H. Strunks „Fleisch ist mein Gemüse“, R. Schamonis „Dorfpunks“ und die Geschichte der Popliteratur

Ist Popliteratur tot?


Magisterarbeit, 2012

90 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Hauptteil

A. Pop
1. Begriffsgeschichte
2. Merkmale

B. Popliteratur im geschichtlichen Umfeld
1. Vorläufer, Einflüsse und Grundlagen
1.1 Dadaismus
1.2 Beat Generation
1.3 Pop Art
1.4 Postmoderne
2. Popliteratur

C. Popliteratur in Deutschland
1. Popliteratur Ende der 60er Jahre
2. Popliteratur in den 70er Jahren
3. Popliteratur in den 80er Jahren
4. „Neue Deutsche Popliteratur“. Die 90er Jahre
4.1 Die wichtigsten Werke
4.1.1 Kracht - Faserland
4.1.2 Stuckrad-Barre - Soloalbum
4.1.3 Henning von Lange - Relax
4.1.4 Goetz - Rave
4.1.5 Meinecke - Tomboy
4.1.6 Andreas Neumeister - Gut laut
4.2 Neue deutsche Popliteratur: Merkmale
5. Popliteratur ist tot
6. Zusammenfassung

D. Werkanalyse: Dorfpunks und Fleisch ist mein Gemüse
1. Inhaltsangabe
2. Textexterne Merkmale
2.1 Autor
2.2 Werk
2.3 Multimedialität
3. Formale Merkmale
3.1 Sprachgestaltung
3.2 Werkstruktur
3.2.1 Kapitellänge
3.2.2 Narrationsstruktur
3.3 Zeit der Narration
3.4 Erzählfigur
4. Inhaltliche Merkmale
4.1 Jugendliche Lebenswelt
4.2 Darstellung der Vergangenheit

E. Schlussbetrachtungen

Bibliografie

Anhang

Einleitung

Ende der 60er Jahre tauchte Popliteratur zum ersten Mal in Deutschland auf und rief Erstaunen, aber auch Ablehnung hervor. Trotz aller Widerstände wurde sie in den folgenden Jahrzehnten immer wieder sichtbar, bevor sie dann nach über dreißig Jahren scheinbar endgültig von der Bildfläche verschwand: 2001 erklärten Feuilleton und Kritiker die deutsche Popliteratur für „tot“.

Aber was ist Popliteratur überhaupt? Und ist sie Anfang des neuen Jahrtausends tatsächlich „gestorben“? In einer Vielzahl nach 2001 erschienener Werke finden sich nämlich scheinbar popliterarische Merkmale und es stellt sich die Frage, ob nach dem Tod noch bestimmte Schreibweisen weiterleben, oder ob die Todesverkündung gar verfrüht war und Popliteratur weiterhin existiert.

Um diese Fragen beantworten zu können, bedarf es eines umfassenden Verständnisses des Pop-Phänomens. Hierzu ist es notwendig, zuerst auf den Begriff des „Pop“ und auf die Vorgänger und Einflüsse der Popliteratur einzugehen und sich dann mit der geschichtlichen Evolution der Popliteratur in Deutschland zu beschäftigen. Bei der Darstellung der Entwicklungslinie seit den 60er Jahren sollen dabei einerseits die wichtigsten Popliteraten vorgestellt, andererseits anhand deren Werke Grundmerkmale popliterarischen Schreibens herausgearbeitet werden. Angesichts der Problemstellung liegt ein besonderes Augenmerk auf den 90er Jahren, da die Anknüpfungspunkte der zu analysierenden Werke Fleisch ist mein Gemüse und Dorfpunks zu diesem Jahrzehnt schon aufgrund der zeitlichen Nähe voraussichtlich am stärksten sein dürften.

Nach der Darstellung der wichtigsten Pop-Werke und der Herausarbeitung eines vorläufigen Merkmalkatalogs ist es dann möglich, die einige Jahre nach dem Tod der Popliteratur erschienenen Romane von Heinz Strunk und Rocko Schamoni auf popliterarische Kennzeichen hin zu untersuchen. Ziel ist, festzustellen, ob Fleisch ist mein Gemüse und Dorfpunks nur vereinzelte Pop-Merkmale aufweisen oder aber als genuine Popliteratur gelten können. Sollte letzteres der Fall sein, wäre mit der Analyse der beiden exemplarischen Werke nachgewiesen, dass Popliteratur keineswegs 2001 „gestorben“, sondern weiterhin Teil der deutschen Gegenwartsliteratur ist.

Hauptteil

Die Geschichte der Popliteratur ist eng mit der Geschichte der Popkultur verbunden, denn erstere konnte nur im Kontext von Pop Art und Popmusik entstehen. Dementsprechend muss in dieser Arbeit wie schon angedeutet kurz auf die Begriffsgeschichte, die Einflüsse und die Vorläufer von Popliteratur eingegangen werden, um das Phänomen in seinen situativen Bedingungen verstehen zu können.

A. Pop

1. Begriffsgeschichte

Bei der Analyse von Popliteratur stellt sich zunächst die Frage, was es mit dem Begriff „Pop“ überhaupt auf sich hat. Hier ist sich die Forschung weitestgehend einig. Der Begriff verweist primär auf das englische Wort popular[1], also populär. Während die deutsche Übersetzung aber eine leicht negative Konnotation („volkstümlich“) birgt, ist der englische Begriff wertfrei. Die Suche nach sprachgeschichtlichen Wurzeln ergibt, dass „populär“ vom lateinischen populus (das Volk) abstammt - „Pop“ lässt sich dementsprechend übersetzen mit: „was dem Volk gefällt“. Die Literatur­wissenschaftlerin Mehrfort merkt aber zu Recht an, dass Pop keineswegs nur den Massengeschmack repräsentiert, sondern - gerade in der Anfangsphase - immer auch Provokation war.[2] Im Laufe der Jahrzehnte führte der Weg des Pop dann aber tatsächlich von der Unangepasstheit hin zur Massengefälligkeit[3], ein Wandel, der besonders in der untrennbaren Verbindung von Popliteratur und Kommerz in den 90er Jahren deutlich wird.

Neben der Verbindung zwischen „Pop“ und popular besteht eine weitere zum Verb to pop out, welches sich mit „aufplatzen“ oder „knallen“ übersetzen lässt und „Aufmerksamkeit erregend“ und „neu“ impliziert.[4] Der „pop“-Laut verbildlicht das oft knallige und extrovertierte Auftreten von Pop-Kunst sowie ihren Hang zur Inszenierung.

Der Begriff des Pop tauchte in der Kulturlandschaft zwar gelegentlich schon früher auf, größere öffentliche Relevanz erfährt er aber erstmals in den 50er Jahren im Zuge der sogenannten Pop Art, welche „die erste künstlerische Spielart des Pop“[5] darstellte.[6] Als Analogiebildung zum Begriff „Pop Art“ wurde dann Ende der 60er Jahre vom amerikanischen Medientheoretiker Leslie A. Fiedler der Terminus der „Popliteratur“ entwickelt. Fiedler wollte damit vor allem die Literatur der Beat Generation bezeichnen, daneben aber auch explizit eine Verbindung zur Pop Art, welche Alltagsgegenstände zu Kunst erhob, herstellen.[7]

Anzumerken ist, dass der Pop-Begriff durch die Pop Art einen Bedeutungs­wandel erfuhr und seitdem nicht mehr nur eine bestimmte Popularität und ein knalliges Auftreten[8], sondern auch das Pop Art -typische Spiel mit Oberflächen, die „Neucodierung massenkultureller Signifikanten“[9] impliziert. Pop wird zum Namen „eines künstlerischen Verfahrens, welches das Rearrangement von Oberflächen zum Inhalt hat“[10] - ausgehend von der Pop Art wird die Oberflächen­affinität zu einem Hauptmerkmal der Popkunst.

2. Merkmale

Wie bereits angedeutet ist Pop im Kulturbetrieb[11] zuallererst ein „Spiel mit vorgefundenen Oberflächen“[12]; ein Zitieren, bei dem das verwertete Material meist aus der Alltagskultur und der uns umgebenden Konsumwelt stammt. Der Begriff des Spiels impliziert, dass Popkunst die Oberflächen nicht einfach nur wiedergibt, sondern spielerisch transformiert. Durch diese Transformation erfährt die zitierte Konsumwelt eine Umdeutung, welche sich wohl am besten am konkreten Beispiel darstellen lässt. So bildete der Pop Art -Künstler Andy Warhol dutzende Suppendosen der Marke Campbell nebeneinander ab und erzeugte damit eine serielle Anordnung, die man durchaus als reines Zitat ohne tieferen Sinn verstehen kann. Sinnvoller scheint aber, in der massenhaften Darstellung der Dose ein Abbild und gleichzeitig eine Kritik der uns umgebenden Warenwelt zu sehen, da durch die Kontextverschiebung (aus der Werbung in die Museen) und die serielle Anordnung eine gewisse Verfremdung stattfindet.

Da Popkunst grundlegend auf der Zitation vorgefundener Medien beruht, erweist sie sich zwangsläufig als höchst intertextuell[13] - Pop ist stets ein Weiterverwerten und ein Vermischen von verschiedenen Quellen.

Interessanterweise ist der Begriff „Pop“ nicht besonders beständig. In jedem künstlerischen Bereich und in jedem Jahrzehnt erfährt er leichte inhaltliche Verschiebungen und es gibt bis heute keine verbindliche Definition von Popkultur:

„Pop ist […] nur als labile kulturelle Formation zu beschreiben, die sich als ein variierender Verbund aus jeweils ganz spezifischen Pop-Songs, Kleidungsmoden, Filmen,
(Selbst-)Inszenierungspraktiken und bisweilen auch subkulturellen Ideologien in wechselnden Filiationen immer wieder von neuem konstituiert.“[14]

Unter diesen Voraussetzungen erscheint es sinnvoll, die Merkmale der Popliteratur nicht allgemein, sondern jeweils im Rahmen eines Jahrzehnts anhand der wichtigsten Werke herauszuarbeiten. Bevor wir uns aber mit der Popliteratur selbst beschäftigen, soll zur besseren Übersicht im folgenden Kapitel eine kurze Darstellung ihrer Vorläufer und Einflüsse erfolgen.

B. Popliteratur im geschichtlichen Umfeld

1. Vorläufer, Einflüsse und Grundlagen

Die in den 60er Jahren erscheinende Popliteratur steht als literarische Richtung nicht völlig isoliert in der Zeitgeschichte, sondern wurde in ihren Ideen und Verfahren durch zahlreiche Vorläufer geprägt. Um die Entstehungsbedingungen der Popliteratur nachvollziehen zu können erscheint es deshalb sinnvoll, sich im Vorfeld kurz mit ihren Vorläufern und Einflüssen zu beschäftigen.

Zuerst soll dabei auf die Dadaisten eingegangen werden, bei welchen sich - im Zuge der Weltkriege und der unbefriedigenden Gegenwart - erstmals eine ablehnende Haltung gegenüber der selbsterklärten Hochkultur[15] fand.

1.1 Dadaismus

Die Dadaisten entwickelten ab 1916 innovative künstlerische Formen und nahmen neue Inhalte in die Kunst auf, womit sie einen der Grundsteine der späteren Popkultur legten. Zu den einflussreichsten Künstlern zählen Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Tristan Tzara, die Brüder John Heartfield und Wieland Herzfelde sowie in den USA unter anderem Marcel Duchamp, Man Ray und Francis Picabia.

Desillusioniert durch den ersten Weltkrieg wagten sie als Erste den Versuch einer Antikunst und setzten den traditionellen Werten und Idealen „eine Literatur der Sprachzerstörung und Formenzertrümmerung“[16] entgegen. Sie riskierten künstlerische Experimente und rückten den Zufall, die Destruktion und den Nonsens in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Es ging also dezidiert nicht mehr um das Erzeugen sinnvoller Zusammenhänge, sondern im Gegenteil um die Zerstörung ebensolcher.[17] Kunst wurde durch Antikunst ersetzt, Sinn durch Un-Sinn, Unterhaltung durch Provokation[18] – der Dadaismus zerstörte alte Kunstideale.

Hugo Ball trug Gedichte vor, die nur noch aus unterschiedlichen Lauten zusammengesetzt waren, andere Autoren rezitierten Simultangedichte, die aus Silben, Geräuschen und Geschrei bestanden und Huelsenbeck verband seine Vorträge mit Sportübungen und nannte ein Gedicht dementsprechend „poème gymnastique“.[19] An diesen wenigen Beispielen wird bereits klar, dass die Dadaisten versuchten, die Grenzen der Kunst auszuloten. Ein Zusammenhang mit der später auftauchenden Popkultur und Popliteratur lässt sich unter anderem in der Performativität der Literaturvorträge erkennen – Huelsenbeck macht auf der Bühne Sport, Goetz schneidet sich einige Jahrzehnte später vor Publikum die Stirn auf, und in den 90er Jahren wird die Performance zu einem wichtigen Teil jedes popliterarischen Vortrags. Bei Stuckrad-Barre[20] hat die Lesereise nichts mehr mit ernsten und ermüdenden Abenden in grauen Bücherläden zu tun, sondern Lesen wird zum Event und der Abend wie eine Rock-Show geplant und durchgeführt, inklusive Licht, Sound und Effekten.

Neben der Show-Affinität ist es auch der „spielerische Umgang mit Banalitäten des Alltags“[21] des Dadaismus, der Verbindungen zur Popkultur aufdeckt und Assoziationen an den ersten deutschen Popliteraten Rolf Dieter Brinkmann generiert. Jener forderte, dass Literatur die aktuellen Lebensumstände und die Umwelt der Menschen mit einbeziehen müsse, also das tagtägliche Geschehen nicht aus der Literatur verbannen, sondern gerade einbinden solle.

Von den Dadaisten wurde der Alltag unter anderem in Form von Fotomontagen festgehalten, wie sie die Brüder Heartfield / Herzfelde kreierten, indem sie aus „alltäglichen Gegenständen, Schlagzeilen, Zeitungen, Plakaten, Parolen, Postkarten und Flugblättern“[22] Collagen erstellten. Bei diesen Collagen ging es vorgangsbedingt weniger um die kreative (Eigen-)Idee, als vielmehr um den kreativen Umgang mit vorgefundenem Material.[23] Die hier stattfindende Zitation von Fremdmaterial erinnert ebenfalls an Popkunst und Popliteratur im Besonderen, denn auch Brinkmann und seine popliterarischen Nachfolger nutzten das Verfahren des Zitierens mithilfe von Collagen. Erwähnenswert ist des Weiteren, dass die Verwendung von Alltagsmaterial wie bei Brinkmann schon bei den Dadaisten als Protest gegen die Warenwelt gelesen wurde.

Im Anschluss an die Dada -Bewegung entwickelte Marcel Duchamp in New York das Readymade: Gebrauchsgegenstände konnten nun allein dadurch zu Kunst werden, dass sie vom Künstler als solche deklariert wurden. Eines seiner bekanntesten Werke ist ein Urinal, das Duchamp unter dem Titel Fountain ausstellen wollte – der Versuch, dieses Alltagsobjekt als Kunst zu deklarieren, schlug zwar fehl[24], sicherte ihm jedoch mediale Aufmerksamkeit und machte Duchamp als Erfinder des Readymade berühmt. Durch das Experiment der Integration von Alltagsgegenständen in die Kunst wurde die Abgrenzung zwischen Hoch- und Alltagskultur in Frage gestellt - erst aus der Idee des Readymade konnte sich die Pop Art entwickeln.

Mehr noch als der Einfluss des Dadaismus spielt jedoch jener der Beat-Literatur für die deutsche Popliteratur eine Rolle, denn die Entstehung der letzteren beruht auf einer allgemeinen Amerikanisierung der deutschen Kultur, welche sich anfangs vor allem durch das Interesse an amerikanischer Musik und Hollywood-Filmen, später auch anhand der Vorbildfunktion literarischer Werke aus England und Amerika für deutsche Schriftsteller zeigte.[25] Die Beat-Bewegung legte das Fundament, auf dem Brinkmann aufbauen konnte.

1.2 Beat Generation

Die Literatur der Beat Generation der 50er und 60er Jahre gilt als direkter Vorgänger der Popliteratur. Sie erreichte Ende der 50er Jahre ihren Höhepunkt und ging Mitte der 60er Jahre in die Underground- beziehungsweise Pop-Bewegung über.

Der Begriff „Beat“ stammt aus der Feder William S. Burroughs‘ und bezeichnete einen kleinen Kreis von New Yorker Schriftstellern, dem vor allem Burroughs, Jack Kerouac, Allen Ginsberg und Neal Cassady angehörten.[26] Als wichtigste Werke der Beat-Poeten gelten Kerouacs Reisebericht On the road (Unterwegs, 1957), Burroughs‘ Drogenroman Naked Lunch (1959) sowie das Langgedicht Howl (Geheul, 1956) von Allen Ginsberg, im Umfeld der Beat-Poeten ist außerdem Salingers bereits 1951 erschienenes Werk The catcher in the rye (Der Fänger im Roggen) erwähnenswert.

Die meisten Beat-Literaten sahen sich selbst als gesellschaftliche Außenseiter; sie nahmen Drogen und besaßen nur wenig Geld. In ihren Werken übten sie Kritik am amerikanischen Traum und beschäftigten sich überwiegend mit Themen, die sie auch persönlich betrafen: Außenseitertum, Drogenerfahrungen, Sexualität. Vor allem Burroughs‘ und Kerouacs Figuren waren wie sie selbst Suchende und die zumindest partiell autobiografischen Werke nahmen aufgrund der authentischen Schilderungen - wie später bei Brinkmann - teilweise dokumentarischen Charakter an. Die Autoren schrieben „oft unverhüllt über die eigenen Sex-, Drogen- oder auch Elends­erfahrungen“[27], wobei ihre unverblümte Sprache und ihre unkonventionellen Inhalte häufig schockierend wirkten und zu einigen Zensurprozessen führten. Die Beat-Literatur war vor allem eine zornige Literatur, die sich gegen die Hochkultur und gegen die Arroganz der Bourgeoisie wandte, und die Autoren verwendeten in einem bislang unbekannten Ausmaß Slang, Umgangssprache, obszöne Ausdrücke und Jargon aus der Jazzmusik.

Neben den inhaltlichen Innovationen kam es auch bei den Leseabenden zu literaturhistorischen Neuerungen. Das öffentliche Lesen spielte in der Beat-Literatur eine wichtige Rolle und die Aufführungen entwickelten sich, ähnlich wie bei den Dadaisten um Hugo Ball, zu wahren Events, bei denen die Inszenierung zu einem wichtigen Parameter wurde. Die von den Literaten geforderte „‚Befreiung‘ der Sprache von tradierten literarischen Mustern hin zu einer freien Improvisation nach dem Vorbild der Jazzmusik eines Charlie Parkers oder Miles Davis“[28] wusste vor allem Kerouac umzusetzen, indem er seine Lesungen mit Jazzmusik verband und proklamierte, dass man, ähnlich wie beim Jazz, eine Mitteilung innerhalb eines Atemzuges kundgeben können müsse.[29] Erstmalig fand zwischen einer Literatur­bewegung und einem Musikstil eine derart enge Verbindung statt.

Einige Merkmale der Beat-Literatur lassen sich auch in der Popliteratur wiederfinden. Die Verwendung von Umgangssprache, die Thematisierung von alltäglichen Problemen und Alltagskultur sowie der performative Charakter der Auftritte sind verbindende Elemente, daneben wird durch die Darstellung von Alltagskultur bereits implizit die von Fiedler Jahre später geforderte Verschmelzung von high- und low-culture[30] erprobt. Während sich die Beat-Literatur aber zornig, rebellisch und konsumkritisch gab, „zeichnet sich Pop-Literatur durch eine stärkere Hinwendung zur Populär- und Massenkultur aus“[31].

In Deutschland wird die US-Beatliteratur ab 1959 rezipiert, als Vorreiterin gilt die Anthologie ‚Junge amerikanische Literatur‘ von Walter Hasenclever. Ab Anfang der 60er Jahre taucht dann vermehrt amerikanische Beat-Literatur in Deutschland auf und mit der Hinwendung deutscher Literaten zur modernen US-Literatur geht eine kulturelle Orientierung nach Amerika einher[32], die für die spätere Entwicklung der Popliteratur in Deutschland nicht unwichtig ist. Rolf Dieter Brinkmann sieht in den Beat-Poeten „die Pioniere der Integration von populärer Kultur in die Literatur“[33] und somit gleichzeitig die Vorbilder der Popliteraten.

1.3 Pop Art

Neben dem Dadaismus und der Beat-Literatur findet sich in der Pop Art der dritte wichtige Wegbereiter der Popliteratur.

Ab Mitte der 50er Jahre fand in den USA und Großbritannien eine kulturelle Revolution statt. Im Anschluss an Dada und das Readymade wagten Künstler wie Andy Warhol oder Roy Lichtenstein, Gegenstände der Alltagswelt zu Kunst zu erheben und die Mauer zwischen hochkulturellem Kunstmilieu und Massenware zu durchbrechen. In der Pop Art stand der kritische Gestus von Pop im Vordergrund, die scheinbare Affirmation der Oberflächen war meist gleichzeitig eine Kritik an der uns umgebenden Konsumwelt.

Die Verbindung zwischen Pop Art und Dadaismus war von Anfang an unübersehbar, denn die Erstgenannte übernahm explizit Ideen der Dadaisten wie zum Beispiel das Readymade -Konzept, bei dem banale Alltagsgegenstände u. a. durch Verfremdung in die Kunst überführt wurden.[34] Aus diesem Grund wurden die ausgestellten Alltagsgegenstände zu Beginn manchmal als „Neo-Dada“ bezeichnet und erst durch die pop-typische Verengung des Blickfeldes auf massenproduzierte Waren konnte es der neuen Kunstrichtung gelingen, sich als eigenständiges Gebilde mit dem Namen „Pop Art“ zu etablieren.[35]

Die wichtigsten Pop Art -Künstler waren Andy Warhol, Roy Lichtenstein und James Rosenquist. Warhol verwendete vor allem Motive bekannter Markenartikel (Coca-Cola -Flaschen, Campbells -Suppen, Elvis Presley, Marilyn Monroe - auch Stars sind Marken), während Lichtenstein neben Reklamen oft auch Comics als Grundlage seiner Werke nutzte und Rosenquist auf riesigen Plakaten Objekte der Alltags- und Konsumwelt kombinierte.

Die Pop Art -Künstler waren weniger kreative Schöpfer als vielmehr Verwerter von vorgefundenem Material. Sie setzten Bekanntes in ein neues Umfeld oder versuchten, durch Collagen Alltägliches auf eine bisher ungesehene Weise zusammenzubringen. Wesentliches Merkmal der Pop Art ist dabei, dass die Werke Massenprodukte zeigen und zitieren. Es handelt sich aber nicht um die Repräsentation von echten Gegenständen, sondern stets um „Reproduktionen von bereits in technischen Medien verbreiteten ‚anonymen Abbildungen unserer jüngsten Geschichte‘“[36]. Gerade dies wird oft übersehen – Pop Art versuchte nie, Gegenstände der Warenwelt (Warhols Suppendose) beziehungsweise Massenkultur (Warhols Monroe) abzubilden und zu glorifizieren, sondern präsentierte uns stets bereits medial vermittelte Inhalte. Warhols Suppendose ist keine Abbildung einer realen Suppendose, sondern einer Werbeanzeige zu ebendieser Suppendose, und ebenso basiert Warhols Version von Marilyn Monroes Gesicht nicht auf einem realen Foto der Film-Ikone, sondern Monroe gleicht in Warhols Darstellung eher einem Pin-Up-Model. Zu diesem Schluss kommt auch Schäfer:

„Pop-Art [sic] operiert also – und dies ist eine entscheidende Parallele zur Pop-Literatur – auf der Ebene der Signifikanten, indem sie die Zeichenhaftigkeit der ‚sekundären Realität‘ reflektiert, sie ist somit eine Kunst, die nicht einfach Originale, sondern die Reproduzierbarkeit selbst reproduzierte‘.“[37]

Das Verhältnis zwischen Pop Art und der Konsumwelt ist ein doppelseitiges: Auf den ersten Blick scheint die Beziehung eine rein affirmative zu sein; es entsteht der Eindruck, dass die dargestellten Produkte glorifiziert werden. In der massenhaften Abbildung von Ikone und Werbebildern liegt aber, neben aller oberflächlichen Affirmation, gleichzeitig eine ironische Haltung gegenüber der Warenwelt, die sich eben dadurch offenbart, dass nicht die Produkte selbst, sondern die Werbung zu den Produkten abgebildet wird – und zwar massenhaft. Am deutlichsten zeigt sich die ironische Haltung gegenüber der Werbeindustrie bei Warhol, der seine Suppendosen gleich dutzendweise nebeneinander positioniert – und damit gerade eines der Hauptcharakteristika der Werbung, nämlich das Element des Wiederkehrenden, herausstellt. Die Künstler der Pop Art verstehen sich nicht als Realisten, sie versuchen nicht die empirische Wirklichkeit wiederzugeben, sondern sie befassen sich mit der „bereits medial vermittelten Realität“[38] und wollen durch eine möglichst plakative Darstellung auf die Oberflächlichkeit der Konsumwelt aufmerksam machen.

Das kritische Potenzial der Pop Art wurde aber oft – bewusst oder unbewusst – übersehen, was auf die rein affirmativen, ungebrochenen Oberflächen zurück­zuführen ist. Genau wie in der Popliteratur der 90er Jahre, auf die wir noch zu sprechen kommen, sieht man die versteckte Ironie und Systemkritik des Kunstwerkes nur, wenn man bereit ist, dem Künstler ein gewisses Reflexionsniveau zuzugestehen und einen Blick hinter die Oberflächen zu werfen. Die mangelnde Hochachtung für die Pop Art wurde aber zum Teil auch durch den Lebensstil mancher Künstler bedingt. So erscheint zum Beispiel Warhols Konsumkritik wenig glaubwürdig, wenn er sich gleichzeitig zum medialen Superstar aufschwingt.

Wie schon erwähnt nahm die Pop Art also Gegenstände der Massenkultur auf, verfremdete diese und brachte sie in die Museen. Indem sie Massenkultur in Museen platzierte, gelang ihr nun en passant die von Fiedler geforderte Schließung des Grabens zwischen high und low, zwischen Hoch- und Massenkultur. Durch die neuen, populären Inhalte wendet sich die Kunst nicht mehr ausschließlich an ein gebildetes Bürgertum, sondern steht den Massen offen. Pop Art ist explizit als Kunst für ein Massenpublikum konzipiert und in Korrelation dazu waren die meisten Kunstwerke billig, massenproduziert und beliebig oft vervielfältigbar. Die Pop Art sorgte mit ihren Werken dafür, dass sich die Kunst aus ihrer akademischen Erstarrung löste und gegenüber der modernen Fernseh- und Konsumwelt öffnete - mit „Pop“ zog der Spaß in die Kunst ein. Pop Art war - neben aller Kritik - witzig und amüsant, was dazu führte, dass der Begriff „Pop“ seitdem meist Unterhaltung impliziert. So wurde auch die Popliteratur, besonders in den 90er Jahren, als Unterhaltungslektüre wahrgenommen.

Die Verbindungen zwischen Pop Art und der späteren Popliteratur sind offensichtlich. Neben der allgegenwärtigen Technik des Zitierens von bereits vorgegebenem Material und der Arbeit an Collagen lässt vor allem die Art des zitierten Materials - Massenprodukte - Parallelen erkennen. Auch traf beide wiederholt der Vorwurf der „Oberflächlichkeit“, da sie bevorzugt mit Oberflächen arbeiteten.

1.4 Postmoderne

Neben den Vorläufern und Ideengebern der Popliteratur soll hier auch kurz auf die Postmoderne eingegangen werden, da Popliteratur ohne letzere kaum vorstellbar ist.

Der Begriff der „Postmoderne“ wurde von Fiedler in die Medientheorie eingeführt und gerade Fiedlers Aussagen in seinem berühmten Essay Cross the Border – Close the Gab sollen uns hier beschäftigen. Der Essay basiert auf einem 1968 in Freiburg gehaltenen Vortrag, welcher Fiedlers Position als „einflussreichste[r] Theoretiker seiner Zeit von Popliteratur und Postmoderne in Deutschland“[39] begründete. Interessant ist dabei, dass die von ihm verkündete Popliteratur zu diesem Zeitpunkt vor allem in Deutschland noch kaum existierte[40] und auch seine Thesen kaum Zuspruch fanden. Einzig Brinkmann stellte sich offen auf Fiedlers Seite.

Fiedlers wichtigste Forderung war die nach einer „ Enthierarchisierung der Literatur“[41], womit er keineswegs eine Nivellierung zwischen „hoher“ und „niederer“ Literatur, sondern vielmehr eine Entdifferenzierung und Verschmelzung zwischen beiden meinte.[42] Die hohe Kunst soll nicht zur niederen herabsinken, sondern in der Verbindung soll die Auflösung von high und low stattfinden. Im Zuge dieser Enthierarchisierung fordert er die „Öffnung hin zur Massen- und Unterhaltungskunst“[43], wie sie die Pop Art umsetzt. Erst durch die Öffnung der Kunst gegenüber der Alltagskultur konnte Pop als ein derart prägendes Phänomen entstehen[44] – aber gleichzeitig öffnete sich die Kunst erst durch Pop der Alltagskultur.

Im Bereich der bildenden Kunst gelang der Pop Art die Enthierarchisierung der Kunst, auf dem literarischen Feld steht dieses Verdienst der Beat-Literatur zu: die „provokative, antirationale und zum Teil pornographische Literatur eines Allan Ginsberg, eines Jack Kerouac, eines William S. Burroughs und anderer [konnten] das elitäre (Selbst)Verständnis der Literatur auf revolutionäre Weise verändern“[45] und zur Vereinigung von Hoch- und Alltagskultur führen. So gelingt es in der Postmoderne, den „Elitismus der Moderne“[46] zu überwinden und die Kunst aus dem Elfenbeinturm zu holen. Die Auflösung der Hierarchien muss dabei keineswegs, wie oft befürchtet, zu einer Entwertung oder Banalisierung der Kunst führen. Im Zusammenhang mit der Enthierarchisierung der Kunst und der Orientierung an der Masse steht aber die Tatsache, dass die Kunst der Postmoderne sehr oberflächenorientiert arbeitet - prägnante visuelle Details gewinnen an Bedeutung und es lässt sich eine deutliche „Affinität zu ästhetischen Phänomenen“[47] feststellen.

Ein weiteres Charakteristikum der Postmoderne ist ein „grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verfahrensweisen“[48], also die „Abwesenheit von Leitideen“[49] und eine gewisse Toleranz gegenüber anderen Standpunkten. Dieser gesellschaftliche Pluralismus bedeutet einerseits eine totale Freiheit, andererseits aber auch einen Verlust von verbindlichen Handlungsanweisungen und Verhaltenssicherheiten. Das Abhanden­kommen normierter Handlungsmuster und die daraus resultierende soziale Unsicherheit und Orientierungslosigkeit werden spätestens in den 90er Jahren zu Leitmotiven der Popliteratur.

Mit der Pluralität geht im Literaturbetrieb ein zweiter Aspekt einher. Die postmoderne Literatur gilt als „Babel der Zitate“[50] – es wird, wie bei der Pop Art, kaum noch neu erschaffen, sondern vor allem zitiert. Jeder Text nimmt Bezug auf andere Texte, kein Text steht mehr für sich allein und das geistreiche Zitat wird zum ausgewiesenen künstlerischen Ziel.[51] Der bildende Künstler, Literat und Musiker erschafft nicht mehr durch einen kreativen Schöpfungsakt Neues, sondern er bedient sich vorhandener Ideen und Gedankenkonstrukte und integriert diese in einen neuen Zusammenhang. Das schöpferische Genie wird ersetzt durch den „Zitierer“ und der Künstler „sampelt“ nur noch vorhandenes Wissen.[52] In der Postmoderne an Wichtigkeit gewinnende Stilmittel sind dementsprechend die Collage, das Zitat und das Sample[53].

Nach dieser überblicksartigen Darstellung der Vorläufer und Zeitbedingungen soll im Folgenden nun die Popliteratur selbst in den Blick genommen werden.

2. Popliteratur

Popliteratur entstand im Anschluss an die Beat- und Underground-Literatur zuerst in Amerika und England und wurde unter anderem von Rolf Dieter Brinkmann nach Deutschland importiert, wo die Anfänge einhergehen mit einer allgemeinen Amerikanisierung der Populärkultur. Popliteratur wurde zunächst dezidiert als amerikanisches Phänomen wahrgenommen und ihr Auftauchen fällt in Deutschland, im Gegensatz zu den USA, zeitlich mit der antiautoritären Bewegung der 68er und der „Emanzipationseuphorie der späten sechziger Jahre“[54] zusammen.

Zwischen Dadaismus, Beat-Literatur, Pop Art und Popliteratur lassen sich - wie schon mehrfach angedeutet - vielfältige Bezüge herstellen. Wie die Dadaisten fordern die Popliteraten eine Erneuerung des Literaturbetriebs und setzen auf einprägsame Live-Inszenierungen, wie in der Pop Art liegt das Augenmerk auf der Waren- und Konsumwelt und wie bei der Beat-Literatur steht die uns umgebende Alltagswelt im Mittelpunkt. Im Gegensatz zum Begriff der Beat-Literatur, unter dem man die aggressive Außenseiterliteratur der amerikanischen Autoren Ende der 50er Jahre versteht, steht Popliteratur aber für alles Neue und Attraktive in den 60er Jahren.[55] Beiden gemeinsam sind zwar die einfache, umgangssprachliche Ausdrucksweise sowie die Darstellung von Alltagskultur, die Popliteratur konzentriert sich jedoch nicht mehr auf soziale Außenseiter, sondern auf Inhalte der Populärkultur wie Musik, Film und Konsumwelt.

Daneben versucht die Popliteratur analog zur Pop Art, auf kultureller Ebene high und low zu vereinen, indem sie Elemente aus der hohen und der niederen Literatur zusammen­bringt:

“Als Element der kanonisierten ‚Hohen Literatur‘ kann beispielsweise der Umgang mit der problematischen Individualität [zumindest bei Soloalbum und Faserland ] angesehen werden; die Verwendung eines vor allem für junge Leser zugänglichen Sprachniveaus im Spektrum zwischen Alltags- und Jugendsprache lässt eine unterhaltungsliterarische Herkunft erkennen“[56].

Erklärtes Ziel der Popliteratur ist es, „die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur aufzulösen und damit auch Themen, Stile, Schreib- und Lebensweisen aus der Massen- und Alltagskultur in die Literatur aufzunehmen“[57]. Damit einher gehen die Kritik am Schreibstil der traditionellen Literatur und das Engagement für eine authentischere Sprache.[58] Die Popliteratur verkörpert die von Fiedler geforderte „antiseriöse Literatur“[59], welche „die Brücke zur Massenkultur schlagen [soll]“[60], indem sie mit den überkommenen literarischen Traditionen bricht, ein „affirmatives Verhältnis zum alltäglichen Material“[61] entwickelt und wie die Pop Art Gegenstände der Medien- und Warenwelt in der Kunst darstellt.

Die Gemeinsamkeiten mit der Pop Art gehen noch weiter, denn wie jene übt die Popliteratur neben offener Rebellion durch die reine, unkommentierte Darstellung der Zustände auch versteckte Kritik. Die vermeintliche Affirmation kann als Zurschaustellung der Missstände gesehen werden und oft lassen sich die Pop-Texte - je nach Rezeption - entweder als pop-typische Affirmation oder aber als Kritik lesen.

Außer diesen inhaltlichen Merkmalen übernahm die Popliteratur auch formale Besonderheiten der Pop Art wie die Techniken der Collage und Montage.

C. Popliteratur in Deutschland

Die Rezeption der modernen amerikanischen Literatur erfolgte in Deutschland ab dem Jahre 1959, als Höllerer und Bender die amerikanische Beat-Literatur in Deutschland vorstellten.[62] 1960 gab Höllerer das Werk Junge Amerikanische Lyrik heraus und in den 60er Jahren kam es dann zu einer relativ „intensiven Rezeption der Beat-Literatur in Deutschland“[63], die den Boden für Brinkmanns Projekt bereitete, ab Ende der 60er Jahre die amerikanische Pop- und Underground-Literatur in Deutschland bekannt zu machen. Erst durch Brinkmann wird die amerikanische Literatur größeren literarischen Kreisen bekannt.

Ackermann zufolge gilt 1968 als „Gründungsjahr der deutschsprachigen Pop-Literatur“[64]; Mehrfort stellt fest, dass die „englischsprachige Popliteratur […] um 1968 in der Bundesrepublik [ankam]“[65]. Allein anhand dieser beiden Aussagen wird bereits ersichtlich, welch enger Zusammenhang am Anfang zwischen der englischsprachigen und der deutschen Popliteratur bestand: Die ersten Texte der „deutschsprachigen Popliteratur“ waren de facto Übersetzungen amerikanischer oder britischer Literatur, wie wir sie in Brinkmanns ACID finden. Erst aus der Rezeption internationaler Beat- und Popliteratur konnte sich dann eine eigenständige deutschsprachige Popliteratur entwickeln.

Der Begriff „Popliteratur“ tauchte dabei in Deutschland erst relativ spät auf. Während seit Mitte der 60er Jahre eine neue rebellische Literatur in Deutschland zu beobachten war, wurde diese literarische Gattung bis 1969 als „Underground“ bezeichnet und erst Brinkmann führte den Begriff der „Popliteratur“ in Deutschland ein.[66] Er war aber nicht nur für die Begriffsbildung in Deutschland verantwortlich, sondern legte durch seine Anthologien Ende der 60er Jahre auch den Grundstein der deutschen Popliteratur.

Wie die schwierige Unterscheidung zwischen den Termini „Underground“- und „Pop“-Literatur sowie der Übergang zwischen beiden bereits zeigt, war der Begriff „Popliteratur“ von Anfang an von definitorischen Mängeln begleitet. Er bleibt auch über die Jahrzehnte ein ambivalenter Begriff, mit dem sich nicht alle anfreunden konnten. So standen unter anderem Fichte und Chotjewitz der Titulierung reserviert gegenüber, da „Popliteratur“ seit der Anfangszeit ein „eher schwammige[s] Etikett“[67] darstelle.

Dass die neue Literatur trotzdem Erfolg hatte, lag unter anderem daran, dass die Popliteratur den jungen Autoren Ende der 60er Jahre und in den 70er Jahren eine Möglichkeit bot, ihrem Protest an der nationalsozialistischen Elterngeneration Ausdruck zu verleihen.[68] Popliteratur war von Anfang an Gegen-Kultur, da sie sich den überlieferten Konventionen (der Eltern sowie des Literaturbetriebes) widersetzte und neue Kunstformen etablierte. Die Arbeit mit Objekten der Massenkultur erfolgte keineswegs unreflektiert: Wenn die Popliteratur Werbetexte, Filme, Comics oder Konsumgegenstände zitierte, geschah dies stets auf ironisch-kritische Weise. Popliteratur war in ihren Ursprüngen anarchistisch und wendete sich, ganz im Zeichen der 68er, gegen alle Autoritäten. Wie wir sehen werden, ist diese rebellische Grundhaltung in der Popliteratur der 90er Jahre nicht mehr zu finden; statt Auflehnung und Anarchie finden wir hier Konsum, Leere und Orientierungslosigkeit.

1. Popliteratur Ende der 60er Jahre

Rolf Dieter Brinkmann gilt als Initiator der deutschen Popliteratur. Ende der 60er Jahre brachte er als Erster amerikanische Pop- und Beat-Literatur erfolgreich nach Deutschland und entwickelte sich zugleich zur zentralen Figur der neuen Literatur. Der Begriff der „Popliteratur“ war dabei zu diesem Zeitpunkt noch kaum geläufig und die Autoren sahen sich vielmehr als Nachfolger der Beatniks denn als Popliteraten. Die Etablierung des Pop-Begriffs erfolgte erst langsam, die Bezeichnung wird heute aber meist rückwirkend auch auf die literarischen Anfänge in Deutschland angewandt.[69] Auch das tatsächliche öffentliche Interesse an der neuen Literatur Ende der 60er Jahre wird heute oft überschätzt. Der Schriftsteller und Zeitzeuge Hadayatullah Hübsch korrigiert, dass die Popliteratur „[in] der Wahrnehmung des gehobenen Feuilletons […] damals keine wesentliche Rolle“[70] gespielt hat, und führt weiter aus: „Die große Veränderung hat durch Brinkmann oder ähnliche Leute überhaupt nicht stattgefunden. Wir waren marginal.“[71] Aus heutiger Sicht geht man meist vereinfachend davon aus, dass um 1969 mit Brinkmanns Veröffentlichungen eine deutlich unterscheidbare neue literarische Richtung entstand, die als Popliteratur bezeichnet wird.

Brinkmanns pophistorisch wichtigste Werke sind seine Anthologien ACID. Neue amerikanische Szene (mit Ralf-Rainer Rygulla) und Silver Screen. Neue Amerikanische Lyrik, die beide 1969 erschienen sind und den Grundstein für eine tiefer gehende Beschäftigung mit dem amerikanischen Phänomen der Underground­-Literatur legten. Beide Veröffentlichungen gelten als Prototypen der neuen Literatur und ACID wurde rasch „zum wichtigsten Dokument der literarischen Subkultur der späten sechziger Jahre“[72]. In der Veröffentlichung finden sich unter anderem Übersetzungen von Gedichten, Prosatexten, Essays und Comic-Strips sowie Zeichnungen, Collagen, Fotografien und Interviews. Es handelt sich also sowohl um literarische als auch theoretische Texte und vertreten sind u. a. Frank O’Hara und Ted Berrigan.[73] Das kurz nach ACID erschienene Silver Screen beschäftigt sich bei gleicher Schwerpunktsetzung mit Lyrik.

Eines der wichtigsten neuen Stilmittel, die Collage, tritt hier zum ersten Mal im deutschen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit auf. Neben den Texten finden sich scheinbar wahllos montierte Verknüpfungen von Motiven aller Art. Diese anfangs unerhörte Verbindung von Texten, Comics und Fotografien entwickelte sich schnell zu Brinkmanns Markenzeichen und wurde von vielen späteren Popliteraten übernommen.[74]

Die Texte in Silver Screen und ACID sind durch ihren Fokus auf der Alltags- und Popkultur verbunden. Die Konsum- und Warenwelt wird explizit thematisiert und die stattfindende Darstellung ist keine rein affirmative, sondern geprägt durch eine negative Sicht auf „den trostlosen Alltag des Einzelnen, wie auch die falschen Versprechungen der allgegenwärtigen Werbeindustrie und die daraus folgende Übersexualisierung des (männlichen) Individuums“[75] Die Literaten versuchen die erlebte Übersexualisierung ästhetisch durch dirty speech (also „schmutziges Sprechen“) darzustellen, welche sowohl als Kritik als auch als Provokation gelesen werden kann.[76] Der Einzug von Slang und Alltagssprache in die Literatur war Teil der angestrebten umfassenden Erneuerung des Literaturbetriebs und der Forderung, dass die Literatur die uns umgebende Konsumwelt und Sexualität nicht länger ausblenden dürfe.

[...]


[1] Vgl. [Art.] Pop-Art, die. In: Duden online (o. J.). http://www.duden.de/rechtschreibung/Pop_Art (28.07.2012).

[2] Vgl. Mehrfort, Sandra: Popliteratur. Zum literarischen Stellenwert eines Phänomens der 1990er Jahre. 2. Aufl. Karlsruhe 2009 [12008], S. 34.

[3] Vgl. ebd., S. 34.

[4] Vgl. Seiler, Sascha: „Das einfache wahre Abschreiben der Welt“. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960 [Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie. Bd. 324]. Göttingen 2006, S. 25.

[5] Mehrfort (2009), S. 35.

[6] Siehe: Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009. Bielefeld 2009, S. 67.

[7] Vgl. Ernst, Thomas: Popliteratur. Hamburg 2005, S. 6.

[8] Wie in der Popmusik.

[9] Mehrfort (2009), S. 42.

[10] Ebd., S. 33.

[11] Gemeint ist hier: in der Kunst und Literatur. In der Musik ist der Begriff des „Pop“ wie erwähnt weniger exakt definiert und teilweise mit „populär“ gleichzusetzen.

[12] Mehrfort (2009), S. 34.

[13] Vgl. Mehrfort (2009), S. 34.

[14] Schäfer, Jörgen: „Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit“. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Pop-Literatur [Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband X]. München 2003a, S. 7-25. Hier S. 14.

[15] Vgl. Ernst (2005), S. 6.

[16] Ebd., S. 11.

[17] Vgl. ebd., S. 10f.

[18] Siehe: Hecken (2009), S. 36.

[19] Vgl. Ernst (2005), S. 10f.

[20] Ein Popliterat der 90er Jahre, auf den wir noch zurückkommen werden.

[21] Ernst (2005), S. 11.

[22] Ebd., S. 12.

[23] Vgl. ebd., S. 12.

[24] Duchamp reichte das Urinal als „Kunstwerk“ für eine Ausstellung ein, es wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei diesem maschinell gefertigten Gegenstand keineswegs um Kunst handle.

[25] Vgl. Jung, Thomas: Vom Pop international zur Tristesse Royal. Die Popliteratur, der Kommerz und die postmoderne Beliebigkeit. In: Ders. (Hrsg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990 [Osloer Beiträge zur Germanistik. Bd. 32]. Frankfurt am Main u. a. 2002c, S. 29-53. Hier S. 35.

[26] Vgl. Seiler (2006), S. 104.

[27] Ernst (2005), S. 16.

[28] Seiler (2006), S. 106.

[29] Vgl. ebd., S. 107.

[30] Siehe: Kapitel „Postmoderne“.

[31] Kramer, Andreas: Von Beat bis „Acid“. Zur Rezeption amerikanischer und britischer Literatur in den sechziger Jahren. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Pop-Literatur [Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband X]. München 2003, S. 26-40. Hier S. 31.

[32] Vgl. Kramer (2003), S. 36.

[33] Seiler (2006), S. 145.

[34] Vgl. Ernst (2005), S. 24.

[35] Vgl. Hecken, Thomas: Pop-Literatur um 1968. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Pop-Literatur [Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband X]. München 2003, S. 41-54. Hier S. 42.

[36] Schäfer (2003a), S. 17.

[37] Ebd., S. 17.

[38] Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998, S. 159.

[39] Ernst (2005), S. 23.

[40] Vgl. ebd., S. 24.

[41] Schäfer (1998), S. 35.

[42] Vgl. ebd., S. 35f. und vgl. Hecken (2009), S. 321.

[43] Mehrfort (2009), S. 28.

[44] Vgl. ebd., S. 29.

[45] Jung (2002c), S. 35.

[46] Seiler (2006), S. 86.

[47] Andre, Thomas: Kriegskinder und Wohlstandskinder. Die Gegenwartsliteratur als Antwort auf die Literatur der 68er. Heidelberg 2011, S. 30.

[48] Ebd., S. 21.

[49] Ebd., S. 21.

[50] Mehrfort (2009), S. 26.

[51] Vgl. ebd., S. 26f.

[52] Vgl. Ernst (2005), S. 27. Kreativ bleibt der postmoderne Künstler aber insofern, als dass er das vorgefundene Material auf eine bisher unbekannte Weise anordnet.

[53] Ein Sample ist grundsätzlich ein Zitat. Eine Bedeutungsverengung erfährt der Begriff aber dadurch, dass die Methode des Sampelns einen Vorgang des Verwebens von zitiertem Material zu einem neuen Text darstellt. Im Gegensatz zum Zitat steht das Sample also nie allein, sondern ist umgeben von weiteren Samples, aus denen sich dann, im Fachjargon der Technoszene, ein neuer Track, also ein aus Samples zusammengesetzter Text, ergibt. Als Meister des Samplings erweist sich Meinecke in Tomboy.

[54] Schäfer (1998), S. 13.

[55] Vgl. Ackermann, Kathrin / Stefan Greif: Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis heute. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Pop-Literatur [Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband X]. München 2003, S. 55-68. Hier S. 56.

[56] Mehrfort (2009), S. 198.

[57] Ernst (2005), S. 9.

[58] Vgl. ebd., S. 9.

[59] Feiereisen, Florence: Der Text als Soundtrack - Der Autor als DJ. Postmoderne und postkoloniale Samples bei Thomas Meinecke. Würzburg 2011, S. 167.

[60] Ebd., S. 167.

[61] Schäfer (1998), S. 13.

[62] Vgl. Schäfer (1998), S. 87.

[63] Ebd., S. 88.

[64] Ackermann / Greif (2003), S. 55.

[65] Mehrfort (2009), S. 44.

[66] Vgl. Ernst (2005), S. 7 und vgl. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz 2001, S. 59.

[67] Ackermann / Greif (2003), S. 55.

[68] Vgl. Ernst (2005), S. 8.

[69] Siehe: Hecken (2009), S. 256.

[70] Ullmaier (2001), S. 75.

[71] Ullmaier (2001), S. 76.

[72] Schäfer (1998), S. 95.

[73] Vgl. Seiler (2006), S. 141.

[74] Vgl. ebd., S. 140.

[75] Ebd., S. 141.

[76] Vgl. Seiler (2006), S. 141.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
H. Strunks „Fleisch ist mein Gemüse“, R. Schamonis „Dorfpunks“ und die Geschichte der Popliteratur
Untertitel
Ist Popliteratur tot?
Hochschule
Universität Trier
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
90
Katalognummer
V233139
ISBN (eBook)
9783656528890
ISBN (Buch)
9783656530039
Dateigröße
1164 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Popliteratur, Pop, Strunk, Schamoni, modern, Literatur
Arbeit zitieren
MA Paul Diederich (Autor:in), 2012, H. Strunks „Fleisch ist mein Gemüse“, R. Schamonis „Dorfpunks“ und die Geschichte der Popliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/233139

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