Das Internet als Raum für Nichtstandardvarietäten. Das ivorische Sprachphänomen Nouchi


Masterarbeit, 2013

108 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Internet als Abbild sprachlicher und menschlicher Vielfältigkeit
2.1 Das Web 2.0 als Raum für Nichtstandardvarietäten
2.1.1 Das Web 2.0: Entwicklung, Merkmale und Perspektiven
2.1.2 Ein multilinguales Netzwerk
2.1.3 Neue Bedingungen für Nichtstandardvarietäten
2.1.3.1 Die Umkehrung einer Tradition
2.1.3.2 Neue Schriftlichkeit und Destandardisierung
2.1.3.3 Chancen und Perspektiven
2.2 Die Entwicklung und Ergebnisse linguistischer Forschung zur Sprache in digitalen Medien
2.2.1 Die digitale Veränderung der Sprache
2.2.2 Ein weiterer Blick: Ethnografie, Multimodalität und Hetero-glossie
2.3 Sprache, Identität und das Internet
2.3.1 Das postmoderne Identitätskonzept
2.3.2 Konstruktion von Identität durch Sprache
2.3.3 Sprachliche Identität im Internet

3. Nouchi – Ein Sprachphänomen in realer und digitaler Expansion
3.1 Die heutige Côte d‘Ivoire
3.1.1 Landeskundliches
3.1.1.1 Geografie
3.1.1.2 Wirtschaft
3.1.1.3 Bevölkerung und Entwicklung
3.1.1.4 Geschichte
3.1.2 Soziolinguistische Situation
3.1.2.1 Französisch
3.1.2.2 Einheimische Sprachen
3.2 Nouchi – Von den Ghettos in Abidjan zur ivorischen Nationalsprache ?
3.2.1 Begriff, Entstehung und Entwicklung
3.2.2 Abgrenzung und Definition
3.2.3 Linguistische Beschreibung
3.2.4 Sprachverwendung und Spracheinstellungen
3.2.5 Zukunftsperspektiven
3.3 Nouchi im Internet
3.3.1 Zielstellung, Vorgehen und Methodik
3.3.2 Vorstellung und Analyse der Internetseiten
3.3.2.1 Präsenzen mit wissenschaftlichem Anspruch
3.3.2.2 Präsenzen aus dem Bereich der Medien
3.3.2.3 Präsenzen aus dem kulturellen Bereich
3.3.2.4 Präsenzen mit privater Urheberschaft
3.3.3 Schlussfolgerungen

4. Zusammenfassung und Ausblick

Bibliographie

Eidesstattliche Erklärung

1. Einleitung

Bramôgô, on di qwé? In Abidjan, der Millionenstadt an und in der Elfenbein­küste, hört man diesen Satz zur Begrüßung unter FreundInnen öfter. Doch ob­wohl in jenem Land im Westen Afrikas das Französische seit langem allge­genwärtig ist, helfen Kenntnisse dieser Sprache zur Entschlüsselung des Aus­drucks nur bedingt weiter. Es bedarf vielmehr einer Einführung in das Nouchi. In den 1970er-Jahren als Geheimsprache unter Jugendlichen der Abidjaner Armenviertel entstanden, gilt dieses heute als das bevorzugte Ausdrucksmittel eines großen Teils der jungen ivorischen Generation und verzeichnet einen stetigen Zuwachs an SprecherInnen. Obgleich noch immer als fehlerhaft und minderwertig angesehen, greifen Werbung, Medien und vor allem die Mu­sikszene der Côte d’Ivoire die Varietät längst auf, und hochrangige Politiker verwenden sie zur Gewinnung von Wahlstimmen.

Die vorliegende Arbeit nun möchte der Frage nachgehen, inwieweit das sich anhaltend verbreitende Sprachphänomen derweil auch in den digitalen Sphären des Internets angekommen ist. Das globale Netzwerk hat sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem Präsentations- und Kommunikationsraum entwickelt, den soziale Gemeinschaften wie auch Einzelpersonen zur Darstellung der eigenen Identität, zur Veröffentlichung selbstgestalteter Inhalte und zum zwischen­menschlichen Austausch nutzen. Im Rahmen dieser Arbeit soll genauer unter­sucht werden, ob und in welcher Weise die Nouchi-Sprachgemeinschaft das moderne Medium zum Zwecke der Selbstpräsentation gebraucht. Außerdem sollen die Bedeutung und Chancen des Internets hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung des Nouchi, und dabei möglicherweise für eine weitere Ver­brei­tung und Aufwertung der Varietät, ausgelotet werden.

Zu diesem Zweck sollen zunächst der Werdegang des Internets nachvollzo­gen und grundlegende Merkmale der gegenwärtig vorliegenden Entwicklungs­stufe des Netzwerkes herausgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage können daraufhin die Chancen und Perspektiven erörtert werden, welche das neue Me­dium für Nichtstandardvarietäten wie das Nouchi bereithält. In diesem Zu­sammenhang werden auch zentrale Ergebnisse der bisherigen linguistischen Forschung zur Sprache in den digitalen Medien eine Rolle spielen. Darüber hinaus soll das Internet als ein Raum vorgestellt werden, in dem sich in moder­nen Zeiten immer häufiger existierende hybride Identitäten wie die der Ivo­rerInnen unter anderem über Phänomene der Mehrsprachigkeit abbilden.

Ein weiteres Kapitel wird zunächst die Rahmenbedingungen skizzieren, in denen das Nouchi heute in Erscheinung tritt. Dabei soll nach einem Kurzpor­trait der Côte d’Ivoire vor allem die sich derzeit darstellende soziolinguistische Si­tuation des Landes beleuchtet werden. Anschließend erfolgt eine nähere Be­trachtung des Phänomens Nouchi, wobei die Schwerpunkte auf der Entstehung und Entwicklung der Varietät sowie auf deren linguistischer Einordnung und Beschreibung liegen werden. Außerdem sollen maßgebliche Ergebnisse einer Studie zur Sprachverwendung und zu den Spracheinstellungen ivorischer SchülerInnen vorgestellt und die Zukunftsperspektiven des Nouchi diskutiert werden.

Der sich anschließende empirische Teil dieser Arbeit soll der aktuellen Prä­senz des Nouchi im Internet auf den Grund gehen. Dazu werden zunächst die Ziele, Leitfragen und das methodische Vorgehen der Untersuchung formuliert. Daraufhin sollen ausgewählte Internetpräsenzen vorgestellt und anhand fest­gelegter Kriterien analysiert werden. Neben den Inhalten und Intentionen der Webseiten werden dabei insbesondere die Funktionen der dort verwendeten Sprachen bzw. Varietäten sowie mit diesen verbundene Ideologien und Identi­tätsbekundungen in den Blick genommen. Als Ergebnis wird schließlich einzu­schätzen sein, inwiefern das Internet derzeit als Abbildungs- und Verwen­dungsraum für das Nou­chi gelten kann, und welche Rolle dem globalen Netz­werk bezüglich der weite­ren (positiven) Entwicklung der Varietät zukommt.

2. Das Internet als Abbild sprachlicher und menschlicher Vielfältigkeit

2.1 Das Web 2.0 als Raum für Nichtstandardvarietäten

2.1.1 Das Web 2.0: Entwicklung, Merkmale und Perspektiven

Seit etwa drei Jahrzehnten erlebt die Welt eine digitale Revolution, die mit zahlreichen neuen Technologien das Kommunikationsverhalten der Menschen grundlegend verändert hat, und die dieses wohl auch einem weiter anhaltenden Wandel unterwerfen wird. Nach Schlobinski können die Umwälzungen im medialen Bereich in Analogie zur Erfindung des Buchdrucks als zweite Guten­berg-Revolution bezeichnet werden (cf. Schlobinski 2005: 5). Die fundamen­talsten Neuerungen brachte dabei offensichtlich die Entwicklung des Internets mit sich.

In den 1960er-Jahren in den USA zur Vernetzung von Computern in Uni­versitäten und Forschungseinrichtungen initiiert, entwickelte sich das digitale Netzwerk in den darauffolgenden Jahrzehnten zu einer weltumspannenden Technologie zum Informations- und Wissensaustausch. So kann heute theore­tisch – unter der Voraussetzung bestimmter technischer und infrastruktureller Einrichtungen – jeder Rechner mit jedem beliebigen anderen zu Kommunika­tionszwecken verbunden werden, und das unabhängig von deren Standort auf dem Globus. Tatsächlich aber bleiben die Nutzungsmöglichkeiten und -reali­täten der Internets global betrachtet bis heute sehr ungleichmäßig verteilt. So schätzt Schlobinski etwa für das Jahr 2005, dass rund 90% aller Internet-Nut­zerInnen in den entwickelten Ländern der Erde leben (cf. Schlobinski 2005: 3). Bestätigt wird dieses Ungleichgewicht von der Statistikplattform Internet World Stats [1] auch für die nähere Gegenwart (zweites Quartal 2012), indem beispielsweise der Anteil der afrikanischen Internet-User an der geschätzten weltweiten GesamtnutzerInnen-Zahl mit lediglich 7% angegeben wird (bei einem Anteil von 15% der Weltbevölkerung). Während in Nordamerika und Europa fast 80% bzw. 63% der Bevölkerung das weltweite Netzwerk nutzen, sind es auf dem afrikanischen Kontinent nur etwa 16% (cf. Internet World Stats 2013).

Das Internet hat sich in den letzten zwei Dekaden mit enormer Geschwin­digkeit weiterentwickelt. Wurde noch im Jahr 1984 der erste Empfang einer elektronischen Nachricht auf deutschem Boden als Sensation wahrgenommen, gehören die Kommunikation und das Pflegen sozialer Beziehungen, Informa­tionssuche, Unterhaltung und Zerstreuung oder der Einkauf verschiedenster Waren in bzw. über das digitale Netzwerk mittlerweile zum Alltag zumindest in der westlichen Welt. Versenden von Nachrichten, Lesen von Büchern und Zeitungsartikeln, Radiohören, Fernsehen, Filmeschauen, Telefonieren, Konver­sation oder Spielen in Gemeinschaft sind nur einige der heute hiermit mögli­chen Aktivitäten. Und so bezeichnet Schlobinski das Internet der Gegenwart auch als Multi- bzw. Hybridmedium, welches auf der Grundlage der Digitali­sierung alle bisherigen Medien in sich vereint und jegliche Kommunikations­weisen (schriftlich, mündlich und audiovisuell) zulässt und gar in neuer Art und Weise miteinander verknüpft (cf. Schlobinski 2005: 9).

Das sich gegenwärtig darstellende Entwicklungsstadium des Internets wird häufig mit der Begriff Web 2.0 bezeichnet. Nach Runkehl lässt sich dieses von einer früheren Ausprägungsstufe (Web 1.0) abgrenzen, welche er in den Zeit­raum zwischen den Jahren 1990 und 2000 einordnet (cf. Runkehl 2012: 17). Als einen ersten grundlegenden qualitativen Unterschied führt Runkehl dabei die Art der Datenspeicherung und -verteilung an: Waren in den 90er-Jahren die Daten der Anbieter von Webseiten, Diensten u.ä. auf jeweils eigenen Servern gespeichert und damit unter Selbstkontrolle, wird die Aufbewahrung und Ver­breitung von Informationen heute in vielen Fällen von externen Dienstleistern (wie Google, Wikipedia oder YouTube) übernommen. Bestehen nun keine rechtlichen bzw. individuell vorgenommenen Einschränkungen, werden sämt­liche Daten der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und zudem in den nur schwer ergründlichen Archiven der Anbieter gespeichert. Dies bedeutet für viele UrheberInnen ein geringeres Maß an Kontrolle über eigene Daten (cf. Runkehl 2012: 10).

Für die neue Qualität des Web 2.0 noch entscheidender ist aber die enorme Steigerung des Aktivitäts- und Kommunikationsgrades der NutzerInnen. Durch die Entwicklung vielfältiger Möglichkeiten, eigene Texte, selbst Produziertes wie Bilder und Videos oder die eigene Identität zu veröffentlichen (etwa in Wikis, Blogs oder Sozialen Netzwerken wie Facebook), sowie die Veröffentli­chungen anderer kommunikativ mitzugestalten (z.B. über Kommentare, Tweets oder Facebook -Nachrichten), sind heutige Internet-User nicht mehr nur passive InformationskonsumentInnen, sondern zunehmend selbst produzierende Kom­munikationsteilnehmerInnen (cf. Runkehl 2012: 13).[2] So sieht auch Hinchcliffe das grundlegende Charakteristikum der aktuellen Entwicklungsstufe des Inter­nets in dessen „architecture of participation that encourages user contribution“ (Hinchcliffe 2006, zit. n. Androutsopoulos 2010a: 207). Dabei trägt die immer einfacher werdende Handhabbarkeit der verschiedenen Anwendungen dazu bei, dass sich die Anzahl aktiver und individuell-selbstgestaltender NutzerIn­nen stetig weiter erhöht. Gleichzeitig vollzieht sich damit, wie Runkehl anfügt, eine immer weiter fortschreitende Vernetzung von Inhalten verschiedenster UrheberInnen (cf. Runkehl 2012: 16).

Zum Prozess zunehmender Partizipation ergänzt Androutsopoulos das Stichwort der Konvergenz und meint damit das Zusammenwachsen vormals getrennter Anwendungen, Aktivitäten und Kommunikationsmodi zu integralen digitalen Räumen. Im Gegensatz zum schriftzentrierten Web 1.0 der 90er-Jahre zeichnen sich heutige Internetseiten durch eine immer differenzierte Einbettung von Bild, Ton und Film und damit durch zunehmende Multimodalität aus. Die verschiedenen Elemente stammen dabei häufig nicht nur vom/von der Urhe­berIn bzw. BetreiberIn der Seite, sondern sind Produkte anderer AutorInnen bzw. Inhalte vielfältigster externer Internetquellen. So präsentieren sich viele Webseiten heute als ein Nebeneinander von professionellen und laiengenerier­ten Inhalten sowie verschiedener semiotischer Kanäle, und sind Zeugnisse un­terschiedlicher AutorInnenhandschriften, Gestaltungs- und Produktionsweisen (cf. Androutsopoulos 2010a: 208).

Die Konstitution und Qualitäten des Internets für die kommenden Jahr­zehnte in exakter Weise abzuschätzen erscheint ein nahezu unmögliches Unter­fangen. Dennoch lassen die bisherigen Prozesse wohl einige Schlussfolgerun­gen bzw. Prognosen für die weitere Entwicklung des weltweiten Netzwerks zu. Für den Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion vermuten etwa Schön­hagen und Trebbe eine stetig zunehmende Entgegenwärtigung bzw. Virtuali­sierung. So werden weiterentwickelte Technologien die interpersonale Ver­ständigung bei räumlicher Getrenntheit der InteraktionspartnerInnen und zeitli­cher Versetztheit der Kommunikationsakte noch einfacher und selbstverständ­licher gestalten (cf. Schönhagen / Trebbe 2008: 50-51).

Auch die gesellschaftliche Kommunikation, und hier insbesondere die Me­diennutzung, wird sich nach Auffassung von Schönhagen und Trebbe weiter individualisieren und entgegenwärtigen. Schon heute ist die Tendenz offen­sichtlich, nach welcher Medien wie Fernsehkanäle, Radiosender oder Zei­tungsverlage ihre Inhalte nicht mehr nur einmalig veröffentlichen, sondern durch Abspeicherung auf Internetservern eine flexible Abrufbarkeit ermögli­chen. In mittlerer Zukunft werden daher die klassischen Medienmodelle wie Zeitungen in Papierform wohl nur noch von wenigen Menschen genutzt wer­den – die Mehrheit wird dann über ein einziges Endgerät verfügen, welches die Rezeption sämtlicher Angebote, unabhängig von Zeit, Raum, Herstellungszu­sammenhang, Verteilerkanal oder Speicherort, erlauben wird (cf. Schönhagen / Trebbe 2008: 52).

So werden die kommenden Jahre und Jahrzehnte neue und höchstwahr­scheinlich auch ungeahnte Qualitätsstufen des Internets und der digitalen Technologien bereithalten. Gewiss scheint zumindest, dass der eingeschlagene Weg in eine globale Kommunikations-, Informations- und Dienstleistungsge­meinschaft weiter beschritten und von immer intelligenteren Möglichkeiten gesäumt sein wird. Runkehl wagt in diesem Zusammenhang sogar eine vor­sichtige zeitliche Prognose, nach der die 2020er-Jahre von einem Web 4.0 be­herrscht werden könnten, welches der Welt die Verbindung von Intelligenz bescheren wird (cf. Runkehl 2012: 17).

2.1.2 Ein multilinguales Netzwerk

Die im vorigen Punkt beschriebene zunehmende Heterogenität des heute vor­liegenden digitalen Raumes lässt sich in ähnlicher Weise im sprachlichen Be­reich beobachten. So bezeichnet Crystal die Metamorphose des Internets von einem ursprünglich einsprachigen Medium zum multilingualen Cyberspace der Gegenwart als dessen bedeutendste Veränderung (cf. Crystal 2011: 78). Waren die Anfangsjahre des Netzwerks noch vom ausschließlichen Gebrauch des Englischen gekennzeichnet, wächst der Anteil weiterer Sprachen seit Mitte der 1990er-Jahre stetig, so dass die Vorherrschaft des Englischen immer weiter aufgebrochen und von einer Bühne der Vielsprachigkeit abgelöst wurde.

Die stärkste Konkurrenz bezüglich der NutzerInnen-Zahlen erfährt die eng­lische Sprache heute durch das Chinesische. Für das Jahr 2010 stellt Crystal 496 Mio. englischsprechenden Usern bereits 408 Mio. chinesischsprachige NutzerInnen entgegen, was einem Anteil an der GesamtnutzerInnen-Zahl von 27,5% bzw. 22,6% entspricht. Gefolgt werden jene beiden Sprachen vom Spa­nischen (7,8% aller User), Japanischen (5,3%), Portugiesischen (4,3%), Deut­schen (4,0%), Arabischen (3,3%), Französischen (3,2%), Russischen (2,5%) und Koreanischen (2,1%). Dabei ergibt eine einfache Addition, dass gegen­wärtig etwa 80% aller Internet-User weltweit die eben genannten zehn Spra­chen nutzen. Bezüglich der Quantität der NutzerInnen vermutet Crystal einen baldigen Wechsel an der Spitzenposition zugunsten des Chinesischen (cf. Crystal 2011: 79).

Nach Auffassung Crystals existieren bisher keine gesicherten Untersu­chungsergebnisse darüber, wie viele Sprachen der Erde bisher im Internet ver­treten sind, und welchem Anteil die jeweiligen Inhalte an der Gesamtdaten­menge entsprechen (cf. Crystal 2011: 81-82). Crystal betont in diesem Zusam­menhang die enormen Schwierigkeiten bei der Feststellung diesbezüglicher Quantitäten. So können die Ergebnisse je nach Vorgehensweise (wie das Zäh­len von Usern, Webseiten oder aber Host Servern), Datengrundlage und Such­mechanismus stark voneinander abweichen. Vorliegende Schätzungen zur An­zahl von Internetpräsenzen in einzelnen Sprachen bestätigen die befürchtete Ergebnisvarianz (cf. Crystal 2011: 87-88).

Sicher scheint jedoch, dass sich die Gestalt der Sprachenlandschaft im digi­talen Netzwerk in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterhin stärker ver­ändern wird. Der Ausbau und die Verbesserung der notwendigen Infrastruktur in den Bevölkerungsgiganten China und Indien sowie in den Schwellen- bzw. Entwicklungsländern Afrikas und Südamerikas wird einen enormen Anstieg der User-Zahlen in diesen Regionen zur Folge haben, bisher wenig beachtete Sprachen ins Spiel bringen und eine Verschiebung des sprachlichen Hierar­chiegefüges bewirken. Und so könnte nach Crystal, eines Tages in weiterer Zukunft, das Internet zum Spiegelbild der real existierenden Sprachenvertei­lung in der Welt werden (cf. Crystal 2011: 82).

Eine herausragende Rolle bezüglich dieser Veränderungen wird dabei wohl dem afrikanischen Kontinent zukommen. Schon heute hat der Erdteil, welcher über 2100 lebendige Sprachen beherbergt, mit rund 3600% weltweit die höchste Rate an Internet-Wachstum für den Zeitraum 2000-2012 (cf. Lewis et al. 2013; Internet World Stats 2013). Gleichzeitig können gegenwärtig jedoch erst knapp 16% aller AfrikanerInnen das Internet nutzen, was, verglichen mit allen weiteren Kontinenten, der niedrigsten Verbreitungsrate entspricht (cf. Internet World Stats 2013).

Die Förderung und der weitere Ausbau eines multilingualen Internets sind Zielstellungen weltweiter Zusammenarbeit bzw. internationaler Organisatio­nen. Wie Crystal herausstellt, verabschiedete die UNESCO im Rahmen ihrer Generalversammlung im Jahr 2003 auch verschiedene Empfehlungen zum Schutz und zur Weiterent­wicklung der Vielsprachigkeit im Cyberspace, an deren Umsetzung alle Mit­gliedstaaten mitwirken sollen. Zwei Jahre darauf mündete ein zweiteiliger Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (Genf 2003 und Tunis 2005) in einer weiteren Vereinbarung zur Förderung der sprachli­chen Vielfalt im Internet. Hierin verpflichteten sich die teilnehmenden Staats­regierungen zum Ausbau der dafür erforderlichen Infrastruktur sowie zur Si­cherung von kultureller und sprachlicher Vielfalt, heterogenen Identitäten und lokalen Inhalten im digitalen Netzwerk (cf. Crystal 2011: 82-84).

Als eine Notwendigkeit von herausragender Bedeutung stellt(e) sich die Kompatibilität des Internets für nicht-lateinische Schriftsysteme dar. Nachdem in den Anfangsjahren des Netzwerks zahlreiche Dienstleister und Softwarepro­dukte Probleme mit der Erkennung nahezu aller dem englischen Alphabet fremden Schriftzeichen hatten (u.a. auch mit den diakritischen Zeichen des Französischen), war die Akzeptanz nicht-lateinischer Schriften und Symbole bis in die jüngere Vergangenheit mit Schwierigkeiten verbunden und bleibt es zum Teil noch heute. So ist es erst seit 2009 möglich, Zeichen aus jenen Schriftsystemen für Domain-Bezeichnungen zu nutzen. Seit Ende der 1980er-Jahre wird mit Unicode ein internationales Standard-Kodierungssystem stetig weiterentwickelt, welches jedem einzelnen Schriftzeichen einen eindeutigen digitalen Code zuweist und damit deren Kompatibilität gewährleistet. Die neu­este Version 6.2 (September 2012) beinhaltet bereits 100 Schriftsysteme und über 110.000 verschiedene Zeichen (cf. Anonymus 2013a).

2.1.3 Neue Bedingungen für Nichtstandardvarietäten

2.1.3.1 Die Umkehrung einer Tradition

Die im vorigen Kapitel beschriebene Entwicklung des Internets von einem an­fangs vom Englischen dominierten Netzwerk zu einem sprachlich immer hete­rogener werdenden Medium lässt sich nicht nur auf sprecherInnenstarke (Nati­onal-)Sprachen oder auf die Ebene der Standardvarietäten reduzieren. Viel­mehr stellt sich das Internet der Gegenwart auch als eine Bühne für Regio­nal- und Minderheitensprachen sowie verschiedenste Nichtstandardvarietäten wie Dialekte, Alltags- bzw. Umgangssprache oder Gruppensprachen dar, wel­che Tag für Tag an Vielfältigkeit hinzugewinnt. Wie Michel formuliert, leitet das weltweite Netzwerk damit die Umkehrung der durch den Buchdruck vo­range­triebenen Entwicklung ein: Hatte letzterer, ob mit dem Medium Buch verbun­dener technischer und ökonomischer Zwänge, die Herausbildung von Stan­dardsprachen und sprachlichen Normen entscheidend befördert, erweist sich das Internet mehr und mehr als ein „Motor der sprachlichen Diversifizie­rung“ und entwickelt sich zu einem „Präsentations-, Kommunikations- und Diskussi­onsforum für und in Dialekte(n) und Minderheitensprachen“ (Michel 2008: 5).

Als Beispiel für jene Entwicklung seien an dieser Stelle lediglich die vielge­staltigen Aktivitäten in und um diatopische(n) Varietäten verschiedenster Ein­zelsprachen (also des Französischen, Englischen, Deutschen usw.) genannt. So existiert heute etwa eine Vielzahl von privaten Homepages zur Präsentation einzelner Dialekte, von interessierten Usern selbst zusammengetragene Glos­sare, Plattformen zum Erlernen der Varietäten für NichtsprecherInnen, laien­linguistisch erstellte multimediale Dialektkarten, YouTube -Videos mit unter­schiedlichsten dialektalen Bezügen, Dialektfangruppen auf Facebook oder Fo­ren, in denen ausschließlich in einer bestimmten lokalen Varietät kommuniziert wird.

Als einen sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuch für dieses Phänomen führt Michel den Begriff der Glokalisierung an. Diese Zusammensetzung aus Globalisierung und Lokalisierung bezeichnet die nahezu weltweit beobachtbare Tendenz zur Rückbesinnung auf Regionales und Lokales in Zeiten einer immer stärker vernetzten und zusammenwachsenden Welt. Nach der These des Sozi­ologen Robertson wächst mit der zunehmenden internationalen Verflechtung, gleichsam als Gegengewicht, das Verlangen der Menschen nach regionaler und lokaler Überschaubarkeit (cf. Michel 2008: 2).

2.1.3.2 Neue Schriftlichkeit und Destandardisierung

Die entscheidende technologische Voraussetzung für den Einzug von Minder­heitensprachen und nicht standardisierten Varietäten in das globale Netzwerk bilden die in 2.1.1 beschriebenen vielfältigen Partizipations- und Kommuni­kationsmöglichkeiten des Web 2.0 für dessen NutzerInnen. Mit der Entstehung neuartiger virtueller Interaktionsräume wie Chats, Foren oder die sozialen Netzwerke sowie Kommunikationsformen wie E-Mails, Tweets oder die in Homepages, Blogs u.ä. integrierte Kommentarfunktion bieten sich den Usern heute unterschiedlichste Formen und Gelegenheiten, miteinander kommunika­tiv in Verbindung zu treten. Wie Androutsopoulos herausstellt, besitzen die allermeisten digitalen Interaktionsformen dabei mehrere entscheidende Ge­meinsamkeiten: Die Kommunikation geschieht medial schriftlich, und deren Inhalte sind einer mehr oder weniger großen Öffentlichkeit zugänglich. Im Gegensatz aber zu vordigitalen Zeiten, in denen das Schreiben für ein größeres Publikum stets einer institutionell-sprachnormativen Kontrolle unterlag (z.B. durch Instanzen des Presse- und Buchwesens), vollzieht sich die Interaktion hier in weiten Teilen ohne den Druck der unbedingten Einhaltung schrift­sprachlicher Normen (cf. Androutsopoulos 2011a: 155).

So hat sich, wie Androutsopoulos weiter ausführt, innerhalb kürzerer Zeit die Akzeptanz informellen bzw. nähe­sprachlichen Verhaltens in weiten Teilen der computervermittelten Kommuni­kation konventionalisiert. Die Verwendung von Alltags- und Umgangssprache, dia- und soziolektaler Elemente und weite­rer Phänomene mündlichen Sprach­gebrauchs (wie Interjektionen, Ellipsen oder Anakoluthe) wird, je nach Bezie­hung der InteraktionspartnerInnen, Kommuni­kationsanlass und Art des Medi­ums freilich in unterschiedlichen Ausprägungs­graden, nicht sanktioniert, son­dern als Zeichen kommunikativer Nähe bzw. als Ausdruck von Identität, Krea­tivität und/oder Humor akzeptiert. Der Charakter eines Großteils der Schrift­sprache im Internet wird daher auch unter dem Be­griff der konzeptionellen Mündlichkeit[3] zusammengefasst; die Gesamtheit der Phänomene wird mitunter als neue oder sekundäre Schriftlichkeit bezeichnet (cf. Androutsopoulos 2007b: 74;81).

Die Entwicklung einer Internet-Schriftlichkeit, welche von den vormals all­gemeingültigen schriftsprachlichen Normen abweicht, bezeichnet Androu­tso­poulos als Überwindung der traditionellen Standardsprachen-Ideologie bzw. als Prozess der Destandardisierung. Hierunter versteht er den Verlust des all­ge­mein verbindlichen normativen Anspruchs von Standardvarietäten und deren Ersatz durch Substandards wie Umgangssprache, Dialekte oder Soziolekte in bestimmten Formen und Kontexten der digitalen Kommunikation. Das ehemals allumfassende bzw. einheitliche Norm- und Wertegefüge kann so durch kon­textengere, d.h. nur für begrenzte Bereiche wie ein bestimmtes Internet-Forum gültige Wertesysteme ersetzt werden (cf. Androutsopoulos 2011a: 156-157).

Als prominentes Beispiel führt Androutsopoulos die Orthografie an. So können in bestimmten Kommunikationsbereichen des Internets wie Chats oder Foren die normativen Vorgaben der Standardvarietät durch neue Konventionen ersetzt werden – die generelle Kleinschreibung von Substantiven im Deutschen oder die spielerisch-kreative Alternativschreibung möglichst vieler Wörter im Französischen (Neografie) sind dabei nur zwei Phänomene (cf. Androu­tso­poulos 2011a: 156).

Die Ergebnisse der mittlerweile in großer Zahl vorliegenden Untersuchun­gen zur Sprache im Internet lassen mehrere grundsätzliche Tendenzen offenbar werden. Wie Michel hervorhebt, weisen ausschließlich im virtuellen Raum auftretende Textsorten (wie E-Mail, Weblog, Forum und Chat) ein höheres Maß an Abweichungen von der jeweiligen Standardvarietät auf als solche, die auch in gedruckter Form existieren (wie beispielsweise Zeitungsartikel) (cf. Michel 2008: 11). Dürscheid und Brommer stellen die zeitliche Dimension sowie den Grad an Dialogizität als entscheidende Kriterien heraus: Je synchro­ner und dialogischer sich die Kommunikation darstellt, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten von Phänomenen der gesprochenen Sprache (cf. Dürscheid / Brommer 2009: 7). Für den Fall diatopischer Varietäten ergänzt Androu­tso­poulos deren tendenzielle Verbundenheit mit lokalen digitalen Räumen. So ergaben mehrere Untersuchungen zur Chatkommunikation in Deutschland und der Schweiz, dass in lokal bzw. regional gebundenen Internet-Chats (mit dem Namen einer Stadt bzw. Region im Titel) der Dialektgebrauch um ein Vielfa­ches höher ist als in überregionalen Varianten (cf. Androutsopoulos 2010b: 750).

2.1.3.3 Chancen und Perspektiven

Wie in den obigen Ausführungen deutlich wurde, können von Standardspra­chen abweichende Varietäten auf der Grundlage des partizipativen, sozial-kommunikativen und sprachnormativ toleranten Charakters des Web 2.0 heute häufiger und auf einfachere Weise in den öffentlichen Diskurs gelangen. Wäh­rend bis zum Beginn der digitalen Revolution Nichtstandardvarietäten und un­reglementiertes Sprachverhalten nur eingeschränkt Zugang in die medialen Räume von Presse, Rundfunk und Fernsehen fanden und dort sehr enge Funk­tionsbereiche ausfüllten (Umgangssprache und Dialekte wurden beispielsweise lediglich zur Charakterisierung bestimmter sozialer Klassen herangezogen), erobern sich jene Varietäten durch die Kommunikationserrungenschaften des Internets heute neue Felder und werden in (z.T. erstmals) verschrifteter Form einer breiteren Öffentlichkeit sichtbar (cf. Androutsopoulos 2011a: 155).

Die vielfältigen Möglichkeiten des interpersonalen Austauschs sowie die einfache Handhabung der Präsentations- und Interaktionsmöglichkeiten im Internet der Gegenwart ermutigen immer mehr Menschen, selbst erstellte In­halte wie Texte, Bilder, Grafiken oder Videos im digitalen Raum zu veröffent­lichen und an Diskursen zu verschiedensten Themen teilzunehmen. Nach Androutsopoulos hat die digitale Revolution ein massives Vordringen von Schriftlichkeit in den privaten bzw. außerinstitutionellen Bereich mit sich ge­bracht. So hat sich ein beträchtlicher Teil bisher in mündlichen Gesprächen geführter Kommunikation in die digitale Sphäre verlagert.[4] Vor allem junge Menschen äußern sich heute in einem höheren Maße in schriftlicher Form aus als etwa noch vor zwei Jahrzehnten (cf. Androutsopoulos 2007b: 76-78).

Als ein Ergebnis ihrer Untersuchung zur Repräsentation von Dialekten im Internet (und hier speziell zum Pikardischen) stellt Visser heraus, dass das glo­bale Netzwerk die schriftliche Fixierung bisher ausschließlich mündlich reali­sierter Varietäten begünstigt, ja gleichsam herausfordert. Nach ihrer Ansicht werden viele Menschen durch die für zahlreiche Internet-Textsorten typische konzeptionelle Mündlichkeit zum Schreiben in Nichtstandardvarietäten wie Umgangssprache, Dialekte oder Soziolekte ermuntert. So belegen beispiels­weise zahlreiche Beiträge in Foren, dass SprecherInnen, welche lediglich über passive Kenntnisse verfügen, erstmals zur aktiven Kommunikation im Dialekt animiert werden (cf. Visser 2007: 153).

Die Toleranz vieler Internet-User gegenüber einer Pluralität an schriftlich realisierten Varietäten und Schreibungen bedeutet dennoch keine völlige Gleichgültigkeit gegenüber bzw. Abkehr von sprachlichen Normen. Androu­tsopoulos betont das vielfache Auftauchen lokaler Normen (wie die sogenannte Netiquette für Foren) sowie metasprachlicher Diskurse unter LaienlinguistIn­nen (z.B. um die „richtige“ Schreibung von Dialektwörtern) (cf. Androutso­poulos 2011a: 156-157). Auch Visser schätzt, dass die schriftlichen Aktivitäten in und um Nichtstandardvarietäten eine größere Zahl von SprecherInnen zu einer Auseinandersetzung mit Normierungsfragen (etwa zur (Ortho-)Grafie) anregen wird (cf. Visser 2007: 153). Dabei könnte der partizipative Charakter des Web 2.0 vielfältige Möglichkeiten zur demokratischen Verhandlung von Regelungen und Normen bieten und eine Entwicklung von unten nach oben (von „normalen“ NutzerInnen zu Entscheidungsträgern) befördern.

Auf der Grundlage ihrer Untersuchungen stellt Visser schließlich die These auf, nach welcher das Internet langfristig möglicherweise zu einer Aufwertung traditionell eher geringgeschätzter Varietäten beitragen könnte. Dabei bezieht sie sich vor allem auf die bislang zumeist negativ belegten Regionalsprachen Frankreichs (cf. Visser 2007: 162). Auch Warschauer und De Florio-Hansen teilen diese Perspektive, und haben dabei insbesondere Minderheiten- bzw. bedrohte Sprachen im Blick. Eine Schätzung aus dem Jahre 1992, nach wel­cher 90% der derzeit etwa 6000 weltweit existierenden Sprachen in den nächsten 100 Jahren aussterben werden, konfrontieren sie mit den Chancen des neuen Mediums zur Bewahrung und Revitalisierung von Varietäten auch mit weniger SprecherInnen. Nach ihrer Auffassung hängt deren Überleben weniger von der Anzahl der Sprechenden, als vielmehr vom Willen und Engagement letzterer sowie von einer aktiven Weitergabe der Sprachen ab (cf. Warschauer / De Florio-Hansen 2003: 21).

Und so soll das Potential an Chancen und Perspektiven, welches das Inter­net gegenüber traditionellen Medien wie Buch, Presse, Rundfunk und Fernse­hen in einem wohl noch beträchtlich höheren Maße für die Lebendigkeit von Nichtstandardvarietäten bereithält, abschließend mit den Worten von Georga­kopoulou zusammengefasst werden:

[The new media are] by no means a homogeneous and centralized site: in contrast, [they] encourage hybridity, diversity of voices and ideologies, and expression of differ­ence. (Georgakopoulou 2003, zit. n. Androutsopoulos 2011b: 280)

2.2 Die Entwicklung und Ergebnisse linguistischer Forschung zur Sprache in digitalen Medien

Seit Mitte der 1990er-Jahre bildet die Sprache in den neuen digitalen Medien und Kommunikationsformen einen Untersuchungsgegenstand internationaler linguistischer Forschung. Lag in den Anfangsjahren das Hauptaugenmerk zu­nächst auf den Auswirkungen der digitalen Technik auf das menschliche Sprachverhalten, wobei vor allem eine neue Schriftlichkeit konstatiert und be­schrieben werden konnte, so hat sich der spezifisch linguistische Blick seit ei­niger Zeit auch auf soziale und diskursive Fragestellungen erweitert, welche das Internet als Raum zwischenmenschlicher Aktivitäten, Bühne unterschied­lichster Identitäten und Hybrid verschiedener semiotischer Modi (nicht nur Sprache) betrachten. Im Folgenden sollen die Entwicklungen und grundlegen­den Ergebnisse sprachwissenschaftlichen Interesses an der digitalen Kommu­nikation in einem kurzen Überblick nachgezeichnet werden.

2.2.1 Die digitale Veränderung der Sprache

Mit der Entwicklung neuer digital-schriftlicher Kommunikationsformen wie SMS, E-Mail, Chat oder Forum und deren Nutzung durch eine schnell anwach­sende Zahl von Menschen entstand auch unter LinguistInnen das Bedürfnis, jene Phänomene genauer zu untersuchen. Unter anderem angefeuert durch bald aufflammende öffentliche Aufschreie, welche den Niedergang der Sprache prophezeiten, rückten die Veränderungen von (Schrift-)Sprache in und durch die neuen Medien in den Mittelpunkt des Interesses.

Nach der Auffassung von Androutsopoulos sah sich die Linguistik dabei mit der Notwendigkeit konfrontiert, die lang gehegte strenge Trennung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache und damit verbundene idealisierte Typologisierungen zu überdenken, stellte sich die computervermittelte Kom­munikation doch immer mehr als ein Konglomerat von Aspekten schriftlichen und mündlichen Sprachgebrauchs heraus (cf. Androutsopoulos 2011a: 150). Wie Runkehl unterstreicht, wurde das Modell der Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher zur Unterscheidung zwischen Nähe- und Distanzsprache, und hierbei insbesondere der Begriff der konzeptionellen Mündlichkeit (vgl. 2.1.3.2), zu einer zentralen theoretischen Grundlage über die verschiedenen Philologien (Anglistik, Germanistik, Romanistik etc.) hinweg. So konnten zahlreiche Untersuchungen etwa zur SMS-, Chat- und Foren-Kommunikation belegen, dass die spezifischen Bedingungen jener digitalen Interaktionsformen die NutzerInnen zur Produktion schriftlich fixierter Texte anregen, welche in einem beträchtlichen Maße Merkmale von spontan-mündlicher bzw. von Nähe-Sprache enthalten (cf. Runkehl 2012: 19).

Gestützt durch die Ergebnisse umfangreicher linguistischer Forschung lässt sich die heutige, insbesondere durch die Errungenschaften des Internets er­möglichte digitale Kommunikation als sogenannte Neue Schriftlichkeit mittels vierer Merkmalskategorien näher charakterisieren. Neben der oben genannten Tendenz zur Mündlichkeit bzw. Versprechsprachlichung nennt Androutso­poulos weiterhin die Stichworte Kompensation, Ökonomisierung und Grafosti­listik. Das erstgenannte Phänomen wurde bereits in 2.1.3.2 ausführlicher be­schrieben – hierbei handelt es sich um die Annäherung der Schriftsprache an die Strukturen und Organisationsformen informeller und spontan geäußerter gesprochener Sprache. Unter Kompensation werden die verschiedenen Mittel zum Ersatz durch die digitale Technik nicht übertragbarer Intonation und Kör­persprache verstanden (wie z.B. Emoticons). Strategien der Sprachökonomie (d.h. zur Verkürzung von Äußerungen) spielen unter anderem deshalb eine Rolle, da bestimmte Kommunikationsformen wie SMS oder Tweets (Kurz­nachrichten über Twitter) nur eine begrenzte Anzahl von Schriftzeichen pro Nachricht zulassen. Der Begriff Grafostylistik (oder auch Neografie) schließ­lich umfasst alle Phänomene der Brechung von Orthografie-Normen bzw. der Alternativschreibung (wie beispielsweise 2m1 für demain oder n8 für Nacht), die aus unterschiedlicher Motivation heraus realisiert werden und sich vor al­lem unter jüngeren NutzerInnen der Chat- und SMS-Kommunikation großer Beliebtheit erfreuen (cf. Androutsopoulos 2011a: 150-153).

Aus diesen grundsätzlichen Tendenzen kann dennoch keinesfalls die Schlussfolgerung abgeleitet werden, nach welcher die Sprache in digitalen Me­dien wie dem Internet als eine homogene Varietät einzustufen wäre. Wie Run­kehl betont, erge­ben sich aus einem vielgestaltigen Zusammenspiel der oben beschriebenen vier Kategorien, je nach Medium, Situation und Funktion der Kommunikation so­wie individuellem Stil der InteraktionspartnerInnen, unter­schiedlichste sprach­liche Realisierungen und kommunikative Praktiken. Diese werden von der lin­guistischen Forschung gedeutet als

[…] funktionale Schriftsprachvarianten, die sich in Konkurrenz zu Standardisierungs- und Normierungsprozessen ausbilden und im Hinblick auf die medialen Bedingungen und kommunikativen Funktionen optimiert sind. (cf. Schlobinski 2005, zit. n. Runkehl 2012: 18)

Und so ist es ein Verdienst bisheriger Bemühungen von Seiten der Sprach­wissenschaft, die durch die neuen Medien provozierte Ausweitung schriftlicher Ausdrucksformen zu beschreiben und diese als Produkte spezifischer tech­nisch-medialer Möglichkeiten und Bedingungen sowie moderner menschlicher Bedürfnisse einzuordnen (cf. Runkehl 2012: 18).

2.2.2 Ein weiterer Blick: Ethnografie, Multimodalität und Heteroglossie

Mit der fortschreitenden Entwicklung des Internets hat sich die Stoßrichtung der sprachwissenschaftlichen Forschung zur digitalen Kommunikation von spezifisch linguistischen Fragestellungen zu einem erweiterten Blick gewan­delt, welcher das Internet als Raum für u.a. durch Sprache realisierte soziale Aktivitäten wahrnimmt. Nach Androutsopoulos besteht die Herangehensweise verschiedener jüngerer Unter­suchungen in dem Versuch, sich in verschiedens­ter Art und Weise darbietende soziale Identitäten (u.a. in Blogs, Chats, Foren, sozialen Netzwerken oder YouTube -Videos) als diskursive Konstruktionen zu begreifen, die durch unterschiedliche semiotische Mittel erzeugt und verhan­delt werden (cf. Androutsopoulos 2011b: 280).

Ein konkreter Weg, die sozialen Kontexte der Sprachverwendung im Inter­net zu untersuchen, ist die u.a. von Androutsopoulos verfolgte ethnografische Herangehensweise. Hierunter versteht der Germanist und Medienlinguist ein Verfahren der teilnehmenden Beobachtung und verbindet damit die Analyse von Internetseiten bestimmter sozialer Gruppen (wie Blogs, Foren oder die sozialen Netzwerke) mit einem etwa durch Interviews hergestellten direkten Kontakt zu den Teilnehmenden.[5] So versucht Androutsopoulos, sprachliche Äußerungen vor dem Hintergrund der zwischenmenschlichen Beziehungen und Herkünfte der NutzerInnen zu interpretieren, und denkt damit Sprache und soziale Kategorien stets zusammen. Durch den Einbezug von Interviews u.ä. nimmt die sprachliche Bewusstheit der SprecherInnen bzw. deren subjektive Interpretation ihres Sprachverhaltens einen gewichtigen Stellenwert ein (cf. Androutsopoulos 2008: 2-3).

Die jüngere Forschung ist außerdem bestrebt, der Multimodalität des heuti­gen Internets gerecht zu werden (vgl. 2.1.1). So betrachtet auch Androu­tso­poulos das globale Netzwerk als einen Raum, in dem die NutzerInnen zu­neh­mend unterschiedliche semiotische Modi wie mündliche Rede, schriftlichen Text, Bild, Film, Farbe, Musik oder Grafikdesign nutzen. Aus diesem Grunde schlägt er eine multi-modale Analyse vor, die neben Sprache auch weitere Ausdrucks- und Kommunikationskategorien in den Blick nimmt, und die Be­ziehungen zwischen den verschiedenen Modi, Texten und Codes aufzudecken versucht. Den Schwerpunkt seiner Untersuchungen bilden dabei sogenannte „partizipative Spektakel“ (Androutsopoulos 2012: 90), worunter komplexe multi-modale Texte wie beispielsweise YouTube -Videos in einer wiederum vielschichtigen und mehrdimensionalen Umgebung (wie Kommentare, Verlin­kungen oder weitere Video-Clips auf derselben Internetseite) zu verstehen sind (cf. Androutsopoulos 2010a: 212).

Dass die Vielfältigkeit des Web 2.0 auch für den sprachlichen Bereich gilt, wurde bereits in 2.1.2 und 2.1.3 beschrieben. So begegnen den Usern heute nicht nur Webseiten mit mehrsprachigem Inhalt, sondern auch solche mit ver­schiedenen Varietäten einer (bzw. mehrerer) Einzelsprache(n). Ein theoreti­sches Beispiel hierfür könnte die Homepage eines französischen Rapmusikers aus einem Pariser Vorort sein, welche ein Zusammentreffen von Standardfran­zösisch, englischer und französischer Hip-Hop-Sprache, Umgangsfranzösisch sowie der Varietät der Jugendlichen der konkreten Banlieue (unter dem Ein­fluss maghrebinischer Immigration) darstellen könnte. Um dieser Realität zu begegnen, schlägt Androutsopoulos das Konzept der Heteroglossie vor. Dieses wurde von Bailey (2007) geprägt, der hierunter das Nebeneinander verschiede­ner Sprachen, Varietäten und Zeichen einschließlich der damit jeweils verbun­denen sozio-historischen Spannungen, Konflikte und Assoziationen in einem bestimmten Kontext (wie beispielsweise eine Webseite) versteht (cf. Androu­tsopoulos 2010a: 214).

Androutsopoulos betont, dass eine solche Herangehensweise die Linguistik nicht mehr nur bei formalen Aspekten sprachlicher Zeichen verweilen lässt, sondern sie das globale Netzwerk als einen Raum voller Spannungen zwischen verschiedenen sprachlichen Ressourcen, sozialen Identitäten und Ideologien ernstnehmen lässt. So geht das Konzept der Heteroglossie über die Beobach­tung und Beschreibung eines gemeinsamen Auftretens von Sprachen und Vari­etäten hinaus, indem es deren unterschiedliche soziale Funktionen sowie damit verbundene ideologische Standpunkte fokussiert. Den Forschenden bietet es ein Instrument analytischer Vielseitigkeit, das der vielschichtigen Koexistenz unterschiedlichster Sprachstile und Stimmen im heutigen Internet angemessen ist (cf. Androutsopoulos 2010a: 214-215).

Heteroglossische Phänomene lassen sich auf allen Organisationsebenen des Internets finden. Je nach Forschungsfrage und Betrachtungswinkel können das Netz als Ganzes, eine konkrete Webseite, ein bestimmtes Forum, ein einzelner Thread bis hin zu einem Einzelbeitrag in einem Chat als Ausgangspunkt die­nen. Androutsopoulos hält einen Internetauftritt bzw. eine vollständige Website für eine praktikable Analyseeinheit. Diese umfasst wiederum verschiedene Mikroelemente bzw. textuelle Konstituenten wie Texte, Bilder, Videos, Ton­spuren und Posts, die jeweils einzeln betrachtet und in Beziehung gesetzt wer­den. Als Beispiele für Heteroglossie auf verschiedenen Ebenen nennt Androu­tsopoulos etwa eine private Homepage, welche Werbeelemente einer fremden Institution enthält (gleich- oder verschiedensprachig) oder einen in bayrischem Dialekt verfassten YouTube -Kommentar von einem/er User/in mit kroatischem Nickname (cf. Androutsopoulos 2011b: 284).[6]

Ein konkretes Beispiel einer Herangehensweise, die alle drei oben vorge­stellten Ansätze vereint, ist die von Androutsopoulos durchgeführte Analyse des Auftritts einer deutschen Musikerin auf der Internetplattform Myspace. Typisch für jene Präsentations- und Interaktions-Plattform stellt sich die Web­seite als zweisprachiges (Deutsch und Englisch) und mehrdimensionales (ver­schiedene semiotische Kanäle) Konstrukt dar, wobei eigene Inhalte der Musi­kerin (wie Texte, Musik und Videos) sowie Beiträge ihrer „Freunde“[7] eine Col­lage mit einem hohen Grad an Multimodalität und MultiautorInnenschaft bil­den. Als Mehrzweck-Diskursraum dient die Profilseite der Pflege sozialer Be­ziehungen unterschiedlicher Art bzw. der Realisierung verschiedener Dis­kurs­aktivitäten. Ziel der Untersuchung war es, die beiden hier vorkommenden Sprachen sowie deren verschiedene Stile und Varietäten (wie Umgangssprache oder literarischer Stil) auf Unterschiede hinsichtlich damit verbundener Funk­tionen und Intentionen zu analysieren (cf. Androutsopoulos 2011b: 286-287).

Das Vorgehen von Androutsopoulos umfasste die Beobachtung der Inter­netseite über einen längeren Zeitraum hinweg, die linguistische Analyse aus­gewählter Textdaten sowie ein Interview mit der Musikerin. Als ein allgemei­neres Ergebnis stellt der Medienlinguist das hohe heteroglossische Potential der sozialen Netzwerke wie Myspace heraus, was er vor allem auf das hohe Maß an Partizipativität zurückführt. So erlaubt eine geschickte Nutzung sprachlicher Heterogenität den NutzerInnen das Ausdrücken von Scharfsinn, Humor und Verspieltheit und trägt damit zu einer Erhöhung ihrer kommunika­tiven Attraktivität bei (cf. Anroutsopoulos 2011b: 292-294). Auch auf der Grundlage ähnlicher Untersuchungen kommt Androutsopoulos schließlich zu dem Schluss, dass

[...] a playful and creative use of language becomes a key resource for interpersonal communication and identity management in digital media. (Androutsopoulos 2011b: 295)

Dennoch gibt Androutsopoulos die begrenzte bzw. unzureichende Objekti­vität bzw. Validität seines Konzeptes der Heteroglossie zu Bedenken, hängt doch die Interpretation sprachlicher Äußerungen sowie dahinterstehender Funktionen, Intentionen und Ideologien auch stark von der individuellen Per­spektive des/der Forschenden ab (cf. Androutsopoulos 2011b: 295).

2.3 Sprache, Identität und das Internet

Das Internet der Gegenwart bietet als Social Web allen NutzerInnen vielfältige Formen und Möglichkeiten, ihrer individuellen Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen, in verschiedenster Art und Weise zur Schau zu stellen und in inter­personale Kommunikationsprozesse einzubringen. In Chatrooms, Foren, Weblogs, sozialen Netzwerken oder Spielgemeinschaften können User ihre tatsächliche Identität in unterschiedlichem Ausmaß öffentlich machen (von totaler Anonymität bis zur offensiven Selbstpräsentation), aber auch verän­derte, alternative bzw. virtuelle Identitäten erschaffen und im sozialen Mitei­nander erproben. Obgleich den NutzerInnen dafür heute ein immer umfangrei­cherer Kanon an semiotischen Mitteln zur Verfügung steht, bleibt die Sprache hinsichtlich der Kommunikations- und Präsentationsaktivitäten im globalen Netzwerk eine zentrale Kategorie. Im Folgenden nun soll der Begriff Identität etwas näher betrachtet und auf seine Zusammenhänge und Wechselwirkungen mit Sprache, Kultur und Nation bzw. Region untersucht werden. Außerdem soll die Rolle des Internets als Abbildungsraum für hybride sprachliche Identi­täten beleuchtet werden. Dies liefert eine Verständnisgrundlage für den weite­ren Teil dieser Arbeit und dabei vor allem für die Bedeutung des Nouchi für die ivorische SprecherInnen sowie für deren Aktivitäten im Internet.

2.3.1 Das postmoderne Identitätskonzept

Bis in die 1980er-Jahre galt die Persönlichkeit eines (gesund entwickelten) Erwachsenen in Psychologie und Sozialwissenschaften als eine in ihrer Ent­wicklung abgeschlossene und nahezu unveränderliche Größe. Wie De Florio-Hansen und Hu ausführen, wurde die menschliche Identität als das Produkt familiärer und schulischer Sozialisation betrachtet, welches sich bis in das frühe Erwachsenenalter hinein herausbildet, ab diesem Zeitpunkt stabil und festgefügt daherkommt, und im günstigen Falle als Balance verschiedener Komponenten bzw. Teilidentitäten ausgeformt ist (cf. De Florio-Hansen / Hu 2007: VII-VIII).

Seit den 1990er-Jahren hat sich dieses Konzept entscheidend gewandelt. Poststrukturale und postmoderne Denkmodelle führten die verschiedenen Hu­manwissenschaften zu einem neuen Identitätskonzept, das vielfältigste indivi­duelle Ausprägungen und eine stetige Weiterentwicklung bzw. Veränderung bis ins hohe Alter zur Grundlage hat. Nach De Florio-Hansen und Hu beruht dieses Modell auf Kulturtheorien, die Realitäten unserer heutigen zusammen­gewachsenen Welt wie „das dialektische Wechselspiel von Lokalem und Glo­balem, von Zentralisierung und dem Wunsch nach Distinktheit, von der kultur­übergreifenden Kommunikation und der Betonung der eigenen Identität“ (De Florio-Hansen / Hu 2007: VIII) in den Blick nehmen. Biografien mit Brüchen bzw. Bereicherungen wie Migration, plurilokale Lebensführung, konträre Ar­beitswelten oder Zwei- und Mehrsprachigkeit stellen längst keine Ausnahme mehr dar. Und so kann Identität heute definiert werden als „the reflexive pro­ject of the self, which consists in the sustaining of coherent, yet continuously revised, biographical narratives” (Giddens 1991, zit. n. De Florio-Hansen / Hu 2007: VIII).

Pla-Lang stellt die Vielschichtigkeit menschlicher Identität heraus. Sie ver­steht diese als Konstrukt, das sich aus stabileren Bestandteilen wie Geschlecht, biologische und physische Eigenschaften oder ethnische Zugehörigkeit und variableren Größen wie beispielsweise Religionszugehörigkeit, Sprache oder lokale, regionale bzw. nationale Verhaftung zusammensetzt (cf. Pla-Lang 2006: 129). Auch Hu unterstreicht den hybriden und komplexen Charakter von Identität. Zudem weist sie darauf hin, dass in der heutigen Zeit immer mehr Individuen zwischen verschiedenen Positionen schweben, welche auf unter­schiedliche kulturelle Traditionen zurückgreifen. So sind viele Identitäten der Gegenwart das Ergebnis komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindun­gen, wie sie in einer globalisierten Welt zunehmend üblich werden (cf. Hall 1994, zit. n. Hu 2007: 5-6).

Neben den personalen Aspekten umfasst menschliche Identität jedoch im­mer auch eine kollektive Dimension, ist sie doch notwendigerweise mit einem Sich-in-Beziehung-Setzen gegenüber der (sozialen) Außen- bzw. Umwelt ver­knüpft. Wie De Florio-Hansen und Hu ausführen, unterscheiden Individuen in allen Kultur- und Sprachgemeinschaften zwischen einem Ich und einem Du sowie zwischen einem Wir und einem Andere (cf. De Florio-Hansen / Hu 2007: IX). Die letztere Dichotomie beruht auf dem Eingebundensein des Men­schen in soziale Gruppen (wie Familie, Ethnie, Religionsgemeinschaft, Region oder Nation) und ist Bestandteil seiner kollektiven Identität. Nach Pla-Lang umfasst diese das Bild, welches eine bestimmte Gruppe von sich entwickelt und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Dabei entsteht dieses „Wir“ immer auch in der Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Gruppen (cf. Pla-Lang 2006: 129-130).

[...]


[1] Die Statistikplattform sammelt weltweite Daten zu verschiedenen Aspekten des Internets und stützt sich dabei u.a. auf nationale Statistikämter sowie die International Telecommuni­cations Union (ITU). Die hier angeführten Zahlen zur Nutzung und Verbreitung des Inter­nets geben den Stand vom 30.06.2012 wieder.

[2] Die enorme Erweiterung der Kommunikations- und Aktivitätsmöglichkeiten für die NutzerIn­nen des Web 2.0 wird auch durch die häufig benutzte Bezeichnung Social Web ausgedrückt.

[3] Der Begriff geht auf ein Modell von Koch und Oesterreicher (1985/1994) zurück. Diese unterscheiden zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. Während sich die mediale Dimension auf die beiden Repräsentationsformen von Sprache bezieht (phonisch vs. grafisch), wird unter dem Begriff Konzeption der Duktus bzw. die Ausdrucksweise einer Äußerung verstanden. Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlich­keit werden dabei mit einem Kontinuum zwischen den Polen Nähe und Distanz zusammen­gebracht (cf. Dürscheid 2003: 38).

[4] Neben den Interaktionsformen im Internet (wie Chats, Foren, Blogs und die sozia­len Netz­werke) ist hierzu vor allem auch die SMS-Kommunikation zu zählen.

[5] Androutsopoulos untersuchte mit dieser Methode beispielsweise den Zusammenhang von Sprache und Identitätskonstruktion innerhalb jugendlicher Musikkulturen (v.a. Hip-Hop) und ethnischer Minderheiten in Deutschland. Bei letzterer Gruppe lag der Schwerpunkt auf deren mehrsprachigem Verhalten (cf. Androutsopoulos 2008: 4).

[6] Im Falle des YouTube -Kommentars kommen auf der Mikroebene eines Posts sowohl der Ausdruck bayrischer (im Text selbst) als auch kroatischer Identität (im Nickname) zusam­men. So wird eine neue Identität konstruiert (cf. Androutsopoulos 2011b: 284).

[7] Die Fremdbeiträge umfassten ein breites Spektrum an Genres, Sprachstilen und Intentio­nen. Hierzu gehörten beispielsweise Kommentare persönlicher FreundInnen bzw. Bekann­ter, Beiträge von (unbekannten) Fans, kommerzielle Beiträge bzw. Werbung anderer Bands (etwa für Konzerte) oder Dankesbezeugungen für Addings (cf. Androutsopoulos 2011b: 287).

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Das Internet als Raum für Nichtstandardvarietäten. Das ivorische Sprachphänomen Nouchi
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Romanistik)
Note
1,3
Jahr
2013
Seiten
108
Katalognummer
V273052
ISBN (eBook)
9783656647423
ISBN (Buch)
9783656647416
Dateigröße
4168 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nouchi, Elfenbeinküste, Sprache, Internet, Französisch, Romanistik, Côte d'Ivoire, Nichtstandardvarietät
Arbeit zitieren
Anonym, 2013, Das Internet als Raum für Nichtstandardvarietäten. Das ivorische Sprachphänomen Nouchi, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/273052

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