Borderline-Persönlichkeitsstörung bei Kindern und Jugendlichen

Wie das soziale Umfeld eine Therapie positiv unterstützen kann


Facharbeit (Schule), 2013

82 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort und persönliche Danksagung

2. Einleitung

3. Geschichte der BPS

4. Definitionen, Klassifikationen, Epidemiologie
4.1 Klassifikationssysteme im Überblick
4.1.1 ICD-10 (WHO)
4.1.2 DSM-IV-TR (APA)
4.2 Definition von Persönlichkeitsstörungen
4.2.1 Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10
4.2.2 Persönlichkeitsstörungen nach DSM-IV-TR
4.3 Definitionen der Borderline-Persönlichkeitsstörung
4.3.1 Definitionen der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach ICD-10
4.3.1.1 Definition emotional-instabiler Persönlichkeitsstörungen
4.3.1.2 Definition des impulsiven Typus (F.60.30) nach ICD-10
4.3.1.3 Diagnosefindung zum impulsiven Typus nach ICD-10 (F60.30)
4.3.1.4 Definition der Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31) nach ICD-10
4.3.1.5 Diagnosefindung zum Borderline-Typus (F60.31) nach ICD-10
4.3.2 Definition der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV
4.4 Epidemiologie der BPS im Kindes- und Jugendalter
4.5 Konzept von Persönlichkeitsstörungen
4.5.1 Terminologie
4.5.1.1 Das Temperament
4.5.1.2 Der Charakter
4.5.1.3 Persönlichkeitsstörung
4.5.1.4 Soziopathie
4.5.1.5 Fazit und Zusammenhänge
4.5.2 Dimensionale Konzepte
4.5.3 Psychodynamisch orientierte Konzepte

5. Symptomatik

6. Ätiologie
6.1 Genetik
6.2 Psychosoziale Bedingungen
6.3 Neurobiologie und radiologische Bildgebung

7. Diagnostik der BPS
7.1 Spezielle Anamnese
7.2 Komorbiditäten
7.3 Psychologische Diagnostik
7.3.1 Selbsteinschätzungsfragebögen
7.3.2 Interviewtechniken
7.3.2.1 Strukturiertes klinisches Interview für DSM-IV (SKID-II)
7.3.2.2 International Personality Disorder Examination (IPDE)
7.3.2.3 Vergleich SKID-II und IPDE
7.4 Dimensionale Diagnostik
7.4.1 Inventar klinischer Persönlichkeitsakzentuierungen (IKP)
7.4.2 Persönlichkeitsstil- und Störungsinventar (PSSI)
7.5 Klinische Untersuchung
7.6 Differentialdiagnostik
7.6.1 Adoleszentenkrise
7.6.2 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
7.6.3 Psychosen

8. Therapie
8.1 Dialektisch-behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A)
8.1.1 Die Rolle des Therapeuten
8.1.1.1 Förderung der Fertigkeiten des Patienten
8.1.1.2 Den Patienten motivieren, an der Therapie teilzunehmen
8.1.1.3 Telefonkontakt zum Patienten
8.1.1.4 Therapeutenaustausch
8.1.1.5 Betreuung des sozialen Umfeldes
8.1.2 Therapieablauf / -module
8.1.2.1 Gruppentherapie
8.1.2.2 Einzeltherapie
8.1.2.3 Supervisionsgruppe
8.1.2.4 Telefonberatung
8.1.3 Therapieziele
8.1.4 Therapieabschluss
8.1.5 Wirksamkeit der DBT-A im ambulanten Setting

9. Die therapiestützende Rolle des sozialen Umfeldes (empirischer Teil)
9.1 Vor der Therapie: Den Patienten zur Therapie motivieren
9.1.1 Fallbeispiel 9.1.1: Lehrer und Schule
9.1.2 Fallbeispiel 9.1.2: Der Betroffene wendet sich an das Umfeld
9.2 Während und nach der Therapie
9.2.1 Kooperatives Verhalten zur Therapieeinrichtung
9.2.2 Fallbeispiel 9.2.2: Der Jugendliche fühlt sich zuhause nicht wohl
9.2.3 Regelmäßiger Kontakt zum Betroffenen
9.2.4 Ruhe bewahren, Liebe zeigen und Regeln aufstellen
9.2.5 Informationen einholen
9.3 Fazit zur therapiestützenden Rolle des Umfeldes

10. Prognose

11. Fazit zu dieser Facharbeit

12. Anhang
12.1 Validierungsstrategien
12.2 Schema Verhaltensanalyse
12.3 Notfallkoffer

13. Sachwortregister

14. Abkürzungsverzeichnis

15. Abbildungsverzeichnis

16. Tabellenverzeichnis

17. Literaturverzeichnis

1. Vorwort und persönliche Danksagung

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine häufig vorhandene, aber wenig diskutierte und bekannte Krankheit bei Jugendlichen. Diese Facharbeit soll über die Krankheit aufklären und diese näher beleuchten. Das Thema fand ich aus persönlichem Interesse, sowie der Faszination zu psychischen Störungen und Krankheiten. Ausschlaggebend für die Wahl dieser Krankheit war, dass diese lange als nicht therapierbar galt und diese von angehenden Ärzten des Bereiches der Psychiatrie aufgrund der Variabilität der Symptomatik und der damit verbunden hohen Anzahl an Therapiemöglichkeiten mit Ehrfurcht und überdurchschnittlichem Respekt betrachtet wird. Durch das Schülerstudium im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt auf dem Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde mein Interesse an dieser Krankheit gestärkt. Hinzu kam auch der persönliche Kontakt zu einigen Betroffenen

Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Frau Dr. Julia Smaxwil, die mich hervorragend bei der Entstehung dieser Arbeit unterstütze und stets ein offenes Ohr für meine Fragen, Probleme und Wünsche hatte.

Meinen Eltern Andrea und Uwe Schmidt, die mich während des Entstehungsprozesses stets unterstützen, sowie meiner Oma Brunhilde Cirotzke, die während der gesamten Zeit immer für mich da war.

Genauso gilt mein Dank meinen Freunden und meiner gesamten Familie.

2. Einleitung

Borderline: Grenzgänger zwischen Extremen"(Braunmiller, 2010), so titelt Focus online am 6. Oktober 2010. Bereits diese Überschrift verrät die Ernsthaftigkeit dieses Themas. Beim Borderline-Syndrom – kurz BPS – handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung.

„Eine Persönlichkeitsstörung ist ein lang anhaltendes (chronisches), unflexibles, fehlangepasstes Muster der Wahrnehmung, des Denkens oder des Verhaltens. Solche Muster können die betroffenen Personen bei der Bewältigung ihres alltäglichen Lebens in sozialen und beruflichen Kontexten stark beeinträchtigen und großes Leid hervorrufen. Persönlichkeitsstörungen treten gewöhnlich erstmals in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter auf.“(Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 573)

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist durch die Unfähigkeit des Eingehens zwischenmenschlicher Beziehungen, das instabile emotionale Erleben, eine gestörte Affektregulation sowie das verzerrte Selbstbild des Betroffenen gekennzeichnet. Somit sind Borderline-Patienten in bestimmten Bereichen ihres emotionalen Erlebens, Denkens und Handelns, je nach Art der Ausprägung mehr oder weniger stark beeinträchtigt. Dies wird vor allem in den zwischenmenschlichen Interaktionen erkennbar, welche für Dritte paradox wirken. Weitere borderlinetypische Merkmale stellen Suizidgedanken / -versuche und Selbstverletzungen(vgl. Bohus & Schmahl, 2006) dar. Patienten berichten, dass teilweise nicht eine Stelle ihres Körpers nicht durch Selbstverletzungen geschädigt ist (vgl. Petersen-Ostroga, 1999). Folglich haben die Patienten ein gestörtes Verhältnis zu sich selber, was sich in depressivem und zumeist pessimistischem Verhalten äußern kann. Bereits hier ist zu erkennen, dass das Borderline-Syndrom als Indexerkrankung meist von weiteren Komorbiditäten, häufig zum Beispiel weiteren Persönlichkeitsstörungen, begleitet wird. In seltenen Fällen kommt es auch zu einer Multimorbidität.

Nach diesem kurzen Überblick über das Borderline-Syndrom soll meine Grundfragestellung genannt werden. Ich untersuchte die Rolle bzw. die Möglichkeit der Unterstützung des Therapieprozesses durch das soziale Umfeld vor und während einer Dialektisch-Behavioralen Therapie der BPS nach Marsha M. Linehan.

Um dies zu ermöglichen, werde ich zunächst auf die allgemeinen Fakten zu einer BPS, inklusive Perspektiven und Therapiemöglichkeiten eingehen. Im weiteren Verlauf soll ein Katalog mit Tipps für verschiedene Zielgruppen zum Umgang mit Borderline-Patienten erstellt werden.

Zur Sicherstellung der wissenschaftlichen Korrektheit, verwende ich ausschließlich medizinische und psychologische Fachliteratur, die zu großen Teilen aus Universitäts- und Klinikbibliotheken ausgeliehen, oder als E-Book gedownloadet wurde. Zusätzlich werde ich viele Fachquellen aus dem Internet, Vorlesungsunterlagen verschiedener Universitäten und Fachzeitschriften als Quellen verwenden.

3. Geschichte der BPS

Der Ursprung der Persönlichkeitsstörungen ist in erwachsen-psychiatrischen Sichtweisen zur Psychopathologie zu finden (vgl. Saß, 1987). Die ersten Aufzeichnungen einer Persönlichkeitsstörung stammen aus dem 18. Jahrhundert von Philippe Pinel, welcher als einer der ersten psychische Erkrankungen in Bezug auf kognitive Defizite untersuchte und sie als nosologische Einheit erfasste. Er stellte das Konzept der „Manie sans délire “, bei dem es sich um eine Störung der Affekte bei unbeeinträchtigtem Verstand handelte, auf, welches die erste nosologische Arbeit über Persönlichkeitsstörungen darstellte. Er berichtet von Patienten mit emotional-instabilen und dissozialen Tendenzen, welche auch heute noch typische Merkmale einer Persönlichkeitsstörung sind. Für die Ätiopathogenese macht er entweder endogene (z.B. perverse Veranlagungen), oder biografische Faktoren (z.B. mangelhafte oder ausbleibende Erziehung) verantwortlich (vgl. Pinel, 1809). Die hier bereits angedeutete Polarität zwischen dem endogenen und biografischen Pol, ist bis heute in der Ätiopathogenese als korrekt zu werten. Zunächst galt Psychopathie als Synonym für Persönlichkeitsstörungen und wird in der älteren Literatur häufig als solches verwendet.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Störungsbegriffes stellt der 1857 vom französischem Psychiater Bénédict Augustin Morel aufgestellte Begriff der Degeneration, der krankhaften Abweichung des von der Gesellschaft geschaffenen Menschenbildes, dar. Im Bereich der Ätiopathogenese macht er hereditäre und umweltbedingte Einflüsse verantwortlich (vgl. Morel, 1857). Magnan und Legrain folgerten aus den erblichen Einflüssen fälschlicherweise, dass die Persönlichkeitsstörung zwingend weitervererbt wird (1895), was zusammen mit dem sozialdarwinistischen Gedankengut insbesondere in Deutschland zu einer Vorstellung des „lebensunwerten Lebens“ führte (vgl. Binding & Hoche, 1920). In Amerika und England wurden die bereits vorhandenen Konzepte als Grundlage verwendet, um neue Modelle des Störungsbildes zu erstellen. So beschrieb der nordamerikanische Psychiater Benjamin Rush 1812 Patienten mit Störungsbildern ähnlich der Patienten Pinels mit dem Begriff „Moral alienation mind “ (vgl. Rush, 1962). Wenige Jahre später im Jahr 1835 stellte der englische Arzt James Cowles Prichard sein Konzept der „moral insanity “ vor (vgl. Prichard, 1835). Der Begriff der Moral war jedoch nicht genauer definiert, was zu einigen Missverständnissen führte, da in beiden Sprachräumen (England und USA) ein unterschiedliches Verständnis dieses Wortes vorlag auch weiterhin vorliegt. So kam es zu einer „Tendenz zur Einengung der abnormen Persönlichkeiten auf einen Typus mit im Vordergrundstehender Delinquenz und sozialer Devianz “(Fleischhaker & Schulz, 2010, S. 2). Henry Maudsley(1874), der Begründer der modernen Psychiatrie, stellte heraus, dass die Menschen - hingegen der Vorstellung seiner Zeitgenossen - durch innere Triebe zu den Straftaten getrieben werden können. Seine Theorie, dass Menschen durch Triebe gesteuert werden können, bestätigte 1923 der österreichische Neurologe, Tiefenpsychologe und Religionskritiker Sigmund Freund mit seinem Werk „Das Ich und das Es “, indem er das Es als Motivation für triebgesteuerte Handlungen sieht (vgl. Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 518). Das heutige Verständnis der abnormen Persönlichkeit erwähnte der deutsche Psychiater Emil Kraepelin, welcher das erste umfassende Klassifikationssystem für psychische Störungen entwickelte, 1883 erstmals in seinem Lehrbuch „Psychiatrie“(1883), jedoch umschrieb er den Begriff. In der 7. Auflage seines Lehrbuches „Psychiatrie“(1903) beschrieb er zum ersten Mal den Begriff der psychopathischen Persönlichkeit als eine Störung, die sich hauptsächlich durch Dissozialität definiert, was mit unserem heutigen Verständnis übereinstimmt. Kurt Schneider definierte weiter, dass die Betroffenen „aufgrund ihrer Persönlichkeitseigenschaften „von einer uns vorschwebenden, aber nicht näher bestimmbaren Norm abweichen ““ und sie „selbst und/oder die Gesellschaft unter diesen Abnormitäten leiden müsse “ (Fleischhaker & Schulz, 2010, S. 3). Diese Kerngedanken finden sich in heutigen medizinischen Klassifikationssystemen, wie zum Beispiel der ICD-10, wieder. Bereits Schneider unterschied in 10 verschiedene Typen der abnormen Persönlichkeit. Die BPS wäre laut ihm in den Bereich der stimmungslabilen und explosiven Persönlichkeitsstörungen einzuordnen (vgl. Schneider K. , 1923).

„In kinder- und jugendpsychiatrischen Lehrbüchern der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Begriff der Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter weitgehend abgelehnt. Die aus dem Bereich der Erwachsenenpsychiatrie stammende Konzeption der Persönlichkeitsstörungen wurde als nicht vereinbar mit entwicklungspsychiatrischen Aspekten angesehen.“(Fleischhaker & Schulz, 2010, S. 4)

Der zentrale Gedanke dieser Aussage liegt darin, dass das Kind sich in einem Entwicklungsalter befindet und es somit noch einige Symptome ablegen kann, bis es ein erwachsener Mensch geworden ist. Ein weiterer Versuch der Beschreibung der Borderline-Persönlichkeitsstörung wurde durch die Psychoanalys egeben. Sie beschreibt die BPS als eine Persönlichkeitsstörung bei der es zu Defiziten der Regulation der Bereiche Impulskontrolle, Affektmodulation, Kognition und Objektbeziehung kommt. Jedoch blieb auch dieser Definitionsversuch nicht haltbar, da er, wie alle anderen Definitionen auch, eine mangelhafte nosologische Validität aufweist (vgl. Fleischhaker & Schulz, 2010). Auch die heutigen Klassifikationssysteme, wie z.B. die ICD-10 sind aufgrund zu unklarer Abgrenzungen zu anderen Persönlichkeitsstörungen zu unklar, um daraus eine sichere Definition bilden zu können.

Insgesamt entwickelt sich die Symptomatik der einzelnen Persönlichkeitsstörungen permanent weiter, was zur Folge haben wird, dass eine mehrpolige und weitere Dimensionen umfassende Definition gefunden werden muss. Um die komplexe Borderline-Persönlichkeitsstörung zu verstehen, ist es erforderlich, sich an entwicklungspsychopathologischen Konzepten zu orientieren, welche in dieser Arbeit näher thematisiert werden.

4. Definitionen, Klassifikationen, Epidemiologie

Im Folgenden soll die Borderline-Persönlichkeitsstörung und der Weg der Diagnosefindung genauer thematisiert werden. Dazu ist es erforderlich, Klassifikationssysteme einzuführen, die in den folgenden Unterkapiteln thematisiert werden.

4.1 Klassifikationssysteme im Überblick

In der modernen Medizin werden zwei Systeme zur Klassifikation von Krankheiten betrachtet. Sie dienen dazu, einheitliche Fachtermini einzuführen und die Länderübergreifende Behandlung sicher zu ermöglichen. Zudem ist es im psychiatrischen Bereich schwerer als im medizinischen, eine Diagnose stellen zu können, da sich eine psychiatrische Diagnose zu großen Teilen auf die objektive Wahrnehmung der Ärzte oder Therapeuten stützt. In der Medizin reicht es oft aus, Laborwerte oder andere körperlichen Untersuchungen auszuwerten, um eine sichere Diagnose stellen zu können. Damit Therapeuten nicht variierende Diagnosen stellen, war es besonders wichtig, Klassifikationssysteme zu entwickeln, die ihnen bei ihrer Diagnosefindung helfen. Ein Klassifikationssystem sollte daher einheitliche Termini, ätiologische Ansätze, sowie Therapievorschläge bieten. Es sollen nun die beiden in der Psychiatrie verwendeten Klassifikationssysteme näher beleuchtet werden.

4.1.1 ICD-10 (WHO)

Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (engl. für: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme), kurz ICD-10, ist die weltweit anerkannte und meist benutze Möglichkeit zur Klassifikation von Krankheiten. Sie stammt von der World Health Organisation (kurz: WHO) und ist derzeit in Version 10, welche 2011 erschien, erhältlich. In Deutschland besteht die Pflicht, Diagnosen nach ICD-10GM Version 2012 zu verschlüsseln (vgl. World Health Organisation, 2012). Als Kritik an diesem System sei zu nennen, dass es nur Termini und Ätiologische Ansätze aufzeigt, genaue Symptomatikbeschreibungen und Therapieansätze, welche, wie in 4.1 erwähnt, ein gutes Klassifikationssystem aufweisen sollte, fehlen hier komplett oder es ist nicht genau zu erkennen, ob es sich um ein Symptom oder eine Diagnose handelt.

4.1.2 DSM-IV-TR (APA)

Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) – kurz DSM - ist ein Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiatrische Vereinigung, kurz: APA), welches nur psychische Krankheiten klassifiziert. Es dient als Ergänzung oder Ersatz für ICD-10. Es erschien erstmals im Jahre 1952. Die aktuelle Auflage ist DSM-IV-TR, welche seit 2000 in deutscher Sprache erhältlich ist. Hauptsächlich werden die Symptome und Störungsverläufe genannt, was es von der ICD-10, welche eher die Ätiologie klärt, abgrenzt. Insgesamt gibt es 5 Achsen, welche in der Diagnostik alle zu berücksichtigen sind, um die psychischen, sozialen und körperlichen Symptome, die im Zusammenhang mit den Störungen stehen könnten, zu erfassen. Dieses System wird als multiaxiale Einteilung bezeichnet. Auf der ersten Achse werden die bedeutendsten klinischen Störungen, inklusive aller, die bereits in der Kindheit auftreten, genannt. Ausgenommen sind geistige Behinderungen. Die zweite Achse erfasst die geistigen Behinderungen, sowie Persönlichkeitsstörungen des Patienten. Auf der dritten Achse werden andere medizinische Begleiterscheinungen oder Erkrankungen erfasst, die für die Behandlung relevant sein könnten (vgl. Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 553f.). Ein Beispiel hierfür wären Allergien auf Inhaltsstoffe eines zu verabreichenden Psychopharmakas. Die vierte Achse „erfasst psychosoziale oder umgebungsbedingte Stressoren, die einen Einfluss auf Diagnose und Behandlung und die Wahrscheinlichkeit der Genesung haben können“(Zimbardo & Gerrig, 2008, S. 554). Die fünfte Achse erfasst die „Funktionsfähigkeit des Patienten im psychischen, sozialen und beruflichen Bereich“(ebd.). Für die erste und zweite Achse sind in der Version DSM-IV-TR 16 Kategorien vorhanden, welche in der Diagnosefindung zu berücksichtigen sind. So soll auf Störungen, die in Kindheit und Jugend auftreten, Substanzinduzierte Störungen, Schizophrenie und andere psychotische Störungen, Affektive Störungen, Angststörungen, Somatoforme Störungen, Dissoziative Störungen, Sexuelle Störungen und Störungen der Geschlechtsidentität, Schlafstörungen, Essstörungen, Vorgetäuschte Störungen, Anpassungsstörungen, Störungen der Impulskontrolle, Persönlichkeitsstörungen, andere klinisch relevante Probleme, Delir, Demenz und andere kognitive Störungen geachtet werden (vgl. Saß, Wittchen, & Zaudig, 2003). Das DSM-IV erfasst die Ätiologie nur zu geringen Teilen, sodass es sich anbietet, ICD-10 und DSM-IV zusammen zu verwenden.

4.2 Definition von Persönlichkeitsstörungen

Die beiden aktuell verwendeten Klassifikationssysteme unterteilen die Persönlichkeitsstörungen in drei unterschiedliche Cluster. Dies geschieht anhand des Verhaltens, was beim Vorliegen des Störungsbildes am häufigsten Auftritt, beziehungsweise die Krankheit definiert. Cluster A enthält die sonderbaren, exzentrischen Persönlichkeitsstörungen, wie zum Beispiel die schizoiden oder paranoiden Persönlichkeitsstörungen. Cluster B deckt die dramatischen und emotionalen Persönlichkeiten, wie z.B. sie zum Beispiel bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen vorliegen. Cluster C beinhaltet die ängstlichen und vermeidenden Persönlichkeiten. Hierzu gehören zum Beispiel zwanghafte Persönlichkeitsstörungen. Eine Übersicht hierzu gibt Tabelle 1 auf der nächsten Seite.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1 Cluster-Einteilung nach DSM-IV und ICD-10 (erstellt nach: Schaletzky, 2009)

Um die Borderline-Persönlichkeitsstörung genauer verstehen zu können, werden folgend zunächst die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung ohne genauere Unterteilung in die einzelnen Störungsbilder genannt.

4.2.1 Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10

„Es handelt sich um schwere Störungen der Persönlichkeit und des Verhaltens der betroffenen Person, die nicht direkt auf eine Hirnschädigung oder -krankheit oder auf eine andere psychiatrische Störung zurückzuführen sind. Sie erfassen verschiedene Persönlichkeitsbereiche und gehen beinahe immer mit persönlichen und sozialen Beeinträchtigungen einher. Persönlichkeitsstörungen treten meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und bestehen während des Erwachsenenalters weiter.“(World Health Organisation, 2012)

In der ICD-10 wird eine Persönlichkeitsstörung also als eine, von Hirnschädigungen unabhängige, Krankheit, was bereits Pinel in seiner „Manie sans délire“ festhielt (s. Kapitel 3), definiert. Zudem baut die ICD-10 auf Schneiders Aussage, dass Persönlichkeitsstörungen ein Verhalten, welches von der Norm abweicht, beinhalten, was hier durch „soziale Beeinträchtigungen“ umschrieben wird. Zu finden sind die Persönlichkeitsstörungen ab F60. Sie werden anhand der Verhaltensmuster in spezifische Krankheitsbilder, wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung unterteilt.

Zur Diagnosestellung müssen mindestens 3 der folgenden Kriterien zutreffen:

I. „Die charakteristischen und dauerhaften inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Betroffenen weichen insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben ("Normen") ab. Diese Abweichung äußert sich in mehr als einem der folgenden Bereiche:
- Kognition (d. h. Wahrnehmung und Interpretation von Dingen, Mensche und Ereignissen; Einstellungen und Vorstellungen von sich und anderen)
- Affektivität (Variationsbreite, Intensität und Angemessenheit der emotionalen Ansprechbarkeit und Reaktion)
- Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung
- Die Art des Umgangs mit anderen und die Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen
II. Die Abweichung ist so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen unflexibel, unangepasst oder auch auf andere Weise unzweckmäßig ist (nicht begrenzt auf einen speziellen "triggernden Stimulus" oder eine bestimmte Situation).
III. Persönlicher Leidensdruck, nachteiliger Einfluss auf die soziale Umwelt oder beides sind deutlich dem unter II) beschriebenen Verhalten zuzuschreiben.
IV. Nachweis, dass die Abweichung stabil, von langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen hat.
V. Die Abweichung kann nicht durch das Vorliegen oder die Folge einer anderen psychischen Störung des Erwachsenenalters erklärt werden, es können aber episodische oder chronische Zustandsbilder der Kapitel F00 bis F07 neben dieser Störung existieren oder sie überlagern.
VI. Eine organische Erkrankung, Verletzung oder deutliche Funktionsstörung des Gehirns müssen als mögliche Ursache für die Abweichung ausgeschlossen werden (falls eine solche Verursachung nachweisbar ist, soll die Kategorie F07 verwendet werden).“

(Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), 2008, S. 7)

4.2.2 Persönlichkeitsstörungen nach DSM-IV-TR

„Persönlichkeitszüge stellen überdauernde Formen des Wahrnehmens, der Beziehungsmuster und des Denkens über die Umwelt und über sich selbst dar. Sie kommen in einem breiten Spektrum sozialer und persönlicher Situationen und Zusammenhänge zum Ausdruck. Nur dann, wenn Persönlichkeitszüge unflexibel und unangepasst sind und in bedeutsamer Weise zu Funktionsbeeinträchtigun[g]en oder subjektivem Leiden führen, bilden sie eine Persönlichkeitsstörung. Das wesentliche Merkmal einer Persönlichkeitsstörung ist ein andauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht“(Fleischhaker & Schulz, 2010, S. 8).

Auch hier wird die Beeinträchtigung der Umwelt und des Patienten deutlich, die bereits Schneider erkannte (s. Kapitel 3). Auch findet sich seine Aussage, dass die Verhaltensweisen von der, von der Gesellschaft gesetzten, Norm abweichen in dieser Definition wieder. Diese soziokulturelle Abhängigkeit schafft eine internationale Anwendbarkeit, was das Klassifikationssystem auszeichnet. Es wird nicht von einer Idealnorm ausgegangen, sondern von der Abweichung der jeweils gesetzten Norm der Kultur und der des sozialen Umfeldes. Deshalb sind für den Therapeuten Kenntnisse über verschiedene andere Gesellschaftsnormen unabdingbar, um auch diese sicher und zielgerichtet therapieren zu können.

4.3 Definitionen der Borderline-Persönlichkeitsstörung

Nachdem in Kapitel 4.2 die Persönlichkeitsstörungen definiert wurden, was erforderlich ist, um die Borderline-Persönlichkeitsstörung genauer verstehen zu können, soll diese nun definiert werden. Hierzu werden die aus Kapitel 4.1 bekannten Klassifikationssysteme verwendet. Die Prävalenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung wird mithilfe kategorialer Diagnostikinstrumente auf 3-18% aller Jugendlichen in der Literatur angegeben. Diese zwischen den Studien stark variierende Prävalenz, zeigt, dass es mit kategorialer Diagnostik im Jugendalter aufgrund der anhaltenden Entwicklung sehr schwierig ist, eine sichere Diagnose zu stellen. Die hohe Prävalenzrate verdeutlicht auch die Relevanz des Borderline-Syndroms für das Gesundheitswesen. Jugendliche Borderline-Patienten beanspruchen durch Selbstverletzungen oder Suizidversuche sehr oft chirurgische, hausärztliche und kinder- und jugendpsychiatrischen Ordinationen, um ihr Leben zu erhalten (vgl. Brunner R, Ceumern-Lindenstjerna IA, Renneberg B et al., 2003). Für die jährlichen Behandlungskosten von Borderline-Patienten im Jugendalter liegen keine repräsentativen Studien vor. Im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie werden die Kosten auf rund 15% der Gesamtkosten für die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung aller Krankheitsbilder geschätzt (vgl. Jerschke, S; Meixner, K; Richter, H; et al., 1998).

Nun soll die Borderline-Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 und DSM-IV klassifiziert werden.

4.3.1 Definitionen der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach ICD-10

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört zur Gruppe der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen. Diese Gruppe soll folgend definiert werden.

4.3.1.1 Definition emotional-instabiler Persönlichkeitsstörungen

„Eine Persönlichkeitsstörung mit deutlicher Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter Stimmung. Es besteht eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit, impulshaftes Verhalten zu kontrollieren. Ferner besteht eine Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden. Zwei Erscheinungsformen können unterschieden werden: Ein impulsiver Typus, vorwiegend gekennzeichnet durch emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle; und ein Borderline- Typus, zusätzlich gekennzeichnet durch Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen, durch ein chronisches Gefühl von Leere, durch intensive, aber unbeständige Beziehungen und eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen.“ (World Health Organisation, 2012)

Es gibt zum einem den impulsiven Typus (F60.30), zum anderen den Borderline-Typus der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen. Da es sich beim Borderline-Typus, wie sich in der Definition der World Health Organisation zeigen wird, um eine Erweiterung des impulsiven Typus handelt, muss zunächst dieser genauer definiert werden.

4.3.1.2 Definition des impulsiven Typus (F.60.30) nach ICD-10

In der neu erschienen Version GM 2013 wird nur wenig Material zur Definition gegeben. Laut dieser sind Betroffene ausgesprochen aggressiv und reizbar.

[...]

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Borderline-Persönlichkeitsstörung bei Kindern und Jugendlichen
Untertitel
Wie das soziale Umfeld eine Therapie positiv unterstützen kann
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
82
Katalognummer
V213698
ISBN (eBook)
9783656419884
ISBN (Buch)
9783656420934
Dateigröße
926 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Facharbeit mit starker Überlänge (insgesamt 79 Seiten im Format DIN A4), die insbesondere für den empirischen Teil (Ansätze zum Umgang mit Betroffenen für Schulen / Lehrer, Eltern, Freunde et cetera)die Bestnote 1+ (15 Punkte, 1,0) erhielt.
Schlagworte
Jörn Schmidt, BPS, Borderline, Kinder, Jugendliche, DBT, DBT-A, Linehan, Dialektisch-behaviorale Therapie für Adoleszente, Unterstützung für Betroffene, soziales Umfeld, Freunde, Lehrer, Schüler, Mitschüler, Schulleitung, Bildungseinrichtungen, Bildungsinstitutionen, Heinrich-Heine-Gymnasium Bottrop, Pädagogische Psychologie, Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie (KJP), SVV, Selbstverletzendes Verhalten, ambulante Therapie, Pädagogik, klinische Psychologie, Wohngruppe, Psychopathologie, Medizin, Lehrerfortbildung, Umgang mit psychisch kranken Schülerinnen und Schülern, Hinweise und Ratgeber für Schulen und Lehrerinnen und Lehrer, Lehrerseminar, schulpraktische Lehrerausbildung, Studienseminar, HHG Bottrop
Arbeit zitieren
Jörn Schmidt (Autor:in), 2013, Borderline-Persönlichkeitsstörung bei Kindern und Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/213698

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