Rohstoffe als Problematik globaler Gerechtigkeit. Theorievergleich zwischen Thomas Nagel und Thomas Pogge


Bachelorarbeit, 2013

104 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Problemformulierung
1.2. Die internationale Gerechtigkeitsdebatte im Überblick
1.3. Inhalt und Aufbau der Untersuchung

2. Geltungsbereich der Gerechtigkeit
2.1. Thomas Nagel
2.1.1. Das Individuum als Ausgangspunkt
2.1.2. Gegenstand und Geltungsbereich der Gerechtigkeit
2.1.3. Signifikanz von Grenzen
2.2. Thomas Pogge
2.2.1. Das Individuum als Ausgangspunkt
2.2.2. Gegenstand und Geltungsbereich der Gerechtigkeit
2.2.3. Signifikanz von Grenzen
2.3. Zwischenfazit

3. Der internationale Handel
3.1. Thomas Nagel
3.1.1. Armut und die Begründung von Hilfspflichten
3.1.2. Akteure der internationalen Ordnung - Träger der Pflichten
3.1.3. Charakterisierung des internationalen Handels
3.1.4. Ressourcen
3.2. Thomas Pogge
3.2.1. Armut und die Begründung negativer Pflichten
3.2.2. Akteure der internationalen Ordnung - Träger der Pflichten
3.2.3. Charakterisierung des internationalen Handels
3.2.4. Ressourcen
3.3. Zwischenfazit

4. Möglichkeiten einer gerechte(re)n Welt
4.1. Thomas Nagel
4.1.1. Souveränität als Selbstbestimmung
4.1.2. Souveränität als Ermöglichungsbedingung
4.2. Thomas Pogge
4.2.1. Souveränität als Selbstbestimmung und Ermöglichungsbedingung?
4.2.2. Reformvorschläge im Lichte der Selbstbestimmung
4.2.3. Ermöglichungsbedingungen der Reformvorschläge
4.3. Zwischenfazit

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

I. Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

1.1. Problemformulierung

Der Zugang zu Rohstoffen ist ein entscheidender Faktor für das ökonomische Potential von Volkswirtschaften und den Wohlstand der unter ihnen zusammengefassten Men­schen[1]. Gleichwohl ist der weltweite Verbrauch durch radikale Ungleichheit gekennzeichnet. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland, abgesehen von Braun- und Steinkohle, nur über vergleichsweise geringe Vorkommen an Bodenschätzen verfügt, gehört sie zusammen mit den USA, Europa und weiteren Industrienationen in die Reihe derjenigen, die sich durch einen hohen Rohstoffkonsum auszeichnen. Hingegen sind Indivi­duen, die nicht in diesen Staaten leben, nur in geringem Umfang an ihrer Nutzung be­teiligt oder gänzlich davon ausgeschlossen.[2] Das betrifft vor allem Personen in den Entwicklungsländern, deren Situation vielerorts zugleich durch gravierende Armut und mangelnde Versorgung mit medizinischen Gütern oder Nahrung gekennzeichnet ist. Mit diesen Tatsachen konfrontiert drängt sich die Frage auf, ob und inwiefern eine solch radikale Diskrepanz der Chancen und Anteile an Gütern gerecht sein kann. Die nachfolgenden Beispiele dürften diesen Impuls, nach einer Rechtfertigung zu verlan­gen, bei den meisten Menschen noch verstärken.

Denn tatsächlich verfügen einige dieser Entwicklungsländer über sehr große Reserven an nutzbaren Bodenschätzen. Nigeria beispielsweise besitzt die größten Öl- und Erdgasvorkommen Afrikas, im Jahr 2007 umfasste der Anteil der Ölausfuhren 95 Prozent der gesamten Exporte und etwa 52 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.[3]

Gleichzeitig leidet ein erheblicher Teil der Bevölkerung unter gravierender Armut, die sich trotz der Einnahmen aus dem Rohstoffexport von etwa 300 Billion USD zwischen 1970 und 2000 dramatisch verschärft hat.[4] Dieser auf den ersten Blick paradoxe Zu­sammenhang zwischen großen Rohstoffvorkommen einerseits und gravierender Armut andererseits hat in die wissenschaftliche Debatte Einzug unter dem Begriff Ressourcen­fluch erhalten. Darunter versteht man auffallend geringe Wachstumsraten und eine erhöhte Ausprägung sozialer Konflikte sowie autoritärer Regimes in rohstoffreichen Ländem. Dennoch scheint dies kein zwangsläufiges Schicksal zu sein, wenngleich der Reichtum an Ressourcen für eine Vielzahl von Ländern zur Entwicklungsfalle wurde. Norwegen hingegen konnte sich mit Hilfe von Ölexporten in den vergangenen Jahrzehnten eine starke ökonomische Basis erarbeiten. In diesem Kontext der gewinnbringenden Effekte ihrer Extraktion bewegt sich ein zweites Beispiel.

Die 1982 geschlossenen UN-Seerechtskonvention sah vor, dass natürliche Ressourcen, die sich auf den Meeresböden in internationalen Gewässern befinden, als gemeinsames Erbe der Menschheit anerkannt würden. Ihr Nutzen sollte den Menschen als Gesamt­heit mit besonderem Blick auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer zustehen, der ökonomische und finanzielle Gewinn geteilt werden. Der US-Regierung unter Bill Clinton gelang es allerdings kurz vor ihrem Inkrafttreten 1994, diese Regelung zu kip­pen. Die Verpflichtung zur Gewinnbeteiligung wurde drastisch reduziert, die Restrik­tionen zum Abbau hingegen wesentlich vereinfacht, wovon vor allemjene profitieren, die über hinreichend Kapital und Technologie dafür verfügen - wiederum bleiben die Armen der Welt außen vor.[5]

Ohnehin kann die Problematik der Bodenschätze als eines der herausragenden politischen und ökonomischen Themen gelten. Die ungleiche Verteilung und Verfügbarkeit auf der Welt erweist sich als strategische Herausforderung, die aufgrund der Endlichkeit und Knappheit an Konfliktpotential gewinnt. Auch seitens bundesdeutscher Politik besteht ein zentrales Interesse, die Versorgung der eigenen Volkswirtschaft auch zu­künftig zu sichern.[6]

Vor dem Hintergrund der geschilderten Problematiken um eine ungleiche Nutzung, den begrenzten Zugang und der Notwendigkeit ihrer Verfügbarkeit widmet sich die vorliegende Arbeit der Frage, ob und inwiefern die Verteilung von und der Handel mit Rohstoffen spezifische Fragen aufwerfen, die unter dem Begriff der Gerechtigkeit gefasst und auf globaler Ebene adressiert werden können bzw. müssen. Näherungswei­se lassen sich folgende Problematiken herauskristallisieren.

1. Ist das unterschiedliche Maß an der Nutznießung von Bodenschätzen relevant für gerechtigkeitstheoretische Überlegungen?
2. Kann die Tatsache, dass Staaten und ihre Bevölkerung über große Vorkom­men an Bodenschätzen verfügen, dazu herangezogen werden, globale Umveteilungsansprüche zu etablieren?
3. Besteht die Notwendigkeit, für ökonomische Austauschprozesse im Hinblick auf den Ressourcenhandel Gerechtigkeitsprinzipien zu etablieren?

Um den Untersuchungsrahmen handhabbar zu gestalten ist im Gegenstandsbereich der natürlichen Ressourcen eine Eingrenzung auf Bodenschätze erforderlich. Darunter sind nicht-erneuerbare mineralische und fossile Rohstoffe zu verstehen. Wasser hingegen muss als Betrachtungsbereich ebenso wie Agrarrohstoffe weitgehend vernachlässigt werden, da hier verschiedene Eigenlogiken und Konfliktlagen zu beachten sind, deren Beleuchtung eine gesonderte Untersuchung erfordert. Der Anspruch besteht ferner nicht darin, in aktuellen rohstoffbezogenen Konfliktlagen wie etwa um die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer Lösungen aufzuzeigen - auch dies erforderte eine eigenständige Betrachtung. Stattdessen ist die Arbeit im Kern der Frage gewidmet, ob im Themenbereich der Bodenschätze außer strategischen Überlegungen auch prinzipiell gerechtigkeitstheoretische Aspekte relevant sind. Mit einem Vergleich der Positionen zweier Autoren, die in der aktuellen Auseinandersetzung um globale Gerechtigkeit eine herausgehobene Rolle spielen, soll sich einer Beantwortung der Frage genähert werden. Dafür wird die skeptische Haltung des US-Philosophen Thomas Nagel einerseits und das Schaffen Thomas Pogges als einen der Befürworter für grenzüberschreitende Ge­rechtigkeitsprinzipien dargestellt.

1.2. Die internationale Gerechtigkeitsdebatte im Überblick

Ihre unterschiedlichen Sichtweisen sind Teil einer kontroversen wissenschaftliche Debatte über globale Gerechtigkeit. ,,We do not live in ajust world“[7], schreibt Tho­mas Nagel zu Beginn seines 2005 erschienen Aufsatzes The Problem of Global Justice und formuliert damit einen der wenigen unstrittigen Ansatzpunkte in einer komplexen Auseinandersetzung. Von Autoren liberaler, (post)marxistischer und libertärer Seite über Kommunitaristen, Utilitaristen bis zu Kosmopoliten und Neoaristotelikern umfasst sie zahlreiche unterschiedliche Ansätze und steht dennoch in vielfältiger Hinsicht erst am Beginn ihrer Entwicklung.[8]

Als Grundlage einer Diskussion um globale Gerechtigkeit gilt besonders Immanuel Kants Zum ewigen Frieden, in dem er einen ersten Ansatz zur Kosmopolitisierung der Rechtsverhältnisse in einer zunehmend wirtschaftlich und kosmopolitisch verflochte- nen Welt skizziert.[9] In einem ersten Schritt argumentiert Kant für eine demokratische Republik, welche die politische Autonomie der Bürger sichert. Das Völkerrecht als zweiter Schritt schützt die äußere Freiheit der Menschen als Staatsangehörige und dient als Garant des Friedens. Das Weltbürgerrecht bildet sodann die Grundlage zur Re­gelung der Verhältnisse zwischen allen Individuen (zwischen Ausländern und den Staa­ten) als Angehörige eines allgemeinen Menschenstaates und definiert ein allgemeines Gastrecht, das sich auf Bedingungen der Hospitalität gründet. Allerdings favorisiert er keinen mit souveränen Kompetenzen ausgestatteten Weltstaat, dessen despotische Gefahr er fürchtet, und führt ebenso keine Komponenten distributiver oder politischer Ge­rechtigkeit im eigentlichen Sinn ein. Stattdessen argumentiert er für eine freiwillige Föderation republikanisch verfasster Staaten.[10]

Eine fokussierte Debatte um globale Gerechtigkeit hatjedoch erst innerhalb der letzten Jahrzehnte an Intensität gewonnen, die durch zunehmende wirtschaftliche und politische Interdependenzen, grenzüberschreitende Verträge und Regelungen gekenn­zeichnet sind, die häufig unter dem Begriff der Globalisierung zusammengefasst wer­den. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Pflichten Bürger oder Staaten gegenüber den Menschen außerhalb ihrer politischen Gemeinschaft haben. Sind angesichts welt­weiter Armut Kompensationsleistungen erforderlich oder lediglich wohltätige Hilfe wünschenswert? Ist eine ökonomische Redistribution nach zu bestimmenden Gerech­tigkeitsprinzipien notwendig? Wie sind die Lasten globaler Erscheinungen wie dem Klimawandel zu verteilen? Utilitaristen wie beispielsweise Peter Singer sprechen sich auf Basis eines Nutzenprinzips für umfangreiche Umverteilungsmaßnahmen aus, um die globale Deprivation zu beseitigen. Partikularisten hingegen verweisen auf Gerech­tigkeit als Domäne territorial begrenzter politische Ordnungen und fassen das Vorhaben ihrer internationalen Ausweitung als utopisch auf.

In diesem Konfliktfeld bewegt sich die Debatte zwischen Kosmopolitismus ei­nerseits und Partikularisten andererseits, die in gewisser Hinsicht an Kant anschließt, sichjedoch in derjüngeren Vergangenheit vor allem am Schaffen John Rawls' entzün­det hat. Gemäß Broszies und Hahn lassen sich drei wesentliche Etappen identifizieren. Die erste Phase bestand vor allem in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Kommunitaristen und Liberalisten, die bereits das Schaffen Rawls' durchdrungen hatte.[11] Rawls setzte der Idee der Nutzenmaximierung, die von Utilitaris­ten favorisiert wurde, einen wirkmächtigen Entwurf entgegen und verband Prinzipien der Gerechtigkeit mit der Idee der Fairness. Er inkorporierte die Grundfigur der Ver­tragstheorie in seine Konzeption, um aus einem unparteilichen gedanklichen Versuchsaufbau heraus allgemein akzeptierte Kriterien zu definieren. Unter einem hypothetischen Schleier des Nichtwissens, der den Menschen jegliches Wissen über ihre Stellung in der Gesellschaft entzieht, sollen sich die Menschen als freie und vernünftige Vertragspartner auf gemeinsame Prinzipien der Gerechtigkeit einigen. Rawls zufolge würden sie sich für zwei elementare Grundsätze entscheiden, wobei der erste dem zweiten gegenüber Vorrang genießt.

1. „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“[12]
2. „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß [!] (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß [!] sie zujedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“[13]

Allerdings verbleibt er mit Ä Theory of Justice in seiner Argumentation auf den Nationalstaat bezogen, weshalb kosmopolitische Autoren wie Charles Beitz oder Thomas Pogge versuchten, die Rawls'schen Gerechtigkeitsprinzipien auf die Welt als Gesamtes zu übertragen. Den diesen Entwürfen zugrunde liegenden normativen Individualismus wiesen hingegen kommunitaristische Autoren zurück und stellten auf die Re­levanz gemeinsamer Identität, Sprache, Geschichte und Kultur ab, die notwendig seien, um ein kollektives Verständnis gemeinsamer Werte zu etablieren. Dieses sei für die Akzeptanz gerechter Umverteilungs- und Beteiligungsprinzipien essentiell.[14]

Auch auf liberaler Seite traten sodann vermehrt Autoren einer grenzüberschrei­tenden Ausweitung der Prinzipien skeptisch gegenüber, gründet sie letztlich doch in kulturspezifischen Prämissen.[15] Rawls selbst legte mit The Law of Peoples eine Konzeption vor, die zwar eine Vertragssituation beibehielt, die jedoch der nationalstaatlichen Ebene nachgelagert ist und demzufolge nur Prinzipien beinhaltet, welche die Au­ßenpolitik liberaler Staaten anleiten sollte.[16] Er vollzieht hier einen institutional turn, in dem er davon ausgeht, dass sich Gerechtigkeitsprinzipien nicht aus universellen MoralPrinzipien ableiten lassen, sondern als normativ eigenständige Legitimationskriterien politischer Institutionen zu verstehen sind.[17] Auch Thomas Pogge löste sich von seiner in Realizing Rawls vertretenen Konzeption, in der er einen globalen Urzustand entwor­fen hatte, der die Geltung der Rawls'sehen Prinzipien auf internationaler Ebene begrün­det, ohnejedoch moralische Prämissen gänzlich aufzugeben, wie noch zu thematisieren sein wird. In den Vordergrund dieser zweiten Etappe traten vermehrt unterschiedliche Auffassungen über empirische Zusammenhänge und den Zwangscharakter der beste­henden Weltordnung.[18]

Der gegenwärtige Stand der Debatte ist jedoch nach wie vor gekennzeichnet von grundlegenden Fragen, denen Theorien einer globalen Gerechtigkeit gegenüberste­hen. Wesentliche Begriffe und Konzeptionen gründen im Bezug auf Nationalstaaten, die lange den wesentlichen Bezugsrahmen der Theoriebildung prägten. Sie thematisier­ten zumeist erst innerstaatliche Beziehungen, die nachfolgend meist mit dem Verhältnis der Staaten zueinander auf die internationale Ebene angewendet und abgeändert wurden.[19] In Verbindung mit der zunehmenden weltweiten Interdependenz und dem Bedeu­tungsgewinn nichtstaatlicher Akteure in den internationalen Beziehungen geraten viele der Prämissen unter Druck. So besteht die Frage, welche Bedeutung der Souveränität für die Möglichkeiten grenzüberschreitender Gerechtigkeit zukommt bzw. inwiefern die internationale Ebene eine eigenständige Sphäre darstellt, die neue Herangehensweisen erfordert.

Wesentliche Streitpunkte bestehen zudem darin, in welchem Verhältnis politische und moralische Elemente stehen und inwiefern Moral und Gerechtigkeit verbunden sind oder auseinandergehalten werden sollten. Auch die diesbezügliche Bedeutung von Grenzen und die Frage der Gleichheit steht im Fokus der Auseinandersetzung, die zu­gleich mit der Wahl der Grundgüter verbunden ist.[20]

1.3. Inhalt und Aufbau der Untersuchung

An diese facettenreiche wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Partikularisten und Kosmopoliten soll auch die vorliegende Arbeit anschließen und die Ausführungen zweier Theoretiker untersuchen, die sich breiter Rezeption erfreuen - Thomas Nagel und Thomas Pogge. Die behandelten Arbeiten der Autoren, die beide Schüler Rawls' waren, lassen sich den zwei letzten Stufen der Debatte zuordnen, deren Fortgang sie wesentlich mitbeeinflusst haben und im Hinblick auf die vorgestellten Fragen gewinnbringende Einblicke liefern.

Nagel versteht Gerechtigkeit als spezifische Aufgabe von Nationalstaaten und weist auf dieser Basis globale Forderungen nach moralischen Prinzipien grenzüberschreitender Austauschprozesse zurück. Gerechtigkeit lässt sich für ihn nicht von der Moral selbst herleiten, sondern kann nur auf der Basis gemeinsamer, souverä­ner Institutionen wirksam werden. Sie ist insofern auf die Individuen eines gemeinsa­men Herrschaftssystems bezogen, deren Leben unvermeidlich von dessen Institutionen beeinflusst wird. Die internationale Sphäre verfügt seiner Ansicht nach nicht über die entsprechenden Governance-Institutionen, mit der sich gemeinsame Prinzipien wirk­sam durchsetzen lassen und erfordert dies auch nicht. Damit lässt er sich einem libera­len Nationalismus zuordnen. Mit seinem Verständnis von Gerechtigkeit als explizit po­litische Herausforderung entfaltete er großen Einfluss auf die globale Gerechtigkeitsde­batte. Ihr attestiert Nagel zugleich, sich in einem solch frühen Entwicklungsstadium zu befinden, dass noch nicht einmal klar sei, was die wichtigsten Fragen wären. Nagel legt selbst auch keine umfassende Konzeption vor, sondern versteht sich eher als Kritiker bisheriger Herangehensweisen an die Thematik.[21]

Thomas Pogge, der sich unter Rawls' Schülern und Kritikern als einer der wohl innovativsten und vielleicht auch kontroversesten hervorgetan hat, lässt sich hingegen als moralischer Universalist ausweisen. Er vertritt die Auffassung, dass auch die inter­nationale Institutionenordnung gerechtfertigt werden muss, da sie Einfluss auf das Le­ben der Menschen ausübt. Seine Kernthese besagt, dass die wesentlich von den wohl­habenden Staaten unterhaltenen globalen Regeln die Kosten grenzüberschreitender Ko­operation vor allem auf die Individuen in schwächeren Ländern verlagern. Damit sind sie an der Reproduktion vermeidbarer (absoluter) Armut und Unterdrückung beteiligt und die Bessergestellten verletzen ihre negative Pflicht, andere Menschen nicht zu schädigen. Hieraus erwächst für Pogge die Suche nach Prinzipien internationaler Gerechtigkeit, welche auf die Verwirklichung der fundamentalen Rechte des Menschen hinwirken, was ihm zufolge ohne die Existenz einer gemeinsamen Weltregierung geschehen kann. Pogge versteht wissenschaftliche Theorie zugleich als Praxis, so entwirft er eine Reihe praktisch orientierter Reformvorschläge, beispielsweise im Bereich der weltweiten Gesundheitsversorgung und der Ressourcenpolitik.

Die vorliegende Arbeit ist als problemorientierter Textvergleich angelegt, in dem die Kernelemente und -begründungen der beiden Autoren im Hinblick auf globale Gerechtigkeit herausgearbeitet und ihre theoretischen Ansätze systematisch miteinander in Beziehung gesetzt werden. Damit soll einerseits ein Beitrag zur Beantwortung der Untersuchungsfrage geleistet und zudem herausgearbeitet werden, ob die Positionen beider Autoren tatsächlich als gegensätzliche Entwürfe zu verstehen sind oder das Po­tential für darüber hinausweisende Anliegen enthalten. Die grundlegenden Werke, die hierfür genutzt werden, bestehen in Nagels 2005 erschienenen Aufsatz The Problem of Global Justice und, zur Vertiefung hinsichtlich der sozioökonomischen Komponenten, seinem früheren Werk Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie. Für die Darstellungen der Auffassung Pogges wird hauptsächlich sein späteres Werk World Poverty and Human Rights herangezogen, in dem er seine früheren Arbeiten mit recht umfassenden Anforderungen globaler Ge­rechtigkeit zugunsten minimaler Standards ablöst.

Den ersten systematischen Vergleichsansatz bildet dieje divergierende Konzeption von Gerechtigkeitskriterien, was gleichsam als theoretische Fundierung für die vorliegende Arbeit dient. Zunächst soll dabei der Blick auf das Individuum gelenkt werden, das für beide gleichermaßen den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen darstellt, um nachfolgend auf die Bedeutung territorialer Grenzen für das Etablieren von Gerechtigkeitsstandards und deren Kernelemente einzugehen.

Im darauffolgenden Kapitel soll nachgezeichnet werden, welche Positionen die Autoren im Hinblick auf die aktuellen Prozesse des internationalen Handels aufweisen. Darin ist zu thematisieren, welche Bedeutung der Armut zur Begründung grenzüber­schreitender Pflichten zukommt und welche Akteure als deren Adressaten verstanden werden. Den unterschiedlichen Auffassungen über den Charakter der internationalen wirtschaftlichen Kooperation, den Nagel als Einigung zwischen unabhängigen Parteien, Pogge hingegen als Zwangssystem beschreibt, wird darauf folgend Beachtung zu schenken sein. Daran schließt sich die Darstellung an, welche grenzüberschreitenden Ansprüche die Autoren hinsichtlich der Verteilung und Nutzung von Rohstoffen heraus­arbeiten. Insbesondere Pogge schlägt diesbezüglich Reformen vor, die im Hinblick auf die aufgezeigten Problematiken skizziert werden sollen.

Das letzte vergleichende Kapitel behandelt die Auffassung beider Autoren, unter welchen Umständen globale Gerechtigkeit möglich ist und wird besonders mit dem Gesichtspunkt der Souveränität verbunden, den Nagel als Kernelement für das Ablehnen globaler Gerechtigkeitsfragen identifiziert. Seinen Ausführungen sollen problemorien­tiert die Argumente Pogges gegenüber gestellt werden, wobei exemplarisch auch seine Reformvorschläge eine verstärkte Betrachtung erfahren. Im Fazit werden die Erkennt­nisse der Untersuchung verdichtet, um die Untersuchungsfrage zu beantworten, und die Arbeiten der beiden Autoren einer kritischen Würdigung unterzogen.

2. Geltungsbereich der Gerechtigkeit

Grundlegend für eine Bewertung der internationalen Handelsprozesse unter dem Aspekt der Gerechtigkeit ist zunächst die theoretische Verortung derjeweiligen Kon­zeption. In diesem Kapitel soll daher nachgezeichnet werden, wer als Adressat von Ge­rechtigkeitsforderungen gilt, welche substantiellen Elemente darin impliziert werden und welche Bedeutung territorialen Grenzen in diesem Kontext zukommt. Ebenso ist von Bedeutung, welches Verhältnis der Begriff der Gerechtigkeit zur Moral aufweist.

2.1. Thomas Nagel

Gerechtigkeit versteht Nagel als politische Verpflichtung, die nur innerhalb eines Staa­tes zustande kommt. Seine Argumentation soll in drei Abschnitten nachgezeichnet wer­den, wobei zunächst zu beschreiben ist, wie Nagel das Individuum charakterisiert, das für ihn den Ausgangspunkt für Fragen der Gerechtigkeit bildet.

2.1.1. Das Individuum als Ausgangspunkt

Die grundlegende Ausgangsfrage, vor der jede politische Theorie und damit das wissenschaftliche Nachdenken über Gerechtigkeit schlechthin steht, gründet Nagel zufolge im richtigen Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft.[22] Er setzt die­ser traditionellen Frage noch einen Umstand voran, in dem er die eigentlich zentrale Problematik im Individuum selbst verortet in den Widersprüchen zwischen akteursre­lativen und akteursneutralen Zwecken und deren Integration in ein funktionierendes Gesellschaftswesen.[23] Auf dieser Unterscheidung, die daher zuvorderst skizziert werden soll, fußt auch sein Verständnis von Gerechtigkeit als Anspruch einer spezifischen mo­ralischen Stufe, die nur im engen Raum bestimmter assoziativer Beziehungen des Nationalstaates besteht.

In jeder Person herrsche eine fundamentale Polarität vor, die aus der Differenzierung zweier grundlegender Perspektiven resultiere. Die persönliche bzw. personale Sichtweise beinhaltet die persönlichen Interessen des Individuums inklusiver seiner Wünsche und Ziele für die eigene Lebensplanung, seiner emotionalen Bindungen zu Gruppen und Personen (akteursrelative Gründe). Die impersonale Sichtweise hingegen, die sich in jedem Menschen ebenfalls ausbilde, stelle die zentrale Grundlage für ein gesell­schaftliches Leben schlechthin dar (akteursneutrale Gründe). Sie erlaube es, den eigenen Blickwinkel zu verlassen und die legitimen Ansprüche anderer anzuerkennen.[24]

Daher bringe die impersonale Sichtweise einen starken Wunsch nach Unparteilichkeit hervor, sodass jedem Menschen, sich selbst stets einbegriffen, das Verfolgen dieser persönlichen Ziele ermöglicht wird. Beide Perspektiven reagieren auf konträre Zwänge. Während der impersonale Standpunkt Unparteilichkeit erfordere, erzeuge die persönliche Sicht legitime Sonderinteressen und Bindungen, die dieser im Wege stehen - sei es das Interesse für die eigenen Kinder oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft.[25]

Das daraus entstandene Dilemma lässt sich in einem ideengeschichtlichen Rekurs auf Hobbes verdeutlichen. In dessen Konzeption vereinigen sich die Individuen unter dem gemeinsamen Souverän, dem Leviathan, um dem Naturzustand zu entkom­men. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dassjeder ein Recht auf alles hat und nach der Verfolgung persönlicher Ziele strebt. Damit herrscht ein Zustand permanenter Unsi­cherheit, ein (latenter) Kriegszustand, da sich niemand der Friedlichkeit der Mittel, welche diejeweils anderen zum Verfolgen ihrer Interessen benutzen, gewiss sein kann. Moralische Grundsätze können zwar erdacht, aber nicht wirksam umgesetzt werden, da keine Instanz über deren Einhalten wachen kann. Es ist, wie auch die Idee des Gefangenendilemmas in den ökonomischen Theorien nahe legt, unsicher, ob getroffene Vereinbarungen tatsächlich eingehalten werden oder das Gegenüber einen für sich pro­fitableren Weg wählt. Um diesen Zustand zu überwinden, übertragen die Individuen bei Hobbes ihre Rechte auf den Leviathan und können durch die so garantierte Stabilität in einer gemeinsamen Friedens- und Rechtsordnung koexistieren und kooperieren.[26] [27]

Diesen Kerngedanken nimmt Nagel in seinem Denken auf, in seiner Auffassung benötigen die Menschen für eine friedliche Kooperation (nationalstaatliche) Institutionen, die eine moralische Arbeitsteilung ermöglichen.[28] Sie belassen den Individuen das Streben

nach persönlichen Interessen, indem sie über die gemeinsamen Regeln wachen. Soziale Institutionen lassen sich damit als Reaktionen auf die ethische Forderung begreifen, einen Kontext zu schaffen, in dem jeder zu einer guten und integrierten Lebensform finden kann, in der die Folgen individueller Handlungen korrigiert werden.[29] [30] Thomas Nagel kontextualisiert demnach die Individuen sogleich innerhalb der Nationalstaaten. Damit befinden sie sich gleichsam auf einer neuen moralischen Stufe, welche die Pflichten der Gerechtigkeit als politische Forderung, nichtjedoch als vorinstitutionellen Wert, erst auslöst.[31] Das gründet in der Auffassung, dass Moral mehrstufig ist und - im Anschluss an Rawls für unterschiedliche Sachverhalte verschiedene Prinzipien zu gelten hätten.[32] Die Ausführungen demonstrieren einen weiteren Aspekt, der sich als motivationale Komponente verstehen lässt. Von den Individuen könne nicht verlangt wer­den, dass sie ihre eigenen Zwecke gänzlich oder zu wesentlichen Teilen einem übergeordneten moralischen Sollen unterordnen, ihre Ziele müssten daher in einer Konzeption von Gerechtigkeit Berücksichtigung finden.[33]

2.1.2. Gegenstand und Geltungsbereich der Gerechtigkeit

In der realen Welt existieren bereits Staaten, die jedem Individuum in aller Regel die Zugehörigkeit zu einem festen Territorium und seinen Institutionen zuweisen. In diesem Kontext - und nur dort - sei diese nächste moralische Stufe erreicht. Zwar können, wie Nagel in Anlehnung an Hobbes festhält, moralische Überlegungen zu Gerechtig­keitsnormen führen, aber Gerechtigkeit könne nicht außerhalb eines souveränen Staates verwirklicht werden.[34] Er schreibt: „IfHobbes is right, the idea of globaljustice without a world government is a chimera.“[35] Für Thomas Nagel ist Gerechtigkeit eine spezi­fisch politische Forderung, die sich Staatsbürger aufgrund ihrer besonderen Beziehun­gen untereinander stellen. Diese entsteht erst mit der Existenz gemeinsamer Institutionen in souveränen Nationalstaaten, nichtjedoch als moralischer Anspruch schlechthin. Er vertritt einen (starken) Etatismus, demzufolge die Existenz eines Staates notwendig und ausreichend ist, die Forderungen der Gerechtigkeit auszulösen.[36] Anders formuliert ist Gerechtigkeit eine Forderung, welche die Angehörigen einer politischen Gemein- schaft aneinander stellen. Zwischen ihnen herrschen besondere Beziehungen, die sie nicht zu allen anderen Menschen auf der Welt unterhalten und die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnen. Zunächst basiert ihre Mitgliedschaft nicht auf tatsächlicher Zustimmung oder einem Vertrag, sondern sie wurde ihnen zwangsweise auferlegt. Ab­gesehen von Einwanderern hat niemand die Zugehörigkeit zu einem Staat selbst ge­wählt, sondern die Menschen sind durch ihre Geburt unfreiwillig Mitglieder eines be­stimmten Staates und seiner Institutionen.[37] Daher müsse ein Staat seinen Mitgliedern besondere Bedingungen anbieten, die er den übrigen Personen der Welt nicht schulde.[38] Das gilt insbesondere unter der Prämisse, dass die gebildeten Institutionen zweitens ih­rerseits Zwang ausüben. Souveräne Staaten beanspruchen das Mittel legitimer physi­scher Zwangsausübung, die Menschen sind in ein gemeinsames System zentraler Kon­trolle eingebunden.[39] Drittens seien es wesentlich die nationalstaatlichen Strukturen ih­rer Gesellschaft, welche das Leben der Individuen beeinflussen - sowohl in politischer als auch sozioökonomischer Hinsicht.[40] Diese drei Aspekte arbeitet Nagel als zentrale Elemente heraus, welche die Forderungen der sozialen Gerechtigkeit auslösen. Diese beruht insofern auf Rechten, die jedem der Staatsbürger zukommen. Indem Nagel in seiner Betrachtung des Individuums jeden Menschen als relevanten Akteur mit perso­nalen Zielen und der Fähigkeit der impersonalen Sichtweise ausstattet, rekurriert er auf ihre moralische Gleichheit, welche zugleich die Souveränität der Staaten begrenzt. In diesem gemeinsamen politischen Umfeld können nun Rechte auf Demokratie, gleiche Staatsbürgerschaft, Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit geltend gemacht werden.[41] Gerechtigkeitsprinzipien bilden dabei ein Paket von Regeln und Praktiken, das dem Interesse aller diene und als kollektives Eigeninteresse verstanden werden könne.[42]

Diese staatsbürgerliche Gleichheit ist in Nagels Auffassung eng mit sozioökono- mischen Komponenten verbunden, Rawls folgend enthalten für ihn liberale Freiheits­forderungen eine starke Komponente der Gleichheit zwischen den Bürgern.[43] Nagel zu­folge ist es insbesondere die Anforderung der Unparteilichkeit, die Erfordernisse der Egalität erweckt.[44] Sozioökonomische Redistribution ist demnach unter der Zielsetzung zu betrachten, unparteiliche Chancengleichheit und insbesondere das (gleiche) Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft zu stützen - als politische, nicht als moralische Forderung. Er bezieht eine egalitaristische Position, wonach Ungleichheit, deren Ursache nicht im Handeln des Individuums liegt, nach Möglichkeit ausgeglichen werden soll. Wenn sozioökonomische Faktoren dazu geeignet sind, die Lebenschancen derart un­gleich zu verteilen, dass einige Personen wesentlich unter den Nachteilen zu leiden ha­ben, ohne dafür verantwortlich zu sein, handelt es sich um Unfairness.[45] Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die kausale Verbindung, die zwischen Institutionen und Ungleichheit besteht. Nagel zufolge bringen die gesellschaftlichen Institutionen rele­vante Ungleichheiten erst hervor, indem sie beispielsweise in ihren Strukturen unter­schiedliche Rollen und Vergütungsmuster bereithalten.[46] [47]

Damit lässt sich nun der Gegenstandsbereich sozialer Gerechtigkeitsstandards charakterisieren. Darunter sind diejenigen gemeinsamen Gesetze zu verstehen, auf denen die Beziehungen der Individuen beruhen, die also die Grundgüter entsprechend zuweisen. Nicht jede Entscheidung der Politik oder jede konkrete Regelung, sondern die Grundstruktur der Gesellschaft muss diesen Gerechtigkeitsstandards entsprechen.[48] Konkret zielt Nagel damit auf die Existenz einer legitimen Grundordnung ab. Das kann aus systemischer Perspektive als Interesse verstanden werden, eine Quasi-Freiwilligkeit zu erzeugen, die Individuen trotz des Zwangssystems Staat hinreichenden Grund lie­fert, für seine Erhaltung einzutreten und dessen Kompetenzen Achtung zu erweisen.[49] Schließlich sind die Loyalität gegenüber den Institutionen, die Bereitschaft zum Leisten besteuerter Arbeitserträge sowie die Legitimierung politischer Herrschaft durch Wahl­akte insbesondere für liberale Staaten Grundbedingungen ihrer Existenz, staatliche Institutionen erfordern die aktive Kooperation der Bürger.[50]

Daran schließt sich die Frage an, auf welchem Weg eine gerechte Grundordnung bestimmt werden kann, wobei sich Nagel vor allem auf die sozioökonomische Sphäre der Gerechtigkeit bezieht. Nagel intendiert, ein Maß zu finden, dem sowohl die Besser- als auch die Schlechtergestellten zustimmen können. Von beiden Seiten wird schließ­lich verlangt, auf Wohlstandsvorteile zu verzichten, die ihnen in einerjeweils alternati­ven Verteilungslösung zukommen würden. Vor diesem Hintergrund weist er verschie­dene populäre Vorschläge eines geeigneten Maßstabs wie das Nutzenprinzip der Utilita­risten aber auch das Differenzprinzip Rawls' zurück.[51] Näherungsweise gibt er an, dass eine Variante bevorzugt werden müsste, welche die schlechter Gestellten prinzipiell vor den Bessergestellten zu fördern versucht, da sie, wie Nagel meint, die intuitiv richtig zu sein scheint und dem Umstand Rechnung trägt, dass Ungleichheit gesellschaftlich mit­verursacht wird.[52]

In Ermangelung eines allgemeingültigen Grundsatzes, nach denen sich sowohl persönliche als auch unparteiische Gründe sowie das Zusammenspiel beider zu richten hätten, schlägt Nagel eine spezifische Annäherung an einen vernünftigen Maßstab vor, der sich als Einhelligkeit bezeichnen lässt. Jede Person soll in voller Kenntnis ihrer kulturellen Zugehörigkeit, ihrer ökonomischen Ausstattungen und Fähigkeiten dieser geltenden Ordnung zustimmen können - im Gegensatz zur Ausgangslage eines hypothetischen Urzustandes, wie ihn Rawls oder in früheren Werken Pogge verwendet.[53] Eine Lösung müsse so gestaltet sein, dass sie „die beiden universalen Pole der Unparteilichkeit und der auf Vernunftgründen beruhenden Parteilichkeit in einer Weise vermittelt, daß kei­nem mehr ein Grund gegeben ist, sich darüber zu beklagen, seinen Interessen werde kein ausreichendes Gewicht zuerkannt oder man trete mit übertriebenen Forderungen an ihn heran“,[54] dürfte demnach von keiner Seite vernünftigerweise abgelehnt werden können. Hier verortet Nagel die eklatanten Schwachstellen jener Denkansätze, die er als Utopien charakterisiert. Indem sie die Bereitschaft zum Verzicht der unterschiedlich ausgestatteten Individuen ausblenden, verfehlen sie seiner Meinung nach die Grundfra­ge des richtigen Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft und stellen un­haltbare Forderungen an die Individuen - auch und gerade in ökonomischer Hinsicht.[55] Einhelligkeit istjedoch nicht als eine Schnittmenge der unterschiedlichen Auffassungen vom Guten in einem Staat zu verstehen, sondern bildet eine Metakonzeption, die von all diesen unterschiedlichen Sichtweisen seien es Konfessionen, Klassenzugehörig­keit oder individuelle Überzeugung - anerkannt werden kann. Wenngleich das nicht endgültig gelingen dürfte, so ist es laut Nagel innerhalb eines abgegrenzten Territoriums dank einer gemeinsamen Geschichte, Kultur und den gemeinsamen Foren aus Öf­fentlichkeit und politischen Institutionen dennoch möglich, ihr möglichst nahe zu kommen.[56] Allerdings sieht er für die Individuen nicht nur Rechtsansprüche vor, sondern verknüpft damit zugleich die positive Pflicht, für inländische Gerechtigkeit zu sorgen. Der entscheidende Aspekt besteht in der Doppelrolle eines jeden Staatsbürgers, die ihn nicht nur als Adressaten, sondern zugleich als (Mit-) Autoren politischer Institutionen und Entscheidungen ausweist. Mit dem Recht auf politische Beteiligung erwächst den als Demos fungierenden Individuen bei Nagel zugleich eine hohe Verantwortung für die Gerechtigkeit. Lässt das System systematische oder willkürliche Ungerechtigkeit zu, stehe es in ihrer Verantwortung, dies zu ändern.[57]

Das kennzeichnet die Gerechtigkeit als explizit positive Pflicht.[58] Dazu gehören auch die Erstellung kollektiver Güter und die Unterstützung besonderer Programme für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft. Insofern ist das Suchen nach Gerechtigkeitsprinzipien ein Vorgang, den Nagel im Inneren des politischen Systems selbst verortet, der also von den Staatsbürgern innerhalb einer Herrschaftsordnung geleistet werden muss.

2.1.3. Signifikanz von Grenzen

Zwei spezifisch nationalstaatliche Charakteristika kristallisiert Nagel heraus, welche die Geltung gemeinsamer Prinzipien ermöglichen - Souveränität und die staatsbürgerli­che Solidarität.

Die Existenz einer zentralen Gewalt löst nicht nur Gerechtigkeitsforderungen aus, son­dern stellt seiner Auffassung nach zugleich die Bedingung der Möglichkeit dar, dass sie tatsächlich realisiert werden können. Gerechtigkeit setze das koordinierte Verhalten ei­ner großen Zahl von Menschen voraus, das ohne auf ein Gewaltmonopol gestütztes Recht nicht zustande komme. Sie sei nur möglich, wenn den Individuen in ihrem Han­deln die Sicherheit gegeben werden, dass ihre Bereitschaft zum Einhalten gemeinsamer Regeln nicht durch andere illegitim ausgenutzt werde, das heißt, „each of them has the assurance that others will conform if he does. That assurance requires the external incentive provided by the sovereign, who sees to it that individual and collective self-interest coincide.“[59] Daher sei es notwendig, dass abweichendes Verhalten durch eine legitime Zwangsgewalt unparteilich sanktioniert werden kann.[60]

Als zweiten zentralen Gesichtspunkt für die Bindekraft gemeinsamer Prinzipien stellt Nagel Solidarität heraus. Sie verlangt eine grundlegende Identifikation mit den Menschen, die zum politischen System gehören. Dazu gehören übereinstimmende Ver­haltensmuster und beständige Institutionen, die einen großen Einfluss auf die Lebens­wirklichkeit der Menschen und ihre Interaktionen haben.[61] Solidarität ermögliche es, Menschen zu nötigen Verzichtsleistungen im Rahmen der gemeinsamen Prinzipien und so zur Treue gegenüber gemeinsamen Institutionen sowie dem Eintreten für kollektive Anstrengungen zu motivieren. Dies sei notwendig, um die Arbeitsfähigkeit der gemein­samen Institutionen zu gewährleisten. Gleichzeitig sei ihr ein exklusiver Charakter in­härent, da sie sich lediglich auf die Mitbürger, nicht aber auf die Menschen außerhalb dieses Territoriums beziehe.[62]

Zusammenfassend betrachtet weist Nagel Gerechtigkeit als ein Konzept aus, dass nur aufgrund der assoziativen Beziehungen unter Staatsbürgern zustande kommt und Erfor­dernisse der Gleichheit enthält, die ebenso nur innerhalb dieser Grenzen Geltung erlan­gen. Grenzüberschreitend begegnen sich die Individuenjedoch nicht als Gleiche in ei­ner politischen Ordnung, sondern lediglich als Menschen, die gemeinsame Handelsbe­ziehungen unterhalten, mit denen sie Eigeninteressen verfolgen, die von den Vertretern der Staaten wahrgenommen werden.[63]

Gleichwohl geht auch er zunächst von bestimmten moralischen Prämissen der Gleichheit aus. Jeder habe das Recht, in einer gerechten Gesellschaft zu leben.[64] Die Lösung hierfür besteht in der Logik Nagels jedoch eben in der Einrichtung der Staaten, welche die Zuständigkeiten territorial begrenzen, denn ,,we do not have an obligation to live in ajust society with everyone. The right to justice is the right that the society one lives in be justly governed.“[65] Die staatlichen Institutionen ermöglichen einerseits das Entwickeln gemeinsamer inländischer Prinzipien und andererseits deren wirksame Durchsetzung, sowie nach außen hin die Interaktion mit anderen Staaten zum eigenen kollektiven Vorteil. Dem minimalen Anspruch dieser moralischen Gleichheit,wenngleich Nagel sie nicht als solche bezeichnet, ist daher mit der Existenz der Staaten zumindest konzeptionell genüge getan.

Die internationale Ordnung hingegen ist durch hiervon distinkte Merkmale ge­prägt. Weder sind die Individuen durch diesen gemeinsamen Referenzrahmen miteinan­der direkt verbunden, noch identifiziert Nagel Mechanismen, die gerechtigkeitsrelevan­te Ungleichheit aufgrund relationaler Klassenzugehörigkeiten auslösen. Der Kern sei­ner Argumentation stützt sich jedoch vor allem auf das Fehlen von Souveränität, die globalen Beziehungen sind nicht durch eine gemeinsame Zwangsgewalt strukturiert. Da dies in seiner Konzeptionjedoch die Bedingung für Gerechtigkeitsprinzipien bildet, ist die internationale Kooperation für ihn nicht ausreichend, um Gerechtigkeitsforde­rungen zu etablieren.[66] Als Etatist ist für ihn die Existenz eines Staates hinreichende und notwendige Bedingung, um supra-humanitäre Normen auszulösen. Dennoch geht er, anders als Hobbes, von der Geltung humanitärer Normen aus, die zusammen mit den von Nagel beschriebenen Charakteristika der internationalen Ordnung im nachfol­genden Kapitel dargestellt werden.

Ein zweiter Aspekt, mit dem er gegen globale Gerechtigkeitsprinzipien argumentiert, besteht in der Pluralität der kulturellen Gerechtigkeitsauffassungen. Ange­sichts der Varietät verschiedener kultureller Normen und Werte, zu denen mitunter auch fundamentalreligiöse oder -ideologische gehören, die demokratischen Prinzipien wi­dersprechen, ließen sich weder internationale Solidarität herstellen noch gemeinsame Prinzipien finden.[67] Damit schließt er ein, dass noch nicht einmal gemeinsame Grund­güter zu identifizieren sind, denen alle Individuen, Staaten bzw. Völker im Lichte ihrer Pluralität zustimmen könnten.

In diesem Kontext sind auch die Menschenrechte nicht unumstritten und, so muss gefolgert werden, daher nicht geeignet, als gemeinsame Kriterien die Grundlage interna­tionaler Gerechtigkeit zu bilden.[68] [69] Die internationale Ordnung kann, folgt man Nagels Argumentation, nicht als Adressat der Menschenrechte verstanden werden, wobei sich hier beide Einwände gegen globale Gerechtigkeit exemplarisch verbinden lassen. Zwar existiert mit den Vereinten Nationen eine Institution, welche insbesondere auf ihre Ver­wirklichung hinzuwirken versucht, doch sie besitzt nicht die Autorität für deren Umset- zung, sondern die Aufgabe ihrer Realisierung obliegt letztlich den Staaten.[70] In diesem Rahmen sind konkrete Verantwortungen ausgewiesen, deren Realisierung der Staat aufgrund des Gewaltmonopols garantieren kann.[71] Für die grenzüberschreitende Sicherung der Menschenrechte müssten hingegen internationale Institutionen geschaffen werden, die ihrerseits hinreichender Autorität bedürften. Dies ist demnach angesichts der unterschiedlichen Wertauffassungen kaum zu gewährleisten, zudem würden die Staaten einer solchen Machterweiterung der internationalen Sphäre nicht zustimmen.[72] Dabei re­kurriert Nagel (im Gegensatz zu Pogge) auf Menschenrechte als politische Rechte, die prinzipiell einklagbar und in ihrer Absicherung daher verpflichtend sind.

„There is a big difference between agreements or consensus among separate states committed to the advancement of their own interests and a binding procedure, based on some kind of collective authority, charged with securing the common good. The potential costs are much more serious than the risks [ j “[73] [74]

Gleichwohl finden sich Hinweise auf die Möglichkeit, zumindest relevante Sanktionen zu erheben. Liberale Staaten seien weder verpflichtet, nicht-liberale Gesellschaften zu tolerieren, noch dazu, sie zu verändern.[75] Dabei scheint er auf einer klaren Trennung zwischen liberalen und nicht-liberalen Staaten aufzubauen, in der es nur seitens letzte­rer zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Für die liberalen Staaten hingegen stellt er auf das Paradigma der Achtung humanitärer Rechte ab.[76]

Das Ablehnen internationaler Gerechtigkeitskriterien lässt sich damit auf drei Wegen verstehen. Erstens ist die internationale Ordnung kein Zwangssystem, das Forderungen nach Gerechtigkeit auslöst. Zweitens fehlen gemeinsame Auffassungen dessen, welche grundlegenden Güter bzw. Rechte hierfür heranzuziehen seien. Nicht einmal über die Geltung der Menschenrechte besteht Konsens. Insofern lässt sich der noch anspruchsvollere Schritt, darüber gemeinsame Prinzipien zu etablieren, nicht realisie­ren. Drittens benötigt ihre Durchsetzung eine übergeordnete Instanz, die auf absehbare Zeit nicht entstehen wird.

2.2. Thomas Pogge

Für Thomas Pogge ist Gerechtigkeit ein Anliegen, das zwingend grenzüberschreitender Standards bedarf und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bereits ein Fundament für gemeinsame Normen aufWeist. In drei Abschnitten sollen die Grundzüge seiner Konzeption dargestellt werden. Wiederum wird zunächst auf die Bedeutung des Individuums eingegangen, um im folgenden Schritt den Gegenstand und Geltungs­bereich der Gerechtigkeit darzustellen. Dabei wird thematisiert, weshalb Pogge zufolge in einer theoretischen Gerechtigkeitskonzeption eine globale Ausrichtung erforderlich ist, welche Güter Gegenstand der Problematik sind und wem die Pflichten für ihre Realisierung obliegen. Der letzte Abschnitt widmet sich der Thematik nationalstaatlicher Grenzen, die in seiner Auffassung gerade nicht dazu geeignet sind, grundlegende mora­lische Forderungen zu begrenzen.

2.2.1. Das Individuum als Ausgangspunkt

Das Individuum ist für Pogge die grundlegende Einheit moralischer Überlegungen - nicht Staaten oder andere Gruppierungen, und bildet insofern auch das Betrachtungsob­jekt seiner Gerechtigkeitstheorie.[77] Zentral fürjeden politischen Diskurs über politische Zielsetzungen und damit auch der Gerechtigkeit ist für Pogge die Idee des guten Le­bens. „That human persons are flourishing means that their lives are good, or worthwhile, in the broadest sense“.[78] Dabei stellt er in Rechnung, dass hinsichtlich der Auffassungen eines guten Lebens eine große Varietät existiert, sowohl was die Kompo­nenten (die konstitutiven Elemente des Lebens) als auch die dafür erforderlichen Mittel (etwa Reichtum oder Bildung) betrifft. Derjeweilige Maßstab unterscheidet sich zudem durch die Gewichtung persönlicher und ethischer Komponenten, die Wahl von Innen­oder Außenperspektive, die zeitliche Perspektive und die Sozialisation usw.[79] Ähnlich wie Nagel bemerkt er, dass Individuen über unterschiedliche und mithin divergierende Ziele verfügen, die durch ihre verschiedenen Auffassungen eines guten Lebens geprägt werden und denen es im Nachdenken über Gerechtigkeit Beachtung zu schenken gilt. Die Autonomie eines jeden Menschen, d.h. insbesondere das Anerkennen der Selbstzweckhaftigkeit des Individuums, bildet dabei den Kern seiner Überlegungen. Jeder Mensch soll ein Leben führen können, das er als lebenswert empfinden kann.[80]

Anders als Nagel kontextualisiert Pogge das Individuumjedoch nicht innerhalb eines Nationalstaates, sondern bezieht seine Bemühungen auf das (institutionell vermit­telte) Verhältnis zwischen Menschen schlechthin und schließt dabei die gesamte Weltbevölkerung ein. Individuen sind eingebunden in verschiedene soziale Institutionen, de­ren Gesamtheit er als Grundordnung bezeichnet.[81] Dies bezieht er nicht bloß auf die In­nenperspektive nationalstaatlicher Institutionen, sondern weitet dies in zwei Hinsichten aus, indem er einerseits die Außenwirkung nationaler Standards und andererseits die globale Sphäre in seine Betrachtung einbezieht.

Die Prämisse des Individualismus lässt sich damit um zwei weitere ergänzen, die dem Kosmopolitismus entstammen. Einerseits kommt der gleiche moralische Status allen Menschen zu, es wird also keiner Gruppe ein besonderes Gewicht verliehen (Uni­versalität). Andererseits gilt dieser Status global (Generalismus).[82] Die Anforderungen der Gerechtigkeit lassen sich daher nicht als zugehörig zu einer bestimmten morali­schen Stufe begreifen, sondern betreffen all jene Formen gemeinsamer (institutionell vermittelter) Kooperation, die das menschliche Leben beeinflussen und daher mora­lisch rechtfertigungsbedürftig sind.[83] Damit rekurriert erjedoch nicht, wie es Nagels Auftrennung zwischen politischen und moralischen Gerechtigkeitskonzeptionen ver­muten lässt, auf Gerechtigkeit als einen vorinstitutionellen Anspruch, sondern wählt ge­rade das Verhältnis der Institutionen zu den Individuen als Gegenstand der Betrachtun­gen, ordnet sich also einem institutionellen Kosmopolitismus zu.[84]

2.2.2. Gegenstand und Geltungsbereich der Gerechtigkeit

Pogges Bemühen besteht darin, ein Gerechtigkeitskriterium zu formulieren, das eine generelle Beurteilung erlaubt, inwieweit soziale Institutionen die von ihnen betroffenen Personen und Gruppen moralisch angemessen und fair behandeln.[85] Dieses Verständnis von Gerechtigkeit rückt die Auswirkungen einer Ordnung hinsichtlich der Möglichkeiten für Individuen, ein im weitesten Sinne gutes Leben zu führen, in den Blick. Damit formuliert er einen grenzüberschreitenden Anspruch, denn es sei nicht ausreichend, nur die Adressaten und Teilnehmern eines Systems isoliert zu betrachten. Damit würde ei-

nerseits ausgeblendet, welche Effekte Institutionen grenzüberschreitend hervorbringen, wie beispielsweise die Zinssätze in den USA die Wirtschaft in anderen Ländern beein­flussen.[86] Andererseits würden kommende Generationen, die noch nicht geboren sind und auf deren Chancen die aktuelle Ordnung ebenfalls großen Einfluss nimmt, nicht hinreichend berücksichtigt.[87] Nicht zuletzt würden nationalstaatliche Grundordnungen in ihrer Ausgestaltung und ihren Wirkungsweisen auch von ausländischen oder supranationalen Institutionen geprägt.[88] Die existierende internationale Grundstruktur, die aus vielfältigen internationalen und nationalen Institutionen, aus völkerrechtlichen Ver­trägen, Diplomatie, Handelsforen etc. besteht, muss somit unter dem Aspekt der Ge­rechtigkeit betrachtet werden.[89]

Daher würde ein Gerechtigkeitskriterium benötigt, das mindestens eine moralische Bewertung der globalen Ordnung und derjenigen Institutionen mit signifikanten internationalen Kausalwirkungen erlaubt, und das bei den Individuen über alle Kulturen und nationalstaatliche Grenzen hinweg Anerkennung finden kann. Das erfordert zugleich, die Autonomie der verschiedenen Kulturen zu berücksichtigen. Pogge schreibt:

,,We are seeking a widely acceptable core criterion of basic justice that assesses social institutions by how they treat persons. Such a criterion presupposes interpersonal comparability, but it should also respect the autonomy of the various persons and cultures.“[90]

Den durchaus paternalistischen Anspruch versucht er abzumildern, indem er folgende Abstufungen vornimmt. Das Kriterium solle mit einer schwachen Konzeption des guten Lebens vereinbar sein, sich also auf allgemeine Mittel zur Realisierung dieser be­schränken und die Komponenten offen lassen. Zudem sei nicht der höchste erreichbare Wert auf einer prinzipiell unendlichen Skala anzustreben, sondern ein fester, bescheide­ner Grenzwert, der sich mit der großen Vielfalt internationaler Institutionen vereinbaren lasse und lediglich fordere, die Menschen auf eine minimal annehmbare und faire Art zu behandeln. Es könne zudem keine Vollständigkeit beanspruchen, um den Gesellschaften die Möglichkeit zu belassen, die nationalen Institutionen nach eigenen und stärkeren Kriterien zu beurteilen. Dennoch solle das universelle Kriterium als gemeinsamer Kern prinzipiellen Vorrang gegenüber nationalen Standards genießen - ,,as the core in which a plurality of more specific conceptions of human flourishing and of more ambitious criteria can overlap [...] and as the c its most important elements.“[91]

Der Identifikation eines solchen Kriteriums legt Pogge eine Konzeption menschlichen Wohlergehens zugrunde. Er definiert eine (unvollständige) Liste von Grundgütern, die Individuen benötigen, um ein zumindest im minimalen Sinn gutes Le­ben führen zu können. Darunter zählt er Nahrung, Kleidung, Unterkunft, grundlegende Freiheiten, soziale Interaktion, Bildung und politische Partizipation.[92] Um universelle Zustimmungsfähigkeit zu erreichen, nimmt Pogge weitere Einschränkungen vor.[93] Erstens sind nurjene Güter zu berücksichtigen, die für ein solches gutes Leben tatsäch­lich essentiell sind. Zudem limitiert er die Forderung auf einen minimal adäquaten An­teil. Drittens steht für Pogge im Vordergrund, den Individuen den Zugang zu diesen Gütern zu gewähren, nicht etwa, wie kosmopolitische Maximalsten fordern, die Indivi­duen grenzüberschreitend und generell mit ihnen zu versorgen. Schließlich gibt er sich bereits mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Verfügbarkeit zufrieden.[94] [95]

Mit diesem universellen Maßstab zielt er nicht darauf ab, Unterschiede im Wohlstand von Menschen moralisch zu werten, sondern will feststellen, ob die existierenden Institutionen minimalen moralischen Anforderungen genügen. Er schlägt vor, diejenigen Institutionen, welche den Individuen das Übertreten dieser Schwelle er­möglichen, mit dem Wert „1“ zu kennzeichnen, relevante Einschränkungen wie Hun­ger, fehlende medizinische Versorgung oder eingeschränkte Freiheit ergeben eine Ab­stufung bis zum minimalen Wert „0“.[96] Dieser Maßstab erfülle zugleich die zentralen Anforderungen der Einfachheit, Klarheit, Universalität und einfachen Anwendbarkeit, die gemäß Pogge an Konzeptionen der Gerechtigkeit zu stellen sind.[97] Zentral für das Bewerten institutioneller Arrangements ist für Pogge zudem eine kon­krete Bestimmung, in welchem Verhältnis die sozialen Institutionen je zu der Nichter­reichbarkeit der Güter beitragen.

[...]


[1] Personenbezogen wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet, um die Lesbarkeit zu erleichtern.

[2] Vgl. hierzu auch Dittrich, Monika ; Giljum, Stefan ; Lutter, Stephan u.a.: Green economies around the world ? Implications of resource use for development and the environment, Wien 2012.

[3] Vgl. Okonjo-Iweala, Ngozi: Point of View: Nigeria's Shot at Redemption, Online Version der F & D, Finance and Development. A quarterly magazine of the IMF, Jg. 45 Nr. 4, 2008, online im Internet unter: <http://www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2008/12/okonjo.htm> (25.06.2012).

[4] Vgl. hierzu ausführlicher Wenar, Leif: Property Rights and the Resource Curse, in: Philosophy & Pu­blic Affairs, 2008, Jg. 36, Nr. 1, S. 2-32.

[5] Vgl. hierzu Pogge, Thomas W.: World Poverty and Human Rights. Cosmopolitan Responsibilities and Reforms, Cambridge 2008, S. 13ff.

[6] Vgl. hierzu auch Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (Hg.): Thesen zur Rohstoffpolitik, Berlin 9. Februar 2005.

[7] Nagel, Thomas: The Problem of Global Justice, in: Philosophy & Public Affairs, 2005, Jg. 33, Nr. 2, S. 113.

[8] Nagel macht deutlich, dass vielfach nicht klar ist, worin die relevanten Fragen bestehen, geschweige denn, wie ihre adäquaten Antworten formuliert werden können. Vgl. ebd.

[9] Vgl. Broszies, Christoph und Hahn, Henning: Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext, in: Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmo­politismus, hg. von Christoph Broszies und Henning Hahn, Berlin 2010, S. 16.

[10] Vgl. ebd., S. 16ff.

[11] Vgl. ebd., S. 18ff.

[12] Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, S. 81.

[13] Ebd.

[14] Vgl. Broszies / Hahn 2010, S. 20.

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl.Nagel 2005, S. 134.

[17] Vgl. Broszies / Hahn 2010 S. 20.

[18] Vgl. ebd., S. 22.

[19] Vgl. hierzu auch Nida-Rümelin, Julian und Rechenauer, Martin: Internationale Gerechtigkeit, in: In­ternationale Politik als Überlebensstrategie, hg. von Mir A. Ferdowski, München 2009, S. 304.

[20] Vgl. hierzu auch Broszies / Hahn 2010, S. 30ff.

[21] Vgl.Nagel 2005, S. 113f.

[22] Vgl. Nagel, Thomas: Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie, hg. von Michael Gebauer, Paderborn 1994, S. 12.

[23] Vgl. ebd.

[24] Vgl. ebd.

[25] Vgl. ebd., S. 13.

[26] Vgl. Nagel 2005, S.116.

[27] Vgl. hierzu die Originalausführungen in Hobbes, Thomas: Leviathan, Hamburg 1996, Kapitel XIII bis XVIII, S. 102-155.

[28] Vgl. Nagel 1994, S. 78.

[29] Vgl. ebd., S. 30.

[30] Vgl. Nagel 2005, S. 133.

[31] Vgl. ebd., S. 132f.

[32] Vgl. ebd., S. 122.

[33] Vgl. Nagel 1994, S. 26f.

[34] Vgl. Nagel 2005, S. 114.

[35] Ebd., S. 115.

[36] Zu einer vertiefenden Diskussion des Etatismus-Begriffs vgl. Cohen, Joshua und Sabel, Charles: Ex­tra Rempublicam Nulla Justitia?, in: Philosophy & Public Affairs, 2006, Jg. 34, Nr. 2, S. 152-155.

[37] Vgl. Nagel 2005, S. 129.

[38] Vgl. ebd., S. 133.

[39] Vgl. ebd., S. 127.

[40] Vgl. ebd., S. 127f.

[41] Vgl. ebd., S. 127.

[42] Vgl. ebd., S. 115.

[43] Vgl. ebd., S. 114.

[44] Vgl. Nagel 1994, S. 92.

[45] Vgl. ebd., S. 153.

[46] Als einfaches Beispiel mag der Einkommensunterschied zwischen Friseuren und Bankangestellten herangezogen werden.

[47] Nagel unterscheidet vier wesentliche Quellen von Ungleichheit, die in einer hierarchisch-moralischen Stufenleiter unterschiedlichen Bedarf zu egalitärer Korrektur hervorrufen. Ungleichheiten infolge un­terschiedlicher eigener Bemühungen der Individuen sind unproblematisch, während Diskriminierung oder andere von außen wirkende Faktoren starker Restriktionen bedürfen. Klassenlage interpretiert Nagel wesentlich als gesellschaftlichen Faktor, der positive Ausgleichsmaßnahmen z. B. in Form von umfassenden Bildungs- und Arbeitsmarktprogrammen erfordert. Hinsichtlich des persönlichen Tal­ents sieht er lediglich unangemessene ökonomische Gratifikationen als kritisch. Vgl. hierzu Nagel 1994, S. 150ff

[48] Vgl. Nagel 2005, S. 114.

[49] Vgl. Nagel 1994, S. 56.

[50] Vgl. ebd., S. 247 sowie Nagel 2005, S. 129.

[51] Ein soziales Minimum, dasjeden Menschen lediglich mit den basalen Gütern und Wohlfahrtsangebo­ten versorgt, könnte wohlbegründet von den Schlechtergestellten abgelehnt werden. Utilitaristische Konzeptionen zeigen nicht auf, wie zwischen widerstreitenden Interessen und Ansprüchen entschie­den oder priorisiert werden könne. Das Prinzip der Nutzenmaximierung kann auch einschließen, dass Schlechtergestellte zugunsten der Bessergestellten noch weitere Verzichte hinnehmen müssen - eine für Nagel unhaltbare Forderung. Auch das von Rawls vorgeschlagene Differenzprinzip könne nicht in jedem Fall Geltung erlangen, vgl. Nagel 1994, S. 111-115.

[52] Vgl. ebd., S. 100ff.

[53] Vgl. ebd., S. 107ff

[54] Ebd., S. 58.

[55] Vgl. ebd., S. 16.

[56] Vgl.ebd., S.243.

[57] Vgl. Nagel 2005, S. 128f.

[58] Vgl. ebd., S. 130.

[59] Ebd., S. 115.

[60] Vgl. ebd., S. 116.

[61] Vgl. ebd.

[62] Vgl. Nagel 1994, S. 247.

[63] Vgl. Nagel 2005, S. 142.

[64] Vgl. ebd., S. 132.

[65] Ebd.

[66] Vgl. ebd., S. 116f.

[67] Vgl. Nagel 1994, S. 245ff.

[68] Vgl. ebd.

[69] Das verdeutlichen auch die Debatten um den Eurozentrismus der Menschenrechte, realpolitisch sind es insbesondere staatliche Akteure wie China, welche anstelle der Menschenrechte ihr Recht auf Sou­veränität geltend zu machen suchen.

[70] Vgl. Nagel 2005, S. 138.

[71] Vgl. hierzu auch Tönnies, Sibylle: Die Menschenrechtsidee, ein abendländisches Exportgut, Wiesba­den 2011, S. 14ff.

[72] Vgl. Nagel 2005, S. 145.

[73] Ebd.

[74] In diesem Fall bezieht dies Nagel auf die Ablehnung der USA zum Internationalen Strafgerichtshof.

[75] Vgl. ebd., S. 135.

[76] Vgl. ebd., S. 130f.

[77] Vgl. Pogge 2008, S. 175.

[78] Ebd., S. 33.

[79] Vgl.ebd., S.34ff.

[80] Vgl. ebd., S. 36f.

[81] Darunter versteht Pogge diejenigen grundlegenden Praktiken eines sozialen Systems, welche unter anderem Eigentumsfragen definieren und regeln, Arbeitsteilung strukturieren und die Beziehungen der Menschen zueinander prägen, die den politischen und wirtschaftlichen Wettbewerb ordnen und festlegen, wie kollektive Vorhaben durchgeführt sowie Konflikte beigelegt werden. Vgl. ebd., S. 37.

[82] Vgl. ebd., S. 175.

[83] Im Gegensatz zu einem legalen Kosmopolitismus weist er damit nicht allen Individuen die gleichen Rechte und Pflichten zu, sondern erkennt Bedeutung einesjeden Menschen als gleich wichtig an. Vgl. ebd., S. 175.

[84] Vgl. ebd., S. 176f.

[85] Vgl. ebd., S. 37.

[86] Vgl.ebd., S.37f.

[87] Vgl.ebd., S.38.

[88] Vgl.ebd., S.38f.

[89] Vgl. ebd., S.39 und S.55.

[90] Ebd., S. 43.

[91] Ebd., S. 43.

[92] Vgl. ebd., S. 42.

[93] Pogges frühere und spätere Arbeiten unterscheiden sich hinsichtlich des Auffindens global gültiger Gerechtigkeitskriterien in signifikanter Weise. In Realizing Rawls versuchte er, die Rawls'schen Prin­zipien mit selbiger Güterkonzeption auf die globale Ebene zu beziehen. Vgl. hierzu Pogge, Thomas: Realizing Rawls, Ithaca u.a. 1989.

[94] Vgl. Pogge 2008, S. 43f.

[95] Zu einer Kritik dieser Einschränkungen vgl. Joób, Mark: Globale Gerechtigkeit im Spiegel zeitgenös­sischer Theorien der Politischen Philosophie, Ödenburg 2008, S. 155f.

[96] Für die konkrete Operationalisierung eines Maßstabes, die in World Poverty and Human Rights noch nicht vollzogen ist, nennt Pogge die Varietät verschiedener mathematischer Rechenoperationen. Vgl. Pogge 2008, S. 45.

[97] Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Rohstoffe als Problematik globaler Gerechtigkeit. Theorievergleich zwischen Thomas Nagel und Thomas Pogge
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Institut für Politikwissenschaft und Japanologie )
Note
1,7
Autor
Jahr
2013
Seiten
104
Katalognummer
V213026
ISBN (eBook)
9783656409168
ISBN (Buch)
9783656409090
Dateigröße
945 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rohstoffe, problematik, gerechtigkeit, theorievergleich, thomas, nagel, pogge
Arbeit zitieren
Sebastian Haupt (Autor:in), 2013, Rohstoffe als Problematik globaler Gerechtigkeit. Theorievergleich zwischen Thomas Nagel und Thomas Pogge, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/213026

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