und Designs international vergleichender Forschung diskutiert hat. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Hanitzsch und Altmeppen (2007: 188ff.) etwa formulieren fünf Qualitätsanforderungen an die komparative Forschung, die im Folgenden kurz auf die vorliegende Arbeit angewandt werden sollen.

1) Zunächst sollten Wissenschaftler die Wahl eines komparativen Forschungsdesigns begründen und die Zielsetzung des Vergleichs benennen (vgl. ebd.: 188). Im Fall der vorliegenden Arbeit verspricht ein Vergleich, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Entwicklungspfaden des ungarischen und des estnischen Mediensystems offenzulegen. Zudem soll er Hinweise auf mögliche Einflussfaktoren liefern.
2) Die Forschung sollte „in einer theoretischen Perspektive verankert sein“ (Hanitzsch/Altmeppen 2007: 188f.). Dies trifft auf die vorliegende Arbeit zu. Die angewandten Theorien werden ausführlich im zweiten Kapitel dargelegt.
3) Die Vergleichseinheiten sollten systematisch ausgewählt werden (vgl. ebd.: 189). Kleinsteuber (2003: 79) formuliert die Bedingung, dass Gegenstände eines wissenschaftlichen Vergleichs weder völlig gleich noch völlig unterschiedlich sein sollten. Das scheint bei Estland und Ungarn der Fall. Zwischen beiden Ländern zeigen sich beispielsweise historische Parallelen. Politikwissenschaftler zählen sie etwa zu den sieben Aufsteigerstaaten der ehemaligen kommunistischen Länder in Europa (vgl. Gati 1996: 6f.). Zudem sind beide Länder Mitglied in der Europäischen Union (EU). Unterschiede bestehen, wie die Kapitel 3 und 4 darstellen werden, etwa bei Geografie und Einwohnerzahl, nationalen Minderheiten, der Art des politischen Umbruchs in den Wendejahren sowie, wie schon gezeigt, in der Bewertung der Medienfreiheit.
4) Das „wichtigste Qualitätskriterium komparativer Forschung“ (Hanitzsch/Altmeppen 2007) ist das Herstellen von Äquivalenz. Nach Wirth und Kolb (2003: 105) ist damit zumindest funktionale Äquivalenz gemeint. Dies bedeutet, dass die Untersuchungsgegenstände in allen untersuchten Ländern eine gleichwertige Funktion für eine übergeordnete Systemebene erfüllen müssen, wobei gleichwertig nicht identisch bedeutet (vgl. ebd.: 105f.). Im dritten und vierten Kapitel dieser Arbeit wird deutlich, dass die Mediensysteme in Ungarn und Estland gleichwertige Funktionen für die Gesamtgesellschaft[4] erfüllen und deshalb eine funktionale Äquivalenz gegeben ist.
5) Das methodische Vorgehen sollte transparent sein (vgl. Hanitzsch/Altmeppen 2007: 190). Das Vorgehen dieser Arbeit wird in diesem und in den folgenden Kapiteln ausführlich erläutert, sodass dieses Kriterium ebenfalls erfüllt sein dürfte.

Wie bereits dargelegt, baut die Analyse im dritten und vierten Kapitel auf dem theoretischen Rahmen aus dem zweiten Kapitel auf. Insbesondere die Anwendung neuerer Ansätze der vergleichenden Mediensystemforschung sowie der Mediensystemtransformation auf die zwei Länderbeispiele Ungarn und Estland eingedenk der jüngsten Entwicklungen verspricht Aufschluss über das Erklärungspotenzial der einzelnen Theorien. Ferner scheint eine systematische Beschreibung der Mediensysteme sowie der Medienfreiheit in Estland und Ungarn, gerade vor dem Hintergrund vielfach geäußerter Sorge über und offener Kritik an der Entwicklung der vergangenen Jahre in Ungarn (vgl. CMCS 2012), besonders erstrebenswert. Im Forschungsfeld der Kommunikationswissenschaft lässt sich die vorliegende Arbeit in der Mediensystemforschung verorten. Sie nimmt dabei historische, politikwissenschaftliche und ökonomische Perspektiven ein und ist Ausdruck des „interdisziplinäre[n] Charakter[s] des Faches“ (Pürer 2003: 22).

2. Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand

Die folgenden Kapitel spannen einen theoretischen Rahmen auf, anhand dessen eine Analyse der Mediensystementwicklung – und damit der Entwicklung der Medienfreiheit – in Estland und Ungarn in der postkommunistischen Periode möglich wird. Schon im vorangehenden Kapitel wurde der Begriff des Mediensystems bemüht – doch was ist darunter zu verstehen? Wird vorausgesetzt, dass Medien „komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen“ (Saxer 1998: 54) sind, kann ein Mediensystem als ein „Gefüge von Medien (als technische Kommunikationsmittel, Organisationen und Institutionen) in einer Gesellschaft und deren komplexe Wechselbeziehungen untereinander“ (Künzler/Hribal/Jarren 2005: 183) definiert werden. Wechselbeziehungen bestehen auch mit Akteuren und Strukturen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme[5] (vgl. ebd.). Weiterhin wird angenommen, dass Mediensysteme sich aus den Subsystemen Print, Rundfunk und Onlinemedien zusammensetzen, die wiederum aus kleineren Subsystemen, wie etwa einzelnen Hörfunksendern, bestehen (vgl. Thomaß 2007a: 18).

2.1. Normative Grundlage: Das Konzept der Medienfreiheit

Eine Vielzahl wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Publikationen weist den Massenmedien[6] eine zentrale Bedeutung in demokratischen Gesellschaften zu. McQuail (2011: 21) etwa schreibt, dass Medien derzeit vor dem Hintergrund eines Rückgangs klassischer Formen politischer Beteiligung wohl bedeutender für den demokratischen Prozess sind als sie es je waren. Die Rolle, die die Medien in der Demokratie spielen, wurde insbesondere von Medien- und Kommunikationswissenschaftlern diskutiert, während sich die klassischen Demokratietheorien in der Politikwissenschaft nur am Rande mit den Medien befassen (vgl. Trappel/Maniglio 2009: 173; Nieminen/Trappel 2011: 137). Die Bedeutung der Medien für eine Demokratie lässt sich durch die Aufgaben veranschaulichen, die sie in dieser übernehmen. Gurevitch und Blumler (1990: 270) zählen acht normativ abgeleitete Funktionen auf, die Medien in einem demokratischen, politischen System erfüllen sollen. Unter anderem nennen sie die Beobachtung der soziopolitischen Umgebung, die Ermöglichung eines Dialogs zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, das Einfordern einer Rechenschaft der Regierenden über die Ausübung ihrer Macht sowie die Abwehr medienexterner Einflüsse auf die Unabhängigkeit und Integrität der Medien (vgl. ebd.).

Nieminen und Trappel verdichten diese normative Funktionssammlung auf drei Hauptaufgaben, die Medien in einer Demokratie übernehmen sollen. Demnach sollen Medien (1) die Bürger informieren, (2) die Machthaber beobachten und kontrollieren und (3) den Bürgern eine Stimme geben. (Vgl. Nieminen/Trappel 2011: 141ff.)

Um diese Aufgaben erfüllen zu können, brauchen Medien laut den Wissenschaftlern genügend Freiheit, die ihnen nur die Demokratie gewährt[7] (vgl. ebd.: 137). Da eine Demokratie im Gegenzug ohne freie Medien nicht funktioniere, postulieren Nieminen und Trappel: „Media and democracy can hardly be separated.“ (ebd.: 137)

Wenn Medienfreiheit[8] ein wichtiger Bestandteil der Demokratie ist: Wie lässt sich dann definieren, ab wann eine Demokratie tatsächlich Medienfreiheit garantiert? Eine verbreitete, konventionelle Definition beschreibt Medienfreiheit als die Abwesenheit staatlicher Eingriffe in die Medien (vgl. Czepek/Hellwig/Nowak 2009: 9). Becker und Vlad weisen jedoch darauf hin, dass Medienfreiheit sich als „complex and even contentious concept“ (2011: 23) herausgestellt hat. Eine Reihe von Organisationen unternimmt dennoch den Versuch, Medienfreiheit im weltweiten Vergleich zu bewerten. Becker und Vlad (2011) analysieren z.B. unterschiedliche Instrumente, mit denen Medienfreiheit gemessen wird. Dabei beziehen sie sich unter anderem auf die Ranglisten von FH und ROG. Ein Blick auf die Methoden der NGOs hilft in einem ersten Schritt dabei, die Vielschichtigkeit des Konzepts der Medienfreiheit zu verdeutlichen.

FH veröffentlicht schon seit 1980 jährlich ein Ranking zur Freedom of the Press. Die Medienfreiheit in jedem von FH untersuchten Land wird mit einer Punktzahl von 0 bis 100 bewertet. Je niedriger der Wert, desto ‚freier‘ sind die Medien in dem entsprechenden Land. FH unterscheidet drei Gruppen: Länder mit freien Medien, mit teilweise freien und mit nicht freien Medien[9]. Bei der Einordnung der Länder stützt sich FH auf Experten, die mit der jeweiligen Weltregion vertraut sind. Dabei bewerten diese die Medienfreiheit anhand eines einheitlichen Schemas mit 23 Fragen und 109 Indikatoren, die sich grob in drei Oberkategorien einteilen lassen: rechtliche, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Für die Medienfreiheitsrangliste 2012 hat FH 197 Länder untersucht. (Vgl. Deutsch Karlekar/Dunham 2012: 3ff.)

ROG stellt seit 2002 jährlich eine Rangliste der Pressefreiheit zusammen. Die Anfang 2012 publizierte Liste untersucht die Lage der Medienfreiheit in 179 Staaten (vgl. ROG 2012a). Auch ROG erstellt einen Fragebogen, den die Organisation von ihren eigenen Korrespondenten sowie externen Experten aus Medien und Wissenschaft ausfüllen lässt (vgl. ROG 2012b: 2). Der Bogen umfasst 44 Kriterien und enthält explizit Fragen nach direkter und indirekter Gewalt gegen Journalisten, aber auch zu rechtlichen Rahmenbedingungen und dem Einfluss des Staates auf öffentliche Medien (vgl. ebd.: 1). Jedes Land sammelt bei der Bewertung Punkte. Je niedriger letztlich die Punktzahl ist, desto besser ist die Platzierung in der ROG-Rangliste. ROG weist selbst darauf hin, dass es sich bei dem Ranking nicht um eine nach wissenschaftlichen Kriterien erstellte Umfrage handelt (vgl. ROG 2012b: 2).

Becker und Vlad (2011: 38ff.) kommen zwar zu dem Schluss, dass sowohl FH als auch ROG verlässliche Instrumente zur Messung der Medienfreiheit bieten und die Ranglisten sich in einem hohen Maß ähneln, doch in der Wissenschaft gibt es einige Vorbehalte gegenüber den Rankings. Holtz-Bacha (2004: 5ff.) kritisiert etwa das FH-Ranking, da die Organisation das genaue Vorgehen bei der Bewertung der einzelnen Länder nicht offenlege und unter einer westlichen oder gar US-amerikanischen Voreingenommenheit leide. Darüber hinaus weist die Wissenschaftlerin auf generelle Probleme quantitativer Länderstudien mit hoher Fallzahl hin, wie etwa die mangelnde Detailgenauigkeit bei der Interpretation der Befunde, und empfiehlt deshalb die Analyse der Medienfreiheit in wenigen, ausgewählten Ländern (vgl. ebd.: 4ff.).

Auch Czepek kritisiert die bestehenden Methoden zur Messung der Medienfreiheit als „superficial, biased and unsystematic“ (2009: 37). Sie plädiert bei der Analyse der Medienfreiheit in einzelnen Ländern unter anderem für eine genaue Untersuchung struktureller Faktoren (vgl. Czepek 2009: 38). Dazu zählt sie ökonomische, rechtliche, politische, historische, soziale, kulturelle und religiöse Faktoren, die in jedem Land in einer einzigartigen Kombination auftreten (vgl. ebd. 39). Neben diesen strukturellen Bedingungen beeinflussen nach der Vorstellung Czepeks auch organisatorische Vorbedingungen, wie etwa die Art der Selbstregulierung der Medien, die individuelle Freiheit der Journalisten, die inhaltliche Vielfalt in der Berichterstattung und die Möglichkeiten, als Rezipient Zugang zu den Medien zu erhalten, die Medienfreiheit in einem Land (vgl. ebd.: 41).

Czepeks breites Konzept der Medienfreiheit, das neben Vielfalt auch eine bestimmte Medienordnung einschließt, erinnert dabei in groben Zügen an McQuail (1992: 67f.), der Freiheit, Vielfalt/Gerechtigkeit und Ordnung/Solidarität als die drei grundlegenden Werte westlicher Mediensysteme normativ geprägt hat.

Vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit, die insbesondere nach Einflussfaktoren auf die Medienfreiheitsentwicklung fragt, greift die zu Beginn des Kapitels vorgestellte konventionelle Definition der Medienfreiheit zu kurz. Vielmehr scheint es sinnvoll neben den Eingriffsmöglichkeiten des Staates auch andere Faktoren, die Einfluss auf die Medienfreiheit haben können, in den Fokus zu rücken. Deshalb orientiert sich diese Arbeit an dem Medienfreiheitsbegriff nach Czepek. Medienfreiheit kann auch als eine Variable des Mediensystems betrachtet werden. Deshalb setzt sich das folgende Kapitel mit verschiedenen Typologien von Mediensystemen auseinander, die neben Medienfreiheit auf ganz unterschiedliche Variablen zurückgreifen.

2.2. Komparative Mediensystemforschung

Die vorliegende Arbeit bedient sich der Methode des Mediensystemvergleichs, um die Lage der Medienfreiheit in Ungarn und Estland nach dem Zusammenbruch des Kommunismus miteinander zu vergleichen. Der wissenschaftliche Vergleich kann in der Kommunikationswissenschaft mittlerweile auf eine „impressive development“ (Thomaß/Kleinsteuber 2011: 25) in den vergangenen 50 Jahren zurückblicken. Thomaß und Kleinsteuber stellen gar fest, dass die vergleichende Medienforschung „central to today’s academic media research“ (ebd.) sei.

Gerade der Vergleich von Mediensystemen hat bereits eine Reihe von Modellen und Typologien hervorgebracht, auf die sich Wissenschaftler bei ihrer weiterführenden Forschung stützen können. Vorreiter sind hier Siebert, Peterson und Schramm (1956), die mit ihren Four Theories of the Press ein erstes, normativ geprägtes Modell vorlegten. Dabei fragten sich die Wissenschaftler „why is the press as it is?“ (Siebert/Peterson/Schramm 1956: 1) und unterschieden im Ergebnis vier Modelle: das Autoritarismus-, das Liberalismus-, das Sozialverantwortungs- und das Sowjetkommunismus-Modell (vgl. ebd.: 2). Thomaß und Kleinsteuber (2011: 26f.) kritisieren diese Typologie als überholt. Auch wenn in der dazwischen liegenden Zeit weitere Modelle entstanden sind, z.B. stellte Wiio (1983) sein Contingency Model of Communication vor, sollten erst Hallin und Mancini (2004) die bisherigen, als zu schematisch kritisierten Ansätze überwinden (vgl. Thomaß 2007a: 34).

Die Forscher untersuchten die Mediensysteme in 18 Demokratien westlicher Prägung. Dabei unterscheiden sie im Ergebnis drei Mediensystem-Modelle: das mediterrane oder polarisiert-pluralistische Model, das nordmitteleuropäische oder demokratisch-korporatistische Modell und das nordatlantische oder liberale Modell (vgl. Hallin/Mancini 2004: 17). Bei der Erarbeitung stützten sich die Forscher auf vier mediale und fünf politische Variablen, die eine Unterscheidung der Modelle erlauben.

Zu den medialen Variablen zählen die Wissenschaftler (1) die Entwicklung einer Massenpresse, (2) den politischen Parallelismus, d.h. inwieweit sich die großen politischen Trennlinien einer Gesellschaft im Mediensystem widerspiegeln, (3) den Grad an journalistischer Professionalität und (4) Grad und Art des staatlichen Eingriffs in das Mediensystem. (Vgl. ebd.: 21)

Die politischen Variablen umfassen nach Hallin und Mancini (1) die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, dabei insbesondere die Unterscheidung zwischen liberaler und wohlfahrtsorientierter Demokratie, (2) die Unterscheidung zwischen Konsens- und Mehrheitsdemokratie, (3) die Unterscheidung zwischen Korporatismus und liberalem Pluralismus, (4) die Entwicklung eines unabhängigen Verwaltungsapparats und (5) die Unterscheidung zwischen moderatem und polarisiertem Pluralismus. (Vgl. ebd.: 46ff.)

Zwar ist die Anwendbarkeit des Modells von Hallin und Mancini ursprünglich auf Demokratien westlichen Typus beschränkt – mittlerweile haben die beiden Wissenschaftler aber selbst eine Aufsatzsammlung herausgegeben, die Versuche, das Modell auf Länder außerhalb dieses Raumes anzuwenden, zusammenfasst (vgl. Hallin/Mancini 2012).

Blum (2005) nutzte das Modell von Hallin und Mancini, um den am Züricher Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung entstandenen pragmatischen Differenzansatz um einen Teil der von Hallin und Mancini vorgelegten medialen und politischen Variablen zu erweitern. Blum formuliert den Anspruch, ein möglichst flexibles Modell vorzulegen, mit dem sich kontinentübergreifend Mediensysteme kategorisieren lassen (vgl. Blum 2005: 5). Der pragmatische Differenzansatz bietet neun Variablen mit jeweils drei Ausprägungen, um Mediensysteme beschreiben zu können.

1. Das Regierungssystem kann die Ausprägungen a) demokratisch, b) autoritär und c) totalitär annehmen.
2. Die politische Kultur in einem Land kann a) polarisiert, b) ambivalent oder c) konkordant sein.
3. In der Kategorie Medienfreiheit unterscheidet Blum, ob es in einem Land a) ein Zensurverbot, b) fallweise Zensur oder c) permanente Zensur gibt.
4. Der Medienbesitz kann mit a) privat, b) privat und öffentlich oder c) öffentlich beschrieben werden.
5. Die Medienfinanzierung kann a) durch den Markt, b) durch Markt und Staat oder c) durch den Staat allein erfolgen.
6. Der politische Parallelismus kann in einem Mediensystem a) schwach, b) mittel oder c) stark ausprägt sein.
7. Die Staatskontrolle über die Medien kann ebenfalls a) schwach, b) mittel oder c) stark sein.
8. Die Medienkultur beschreibt Blum mit den Ausprägungen a) investigativ, b) ambivalent oder c) konkordant.
9. Bei der Medienorientierung unterscheidet der Wissenschaftler schließlich zwischen a) kommerziell, b) divergent und c) service-public. (Vgl. ebd.: 9)

Weist ein Mediensystem durchgehend Merkmale der Ausprägung a) auf, bewegt es sich nach Blum auf einer liberalen Linie – hier führt er das Beispiel USA an –, falls ausschließlich Ausprägung c) vorhanden ist, ist das Mediensystem der regulierten Linie zuzuordnen. Mediensysteme, bei denen die beschriebenen Variablen ausschließlich die Ausprägungen b) annehmen, rechnet Blum einer nicht näher bestimmten mittleren Linie zu. (Vgl. ebd.)

[...]


[1] Zu Methodik und Kritik an den Medienfreiheitsrankings s. Kapitel 2.1.

[2] Definitionen zu Mediensystem, Medienfreiheit und Transformation finden sich in Kapitel 2.

[3] Im Folgenden wird aus Gründen der Lesbarkeit das generische Maskulinum verwandt.

[4] Zu den Funktionen, die das Mediensystem für andere Teilsysteme leistet, zählt unter anderem Information und Interessenartikulation (vgl. Töpfl 2011: 108). Zu normativ geprägten Anforderungen an die Medien in demokratischen Gesellschaften s. Kapitel 2.1.

[5] Eine Einführung in die Systemtheorie nach Niklas Luhmann, auf die diese Definitionen aufbauen, geben z. B. Kneer und Nassehi (2000).

[6] Im Folgenden werden die Begriffe Massenmedien und Medien synonym verwandt.

[7] Jakubowicz (2008) geht in Anlehnung an ein Konzept der konsolidierten Demokratie von Linz und Stepan (1996) näher auf die Anforderungen ein, die eine Demokratie erfüllen muss, um günstige Bedingungen für die Entwicklung von Medienfreiheit zu gewährleisten. Dazu zählen demnach eine strikte Trennung zwischen den fünf Arenen der Demokratie – Politik-, Zivil- und Wirtschaftsgesellschaft, Staatsverwaltung und Rechtstaatlichkeit –, die Existenz einer starken Zivilgesellschaft, eine leistungsfähige Wirtschaft und ein wirksamer Rechtstaat (vgl. Jakubowicz 2008: 107).

[8] In der Literatur werden Pressefreiheit und Medienfreiheit oft synonym verwandt. Während Becker und Vlad (2011: 23) den Begriff Medienfreiheit bevorzugen, nutzt Holtz-Bacha (2004) beide Begriffe, ohne auf einen möglichen Unterschied einzugehen. Medienrechtler helfen dabei, die Begriffe einzuordnen: Kommunikationsfreiheit ist der Oberbegriff für Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit, darunter fällt also auch die Freiheit des Einzelnen, nicht nur die der Massenmedien. Medienfreiheit bezeichnet die Freiheit der Massenmedien, die sich wiederum in Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit unterteilen lässt. (Vgl. Fechner 2007: 19f.) Diese Arbeit nutzt in der Regel den Begriff der Medienfreiheit, da er deutlicher als Pressefreiheit alle Massenmedien miteinbezieht.

[9] Eine Punktzahl zwischen 0 und 30 führt zu einer Bewertung als ‚frei‘ , zwischen 31 und 60 zu ‚teilweise frei‘ und zwischen 61 und 100 zu ‚nicht frei‘ (vgl. Deutsch Karlekar/Dunham 2012: 37).

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Medienfreiheit in Estland und Ungarn
Untertitel
Ein Vergleich der Entwicklung in den postkommunistischen Jahren
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Kommunikationswissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
45
Katalognummer
V212185
ISBN (eBook)
9783656409021
ISBN (Buch)
9783656411703
Dateigröße
626 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Estland, Ungarn, Osteuropa, Medientransformation, Transformationsgeschichte, Medienfreiheit, Mediengeschichte
Arbeit zitieren
Sascha Brandt (Autor:in), 2012, Medienfreiheit in Estland und Ungarn , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212185

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