„Gut zu leben bedeutet gut zu sterben.“ Die Todesthematik in den Werken von Lev Nikolaevič Tolstoj und Anton Pavlovič Čechov


Masterarbeit, 2013

70 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Thema und Fragestellung
1.2 Untersuchungsmethode
1.2.1 Begriffe
1.2.2 Vorgehensweise
1.3 Forschungsstand

2. Hauptteil
2.1 Der Tod in Tolstojs Frühwerk
2.1.1 Der mitleidende Gutsherr
2.1.2 Die Legende vom Heldentod
2.2 Der Tod in Tolstojs Spätwerk
2.2.1 Der Tod eines Juristen
2.2.2 Die Bürokratisierung des Todes
2.2.3 Die Lebenslüge der Lebenswelt
2.2.4 Erlösung und Ewigkeit
2.3 Der Tod in Čechovs Frühwerk
2.3.1 Der kalte Blick des Arztes
2.3.2 Der Tod und die Hundeschnauze
2.4 Der Tod in Čechovs Spätwerk
2.4.1 Der Tod in der Mönchskutte
2.4.2 Die Furcht vor dem Herrn
2.4.3 Die Flucht in die Erinnerung

3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

4. Literatur
4.1 Primärliteratur
4.2 Sekundärliteratur
4.3 Digitale Quellen

1. Einleitung

1.1 Thema und Fragestellung

„Man haut auf den hedonistischen Putz und lässt den Gevatter Tod einen guten Mann sein. Das hindert ihn aber nicht daran, von Zeit zu Zeit ans Fenster zu klopfen.“[1]

Die Todesthematik umfasst eine Vielzahl physischer und psychischer Zustandsänderungen: zuallererst das Sterben als das Versiegen aller körperlicher Vitalfunktionen, die innere Gewissheit, den Endpunkt des irdischen Daseins erreicht zu haben, aber auch die Verleugnung der nicht zu verleugnenden Existenz des Todes, schließlich Todessehnsucht, Selbstmord oder sein Versuch, dann das Resümee des gelebten Lebens mit allen Niederlagen und Erfolgen, zuletzt die Hinnahme des Unausweichlichen.

Der Sterbeprozess selbst, der langsam oder schneller auf das Lebensende hinsteuert, rückt die subjektiven Erfahrungen ein letztes Mal in den Vordergrund, um das Subjekt – objektiv bzw. intersubjektiv feststellbar (beispielsweise durch Ärzte) – auszulöschen. Diese subjektiven Erfahrungswelten der finalen Lebensphase machen den Tod sowohl als soziales Phänomen als auch als literarisches Sujet interessant. So können das Leid einzelner, zwischenmenschlicher Beziehungen, Machtverhältnisse und soziale Bedingungen beleuchtet werden.[2]

Der Tod ist ein der zentralen Themen der russischen Geistesgeschichte. Das russische Verständnis der Opposition von Leben und Tod unterscheidet sich stark von dem westlichen. Dies resultiert aus der besonderen Identität der russischen Kultur, die aus westlichen, östlichen, vor allem aber byzantinischen Einflüssen amalgiert wurde.[3] Das folkloristische Verständnis des Todes, auch wenn es durch die Christianisierung Russlands in den Hintergrund verdrängt wurde, lässt den russischen Menschen im Glauben, dass die Toten in eine Welt gehen, die der der Lebenden ähnlich ist und dass die Verstorbenen das irdische Leben mitbestimmen können. So wie bei Lebenden gibt es auch gute und böse Tote, die Neigung des Sterbenden hängt von der Lebensweise während seines irdischen Daseins ab.

Auch Orlando Figes, britischer Historiker und Professor für die neuere und neueste russische Geschichte, betont, dass das russische Volk an ein Königreich Gottes auf dieser Erde glaubte.[4] Sogar gebildete Russen konnten orthodox und heidnisch zugleich sein. Figes sieht eine der typisch russischen Eigenarten darin, solche starken Antithesen auszuhalten und sie „zu einer Sensibilität, einer Lebensweise und Weltanschauung zusammenzufügen, die reibungslos miteinander harmonieren.“[5] Im Zusammenhang mit dem Tod war Aberglaube auch bei der Aristokratie verbreitet. So vermeidet z. B. Nikolaj Gogol in seinen Briefen das Wort „Tod“, um ihn quasi nicht selbst herbeizubeschwören.[6]

Die russische Literatur hat dem tragischen Tod, der neben der unerfüllten Liebe wegen seiner Drastik zum wichtigsten Erzählstoff der Weltliteratur rechnet, ein Denkmal gesetzt. In den Werken Aleksandr Sergeevič Puškins nimmt die Darstellung des Todes eine so große Bedeutung ein, dass man ihr neben der dramaturgischen auch eine ästhetische Funktion beimessen kann. Für Puškin gehört der Tod zu den großen Rätseln des menschlichen Daseins.

Michail Lermontov versteht ihn als Lösung aller Weltschmerzen: des Leidens, der Enttäuschung, der Leere und Sehnsucht im Leben. Der Tod ist demnach der große Befreier: Er befreit den Menschen von seinem Leiden. Der Verstorbene jedoch verliert auch die Fähigkeit zu lieben und glücklich zu sein. Seine Helden stehen oft vor dem Dilemma zwischen Leben und Leiden. Sie können diesen Zwiespalt aber nicht selbst überwinden. Erst eine höhere Macht (zumeist das Schicksal oder Gott) führt seine Helden aus dieser Zwickmühle heraus.

Nikolaj Vasil’evič Gogol interpretiert den Tod als eine Übergangsform vom Diesseits ins Jenseits. In seinem künstlerischen Schaffen spiegelt sich diese Diesseits-Jenseits-Doppeltwelt wider: Die beiden Welten existieren nach seiner Auffassung simultan und sind nicht unabhängig voneinander denkbar. Aus einer sehr frommen Familie stammend, rekurriert Gogol hier auf die christlich-orthodoxe Dogmatik, wenngleich er literarisch immer wieder darüber hinauswuchs. Im Kloster Optina glaubte er das göttliche russische Reich gefunden zu haben.[7]

Bei Lev Nikolaevič Tolstoj steht der Tod unmittelbar im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Einerseits: Wer aus dem Leben auszuscheiden wünscht, hat nach Tolstoj den Glauben an den Sinn des Lebens verloren. Anderseits: Man stirbt, wie man lebt. Nach den Werken Tolstojs geht es nicht einfach um den Tod, sondern um eine Abrechnung. Die Abrechnung mit dem gelebten Leben findet statt, indem die dem Tod geweihten Helden ihr Leben neu bewerten und so eine erlösende geistige Wahrheit finden.[8]

Für den religiös wenig motivierten Literaten Anton Pavlovič Čechov ist der Tod ein Teil des natürlichen Prozesses. Oft kommt der Tod in seinen Erzählungen vor, in vielen seiner späteren Werke wird die Todesthematik zum Hauptthema. Als Arzt hat Čechov, der selbst an Tuberkulöse erkrankt war und mit 44 Jahren daran starb, ständig mit dem Tod zu tun. Im Gegensatz zu Tolstoj hat er seinen Frieden mit dem Tod geschlossen, der nicht moralische Besserung, sondern Erlösung von menschlichem Leid verspricht.

Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die beiden zuletzt genannten Autoren, die unter den Vertretern der von Aleksandr Puškin begründeten neuen russischen Literatur gewiß eine herausragende Stellung einnehmen. Es werden dabei ausgewählte Texte Tolstojs und Čechovs unter der zentralen Fragestellung untersucht, wie der Tod als existenzielles Phänomen literarisch ganz ausgestaltet werden kann. Im Verlauf der Untersuchung sollen mehrere erkenntnisleitende Fragen beantwortet werden:

- Wie spiegeln sich die persönlichen Erfahrungen der Autoren mit der Todesthematik in ihren Texten wider?

Diese Frage legt einen autointentionales Interpretationskonzept zugrunde und zielt auf eine an der Autorenbiographie interessierten Hermeneutik, die Einfluss persönlichen Erlebens in zweifellos fiktionalen Texten von Autoren sichtbar machen will.

Wie verändert/entwickelt sich das Thema Tod bei den jeweiligen Autoren im Laufe ihres Lebens?

Mit zunehmendem Lebensalter ändert sich gemeinhin die Wahrnehmung des Lebensendes. Daher werden Werke aus dem Frühschaffen und aus dem Spätschaffen zur Todesthematik befragt. Der Vergleich vermeintlich unterschiedlicher Perspektiven auf den Tod läßt Entwicklungen bei der literarischen Gestaltung deutlicher hervortreten.

- Welche Funktion hat der Tod in den unterschiedlichen Erzählkonzepten Tolstojs und Čechov’?

Im 19. Jahrhundert, das als goldenes Zeitalter der russischen Literatur beschrieben wurde, hatte der Tod im viel größeren Maße als heute eine metaphysische Funktion. Dies hing vor allem mit der starken religiösen Rückbindung zusammen, die noch nicht von der wissenschaftlich-technologischen Expansion des modernen Industriezeitalters erschüttert war. Dass es bei beiden Autoren dennoch gravierende Unterschiede gab, soll an dieser Stelle als Arbeitshypothese postuliert werden. Während Čechov als naturwissenschaftlich gebildeter, eher areligiöser Mensch dem Tod eine Entlastungs- bzw. Erlösungsfunktion zubilligte, hat steht für den christlich inspirierten Tolstoj die Metaphysik des Todes im Mittelpunkt. Der Tod wird bei ihm zum Fanal des Lebenszwecks, zum sinnstiftenden Motiv eines gelungenen oder gescheiterten Lebens.

- Gibt es aus Sicht der Autoren ein Leben nach dem Tod? Wie halten es Tolstoj und Čechov mit dem Problem der Transzendenz?

Alle metaphysischen Erklärungsmuster des Todes stellen letztlich auf einen höheren Sinn, eine entkörperlichte, geistige Bedeutungsebene des menschlichen Lebensendes ab. Auch hier darf vermutet werden, dass Čechov ein Leben nach dem Tode eher negiert – es sei denn in der Sphäre der Erinnerung von Angehörigen – und Tolstoj den Tod eher transzendental als Heimkehr- und Versöhnungspunkt im Sinne seiner christlichen Glaubensauffassung denkt.

1.2 Untersuchungsmethode

1.2.1 Begriffe

Eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Todesthematik setzt zuallererst eine Klärung begrifflicher Unschärfen voraus. Deshalb sind zunächst Begriffe wie Stoff, Motiv und Thema voneinander abzugrenzen, um sie so für den weiteren Untersuchungsgang operabel zu machen.

Stoff soll in dieser Arbeit in Anlehnung an die deutsche Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel definiert werden als „eine durch Handlungskomponenten verknüpfte, schon außerhalb der Dichtung vorgeprägte Fabel, ein ‚Plot’, der als Erlebnis, Vision, Bericht, Ereignis, Überlieferung durch Mythos und Religion oder als historische Begebenheit an den Dichter herangetragen wird und ihm einen Anreiz zu künstlerischen Gestaltung bietet.“[9] Der Schriftsteller kann ihn beliebig variieren, umgestalten und den fiktionalen Gehalt auf diese Weise erhöhen. Der Stoff bildet damit der Erzählrahmen: „Seine festeren Umrisse unterscheiden den Stoff sowohl von dem abstrakteren, gewissermaßen entstofflichten Problem oder Thema wie Treue, Liebe, Freundschaft, Tod als auch von der kleineren stofflichen Einheit des Motivs.“[10] Für seine Erzählung Archierej [11] hat sich Čechov beispielsweise von der Zeitschrift Богословский вестник [12] inspirieren lassen. In dieser Zeitschrift wurden in den Jahren von 1898 bis 1901 Автобиографические записки Высокопреосвященного Саввы, Архиепископа Тверского [13] veröffentlicht. Vieles aus diesen Aufzeichnung wie z. B. die geistliche Akademie, der Auslandsaufenthalt und andere Erfahrungen und Erlebnisse des Geistlichen, der einen langen und schweren Weg beim Aufstieg in der Kirchenhierarchie gegangen ist, fand Eingang in die Erzählung.[14]

Motiv: Das Wort lässt sich am besten aus seiner Etymologie erklärt, stammt es doch von dem lateinischen Verbum movere und bedeutet so viel wie „bewegen, durch große Eindringlichkeit überzeugen“. Wie in der Musik, wo es die kleinste melodische Einheit einer Komposition darstellt, läßt sich das Motiv rein funktional als kleinster Erzählträger eines Textes charakterisieren. Es stellt durch ständige Wiederkehr Beziehungen zwischen verschiedenartigen Textpassagen her, rammt Pflöcke ein, an denen der Spannungsbogen einer Geschichte gezogen werden kann, wirkt auf die Handlung zurück (Rückkopplung) und veranschaulicht Themen.

Auf diese Weise bleibt das Motiv im Gedächtnis des Lesers haften, kann neu belebt, verändert und wieder angesprochen werden. Motive entspringen den archetypischen Verhaltsmustern, beschreiben existenzielle Situationen und spiegeln Grundformen menschlichen Daseins wider. Man unterscheidet nach ihren strukturellen Aufgaben Kern-, Füll-, Raum-, Situations-, Verweis-, Leit- und Rahmenmotive sowie – je nach Bezugspunkt – beschreibende, figurenbezogene, handlungsdynamische und blinde Motive.

Die Funktion von Motiven hat den Chicagoer Germanisten Horst S. Daemmrich und seine Frau Ingrid beschäftigt. Ganz allgemein haben Motive „die Funktion von Schaltelementen. Im chronologischen Aufbau eines Textes treten Motive an Gelenkstellen auf und steuern die Informationsverarbeitung im Wahrnehmungsvorgang. Sie schalten auf ein bewegliches System von Bedeutungseinheiten um.“[15] Insgesamt lassen sich acht Funktionen herauskristallisieren:

(1) Schein,
(2) Stellenwert,
(3) Polarstruktur,
(4) Spannung,
(5) Schematisierung,
(6) Themenverflechtung,
(7) Gliederung des Textes,
(8) Deutungsmuster.

Angst, Eitelkeit, Geltungsstreben motivieren beispielsweise die Soldaten und Offizieren in den Tolstojs Sevastopol‘skie Rasskazy (Sevastopoler Erzählungen). Auch in Čechovs Kaštanka spielt die Angst als Motiv eine entscheidende Rolle. Der Tod findet sich hierin als Fremder verkleidet, der in der dunklen Nacht an das Fenster klopft und für den tierischen Protagonisten, der Hündin Namens Kaštanka ungreifbar unsichtbar und daher unheimlich bleibt. Diese Motivkette aus Dunkelheit, Fremdheit und Ungewissheit durchwebt die Erzählung, illustriert die Angst und steigert die Spannung.

Die Todesthematik wird dadurch auf einem gesteigerten Erregungsniveau eingeführt – für den Leser ein mitreißender, literarisch durchaus erwünschter Effekt. Oder mit den Worten Daemmrichs: „Motive wie Visionen von Doppelgängern, der Totentanz und die Todesklage, das blendende Licht, die Nacht, ein letzter Aufschrei, eisiger Lufthauch und Gewölbe des Schweigens werden seit langem mit der Todesthematik in Verbindung gebracht. Dadurch entwickelte konstante Zeichenfunktionen dieser Motive erfasst die komplizierte Eigenschaftskomplexe und kaum deutbare Empfindungen.“[16]

Das Thema ist, wenn man so sagen will, der große Bruder des Motivs. Es besteht aus einer Konfliktsituation, die sich in einer bestimmten Figurenkonstellation äußert. Als Beispiel lässt sich der alttestamentarische Bruderkonflikt zwischen Kain und Abel anführen, der mit dem Todschlag Abels durch Kain blutig endet. „Der Aktionsradius von Themen reicht von engster Figurenbindung über universelle menschliche Grunderfahrung der Prüfung und der Bewährung, der Geburt, der Liebe und des Todes bis zu allgemeinen Vorstellungen, die sich wie die der Vergänglichkeit des Lebens in der Tradition erhalten.“[17] Wichtige Funktionen des Themas sind nach Daemmrichs:

(1) Begriffsbestimmung,
(2) Wahrscheinlichkeit,
(3) Ausarbeitung,
(4) Funktion,
(5) Frequenz,
(6) Einbeziehung des Individuationsprozesses.

Beispielsweise kann der Tod bzw. der Prozess des Sterbens sowohl Motiv als auch Thema einer Erzählung sein. Taucht er immer wieder auf (Frequenz) und wird nicht durch eine besondere Figurenkonfiguration bestimmt, so dürfte es sich eher um ein Motiv handeln. Als quälender Prozess – beispielsweise in Tolstojs Smert‘ Ivana Il’iča (Der Tod des Ivan Il’ič) – wird der Tod eher thematisch ausgestaltet (Ausarbeitung), zumal eine interne Konfliktsituation im Gewissen des Sterbenden und eine externe im Umgang mit den Angehörigen unverkennbar ist.

Oft wird das Thema bereits im Titel des Werkes vorgegeben. In Čechovs Smert‘ činovnika (Der Tod eines Beamten) legt den Schwerpunkt nicht auf einen Individuum, sondern auf eine Person in seiner Funktion als Beamter, einer bis zum letzten Knopf „zugeknöpften“ Person, was auch in ihrer emotionalen Erlebniswelt ausdrückt. In der 1883 veröffentlichten Erzählung stirbt keine Persönlichkeit, sondern nur deren äußere Hülle, die einen Amtskörper, einen seelenlosen Mechanismus, ja einen Stempelautomaten umkleidet hat. Demgegenüber handelt es sich bei Tolstojs Smert‘ Ivana Il’iča sich sehr individuell ausgestaltete literarische Gegebenheit (Einbeziehung des Individuationsprozesses). Dies drückt sich bereits in den im Titel angegebenen Vor- und Vatersnamen des Protagonisten aus.

Wie bei den Motiven kann ein Text mehrere Themen – darunter häufig kontrastierende oder komplementäre Haupt- und Nebenthemen – beinhalten. So wird das zentrale Thema des Todes im Smert‘ Ivana Il’iča beispielsweise durch das Nebenthema der Vereinsamung und zwischenmenschlichen Isolation begleitet. Die zahlreichen Motivketten, die in Zusammenwirkung mit den Konfliktsituationen das Thema als nächst größere Erzähleinheit figurieren, sind bei geschickten Autoren ineinander verwebt. Dadurch entsteht die gewollte Mehrdeutigkeit großer literarischer Texte (Polysemie).

1.2.2 Vorgehensweise

In der vorliegenden Arbeit sollen diese unterschiedlichen semantischen Bedeutungsfelder der ausgewählten Texte Tolstojs und Čechovs analytisch zergliedert und untersucht werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Todesthema und seinem Beitrag zur Textorganisation. Methodologisch kommt eine Mixtur aus themenbezogener Topoi-Analyse und vergleichender Gegenüberstellung von Früh- und Spätwerk zur Anwendung. Dabei wechseln sich analytische Bemerkungen mit deskriptiven Beobachtungen ab.

Eine saubere Trennung zwischen Deskription und Analyse – wie ursprünglich geplant – wurde schon aus Gründen der Lesbarkeit bei Verfassen der Arbeit verworfen. Wichtige Passagen aus den Werken werden ausführlich zitiert und bei Zitaten aus dem Original eigenständig übersetzt. In der Arbeit soll konsequent die wissenschaftliche Transliteration (DIN 1460-2) angewendet werden. Zu Abweichungen kommt es, wenn andere Übersetzungen zitiert werden.[18]

Die Topos-Analyse ermöglicht es einerseits, allgemeine Argumentationsmuster und Einstellungen zum Thema Tod im Text aufzuspüren. Abgeleitet aus dem griechischen Begriff topos (Plural: topoi) entstand die Topos-Analyse bzw. Topik bereits in der Antike. Bei Aristoteles war die Topik ein Verfahren, „mit dem es möglich ist, aus wahrscheinlichen Sätzen, auf der Grundlage der herrschenden Meinungen, über ein Problem zu einem sicheren Urteil zu kommen. Dabei geht es um das Ausmachen der Gedanken und Argumente, die sich aus einem Thema oder einer Fragenstellung entwickeln lassen. So ermöglicht die Topik es, in einer Frage aus der Perspektive des Allgemeingültigen passende Argumente herauszufinden. In der Literatur wird aus dem Ausmachen/Auffinden für Argumente häufig eine Sammlung von feststehenden Redewendungen, allgemeine Erwägungen, traditionellen Behauptungen etc. Aus dem Denkprinzip wird das Sprichwort bzw. die Topik insgesamt zu einem Einteilungsschema für gesammelte geistige Vorräte.“[19]

Dagegen hat die komparative Methode den Textvergleich unterschiedlicher Autoren bzw. aus unterschiedlichen Schaffensperioden derselben Autoren zum Gegenstand. Die zentrale Funktion des Vergleichs hat bereits der Frühaufklärer Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) formuliert: zu „betrachten, worin zwei Dinge übereinstimmen und worin sie verschieden sind, so dass aus der Erkenntnis des einen das andere erkannt werden kann“. Die neuere wissenschaftliche Theorie sieht im Vergleich eine „resultative Aktionsart“, die „z. B. auf die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden“[20] ausgerichtet ist. Daher ist beim Vergleich zwischen äquivalentem und kontrastivem Vergleich zu unterscheiden, ganz davon abhängig, ob man die Parallelen oder die Unterschiede herausarbeiten will.[21]

Zuletzt muss man sich fragen, warum sich das Todesthema als Untersuchungsgegenstand einer literaturwissenschaftlichen Arbeit eignet. Die Antwort fällt leicht, wenn man die Beschäftigung mit dem Tod als Quintessenz eines literarischen Werkes betrachtet, wie dies bei vielen russischen Schriftstellern der Fall ist. Bei ihnen, bei denen melancholische Schwermut und trotzige Lebens- bzw. Spottlust oft schnell umschlagen können, verhalten sich Tod und Leben wie einander vertraute Nachbarskinder. Auch deshalb wurde dieser Abschlussarbeit das Tolstoj-Zitat „Gut zu leben bedeutet gut zu sterben“ vorangestellt.

1.3 Forschungsstand

Die Sekundärliteratur über Tolstoj und Čechov ist vor allem in der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert stark angewachsen und türmt sich mittlerweile bis ins Unendliche. Legion ist auch die Literatur, die sich unter den verschiedensten Gesichtspunkten dem Thema Tod widmet. Die Todesforschung differenziert sich einerseits nach dem Informationsstand, anderseits nach der Perspektive auf den Tod, den Sterbeprozess und die postmortale Existenz.[22]

Neben der philosophischen und philologischen Perspektive hat auch der psychologische und medizinische Blickwinkel Bedeutung erlangt. Relativ neu ist hingegen die Thanatologie als eingeständige wissenschaftliche Disziplin. Abgeleitet von dem altgriechischen Wort thánatos, das den Tod und – mythologisch überwölbt – auch den wachenden Totengott am Übergang zum Schattenreich bezeichnet, entstand ein interdisziplinärer, anthropologischer Wissenschaftszweig, der sich multiperspektivisch mit dem Sterben des Menschenbeschäftigt und in der Literaturwissenschaft Widerhall gefunden hat.

Angesichts der Fülle von Sekundärliteratur musste für die vorliegende Arbeit eine Auswahl getroffen werden. Dabei konnte der russische Kultur- und Literaturkritiker Razumnik Vasil’evič Ivanov (1878-1946) nicht übergangen werden, der früh Tolstojs Bedeutung erkannte und die Wandlung des Ivan Il’ič‘ im Sterbeprozess ausführlich analysiert hat.[23] Auch sowjetische Literaturwissenschaftler Petr Michajlovič Bicilli machte schon in den 1920er Jahren anhand einzelner Werke Tolstojs auf die dominante Rolle der Todesthematik aufmerksam.[24]

Die Germanistin Käte Hamburger (1896-1992) hat 1950 in einer für den deutschen Sprachraum Bahn brechenden Gesamtschau Leben und Werks Tolstojs gewürdigt. Darin vertritt sie die These, dass Tolstojs Werk von einer Suche nach einem quasireligiösen Ethos der reinen Wahrheit und Wahrhaftigkeit getragen ist. Dieses Wahrheitsethos entfaltet sich kontrastreich vor dem Hintergrund des bildungsbürgerlichen 19. Jahrhunderts, dessen geistige Grundlage positivistischer Realismus, ästhetischer Naturalismus und metaphysikfreier Rationalismus ist. In Tolstoj sieht sie einen Rebell gegen die damals herrschende Gesellschaftsformation. Die Todesthematik in seinem Werk beschreibt sie als „Transzendierung des natürlichen Lebens“.[25] Als Ursachen dafür hat Martin Schmidt Ende der 1960er Jahre vor allem seine christliche Grundauffassung und die Zweifel an einer definitiven Auferstehungsgewissheit ausgemacht.[26] Zudem spiele die Überwindung der Todesangst, so der ungarische Literaturwissenschaftler Zoltán Hajnády, eine Rolle in der tolstojanischen Todesauffassung. Erst im Tod offenbare sich für Tolstoj der Sinn des Lebens.[27]

Die Todesdarstellung bei Tolstoj hat der deutsche Theologe Martin Doerne (1900-1970) untersucht. Doerne versteht Tolstoj als „christlichen Utopisten“, der mit seiner eigenwilligen Interpretation des Urchristentums den Tod zum „Kardinalthema“ seines Dichterlebens erhob.[28] Sein Werk Smert‘ Ivana Il’itča hat auch das Interesse der schweizerisch-amerikanischen Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004) geweckt, die sich als Ärztin durch Interviews mit unheilbar erkrankten Patienten verdient gemacht hat. Ihre Erkenntnisse, wonach der Sterbende bis zur Annahme seines Schicksals fünf Phasen (Selbstverleugnung, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz) durchlebt, schlagen sich in Tolstojs Werken mit erstaunlichem Realismus nieder. Kübler-Ross selbst zitiert aus Smert‘ Ivana Il’iča und betont die Richtigkeit des dargestellten Sterbeprozesses.[29]

Josef Metzele, ein in der Tschechoslowakei gebürtiger US-amerikanischer Slavist, analysiert die Darstellung des Todes bei Tolstoj 1996 in seiner Dissertation gründlich. Seine Arbeit untersucht systematisch frühe Erzählungen, Hauptwerke und späte Prosa auf die evolutionäre Gestaltung der Todesthematik unter der Berücksichtigung der künstlerischen, sprachlichen und stilistischen Aspekte.[30] Schon zuvor hat sein US-amerikanischer Kollege, der vergleichende Literaturwissenschaftler Gregory Maertz, versucht philosophische Einflüsse des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer auf Tolstojs Philosophie zu eruieren – mit dem Hinweis auf die Dichotomie des Wunsches nach Leben und Sterben.[31] Die Dissertation der russischen Russistin Julia Semikina, ist die neuste Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Thanatologie in den Werken Tolstojs. Sie setzt sich zum Ziel, die thanatologischen Bilder und Motive unter dem Aspekt der Ethik und Weltanschauung des Autors herauszuarbeiten, zu vergleichen und zu bewerten.[32]

Im Falle des Werkschaffens von Čechov hat der Slavist Walter Smyrniw den Mangel an Aufmerksamkeit für die Bedeutung des Todes seitens der Thanatologen und Literaturwissenschaftler beklagt.[33] In einem wissenschaftlichen Artikel[34] systematisiert er die thanatologischen Motive aus ausgewählten Werken Čechovs, die vorrangig für die Schilderung des Sterbeprozesses relevant sind. Neben der Einordnung Čechovs in die Epoche der russischen Literatur seiner Zeit liefert Petr M. Bicilli eine umfassende Analyse des künstlerischen Werks des Autors mit einer weiträumigen Interpretation der einzelnen Werke.[35] Zum Erhellung der Erzähltechnik bei Čechov, insbesondere zum Verständnis seiner Erzählung Archierej hat auch der schwedische Slavist Nils Ake Nilsson (1917-1995) in einem Aufsatz beigetragen.[36]

Der deutsche Romanist und Slavist Gerhard Penzkofer vertritt in seiner Dissertation die These, dass die meisten Einzelerzählungen thematisch in einen größeren Erzählkomplex innerhalb des Gesamtwerks Čechovs eingeschlossen sind. Dies sucht er anhand der ausgewählten Werke nachzuweisen. Innerhalb der existentiellen Thematik wird das natürliche und begrenzte Sein des Menschen dem unbegrenzten Sein der Natur gegenübergestellt.[37]

[...]


[1] Matt 2010, S. 59.

[2] Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 347.

[3] Vgl. Franz 2002, S. 248ff.

[4] Vgl. Figes 2002, S. 332.

[5] Ebd., S. 347.

[6] Vgl. ebd., S. 346.

[7] Vgl. ebd., S. 333.

[8] Vgl. ebd., S. 371.

[9] Frenzel 1998, S. V.

[10] Beller 2001, S. 31.

[11] Vgl. Kapitel 2.4.

[12] Eigene Übersetzung: „Der theologische Bote“.

[13] Eigene Übersetzung:„Autobiografische Notizen seiner Hochwürdigsten Eminenz Savvy, Erzbischof von Tver‘“.

[14] Vgl. Kuzičeva 1994, S. 437.

[15] Daemmrich/Daemmrich 1995, S. XVIII.

[16] Ebd., S. 347f.

[17] Ebd., S. XXIII.

[18] Z. B. wird beim Zitieren aus Kaschtanka die vom Übersetzer Georg Schwarz angewendete Transliteration übernommen.

[19] Pekar 2000, S. 894ff.

[20] Schenk/Krause 2001, S. 676f.

[21] Vgl. Lamping 2007, S. 221f.

[22] Vgl. Kasack 1982, S. 94.

[23] Vgl. Ritter/Gründer 1998, S. 131.

[24] Vgl. Bicilli 1928, Quelle: http://www.marsexx.ru/tolstoy/pro-et-contra/bicil.html.

[25] Hamburger 1963, S. 8ff.

[26] Vgl. Schmidt 1969, S. 406ff.

[27] Vgl. Hajnády 1990, S. 23ff.

[28] Vgl. Doerne 1969, S. 37.

[29] Vgl. Kübler-Ross 1969, S. 514.

[30] Vgl. Metzele 1996, S. 11ff.

[31] Vgl. Maertz 1994, S 53ff.

[32] Vgl. Semikina 2002, S. 12ff.

[33] Vgl. Smyrniw 1985, S. 514.

[34] Vgl. ebd., S. 514ff.

[35] Vgl. Bicilli 1966, S.9ff.

[36] Vgl. Nilsson 1968, S. 29ff.

[37] Vgl. Penzkofer 1984, S. 15ff.

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Details

Titel
„Gut zu leben bedeutet gut zu sterben.“ Die Todesthematik in den Werken von Lev Nikolaevič Tolstoj und Anton Pavlovič Čechov
Hochschule
Universität Potsdam  (Slavistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
70
Katalognummer
V283337
ISBN (eBook)
9783656827955
ISBN (Buch)
9783656828839
Dateigröße
824 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tod, russische Geistesgeschichte, Tolstoj, Čechovs, Todesthematik, Kaštanka, Sevastopoler Erzählungen, Der Tod des Ivan Il’ič, Smert‘ Ivana Il’iča, Archierej, Kaschtanka, Bischof
Arbeit zitieren
Elena Hartmann (Autor:in), 2013, „Gut zu leben bedeutet gut zu sterben.“ Die Todesthematik in den Werken von Lev Nikolaevič Tolstoj und Anton Pavlovič Čechov, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283337

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Die Todesthematik in den Werken von 
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