Paarbildungen. Wie Peter Stamm in seinen Kurzgeschichten Emotionen durch Situationen vermittelt


Masterarbeit, 2013

58 Seiten, Note: 5.5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Die Kurzgeschichte als Gattung
1.2 Peter Stamm als Autor
1.3 Der Leser als Konzept

2. Zeit und Spannung in der missglückten Liebe: Die Verletzung im Vergleich mit Tschechows Erzählung Jonytsch
2.1 Einleitung
2.2 Zur Darstellung der Zeit (1): Ordnung und Frequenz. Stamms verschlüsselte Erzähleinstiege
2.3 Zur Darstellung der Zeit (2): Erzählgeschwindigkeit
2.4 Grafische Darstellung der Erzählgeschwindigkeit
2.5 Spannung
2.6 Fazit

3. Erzählungen wie Eisberge
3.1 Einleitung
3.2 Der Soldat und der Bauer
3.3 Aus der Uniform herausgewachsen
3.4 Wechselhafter Wetterbericht für den Siebenschläfer
3.5 Jugend ohne Rock
3.6 Fazit

4. Zwei Weihnachtsgeschichten
4.1 Einleitung
4.2 Unerwartete Begegnungen am Weihnachtstag
4.3 Figurenbewegungen und Verwirrung
4.4 Einsamkeit
4.5 Fotografie und Literatur
4.6 Fazit: Stamm zeigt

5. Schlussbemerkungen

6. Literaturverzeichnis

Anhang

Siglen

Peter Stamm

Blitzeis. Erzählungen 1999 (B)

In fremden Gärten. Erzählungen 2003 (IFG)

Wir fliegen. Erzählungen 2008 (WF)

Seerücken. Erzählungen 2011 (SE).

Anton Pawlowitsch Tschechow

Jonytsch 1898 (J)

Ernest Hemingway

Soldier's Home 1925 (SH)

Paul Auster

Auggie Wren's Christmas Story 1990 (AWCS)

Einen Roman in Versform aus den Zeiten Kleopatras zu schreiben, oder ein Bild des Nero, wie er Rom verbrennt, oder eine Symphonie im Stil Brahms' oder Richard Strauss' zu komponieren, oder eine Oper, wie Wagner; All das ist viel leichter, als eine schlichte Geschichte ohne irgendetwas Überflüssiges zu erzählen.

Lew Tolstoi, Was ist Kunst?

1. Einleitung

In dieser Arbeit geht es darum, die Schreibweise von Peter Stamm (geb. 1968) zu besprechen. Dafür werden drei seiner Kurzgeschichten mit jeweils einer Erzählung von Anton Pawlowitsch Tschechov (1869-1904), Ernest Hemingway (1899-1961) und Paul Auster (geb. 1947) verglichen. In jeder der drei Paarbildungen wird ein bestimmter Aspekt kommentiert: Die Verletzung (WF 57-76) und Tschechows Erzählung Jonytsch (J 264-287) bilden eine passende Grundlage, um die Darstellung der Zeit und den Spannungsaufbau in den Erzählungen zu kommentieren. Für Siebenschläfer (SE 105-130) und Hemingways Soldier's Home (SH 145-153) richtet sich meine Analyse auf die Leerstellen im Text. Die Figurenbewegungen und der Bezug zur Fotografie in den Weihnachtsgeschichten In den Außenbezirken (B 36-42) und Auggie Wren's Christmas Story (AWCS) sind Anlass für den letzten Kommentar. So folgen sich die drei Vergleiche wie drei Tänze, in denen Peter Stamm den Partner wechselt.

Die Auswahl der drei Vergleichsautoren lässt sich folgendermaßen begründen: Tschechow und Hemingway gehören zu den ganz großen Vertretern der Gattung Kurzgeschichte und sowohl die Rezensenten und Literaturwissenschaftler wie Peter Stamm selbst behaupten, dass es eine Filiation, einen Einfluss dieser zwei Meister der kurzen Form gibt.[1] Paul Auster gilt als etablierter US-amerikanischer Schriftsteller und Intellektueller. Seine Erzählung Auggie Wren's Christmas Story lässt sich mit In den Außenbezirken (B 36-42) von Stamm gut vergleichen und ermöglicht zwei Texte gegeneinander zu halten, die ungefähr zur gleichen Zeit entstanden sind. Die Arbeit weist somit eine chronologische Struktur auf, von Tschechow über Hemingway bis in die Gegenwart.

Die Aspekte, die bei Stamm besprochen werden, haben einen Zusammenhang mit der Entwicklung der Gattung Kurzgeschichte, die zunächst geschildert wird. Anschließend präsentiere ich den Autor und meine Arbeitsmethode.

1.1 Die Kurzgeschichte als Gattung

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich in Deutschland das Genre der Kurzgeschichte mit Autoren wie Heinrich Böll, Wolfgang Borchert und Wolfdietrich Schnurre. Als Modell diente damals die amerikanische Short Story von Raymond Carver und Ernest Hemingway. Auch die Kurzprosa von Guy de Maupassant, Heinrich von Kleist, Nicolas Gogol und Anton Tschechow haben die deutsche Kurzgeschichte der Nachkriegszeit geprägt.[2] Die Bedeutung der Erzählform hat sich seit den Sechzigerjahren abgeschwächt. Für Manfred Durzak, Verfasser des Standardwerks Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart (2002), waren die Gründe dafür »der geschrumpfte Zeitschriftenmarkt, die wenigen Kurzgeschichten-Wettbewerbe, die Zögerlichkeit der Verlage [und] eine gewisse Arroganz der professionellen Literaturkritiker dem vermeintlichen Leichtgewicht dieser Gattung gegenüber.«[3] Durzak stellt aber fest, dass heute »eine Reihe von neuen Erzählerinnen und Erzählern sich im Gattungsumfeld der Kurzgeschichte profiliert haben und die Kontinuität dieses Genres bezeugen.«[4] Dazu gehört Peter Stamm.

Doch was soll man unter Kurzgeschichte verstehen? Für Edgar Allan Poe, einer der Begründer der Short Story, sollte diese »in einem Zug« lesbar sein.[5] Dies ist eine vage Eingrenzung. Tatsächlich wird heute in der Forschung festgestellt, dass »sowohl bei Autoren, als auch bei Literaturwissenschaftlern die Tendenz erkennbar ist, keine zu eng gefassten Definitionen mehr zu geben und damit viele literarische Erscheinungen auszugrenzen, sondern eher nur Grundbeschaffenheiten im Hinblick auf die Erzählstruktur aufzuweisen, die das Genre Kurzgeschichte konstituieren.«[6] Durzak gibt einige formale Kriterien. Demnach ist die »Institutionalisierung eines Figurenerzählers das strukturelle Unterscheidungsmerkmal der Kurzgeschichte«[7]. Man hat es also mit einem Erzähler zu tun, der »sprachlich völlig hinter seinem Protagonisten verschwindet«[8]. Zwei weitere konstitutive Eigenschaften für die Gattung sind das Komprimierungs- und das Fragmentprinzip. Mit dem Komprimieren der erzählten Ereignisse wird gemeint, dass jeder Satz, jedes Wort mit Bedeutung aufgeladen wird. Das Erzählen ist intensiv. Fragmentarisch erzählen heißt, dass der Einstieg »ohne expositionelle Introduktion unmittelbar in die dargestellte Situation oder Handlung führt«.[9] Dieser Anfang ist »in der Regel kombiniert mit einem Erzählausklang, der erzählerisch sorgsam aufgebaut ist und in einem Kulminationspunkt [...] gipfelt [...].«[10] Durzak nennt die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart eine demokratische Literaturform, »weil sie stärker als andere Gattungen auf Kommunikation mit dem Leser ausgerichtet ist«.[11] Eine gelungene Kurzgeschichte bringt die richtigen Ansätze, um die Einbildungskraft des Lesers in Gang zu bringen.

Diese vier Elemente, Figurenerzähler, Komprimierung, Fragmentierung und Konkretisierung im Akt des Lesens gelten für die Analysen in dieser Arbeit als Zentraleigenschaften der Kurzgeschichte.

1.2 Peter Stamm als Autor

Peter Stamm gehört zu den meist gelesenen Schweizer Autoren, die heute publizieren. Seit seinem Debütroman Agnes (1998), seinem meist besprochenen Werk, publiziert Stamm etwa alle zwei Jahre abwechselnd einen Roman und einen Band mit Erzählungen. Sein letzter Roman Nacht ist der Tag erschien am 25. Juli 2013. Die Texte handeln primär von den alltäglichen Beziehungen, von der »Anziehungskraft zwischen Mann und Frau, die gleichermaßen von Sehnsucht und Enttäuschung bestimmt ist«[12]. Die Erzählweise von Stamms Kurzgeschichten lässt sich historisch einordnen. Manfred Karnick bestimmt den Schreibstil der deutschen Kurzgeschichtenautoren[13] der Nachkriegszeit folgend: »Es ist das Prinzip des einfachen, direkten, kargen, parataktischen Schreibens, des ›Realismus des Unmittelbaren‹, das eine Zeit lang maßgeblich und unübersehbar von amerikanischen Erzählern, insbesondere von Hemingway und Faulkner, beeinflusst war.«[14]

Diese Aussage trifft für Stamms Schreibweise zu. Sie lässt sich am besten an einem Beispiel zeigen und präsentieren, wie etwa an der Erzählung Der Lauf der Dinge (SE 27-46), wo das Paar Niklaus und Alice sich über ihre Ferienwohnung in Italien ärgert, kleine Touren macht und die Nachbarn beobachtet. Diese immer schreienden Kinder der Familie im Haus nebenan! Und plötzlich wird es dort still. Um die Eigenschaft der quasi Abwesenheit von Emotionsbeschreibungen zu illustrieren, zeige ich, wie im Lauf der Dinge Stamm mit den Gefühlen der Protagonisten Niklaus und Alice umgeht. Im kleinen Lebensmittelgeschäft erfahren sie die Ursache für die angedeutete Veränderung im Verhalten der Nachbarn:

Der Ladeninhaber, der sie sonst immer überschwänglich begrüßt hatte, nickte ihnen nur zu und murmelte etwas. Was ist dem für eine Laus über die Leber gelaufen, sagte Alice und füllte den Einkaufskorb. Oliven?, fragte sie und hielt ein Glas mit schwarzen Oliven in die Höhe. Niklaus nickte und ging zum Weinregal, um die Preise zu studieren und sie mit denen zu vergleichen, die sie bei den Winzern bezahlt hatten. Als er sich umdrehte, sah er Alice an der Fleisch- und Käsetheke stehen. Der Ladeninhaber redete auf sie ein, Niklaus trat vor das Geschäft und las die Schlagzeilen der deutschen Zeitungen im Ständer. Kurz darauf kam Alice mit verstörtem Gesicht aus dem Geschäft. Sie ging weiter, ohne sich nach ihm umzusehen. Mit ein paar schnellen Schritten holte er sie ein und fragte, was los sei. Sie blieb abrupt stehen. Der Junge ist tot, sagte sie, der Vater hat ihn überfahren. Er hat auf der Straße wenden wollen und das Kind dabei übersehen. Schweigend gingen sie zurück zum Ferienhaus Niklaus räumte die Sachen ein, Alice stand an dem Küchentisch gelehnt und schaute ihm zu. Was sollen wir tun?, fragte sie, als er fertig war. Wir können nichts tun, sagte Niklaus, wir wissen ja nicht einmal, wie sie heißen. Wir könnten fragen, ob sie etwas brauchen, sagte Alice. Es muss passiert sein, als wir im Naturschutzgebiet waren. Der Ladeninhaber hat erzählt, der Schrei des Vaters sei in der ganzen Feriensiedlung zu hören gewesen. Ich bin froh, dass wir nicht hier waren, sagte Niklaus und kam sich feige vor. An diesem Abend aßen sie stehend in der Küche (SE 42f.).

Streng genommen kommt es nur im Satz »Niklaus [...] kam sich feige vor« zu einer Innensicht, einer Beschreibung der Gefühle und Gedanken. Sonst wird protokollhaft und ohne Innensicht die Szene von Niklaus' Perspektive aus geschildert. Nachdem ihm Alice die Information über den Tod des Jungen gibt, heißt es, dass sie »schweigend« nach Hause gehen. Was er denkt, weiß man nicht, seine Gefühle werden nicht beschrieben. »Was würde ich in dieser Situation denken und empfinden?« fragt sich der Leser »Schrecken, Mitleid, Wut, Schmerz, Ratlosigkeit?« Diese psychologische Seite der Figur soll sich der Leser aus den Ereignissen her vorstellen. Dieses literarische Vorgehen, Emotionen durch Situationen zu vermitteln gehört zu den zentralen Eigenschaften von Peter Stamms Schreibweise.

Man bemerke hier auch die Sorge für Details und dessen suggestiven Kraft. Hier soll gezeigt werden, was der Leser sich vorstellen könnte. Es wird im zitierten Abschnitt scheinbar nebenbei erwähnt, dass Niklaus im Geschäft die Überschriften der deutschen Zeitungen ließt. Mehr nicht. Katastrophen wie im Lauf der Dinge (SE 27-46) machen üblicherweise die Schlagzeilen von Boulevardblättern. Der Text gibt dem Leser die Möglichkeit, sich vorzustellen, wie Niklaus den hypothetischen Bild -Titel »VATER ROLLT ÜBER DREIJÄHRIGEN SOHN« nur mit einem kleinen Zucken der Augenbraune überflogen hat. Der indirekt dargestellt schrecklicher Vorfall bei den Nachbarn und das Detail der Zeitungen sind die zwei Elemente im Text, die es dem Leser ermöglichen solche Anspiegelungen zu machen. Details dieser Art sind intensiv, weil im Zusammenspiel mit anderen Informationen des Textes mehr gesagt werden kann, als geschrieben steht, weil der Leser sein Vorwissen einsetzt, das Vorwissen, dass einige Zeitungen gerne über makabere Kurzmeldungen berichten.

Das Beispiel illustriert die vier Eigenschaften der Kurzgeschichte: Der Erzähler gehört zur erzählten Welt, man hat intensive Fragmente, die weiteren Elemente suggerieren, die sich der Leser vorstellen soll.

1.3 Der Leser als Konzept

Wolfgang Isers (1926-2007) Manifest für eine Leser-orientierte Literaturwissenschaft Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa (1970) bietet die theoretische Unterlage für die Arbeit, in der wie im Beispiel vom Lauf der Dinge (SE 27-46) die Ansätze gezeigt werden sollen, die der literarische Text gibt, damit der Leser ihn in einer bestimmten Art und Weise konkretisieren kann. Wie steuert der Text die Reaktionen des Lesers und wie lassen sich diese Reaktionen ausdrücken? Diese Methode lässt sich auch damit rechtfertigen, dass Stamms literarisches Konzept den Leser besonders stark miteinbezieht. Emotionen durch Situationen vermitteln impliziert ja, dass jemand sich diese Situationen vorstellt. Dafür bietet Iser den richtigen Rahmen.

Nach seiner Rezeptionstheorie ist »der Sinn der Texte nicht per se gegeben, sondern er entsteht aus der Auseinandersetzung mit dem Leser«[15]. Um zu zeigen, wie dieses Spiel mit dem Leser aufgebaut ist, sollen die Texte unter anderem in ihrer Erzählstruktur analysiert werden. Als zentraler Begriff von Isers Theorie steht das Wort Leerstelle: »Zwischen ›den schematisierten Ansichten‹ entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit der aneinanderstoßenden Ansichten ergibt.«[16] Die Leerstellen »bilden einen elementaren Ansatzpunkt«[17] für die Textwirkung. Der Ort der Sinnkonstitution ist »die Einbildungskraft des Lesers, denn erst dort entsteht der Sinn des entworfenen Zusammenspiels der Positionen«[18]. Die fehlende Innensicht im Beispiel S. 7 der Arbeit stellt eine solche Leerstelle dar, die Möglichkeit, dass in den Zeitungen über den Vorfall in der Feriensiedlung berichtet wird eine andere.

Die Arbeit zeigt ein experimentelles Vorgehen. Wie ein Chemiker vermische ich in einem Reagenzglas zwei Stoffe und schaue, was passiert. Ich erkunde, ob die Struktur von dem einen Stoff sich durch das Experiment erkennen lässt. Die drei Vergleiche bilden drei Proben, die es ermöglichen sollen, Eigenheiten und Konventionen in Peter Stamms Erzählprosa zu identifizieren. Das Auswahlkriterium für die drei Paarbildungen ist primär intuitiv. Die zwei Erzählungen, die ich jeweils gegeneinander halte, haben inhaltliche Gemeinsamkeiten; habe es, wie für den Auster-Vergleich, mit Ort und Zeit der dargestellten Ereignisse zu tun, oder mit dem ähnlichen Schicksal, das die Figuren erleiden. Parallelen lassen sich erkennen und es soll jeweils in einem bestimmten Bereich auf Analogien und Kontraste aufmerksam gemacht werden.

2. Zeit und Spannung in der missglückten Liebe: Die Verletzungim Vergleich mit Tschechows Erzählung Jonytsch

2.1 Einleitung

Mein Kommentar für die erste Paarbildung richtet sich auf die Analogien und Kontraste von zwei Erzählungen im spezifischen Bereich der Zeitdarstellung. Es geht dabei um Jonytsch von Anton Tschechow und Die Verletzung von Peter Stamm. Die Ergebnisse dieser Analyse ermöglichen einige Bemerkungen über den Aufbau von Spannung in den Texten. Spannungserzeugung ist auch für den Schweizer Autor Lukas Bärfuss wichtig, der erklärt, worum es ihm in der Literatur geht, und zwar:

»Um das Aufbieten der narrativen Elemente. Einen Menschen bei den Gefühlen und bei seinen Gedanken zu packen. Für mich ist die Reaktion eines Lesers, der sagt: ›Ich konnte das Buch nicht mehr weglegen‹ viel wichtiger als die Aussicht, politisch etwas bewirkt zu haben.«[19]

Den Leser bei seinen Gedanken zu packen heißt einerseits, ihn im Sinne von Iser, »in den Mitvollzug [der] möglichen Intension«[20] des Textes einzuschalten. Indem er die Leerstellen ergänzt, die im Text eingebaut sind, nimmt der Leser nicht nur Teil an der Erzählung, er bleibt im Leseakt gefesselt. Dies funktioniert mit dem subtilen Einbau von Spannung, die sich zum einen durch eine Analyse von Zeitdarstellung identifizieren lässt, zum anderen durch eine Erklärung über den Verlauf der Ereignisse und die Erwartungen, die entsprechend beim Leser auftauchen.

Das Provinznest S. im spätzaristischen Reich und ein Skiort der heutigen Schweiz sind die Schauplätze der zwei Erzählungen, die das erste Vergleichspaar dieser Arbeit bilden. Beide Erzählungen handeln vom Scheitern der Liebe. Jonytsch von Anton Tschechow (J 264-287) wurde 1898 veröffentlicht, und Die Verletzung von Peter Stamm gehört zu Wir fliegen (WF 57-75), dem dritten Erzählband von Peter Stamm, der 2009 im Fischer Verlag erschien. Diese zwei Texte lassen sich folgend zusammenfassen. In der Erzählung von Tschechow wird erst über die wohlhabende Familie Turkin berichtet, die talentierteste in der kleinen Provinzstadt S. Der Vater erzählt Anekdoten und hat eine lustige Redensart, die Mutter schreibt naive Romane und die Tochter, Jekaterina, spielt Klavier. Dmitri Jonytsch Starzew[21] ist Arzt in einem Dorf bei der Stadt und besucht eines Tages die Turkins, es wird gelesen und Klavier gespielt. Ein Jahr vergeht. Jonytschs Besuche werden häufiger und er verliebt sich in Jekaterina, die Tochter. Als er ihr sagt, er wolle sie öfter treffen, gibt sie ihm ein Schreibstück, in dem steht, dass er in dieser Nacht auf den Friedhof gehen soll. Er geht, doch sie kommt nicht. Am Tag danach gesteht er Jekaterina seine Liebe und macht ihr einen Heiratsantrag, den sie zurückweist. Sie wolle sich völlig der Musik zuwenden. Kurz darauf fährt sie nach Moskau, um das Konservatorium zu besuchen. Als sie nach vier Jahren zurückkommt, ist Jonytsch bereits ein reicher Arzt. Er wird wieder zu den Turkins eingeladen und hört sich das talentlose Klavierspiel der Tochter an. Jekaterina führt ihn in den Garten und gesteht ihm, dass sie in den vier Jahren »nur an [ihn] gedacht« (J 283) habe. Sie möchte ihn öfter sehen. Doch der Arzt geht. Am Tag darauf bekommt er von ihr eine Einladung, aber er besucht sie nicht. Jahre vergehen und Jonytsch wird reicher und reizbarer, Jekaterina ist dagegen »merklich gealtert« (J 286).

In Stamms Erzählung Die Verletzung verliebt sich der etwa achtzehnjährige Ich-Erzähler in Luzia, die im Heimatdorf seiner Großeltern wohnt. Sie machen Wanderungen und schlafen miteinander. Vier Jahre später nimmt der Erzähler eine Stelle als Lehrer im Dorf an und sucht immer stärker Luzias Nähe, aber ihre Einstellung ihm gegenüber hat sich verändert. Sie macht sich darüber lustig, dass er auf sie gewartet hat und solange keine andere Freundin hatte. An der Bar, wo Luzia arbeitet, trifft der Erzähler den Skilehrer Elio, einen Freund von Luzia, den sie vor dem Erzähler provokativ küsst. Immer hoffnungsloser wirbt der Erzähler um Luzia. Aus Frust fängt er an, die Aufsätze seiner Schüler zu verbrennen, sowie seine Bücher und schließlich auch seine Möbel. Die Geschichte endet, indem der Lehrer mitten im Unterricht seine Klasse verlässt und mit dem Zug abfährt.

2.2 Zur Darstellung der Zeit (1): Ordnung und Frequenz. Stamms verschlüsselte Erzähleinstiege

In welcher zeitlichen Reihenfolge wird der Vorgang präsentiert und wie oft kommt ein Ereignis im Text vor? Diese zwei Eigenschaften der Ordnung und der Frequenz [22] zu erforschen, bildet den ersten Teil für die Analyse der Darstellung der Zeit. Im Kapitel 2.3 wird die Frage nach der Erzählgeschwindigkeit gestellt.

In den zwei Erzählungen werden die Ereignisse an erster Stelle chronologisch dargestellt und man hat es am Meisten mit singulativen und iterativen Erzählsituationen zu tun (einmal erzählen, was sich einmal ereignet hat und einmal erzählen, was sich wiederholt ereignet hat).

Die Art und Weise wie die Zeit bei Tschechow organisiert ist, entspricht dem klassischen Modell eines Romans des 19. Jahrhunderts. In einem sanften Einstieg stellt der Erzähler Ort und Personal vor. Der Schluss ist wie ein langes Fade-out, wo keine konkrete Ereignisse mehr stattfinden und der Erzähler die Zukunftsperspektiven der Protagonisten andeutet. Dazwischen werden die Ereignisse der Beziehung von Jonytsch und Jekaterina primär chronologisch erzählt. Nur als sie sich nach den vier Jahren wiedersehen, denkt Jonytsch an das, was zuvor passierte: »Und er erinnerte sich an alle noch so kleinen Einzelheiten, wie er über den Friedhof gewandert, und wie er gegen Morgen erschöpft nach Hause zurückgekehrt war« (J 283). Überhaupt ist dieses letzte Wiedersehen analog zum ersten Besuch von Starzew bei den Turkins (erster Besuch, J 265-269; letzter Besuch, J 281-284). Die Abfolge der Ereignisse ist dieselbe, die Mutter liest aus ihren Romanen, die Tochter spielt Klavier, es wird gegessen und der Diener Pawa »stellte sich in Positur, hob einen Arm und sagte mit tragischer Stimme: ›Stirb, Unglückliche!‹« (J 269 und 284). In beiden Textpassagen ist die Wortwahl exakt gleich, der Kreis der Erzählung schließt sich. Ein solch eideutiger Bezug zwischen Anfang und Ende der Erzählung ist bei Peter Stamm nicht erkennbar.

[...]


[1] Vgl. z. B. Bettina Schulte: »Dieses Glück ist ein sehr kompliziertes Gefühl. Laudatio für Peter Stamm anlässlich des Alemannischen Literaturpreises 2011«, Andreas Isenschmids Rezension »Fremd in der Welt« (Die Zeit 09.10.2003) für In fremden Gärten: Die Erzählungen »leben ganz von den unauffälligen, aber hoch geladenen entscheidenden Momenten und von der Unterströmung, die von ihnen ausgeht – Tschechow und Carver sind die Großmeister dieser Art«. Folgend äußert sich Stamm in einem Interview im Schweizer Monat (No 3, Okt 2011): »Am Anfang waren meine literarischen Begleiter die Franzosen und die Amerikaner aus den 1920er Jahren, Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald«.

[2] Vgl. »Kurzgeschichte« in: Die Brockhaus Enzyklopädie Online.

[3] Manfred Durzak »Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart« in: Theorie der Kurzgeschichte, S. 139.

[4] Ebd. S. 141.

[5] Vgl. Edgar Allan Poe »Twice-Told Tales« in: Edgar Allan Poe, S. 358: »[...] in almost all classes of composition, the unity of effect or impression is a point of the greatest importance. It is clear, moreover, that this unity cannot be thoroughly preserved in productions whose persusal cannot be completed at one sitting.« [meine Hervorhebung].

[6] Hans-Christoph Graf v. Nayhauss »Vorwort« in: Theorie der Kurzgeschichte, S. 8f.

[7] Ebd. S. 9.

[8] Manfred Durzak »Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart« in: Theorie der Kurzgeschichte, S. 133.

[9] Ebd. S. 137.

[10] Ebd. S. 137.

[11] Manfred Durzak, Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart, S. 467.

[12] »Peter Stamm« in: Die Brockhaus Enzyklopädie Online.

[13] Darunter zählen u. A. Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Heinz Werner Richter, Wolfdietrich Schnurre, Siegfried Lenz, Walter Kolbenhoff.

[14] Manfred Karnick »Krieg und Nachkrieg: Erzählprosa im Westen« in: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. 37. Der von Karnick zitierter Begriff »Realismus des Unmittelbaren« ist übernommen von Weyrauch, Wolfgang in: Aufbau 2 (1946) Heft 7, S. 701-706.

[15] »Iser, Wolfgang « in: Die Brockhaus Enzyklopädie Online.

[16] Wolfgang Iser »Die Appellstruktur der Texte« in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, S. 235.

[17] Ebd. S. 235.

[18] Ebd. S. 243.

[19] Das Gespräch fand in der Form eines Interviews über den politischen Roman Hundert Tage am 22.10.2012 in Bern statt.

[20] Wolfgang Iser, Die Appellestruktur der Texte, S 231.

[21] Dmitri ist der Vorname, Jonytsch der Vatersname (oder Patronym) und Starzew der Nachname. Die höfliche Anrede, unter Personen die sich siezen, besteht im Russischen aus dem Vornamen und dem Patronym (»Здраствуйте, Дмитрий Ионыч«, wörtlich »Ich grüß Sie, Dmitri Jonytsch« steht für »Guten Tag, Herr Starzew«). Jemanden einfach beim Patronym zu nennen ist unüblich, im Text wird dies folgendermaßen thematisiert: »In Djalish und in der Stadt nennt man ihn längst einfach Jonytsch. ›Wohin fährt Jonytsch denn?‹ oder ›Sollte man Jonytsch nicht zu einem Konsilium bitten?‹« (J 286).

[22] Die Terminologie entspricht der Einführung in die Erzähltheorie von Matias Martinez und Michael Scheffel.

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Paarbildungen. Wie Peter Stamm in seinen Kurzgeschichten Emotionen durch Situationen vermittelt
Hochschule
Université de Lausanne  (Faculté des Lettes, section d'allemand)
Note
5.5
Autor
Jahr
2013
Seiten
58
Katalognummer
V233257
ISBN (eBook)
9783656499107
ISBN (Buch)
9783656499336
Dateigröße
868 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit präsentiert die Schreibweise des Schweizer Autors Peter Stamm. Drei seiner Kurzgeschichten werden mit Texten von Anton Tschechow, Ernest Hemingway und Paul Auster verglichen. Die Analysen sind Leser-orientiert. Die Note 5.5 (Schweiz) entspricht dem dt. Notensystem der Note 1,5.
Schlagworte
Peter Stamm, Kurzgeschichte, Short Story, Wolfgang Iser, Anton Tschechow, Ernest Hemingway, Paul Auster
Arbeit zitieren
Stéphane Maffli (Autor:in), 2013, Paarbildungen. Wie Peter Stamm in seinen Kurzgeschichten Emotionen durch Situationen vermittelt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/233257

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