Die Mordtat im „Woyzeck“ und seine Einstufung als soziales Drama.

„Er läuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt.“


Hausarbeit, 2013

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2. Die sozialen Umstände: Determinismus und gesellschaftliche Isolation

3. Psychologisch-religiöse Umstände: Sünde und Eifersucht

4. Fazit

Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Darstellungen

1.Einleitung

Am 27. August 1824 wurde Johann Christian Woyzeck auf dem Marktplatz von Leipzig für den Mord an der Witwe Johanna Woost hingerichtet, mit der er ein Liebesverhältnis unterhielt und die ihn betrogen hatte. Dieser Justizfall ereignete sich in einer naturwissenschaftlichen Übergangszeit, in der die psychiatrische Einrichtung in Deutschland und die vorherrschende Lehrmeinung im Wandel begriffen waren. Der Fall des vermeintlich geisteskranken Mörders wurde daher bald zum Justizmord stilisiert. Mehr noch als die real existierende Person des mittellosen Soldaten aus Sachsen rief der entstehende Diskurs über dessen Zurechnungsfähig­keit Gelehrte verschiedenster akademischer Richtungen auf den Plan, die der Debatte eine erstaunliche Langlebigkeit und einen immensen Umfang verliehen. Stein des Anstoßes waren zu jener Zeit die beiden psychiatrischen Gutachten, die der Gerichtsmediziner Johann Chris­tian August Clarus anfertigte und publizierte. Beachtlich ist allerdings die Tatsache, dass die­ser Fall bis heute nicht nur durch die Fachliteratur aus dem Rechtswesen oder der Medizin überliefert ist. Bei einem breiten Publikum genießt er vor allem durch das unvollendete Drama „Woyzeck“ des Schriftstellers und Naturwissenschaftlers Karl Georg Büchner, das sich dem Stoff in literarischer Weise annimmt, eine ungebrochen große Popularität.

Wie der historische Fall des Mordes und die damit verbundene Auseinandersetzung um eine Neuausrichtung der Gerichtspsychiatrie und die Debatte um die Bewertung der Zurech­nungsfähigkeit eines Beklagten eine Wende in der deutschen Wissenschaft markieren, so lassen sich auch das Wirken und das Werk Georg Büchners in eine Zeit des Umbruchs und der politischen Revolution im nachnapoleonischen Deutschland einordnen: Es ist die Zeit des Vormärzes, an der Büchner auch als politischer Aktivist partizipierte. In dieser Rolle dürfte er den meisten Lesern präsent sein, was aufgrund seines Erstlingswerks „Der Hessische Land­bote“, einer sozialrevolutionären Flugschrift, auch nicht verwundert. Der zusammen mit Lud­wig Weidig produzierte Text stellte den Auftakt zu einer Schaffensphase dar, die Büchner nach seinem frühen Tod 1837 den Ruf des frühsozialistischen Schriftstellers einbrachte.[1] Ge­rade auch die Rezeption durch Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann oder Bertolt Brecht, so­wie die Orientierung des späteren Naturalismus an Büchners Werk führten dazu, die literaturwis­senschaftliche Herangehensweise an sein Werk unter einem politischen Aspekt zu führen und ihn „in Bezug auf seine eigene Zeit als verfrüht […] einzustufen“, wie Roland Borgards herausstellt.[2] Ausgehend von dieser Annahme muss das oben erwähnte Stück „Woy­zeck“ mit seiner Hauptfigur des gesellschaftlich unterprivilegierten Soldaten Franz Woyzeck geradezu als Paradebeispiel des sozialen Dramas gelten. Der Begriff des sozialen Dramas ließe sich zwar nicht exakt definieren und nur in Annäherung bestimmen, ein gemeinsames Gattungsmerkmal der ihm zugeordneten Werke sei aber ihre Gegnerschaft zum herrschenden Status quo ihrer Entstehungszeit, so Theo Elm.[3] Dass Büchner ein Gegner dieser Verhältnisse war lässt sich unbestreitbar aus seiner Biographie belegen. Doch lässt sich sein Dramenfrag­ment auf die soziale Dimension reduzieren? Elm selbst schränkt ein, in der Geschichte des Paupers Woyzeck sei von vormärzlichem Aufbruch nichts zu spüren.[4] Wie sich aus der literaturwis­senschaftlichen Forschung belegen lässt, wird die Eingrenzung des Stücks auf die soziale Komponente seinem vollen Umfang nicht gerecht. Hans Winkler etwa bestreitet die hervorgehobene Stellung des sozialen Milieus für die Entwicklung des Dramas, die Tragödie entstehe aus den Figuren selbst und damit aus der sexuell motivierten Triebhaftigkeit.[5] Dage­gen stellt David G. Richards die Schicksalshaftigkeit des „Woyzeck“ entgegen seiner offenen Bauform in die Tradition der griechischen Tragödie und deutet eine religiöse Komponente an.[6] In seinem Beitrag zum deutschen Drama vertritt Andrew Webber die These, Büchner analysiere in seinem Stück die Verteilung und Möglichkeiten von Macht in der Gesellschaft.[7] Exemplarisch für die gemeinhin akzeptierte Annahme, Woyzeck zeige als „Ferkeldrama“ die Mechanismen von Ausbeutung lässt sich hier der Beitrag von Christian Neuhuber nennen.[8] Neben weiteren, teilweise fachfremden Untersuchungen, die einzelne Aspekte des Dramas behandeln, wie z.B. die Sprache (Davide Giuriato[9]) oder das genaue Krankheitsbild des Protago­nisten (James Crighton[10]), lässt sich als übergreifender Analyseaspekt der Forschung die Mordtat an Marie ausmachen. Diese nimmt im Stück eine exponierte Stellung ein, resul­tiert hier doch der Wahn Woyzecks in die Tat. Die Begründung dieser Tat lässt Rückschlüsse auf die Intention und Gesamtauslegung des Dramas zu und um sie soll es auch in der hier vorliegenden Arbeit gehen.

Es soll der Versuch unternommen werden, die treibenden Kräfte des Mordes an Marie herauszuarbeiten. Dies soll aber nicht Selbstzweck bleiben, die Tatbegründung soll darüber hinaus auf außertextliche Bezüge geprüft werden um letztlich eine Antwort auf die Frage nach der Absicht Büchners zu liefern und festzustellen ob es sich bei „Woyzeck“ um ein soziales Drama handelt. Um die vielfältigen Einflüsse auf die Hauptfigur besser gegeneinander sicht­bar zu machen, werden sie hier in zwei Kategorien gegliedert: Soziale Umstände und psycholo­gisch-religiöse Umstände. Diese Einteilung wird in Anlehnung an Alfons Glück vorge­nommen, der seine Interpretation in sogenannte „Zerstörungsfaktoren“ unterteilt, denen sich Woyzeck ausgesetzt sieht. Dies sind Armut, entfremdete Arbeit, Ideologie, das Militärregi­ment, Wissenschaft und Justiz.[11] Die vorliegende Arbeit versucht dabei, die vorgegebe­nen Kategorien in einer werkimmanenten Arbeitsweise neu zu akzentuieren und wenn möglich deren textexterne Genese, also deren Bezug auf die Geisteshaltung Büchners, literatursoziologisch zu erklären. Einschränkungen sind hier bei diversen Aspekten zu konstatie­ren, die mehreren der oben erwähnten Kategorien angehören können. Außerdem wurde bewusst darauf verzichtet, dem Aspekt der Ökonomie eine eigene Analysekategorie einzuräumen, da die materielle Sphäre ausnahmslos alle anderen Kategorien streift.

2. Die sozialen Umstände: Determinismus und gesellschaftliche Isolation

Im folgenden Kapitel werden die sozialen Faktoren herausgearbeitet, denen Woyzeck im tägli­chen Leben ausgesetzt ist. Diese werden gegeneinander abgewogen um festzustellen, ob sie als Motiv für den Mord an Marie stichhaltig sind. Die Analyse bedient dabei einen zweifachen Zusammenhang: Erstens sollen die Beziehungen der auftretenden Figuren des Dramas betrachtet werden um aus ihrer Stellung zueinander – und vor allem zu Woyzeck – erläutern zu können, welche sozialen Funktions- und Denkweisen im Dramenfragment vorherr­schend sind. Zweitens wird aufbauend auf dieser Untersuchung das Augenmerk auf das gesellschaftliche Klima gelegt: Welche gesellschaftlichen Kräfte wirken auf den Protagonis­ten? Ergänzt werden diese Ausführung mit Verweisen auf die außertextlichen Be­züge und Quellen Büchners, aus denen sich dieses Gesellschaftsbild speist. Speziell „Der Hessi­sche Landbote“ soll dabei als mögliche Vorlage in Betracht gezogen werden, exerziert der Autor hier doch präzise die gesellschaftlichen Um- und Missstände im Hessen des beginnen­den 19. Jahrhunderts, was auch Hans Winkler zu der Frage bewegt, ob es sich bei „Woyzeck“ um die dramatische Ausgestaltung des „Hessischen Landboten“ handelt.[12]

Der neben Woyzeck wohl komplexeste Charakter ist Marie. Ihr Beziehungsgeflecht zu den anderen Figuren ist klar erkennbar. Ihrer Nachbarin gegenüber verhält sie sich distanziert bis abweisend, reagiert auf die Feststellung nach ihrer offensichtlichen Zuneigung zum Tambour­major gereizt: „MARGRETH Ihre Auge glänze ja noch. MARIE Und wenn! Trag Sie Ihr Auge zum Jud und laß Sie sie putze, vielleicht glänze sie noch, daß man sie für zwei Knöpf verkaufe könnt (W, S. 148).“[13] In ihrem Denken scheint eine religiöse Komponente vorhanden zu sein, bezeichnet sie ihr uneheliches Kind doch als „en arm Hurenkind (W, S. 148)“ und räsoniert über ihre Beziehung zu Woyzeck in einem Lied, das sie ihrem Sohn vor­singt und in dem es heißt: „Mädel, was fangst du jetzt an. Hast ein klein Kind und kein Mann (W, S. 148).“ Offensichtlich ist ihr die fehlende christliche Legitimation für ihre Bindung nicht unwichtig, sonst würde sie Woyzeck als ihren Mann betrachten, erfüllt dieser doch ohne­hin die Funktion des Familienvaters. Darüber hinaus offenbart sich hier die Aussagekraft der Lieder und Märchen im Drama, worauf später noch einmal zurückzukommen sein wird. Das Fehlen dieser Legitimation kompensiert Marie durch ihre Neigung zum materiell und standesmäßig bessergestellten Tambourmajor. Im Inneren der Jahrmarktbude bemerkt sie sofort voller Bewunderung dessen Verfügungsgewalt über einen Unteroffizier: „MARIE Der andre hat ihm befohle und er hat gehen müsse. Ha! Ein Mann vor einem Andern (W, S. 151).“ Trotz der Reue die in ihr auftritt, ist Marie doch sehr angetan von den Ohrringen, die ihr der Tambourmajor schenkt: „MARIE bespiegelt sich: Was die Steine glänze (W, S. 153)!“ Ein wirkliches Schwanken zwischen Woyzeck und dem Tambourmajor scheint es nicht mehr zu geben. Vielmehr ist in dieser Beziehung Franz Woyzeck einseitig abhängig von Marie. Dem Hauptmann erwidert er auf die enttarnte Untreue Maries: „WOYZECK Herr, Hauptmann, ich bin ein armer Teufel, – und hab sonst nichts – auf de Welt (W, S. 160).“ Selbst kurz vor Ausführung der Mordtat ist Woyzeck noch ergriffen von dieser tra­gisch-einseitigen Liebe: „WOYZECK […] und doch möcht‘ ich den Himmel gebe sie noch einmal zu küssen… (W, S. 169).“ Ähnlich machtlos steht er dem Doktor gegenüber. Für ihn wird Woyzeck zum reinen Studien- und Anschauungsobjekt degradiert. Seine Studenten „betas­ten ihm Schläfe, Puls und Busen (W, S. 153).“ Die negativen Auswirkungen der ihm auferlegten Erbsendiät werden einfach ignoriert: „WOYZECK Herr Doktor es wird mir dun­kel. Er setzt sich. DOKTOR Courage, Woyzeck, noch ein paar Tage, und dann ist’s fertig […] (W, S. 153).“ Die Stellung Woyzecks zum Hauptman erweist sich bei näherer Betrachtung als die vielschichtigste in der gesamten Figurenkonstellation. Auf den ersten Blick ist diese ge­prägt von militärischer Untergebenheit. Währen Woyzeck den Hauptmann rasiert, antwortet er auf dessen Fragen stets mit einem monotonen „Ja wohl, Herr Hauptmann (W, S. 154).“ Es zeigen sich aber Merkmale einer intellektuellen Überlegenheit Woyzecks gegenüber seinem Vorgesetzten. Dieser klammert sich in seiner sehr trivialen Geisteshaltung an tautologische Aussagen, z.B.: „Moral das ist wenn man moralisch ist, versteht Er (W, S. 155).“ Gelangen die beiden in ihrem Dialog aber wirklich an den Punkt intellektueller Auseinandersetzung, in dem Woyzeck sein uneheliches Kind mit biblischen Zitaten rechtfertigt, so unterbricht der Hauptmann den für ihn unverständlichen Dialog: „HAUPTMANN Was sagt Er da? Was ist das für 'ne kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort (W, S. 155).“ Der Hauptmann tritt Woyzeck aber auch ausgesprochen sadistisch gegenüber, was man durchaus als Reaktion auf dessen überlegene Denkfähigkeit deuten kann. So lüftet der Hauptmann das geheime Verhältnis von Marie und dem Tambourmajor:

[...]


[1] Vergl.: Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt am Main 1972, S. 187 [Im Folgenden zitiert als „Mayer: Büchner und seine Zeit“].

[2] Roland Borgards: Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2009, S. 299 [Im Folgenden zitiert als „Borgards: Handbuch“].

[3] Vergl.: Theo Elm: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart 2004, S. 14 [Im Folgenden zitiert als „Elm: Soziales Drama“].

[4] Vergl.: Ebda., S. 120.

[5] Vergl.: Hans Winkler: Georg Büchners „Woyzeck“. Bamberg 1925, S. 165 – 166 [Im Folgenden zitiert als „Winkler: Woyzeck“].

[6] Vergl.: David G. Richards: Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 188). Bonn 1989, S. 45 [Im Folgenden zitiert als „Richards: Interpretation und Textgestaltung“].

[7] Vergl.: Andrew Webber: Büchner, Woyzeck. In: Peter Hutchinson (Hg.): Landmarks in German Drama (Britische und irische Studien zur deutschen Sprache und Literatur). Oxford, Bern, Berlin u.a. 2002, S. 101 [Im Folgenden zitiert als „Webber: German Drama“].

[8] Vergl.: Christian Neuhuber: Georg Büchner. Das literarische Werk (Klassiker Lektüren 11). Berlin 2009, S. 143 [Im Folgenden zitiert als „Neuhuber: Literarisches Werk“].

[9] Vergl.: Davide Giuriato: „Anfang von Anfang“. Verfahren der Verdoppelung bei Georg Büchner (Woyzeck H 1/1). In: Frauke Berndt (Hg.): Amphibolie - Ambiguität – Ambivalenz. Würzburg 2009, S. 205 – 222.

[10] Vergl.: James Crighton: Büchner and madness. Schizophrenia in Georg Büchner's Lenz and Woyzeck. Lewiston, New York u.a. 1998.

[11] Vergl.: Alfons Glück: Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck. Stuttgart 2007, S. 187 [Im Folgenden zitiert als „Glück: Büchner“].

[12] Vergl.: Winkler: Woyzeck, S. 162 – 163.

[13] Das Werk „Woyzeck“ von Georg Büchner zitiere ich im Folgenden mit Seitenangabe im laufenden Text und der Sigle W nach der folgenden Ausgabe: Georg Büchner: Woyzeck. In: Henri Poschmann (Hg.): Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente (Bibliothek deutscher Klassiker 84). Frankfurt am Main 1992, S. 145 – 174.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Mordtat im „Woyzeck“ und seine Einstufung als soziales Drama.
Untertitel
„Er läuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die Welt.“
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Deutsches Seminar - Abteilung für Neuere Deutsche Literatur)
Veranstaltung
Proseminar: Vormärz
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
18
Katalognummer
V215951
ISBN (eBook)
9783656451129
ISBN (Buch)
9783656451556
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Georg Büchner, Woyzeck, Wozzeck, Soziales Drama, Vormärz, 1848
Arbeit zitieren
Fabian Rink (Autor:in), 2013, Die Mordtat im „Woyzeck“ und seine Einstufung als soziales Drama., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215951

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