Die Welt des Neuen Testaments. Eine allgemeinverständliche Einführung

Studienreihe IGW Band 1 (2. leicht überarbeitete Auflage)


Fachbuch, 2016

174 Seiten


Leseprobe


Studienreihe IGW

Die neue Studienreihe IGW ermöglicht die Veröffentlichung verschiedener Lehrmittel, Untersuchungen, Forschungsergebnissse und Abschlussarbeiten. Sie will aktuelle biblische, theologische und gesellschaftliche Themen verständlich einer breiten Leserschaft zugänglich machen. Die Reihe ist als Studien- und Arbeitsbuch konzipiert.

Als Studienbuch dient sie den Studierenden als Lehrmaterial für den Unterricht. Einerseits vermittelt die Reihe die Grundlage eines Themas. Andererseits stellt sie die gegenwärtige aktuelle theologische Diskussion dar. So erhält der Studierende ein gutes Basiswissen, ohne auf die aktuelle Diskussion verzichten zu müssen.

Als Arbeitsbuch dient die Reihe auch Pastoren und Pastorinnen, Katechetinnen und Katecheten, um ihr Wissen zu aktualisieren. Sie erhalten einen guten Überblick über die aktuelle Diskussion und inwiefern sich die Themen verändert haben.

Aber auch interessierte Christen und Christinnen sind eingeladen diese Studienreihe zu nutzen. Die Reihe eignet sich ausgezeichnet als Arbeitsbuch zu ausgewählten Themen. Die Studienreihe hilft bei der Vorbereitung eines Hauskreisabends, einer Themenreihe.

Wir beginnen die neue Reihe mit einer Einführung in die Welt des Neuen Testaments. Sie erhalten eine umsichtige Darstellung der Welt, in der Jesus und die ersten Jünger lebten. Es ist die Zeit, in der die junge Kirche erste Erfahrungen in Jerusalem, in Judäa und Samaria, sowie in weiten Teilen des römischen Reiches machte.

Die Einführung in die 27 Schriften des Neuen Testaments laden zur Lektüre der Evangelien, Apostelgeschichte, Briefen und Offenbarung ein. In einem weiteren Themenkreis werden das Leben Jesu und die Hauptaspekte paulinischer Theologie dargestellt.

Wir danken Dr. Stefan Wenger ganz herzlich für die umsichtige Einführung in die Welt und das Leben zur Zeit Jesu und der ersten Christen.

Zürich, Juni 2015
Dr. Fritz Peyer-Müller, Rektor IGW

Vorwort

Liebe Studierende der Theologie, liebe Leserin, lieber Leser

Das vorliegende Buch Die Welt des Neuen Testaments ist aus einem (sehr viel schlankeren) Lektüre- und Lernskript herausgewachsen, das ich ursprünglich für die mir anvertrauten Studierenden der Theologie am Institut für Gemeindebau und Weltmission (IGW) in der Schweiz geschrieben habe. Im Zuge der jüngsten Studienreform ist es nötig geworden, das Curriculum im Fach Neues Testament und damit auch das einstige Lektüre- und Lernskript den neuen Inhalten anzupassen. In diesem Zusammenhang bin ich mit dem Vorschlag konfrontiert worden, das (inzwischen auf den Umfang einer Monographie herangewachsene) Skript in Buchform zu veröffentlichen und auf diesem Weg einer breiteren interessierten Leserschaft zugänglich zu machen. Das Ergebnis dieser Bemühungen halten Sie, liebe Studierende, liebe Leserin und lieber Leser, in Ihren Händen: Die Welt des Neuen Testaments ist eine allgemeinverständliche Einführung ins Neue Testament und jene längst vergangene und gleichzeitig bis heute nachwirkende Welt, in der und aus der heraus das Neue Testament entstanden ist.

Das Neue Testament ist ein Werk weltliterarischen Ranges und die schriftlich fixierte Glaubensgrundlage des Christentums. Ohne Einsichten in die historische und geistige Verortung der 27 neutestamentlichen Schriften und ohne entsprechende Kenntnisse über die Entstehung und die Inhalte dieser Texte lässt sich keine verantwortbare Theologie treiben. Aus diesem Grund bietet Die Welt des Neuen Testaments eine allgemeinverständliche Einführung in die (für die Interpretation des Neuen Testaments) relevante antike Literatur, in die historische und geistige Situation in Palästina zur Zeit des zweiten Tempels, in die sogenannt einleitungswissenschaftlichen Fragen zu den neutestamentlichen Schriften (Wer hat was, wann, wie, warum an wen geschrieben?), eine Einführung in die Inhalte bzw. in die daraus resultierenden theologischen Profile der neutestamentlichen Texte, einen Blick in die Kanongeschichte bzw. -bildung und schliesslich (und lediglich exemplarisch) einen Blick über das Leben und Wirken Jesu und die Theologie des Apostels Paulus – in einem Wort: Grundlagenwissen. Die Welt des Neuen Testaments verbindet also Zeit- und Geistesgeschichte, Einleitungswissenschaft, Bibelkunde, Kanonbildung und Theologie des Neuen Testaments – das ist nicht wenig und steht (soweit ich sehe) in der neutestamentlichen Literatur als Zusammenstellung in einem einzigen Buch in dieser Form sonst bisher kaum zur Verfügung.

Das vorliegende Buch kann natürlich wie jedes andere einfach mit Interesse am dargestellten Inhalt gelesen werden – etwa, um damit persönlich einen (vertieften) Blick über das Neue Testament und seine Welt zu gewinnen. Das Buch ist aber insbesondere auch für Studierende der Theologie gedacht, und zwar um ihnen einen gang- und lernbaren Weg durch den endlosen Literaturwald zu weisen, der im Blick auf die Erforschung des Neuen Testaments vor uns in den Himmel ragt.

Wie aber könnte etwa im Blick auf Prüfungsvorbereitungen Die Welt des Neuen Testaments (idealerweise) verarbeitet werden? Dazu ein wichtiger Hinweis bzw. eine Anregung: Der Text (Lernstoff) ist thematisch in einzelne Abschnitte (A – G) gegliedert (vgl. das detaillierte Inhaltsverzeichnis, das ein Stichwortverzeichnis weitgehend ersetzt), wobei Abschnitt C als Kern des Textes im Zentrum steht und am meisten Raum in Anspruch nimmt. Aufgrund eigener (Studien-)Erfahrung und vieler Rückmeldungen aus dem Kreis Studierender sei nachdrücklich (!) empfohlen, mit der Verarbeitung des vorliegenden Textes nicht erst kurz vor dem (allfälligen) Prüfungstermin zu beginnen – im Gegenteil: Sinnvolles Lernen, das auch bleibenden Gewinn garantiert, wird sich über die gesamte Lektüre- bzw. Studiendauer erstrecken und repetitiv angelegt sein. Denn: Ziel der Lektüre kann es ja nicht sein, dass am (allfälligen) Prüfungstag möglichst viel Wissen präsentiert werden kann, das anschliessend (weitgehend) wieder verloren gehen darf. Ziel muss es vielmehr sein, sich einen Wissensschatz über das Neue Testament und seine Welt anzueignen bzw. zu verinnerlichen, der einen selbst und anderen zum bleibenden Segen werden kann.

Diese literarische Reise ist kein Sonntagsspaziergang, eher eine mehrtägige, herausforderungsreiche und manchmal sicher auch anstrengende Bergtour, während der man da und dort vor lauter Gipfeln schon einmal den Überblick verlieren kann. Aber das Ziel der Reise, einen Blick über das Neue Testament und seine Welt und damit über die schriftlich fixierte Glaubensgrundlage des Christentums zu gewinnen, dieses Ziel wird ein grandioses Panorama eröffnen. Und dieses Panorama ist die mit ihm verbundenen Mühen wert.

Schliesslich habe ich zu danken: Dem Institut für Gemeindebau und Weltmission (IGW) in der Schweiz, das um die Veröffentlichung des vorliegenden Werkes bemüht gewesen ist, und dem GRIN-Verlag für die Aufnahme eben dieses Werkes in sein Programm. Ich danke Herrn Prof. Dr. Matthias Konradt, meinem einstigen Dissertationsbetreuer, von dessen Wissen ich viel profitiert habe und von dem viel in die Zeilen des vorliegenden Werkes eingeflossen ist. Ich danke Herrn Prof. Dr. Nicholas Thomas Wright, dessen literarisches Opus mir neue theologische Horizonte eröffnet hat. Herrn Nicolas Matter, BTh, und Herrn Pfr. Erich Vetsch danke ich ganz herzlich für ihre Unterstützung beim Korrekturlesen der Arbeit; für die verbliebenen Fehler übernehme ich die volle Verantwortung. Herrn Patrick Wenger – eine virtuose Koryphäe am Computer – danke ich von ganzem Herzen für seine grosse Hilfe beim Erstellen der Druckvorlage.

Wenn Die Welt des Neuen Testaments Ihnen, liebe Studierende der Theologie, wenn das Buch Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, tiefere Einsichten in eben diese längst vergangene Welt und die darin entstandenen und bis heute nachwirkenden Schriften des Neuen Testaments zu vermitteln vermag, hat das vorliegende Buch sein Ziel erreicht.

Was auch immer Ihre Motivation sein mag, aus der heraus Sie Die Welt des Neuen Testaments lesen – ich freue mich, wenn das Buch dazu beiträgt, Ihre Faszination und Freude am Neuen Testament zu fördern, damit Ihr (Glaubens-)Leben tiefere Wurzeln treiben und stärkere Flügel wachsen lassen kann.

Thierachern, im Juni 2015 und 2016
Stefan Wenger

Inhaltsverzeichnis

A Frühjüdische und frühchristliche Literatur ...11

1 Frühjüdische Literatur ...11
1.1 Septuaginta (LXX) ... 11
1.2 Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit ...13
1.3 Philo von Alexandria ... 17
1.4 Josephus ... 19

2 Frühchristliche Literatur ...21
2.1 Apostolische Väter im engeren Sinn ...21
2.2 Apostolische Väter im weiteren Sinn ...22
2.3 Neutestamentliche Apokryphen ...23

B Umwelt des Neuen Testaments ...25

3 Judentum zur Zeit des Neuen Testaments ...25
3.1 Politische Geschichte in hellenistischer Zeit ...25
3.2 Denken/Glauben und Leben ...33
3.3 Religiöse und geistige Bewegungen ...37

4 Hellenistisch-römische Welt zur Zeit des Neuen Testaments ...40
4.1 Politik und Gesellschaft im Römischen Reich ...40
4.2 Religiöse Bewegungen ... 43
4.3 Philosophische Bewegungen ...44

C Einführung in die Schriften des Neuen Testaments ...46

5 Die synoptische Frage ...46
5.1 Textbefund und Lösungsversuche ...46
5.2 Die Zwei-Quellen-Theorie ... 47
5.3 Eine alternative Theorie ... 48
5.4 Fazit ... 51

6 Matthäusevangelium ...51

7 Markusevangelium ...54

8 Lukasevangelium ...58

9 Johannesevangelium ...61

10 Apostelgeschichte ...65

11 Paulus: eine Chronologie seines Lebens ...68

12 Römerbrief ...69

13 1 Korintherbrief ...72

14 2 Korintherbrief ...75

15 Galaterbrief ...78

16 Epheserbrief ...81

17 Philipperbrief ...84

18 Kolosserbrief ...88

19 1 Thessalonicherbrief ...91

20 2 Thessalonicherbrief ...93

21 Pastoralbriefe (1/2 Timotheus, Titus) ...97

22 Philemonbrief ...102

23 Hebräerbrief ...104

24 Jakobusbrief ...107

25 1 Petrusbrief ...110

26 2 Petrusbrief ...114

27 1 Johannesbrief ...116

28 2 Johannesbrief ...119

29 3 Johannesbrief ...121

30 Judasbrief ...123

31 Offenbarung ...125

D Entstehung des Neuen Testaments ...130

32 Kanonbildung ...130
32.1 Vorbereitungsphase: die Apostolischen Väter ...130
32.2 Einflüsse auf die Kanonentwicklung ...131
32.3 Kanonentwicklung im Osten ...133
32.4 Kanonentwicklung im Westen ...134
32.5 Frühe Kanonlisten ... 135
32.6 Kanonabschlüsse in Ost und West ... 136
32.7 Kriterien und Umfang des Kanons ... 137

33 Inspiration des Kanons ...138

34 Textkritik ...140

E Leben und Wirken Jesu ...142

35 Einführung ...142

36 Das römische Imperium, die jüdische Hoffnung und Jesus ...143

37 Der König ist an der Macht ...144

38 Die Macht des Königs wird demonstriert ...145

39 Das Reich des Königs wird erklärt ...146

40 Das gegenwärtige und kommende Reich ...147

41 Der Kampf um die Freiheit und den Tempel ...148

42 Gottes Reich in Raum, Zeit und Materie ...149

43 Gott kommt wie verheissen, aber anders als erwartet ...150

44 Gott kommt im königlichen und sterbenden Messias ...151

45 Der König lebt, herrscht und kommt dereinst wieder ...153

46 Der König herrscht durch seine Gefährten ...154

F Theologie des Apostels Paulus ...156

47 Streit um Paulus: ein Blick über die jüngere Forschung ...156

48 Saulus: vom Christenverfolger zum Christen ...157

49 Paulus: Herold des Königs ...159

50 Der eine wahre Gott, Jesus und der Geist ...160

51 Das Evangelium für die Völker ...161

52 Das Evangelium für Israel ...163

53 Rechtfertigung und Kirche ...164

54 Gottes erneuerte Menschheit ...166

55 Paulus: Konsequenzen seiner Theologie – damals und heute ...167

G Literatur und Glossar ...169

56 Quellenliteratur ...169
56.1 Bibelausgaben ... 169
56.2 Frühjüdische Quellen ... 169
56.3 Frühchristliche Quellen ...169

57 Ausgewählte (ein- und weiterführende) Sekundärliteratur ...170

58 Glossar ...171

A Frühjüdische und frühchristliche Literatur

Das NT ist Teil der antiken jüdisch-hellenistischen Kultur; es ist wesentlich in dieser und aus dieser Kultur heraus entstanden. Aus diesem Grund ist es wichtig, die prägenden literarischen Traditionen dieser Zeit und Kultur zu kennen, weil die entsprechenden Werke Licht auf die ntl. Schriften werfen und zum besseren Verständnis des NTs beitragen können. Neben dem AT (das zwar als Wurzelgrund des NTs verstanden werden kann, hier aber nicht weiter thematisiert wird) gilt es v.a. die Septuaginta (LXX), wirkungsgeschichtlich einschlägige Literatur aus frühjüdisch-hellenistischer Zeit (verschiedene Einzelschriften; Philo von Alexandria bzw. Josephus und deren Werke) und nicht-kanonische frühchristliche Literatur (v.a. die apostolischen Väter) kennen zu lernen. Das Folgende bietet einen knappen Blick über die für das Verständnis und die Interpretation des NTs besonders wichtige frühjüdische und frühchristliche Literatur.

1 Frühjüdische Literatur

1.1 Septuaginta (LXX)

Die Geschichte der LXX beginnt im frühen 3. Jh. v. Chr. in Alexandria. Nach dem jüd. Aristeasbrief (2. Jh. v. Chr.) soll das Werk von 72 jüdischen Gelehrten (daher der lat. Name Septuaginta: siebzig/LXX) in 72 Tagen geschaffen worden sein, indem diese die hebr. Bibel unabhängig voneinander, aber übereinstimmend ins Griechische übersetzt haben sollen, und zwar wohl für den Gebrauch in der jüdischen Gemeinde in Alexandria. Tatsächlich dürfte die LXX von verschiedenen Übersetzern erarbeitet worden sein, allerdings vom frühen 3. bis in die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. und später (zumal der Kanon der hebr. Bibel erst im 1. Jh. n. Chr. endgültig festgelegt worden ist); hinzu kamen Texte, die bereits griech. geschrieben worden waren.

Die heutige LXX enthält daher drei Gruppen von Schriften: zum einen die hebr. Grundschriften Israels, zum anderen urspr. hebr. Schriften, die bei der Kanonfindung nicht in die hebr. Bibel aufgenommen worden sind, und urspr. griech. Schriften (inkl. vereinzelter frühchristlicher Texte/Lieder). Im 4. und 5. Jh. n. Chr. entstanden die ersten Vollhandschriften in Buchform. Diese Codices (Codex Vaticanus, Codex Sinaiticus, Codex Alexandrinus u.a.) enthalten nicht nur die LXX (wie sie in den jeweiligen Entstehungsgebieten anerkannt worden ist), sondern auch die ntl. Schriften. Sie bilden bis heute die wichtigsten Quellentexte zur Erarbeitung der kritischen Texteditionen.

Die folgende Tabelle bietet einen Blick auf den Inhalt bzw. einen Vergleich der LXX (in Klammern stehen Werke, die nicht in allen Kirchen als kanonisch gelten) mit der hebr. Bibel:

[Dies ist eine Leseprobe. Grafiken und Tabellen sind nicht enthalten.]

Die Übersetzungs- und Überlieferungsgeschichte der LXX ist ausserordentlich kompliziert; ihr Einfluss (als grösstes Übersetzungswerk der Antike) auf die europäische Kultur kaum hoch genug einzuschätzen: Zwei Sprachkulturen greifen ineinander und ringen darum, alte menschliche Traditionen sprachlich verständlich zu machen bzw. zu überliefern. Hinzu kommt: Die Autoren des NTs greifen häufiger auf die LXX als auf den hebr. Text zurück, weshalb das (frühe) Christentum auch stark vom AT in seiner griech. Übersetzung geprägt worden ist (ein Fatkum, das in der Exegese des NTs unbedingt berücksichtigt werden muss!). Schliesslich: Die LXX hat vielfach als Quelle für weitere altchristliche Übersetzungen gedient; in griechischen und östlichen Kirchen hat sie bis heute grosse Bedeutung.

Standard-Ausgaben

- Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. v. Kraus, W. u. Karrer, M., Stuttgart 2009.

- Septuaginta. Id est Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes, ed. A. Rahlfs, Stuttgart 1935 (1962 Nachdr.).

1.2 Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit

Die frühjüdische Literatur wird (abgesehen von den Qumrantexten, den Schriften Philos und Josephus’) vielfach unter dem Sammelbegriff Apokryphen und Pseudepigraphen (oder auch: deuterokanonische oder zwischentestamentarische Literatur) eingeordnet. Diese Klassifizierungen sind aber missverständlich, weil es sich weder ausschliesslich um apokryphe, noch um pseudepigraphe, noch um zwischentestamentarische Literatur handelt. Treffender ist daher die Bezeichnung frühjüdische Literatur (aus hellenistisch-römischer Zeit). Im Folgenden werden einige einschlägige, wirkungsgeschichtlich bedeutende Werke (einige davon sind in den Kanon der LXX aufgenommen worden) knapp porträtiert.

Aristeasbrief

Der (pseudonyme) Aristeasbrief (322 Verse) will von Aristeas, einem alexandrinischen Juden und Hofbeamten von Ptolemaios’ II. Philadelphos, verfasst worden sein, vermutlich gegen Ende des 2. Jhs. v. Chr. in Ägypten. Das Werk ist v.a. bekannt, weil es die Entstehung der LXX in legendenhafter Form schildert. Interessant ist die Schrift weiter, weil sie den Sinn der jüdischen Reinheitsgebote als Mahnung zur Gerechtigkeit erklärt und (in Tischgesprächen mit dem König) die überragende jüdische Weisheit demonstriert.

Äthiopisches Henochbuch

Das (pseudonyme) äthiopische Henochbuch (105/108 Kapitel) ist eine Sammlung von fünf Henoch-Traktaten aus verschiedenen Zeiten (Ende 3. Jh. v. Chr. – Anfang 1. Jh. n. Chr./Endredaktion). Es gilt als wichtigstes Werk frühjüdischer Apokalyptik und ist wie folgt gegliedert: Kapitel 1-36: das Buch der Wächter; Kapitel 37-71: die Bilderreden; Kapitel 72-82: das astronomische Buch; Kapitel 83-91 (ohne 91,11-17): das Buch der Traumvisionen; Kapitel 91-105/108: Henochs Epistel (Mahnreden).

4 Esra

Das (pseudonyme) 4. Buch Esra (12 Kapitel) gehört ebenfalls zur frühjüdisch-apokalyptischen Literatur. Das Werk dürfte um 100 n. Chr. (von einem jüdischen Apokalyptiker) geschrieben worden sein. Von den 16 Kapiteln sind die beiden ersten (das sog. 5. Buch Esra) und die beiden letzten (das sog. 6. Buch Esra) christliche Ergänzungen in lateinischer Sprache. 4 Esra fragt im Rahmen von sieben Visionen nach der Verlässlichkeit von Gottes Heilswillen (mit Israel) und nach der Gerechtigkeit von Gottes Weltordnung (angesichts der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr.). Oder anders: 4 Esra versucht, die Katastrophe der (zweiten!) Tempelzerstörung theologisch zu verarbeiten. Die Schrift tut dies im Rahmen eines apokalyptischen Diskurses, indem sie zunächst Esra als Skeptiker auftreten und diesen in seiner vierten Vision (die kommende/künftige Verherrlichung Zions) einen Gesinnungswandel und in den weiteren Visionen (mögliche) Antworten erleben lässt: Gottes Gerechtigkeit/Heilswille steht fest, realisiert sich aber erst im Eschaton; der Mensch muss bis dahin seine Verantwortung übernehmen.

Jesus Sirach

Jesus Sirach (51 Kapitel) ist eine um 190 v. Chr., urspr. hebr. geschriebene Weisheitsschrift des Jerusalemer Gelehrten Jesus Sirach, die von dessen Enkel ins Griechische übersetzt und auch nur so vollständig überliefert worden ist. Das Werk zeichnet sich mit einer durchgängigen Struktur aus: Der erste Teil (2-23) enthält Lehren an die Lebensführung des Einzelnen; der zweite (25-50) über das Leben in der Öffentlichkeit; gerahmt (1; 24; 51) ist das Werk vom Lob der Weisheit. Im Zentrum steht die als Gnadengabe empfundene Offenbarung Gottes an sein Volk. (Die) Weisheit ist (nur) bei ihm (und nicht etwa im aufblühenden Hellenismus!) zu finden, entspricht der Tora (Kap 24!) und strömt von dort in die (hellenistische) Völkerwelt hinaus.

Joseph und Aseneth

Joseph und Aseneth (29 Kapitel) ist ein Roman, der im 1. Jh. v. oder n. Chr. im griechischen Diasporajudentum (wohl in Ägypten) entstanden ist. Das Werk knüpft an Gen 41,45 an, wo der Pharao Joseph die ägyptische Priestertochter Aseneth zur Frau gibt. Der Roman schildert im ersten Teil (1-21), wie Aseneth vor der Heirat mit Joseph unter heftiger Busse zum Judentum konvertiert; im zweiten Teil (22-29) wird erzählt, wie Aseneth später vor einer Entführung durch den ältesten Pharaonensohn (durch Josephs Brüder Levi und Benjamin) wundersam bewahrt worden ist. Das Werk ist wichtig, weil es den (vom Judentum ausgehenden) universalen Heilswillen Gottes unterstreicht und u.a. Licht auf das frühchristliche Buss- und Konversionsverständnis (vom Tod zum Leben, Neuschöpfung) wirft.

Jubiläenbuch

Das urspr. hebr. geschriebene, aber nur (aus einer griech. Vorlage übersetzte) äthiopisch vollständig erhaltene Jubiläenbuch (50 Kapitel) ist eine Nacherzählung von Gen 1 bis Ex 12, die auf eine Offenbarung Gottes bzw. eines Engels an Mose auf dem Sinai zurückgehen will. Das Werk ist um die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. in Palästina (Jerusalem?) entstanden und Zeuge einer (konservativen, antihellenistischen) Reaktion auf die Herausforderungen des Hellenismus. Damit ist das Buch ein wichtiges Zeugnis frühjüdischer Schriftauslegung, ja Schriftaktualisierung angesichts einer (durch den Hellenismus hervorgerufenen) Identitätskrise mit ungewissem Ausgang. Die Schrift grenzt zum einen die jüdische Identität scharf von den übrigen Völkern ab und bekämpft zum anderen jüdisch-hellenistische Reformisten.

Judit

Das griech. am besten bezeugte Buch Judit (16 Kapitel) dürfte zwischen 150 und 100 v. Chr. in Judäa (Jerusalem?) entstanden sein: Jahrhunderte alte Erfahrungen des jüdischen Volkes mit Babyloniern, Assyrern und Persern werden in einer paradigmatischen (nicht historischen!) Lehrerzählung um (den Erzfeind) Nebukadnezar, dessen General Holophernes und die jüdische Witwe Judit verdichtet: Die gottesfürchtige, kluge und schöne Judit geht eigenverantwortlich und voller Gottvertrauen ins assyrische Heerlager, wo sie nach einem Gelage General Holophernes enthauptet und auf diese Weise ihr eigenes Volk vor der Vernichtung bewahrt. Zentrales Thema ist damit die Frage nach der Weltherrschaft: Ist Nebukadnezar (1-3) oder JHWH der Herr der Welt (4-7)? Antwort: JHWH allein ist Gott; er vermag sein Volk durch die Hand einer einzelnen Frau zu retten (8-16).

1 Makkabäer

Das griech. überlieferte 1. Buch der Makkabäer (16 Kapitel) dürfte um 100 v. Chr. in Jerusalem entstanden sein. Das (historische) Werk erzählt die Entstehung der hasmonäischen Dynastie; fokussiert auf die makkabäische Revolte 167 – 142 v. Chr., also auf den Kampf der Makkabäerbrüder Judas, Jonathan und Simon um die Befreiung der jüdischen Bevölkerung von der seleukidischen Herrschaft. Dies geschieht allerdings in einer apologetischen (legitimierenden) Grundhaltung, was es nahe legt, als Autor einen Juden anzunehmen, der den Makkabäern nahe gestanden haben dürfte. Das 1. Buch der Makkabäer ist damit eine sehr zentrale, wenn auch tendenziöse Quelle der jüdischen Geschichte zwischen 333 und 135 v. Chr.

2 Makkabäer

Das urspr. griech. geschriebene 2. Buch der Makkabäer (15 Kapitel) ist ein Exzerpt aus dem fünfbändigen Werk von Jason von Kyrene und muss zwischen 124 und 63 v. Chr. (in Ägypten?) entstanden sein. Es handelt sich nicht etwa um die Fortsetzung des 1. Buches, sondern ist eine alternativ-kritische Schilderung wichtiger Ereignisse, die bereits in 1 Makk 1-7 erzählt worden sind. Das 2. Buch der Makkabäer fokussiert sich auf die Entweihung des Tempels durch Antiochos IV. Epiphanes, die Religionsverfolgung (Martyrien, damit verbunden: Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung!) und die Rückeroberung Jerusalems bzw. die Neuweihung des Tempels unter Judas Makkabäus (164 v. Chr.). Im Zentrum steht damit der Tempel als Manifestation der gerechten Bundestreue Gottes: Wenn sich das Volk von seinem Gott abwendet, wird es bestraft; kehrt es zu Gott zurück, wird es (auch aus hoffnungslosen Situationen) gerettet.

Testamente der zwölf Patriarchen

Die griech. überlieferten (pseudepigraphischen) Testamente der zwölf Patriarchen (12 Kapitel) sind eine jüdische Schrift nach dem Vorbild von Gen 49f (Dtn 33), deren Grundschrift zwischen 200 und ca. 175 v. Chr. wohl ausserhalb Palästinas (Ägypten?) verfasst, mehrfach jüdisch überarbeitet und nach 70 n. Chr. christlich redigiert worden ist (messianische Stücke: Jesus als Messias). Der Verfasser der Grundschrift wendet sich mit seiner ethisch unterweisenden Schrift via Patriarchen an ganz Israel – mit dem Anspruch, zeitlos gültige Lehre zu vermitteln. Die zwölf Testamente sind immer gleich aufgebaut, aber fast überall spielt Joseph (als ethisches Vorbild) eine besondere Rolle. Das Werk gibt einen guten Einblick in die Ethik des frühen Judentums, in deren Zentrum das Liebesgebot (Gott- und Nächstenliebe) steht.

Tobit

Das griech. überlieferte Buch Tobit (14 Kapitel) dürfte um 200 v. Chr. in der östlichen Diaspora (Persien?) entstanden sein und ist eine weisheitliche Lehrerzählung, in der zwei Handlungsstränge miteinander verwoben sind: Tobit, der in der Diaspora (Ninive) lebt, erblindet unverschuldet und kann durch wunderbare göttliche Hilfe durch einen Engel (Raphael) geheilt werden. Parallel wird die Geschichte von Sarra in Ekbatana erzählt, der ein Dämon in der Hochzeitsnacht bereits sieben Männer getötet hat. Durch die Erzählung von der Rückholung von hinterlegtem Geld bei Gabael, bei der einerseits die für die Heilung des Tobit nötigen Arznei- und Zaubermittel gewonnen werden und andererseits Tobias, der Sohn Tobits, Sarra begegnet, sie heiratet und von ihrem Dämon befreit, werden die beiden Erzählstränge miteinander verbunden. Daraus ergeben sich verschiedene theologische Themen, so z.B. Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit; das Leiden des Gerechten bzw. Gottes Rettungshandeln und Leben als betende Existenz vor Gott.

Weisheit Salomos

Die Weisheit Salomos (19 Kapitel) ist eine urspr. anonyme, später Salomo zugeschriebene poetische Weisheitsschrift (Mahn- und Lehrrede), die im späten 2. Jh. (dann ev. in Syrien) oder im frühen 1. Jh. v. Chr. (dann wohl in Ägypten) in Griechisch geschrieben worden ist. Im ersten Teil (1,1-6,21) mahnt die Weisheit (programmatisch!) zur Gerechtigkeit, und zwar indem sie auf das eschatologische Heil der leidenden Gerechten bzw. auf das Unheil der jetzt noch überheblichen Gottlosen hinweist. Im zweiten Teil (6,22-11,1) folgt die Selbstoffenbarung des Autors (Salomo) und ein Loblied auf die (personifizierte) Weisheit. Im dritten (längsten) Teil (11,2-19,22) werden wesentliche Situationen der (Heils-)Geschichte erinnert, die auf die rettende Macht der Weisheit Gottes hinweisen wollen. Das Werk greift zwar hellenistische Bildung auf, macht sich aber gleichzeitig für eine dezidierte Unterscheidung/Abgrenzung des Judentums von seiner (götzendienerischen und unmoralischen) Umwelt stark.

Qumran-Literatur

Neben den oben porträtierten frühjüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit ist uns eine Fülle von (meist fragmentarischen) Handschriften (ca. 800) überliefert worden, die unter dem Sammelbegriff Qumran-Literatur eingeordnet werden können. Dabei handelt es sich um atl. Texte (z.B. aus Genesis, Exodus, Levitikus, Deuteronomium, Psalmen, Jesaja u.a.), um bekannte jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit (z.B. aus Sirach, äthiopischen Henoch, Jubiläenbuch u.a.) und um neue Texte (nicht qumran-spezifische: z.B. die Tempelrolle u.a.; qumran-spezifische: z.B. die Hymnenrolle, die Kriegsrolle, die Sektenregel u.a.). Weil diese Text für die unmittelbare Interpretation des NTs aber weniger austragen, sei an der Stelle lediglich auf die entsprechenden Texteditionen (vgl. unten Discoveries in the Judaean Desert und Maier) verwiesen (zu den Essenern/Qumran vgl. in Teil B Kap 3.3).

Standard-Ausgaben

- Discoveries in the Judaean Desert, versch. Hg., 40 Bde., Oxford 1955-2010.

- Kautzsch, Emil (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2 Bde., Tübingen 1900 (= Darmstadt 41975).

- Kümmel, Werner Georg/Lichtenberger, Hermann (Hg.), Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit (JSHRZ), 5 Bde., Gütersloh 1973ff.

- Maier, Johann, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, 3 Bde., München – Basel 1995/ 1995/1996.

1.3 Philo von Alexandria

Leben

Der Exeget und Religionsphilosoph Philo stammt aus einer angesehenen jüdischen Familie in Alexandria. Seine Biographie ruht weitgehend im Dunkeln; sicher ist nur, dass er 39/40 n. Chr. zu einer Gruppe gehört hat, die (aufgrund von Judenverfolgungen in Alexandria) zu Kaiser Caligula gesandt worden ist. In diesem Zusammenhang charakterisiert sich Philo als alten Mann. Daraus folgt, dass er etwa von 30/20 v. – 50/60 n. Chr. gelebt haben dürfte, und zwar weitgehend in Alexandria – in der Spannung zwischen dem Ideal eines abgeschiedenen Weisen und den Interessen der jüdischen Gemeinde.

Denken/Arbeitsweise

Philos Werk offenbart einen Gelehrten, der es verstanden hat, seine eigene jüdische Kultur/Bildung mit griechischer Kultur/Bildung (v.a. Plato, der Stoa und Pythagoras) zu verschmelzen. Philo identifiziert die Tora mit dem Naturgesetz bzw. mit der höchsten Philosophie (für Philo ist Mose nicht nur der grösste Prophet, sondern auch der grösste Philosoph). Er interpretiert die Tora als Exeget, indem er sie durch die Brille eines Philosophen liest, und zwar um die dem (gesamten!) Text inhärente Wahrheit ans Licht zu bringen (und seine eigene jüdische Tradition rational-philosophisch zu begründen). Seine bevorzugte Arbeitsweise ist die allegorische Exegese: Texte (Personen, Ereignisse) gewinnen dadurch häufig eine übertragene Bedeutung (so stehen z.B. die Patriarchen für gute Charaktere). Das führt dazu, dass Philo die biblischen Texte vielfach von ihrer historischen Grundlage abhebt und zugleich universalisiert (so kann z.B. Abraham ganz allgemein als Vorbild/Inspiration zur Tugend verstanden werden).

Theologie

Philo gewinnt sein (im Einzelnen überaus komplexes!) Gottesbild grundsätzlich aus der LXX, weist aber auch stark philosophische Einflüsse aus: Gott ist der Andere schlechthin und als solcher unvergleichbar und darum von allem anderen, letztlich sogar vom göttlichen Logos (eine Art Vermittler-Kraft zwischen Gott und der Welt, die sich in Gottes Kräften – v.a. Güte und Macht – äussert), zu unterscheiden. Gott steht quasi jenseits von allem, was geschaffen worden ist. Damit isoliert Philo Gott gewissermaßen; er reißt zwischen ihm und seiner Schöpfung eine unüberwindliche Kluft auf. Dies bedeutet eine Gewichtsverlagerung – weg vom biblischen Gottesbild, hin zu mehr hellenistisch geprägten Vorstellungen. Auf diesem fundamentalen Ansatz der Transzendenz expliziert Philo in seinem Gesamtwerk (respektive im davon überlieferten Teil) Gottes Realität in unterschiedlichen Kategorien. Gott ist:

Der Seiende : Für Philo ist nur Gott das wahre Seiende, das Wirkliche, die absolut vollkommene, exklusive Existenz, die sich selbst genügt und Fundament aller anderen Eigenschaften Gottes ist.

Der wahre Urgrund : Weil das Seiende Ausgangspunkt aller Existenz ist, kann Philo Gott auch als vollkommenen Urgrund allen Seins bezeichnen. Im aktiven Urgrund resp. durch die von diesem ausgehenden Kräfte ist alles, was existiert, geschaffen worden. Insofern schlägt Gott als der Urgrund via seine Kräfte eine Brücke zwischen dem absolut transzendenten Seienden und der geschaffenen Welt.

Der Eine, Einzige, Wahre : Philo vertritt durchgehend einen strengen Monotheismus, und zwar im Bezug auf die Einheit und die Einzigkeit Gottes. Als den Alleinigen versteht Philo Gott als den göttlichen, einzig wahren König, der souverän über und getrennt von seiner Schöpfung steht und diese durch seine Kräfte trägt.

Der wahrhaft Gute : Philo versteht Gott als ruhendes Seiendes und als tätigen Urgrund; das Gute muss seinerseits in Ergänzung dazu als Charakterisierung des Seienden verstanden werden. Dabei bilden die drei göttlichen Existenzweisen als das Seiende, der Urgrund und das Gute drei aufeinander bezogene Realitäten, die ineinander übergehen.

Der Ewige : Nach Philo ist Gott ruhende, immerwährende Wirklichkeit, zeitlose metaphysische Grösse; Gott und Gott allein (!) ist ewig.

Der Unveränderliche : Das Seiende ist bei Philo unveränderlich, beständig; es ruht. Das Unveränderliche und Gott können geradezu synonym gebraucht werden, was den scharfen Kontrast zwischen dem Seienden und der geschaffenen Welt unterstreicht.

Der Vollkommene : Die thematisierten Eigenschaften Gottes verbergen eine weitere, alle anderen quasi von innen heraus bestimmende Eigenschaft: die Vollkommenheit. Für Philo ist Gott unermesslich vollkommen (perfekt), weswegen auch niemand ausser Gott selbst Gott erkennen kann.

Der Unfassbare : Aus dem oben Notierten folgt eine letzte – Gottes Transzendenz entsprechende – quasi zusammenfassende Grösse, die Gott als den Unfassbaren charakterisiert. Der transzendente Gott bleibt auch für den grossen Alexandriner letztlich der (ganz) Andere, der Unfassbare.

Philo schätzt (wie Plato) die materielle Welt (und damit auch den menschlichen Körper) gering. Hinzu kommt, dass Menschen nach Philo grundsätzlich sündige Wesen sind. Deshalb muss es das (soteriologische) Ziel sein, die (von Gott kommende) Seele (aus dem sündigen Körper) zu befreien. Diese Befreiung geschieht, indem die Seele – frei vom Körper – in einen rein geistigen Bereich gelangt, wo sie zur Gottesschau finden kann (ohne allerdings zur unio mystica zu finden). Der Weg zu dieser Gottesschau führt über die Ethik, über die vollkommene Erfüllung der Tora (bzw. die Überwindung der Begierden). Das aber ist dem Menschen nur dann möglich, wenn er sich ganz auf Gott geworfen erlebt, wenn er sich ganz Gott anvertraut und die ihm von Gott angebotene Hilfe (zur Vollkommenheit) in Anspruch nimmt.

Werk

Philos Werk besteht weitgehend aus der (allegorischen) Exegese der Tora, die uns (von alexandrinischen Christen!) in 49 Traktaten überliefert worden ist. Das Werk lässt sich in Schriftgruppen einteilen:

Auslegung des Gesetztes (expositio legis) : Diese Kommentarreihe zum Pentateuch setzt die universale Gültigkeit der Tora voraus; die einzelnen Gesetze werden als hervorragende Sittenlehre bzw. als Wegweiser zu einem gelingenden (weil naturgemässen) Leben für alle Menschen verstanden.

Allegorischer Kommentar : Diese Interpretationsreihe (zu Gen 2-41*) diskutiert die Tora weitgehend allegorisch und dürfte sich an ein eingeweihtes, fortgeschrittenes Publikum gerichtet haben.

Quaestiones et Solutiones : Diese Auslegungsreihe (zu Texten aus Gen/Ex) ist konsequent im Frage-Antwort-Stil gehalten und bietet neben allegorischer Exegese auch viele literarische Erklärungen.

Philosophische, historische und apologetische Texte.

Wirkung

Philos theologisch-philosophisches System, seine Frömmigkeit ist stark individualistisch geprägt. Im Rahmen des Judentums bleibt Philo eine einsame Gestalt, dessen Werk wenig Auswirkung gewinnt (zumal rabbinische Autoritäten gerade nach 70 n. Chr. wenig Interesse am hellenistischen Judentum gezeigt haben). Demgegenüber hat Philos Denken aber kräftig auf das (alexandrinische) Christentum und verschiedene Kirchenväter (für sie ist Philo eine Art Kirchenvater honoris causa) eingewirkt; insbesondere die Logos-Vorstellung (die erkennbare Seite Gottes) ist später aufgenommen und v.a. im Rahmen der Christologie adaptiert worden.

Standard-Ausgaben

- Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. L. Cohn u.a., 7 Bde., Berlin 21962 (Bde. 1-6)-1964 (Bd.7).

- Philo, with an English Translation by F.H. Colson et al., 10 Bde., LCL, Cambridge (MA) – London 1929-1962.

1.4 Josephus

Leben

Flavius Josephus lässt uns durch seine Autobiographie an seinem Leben teilhaben: Um 37. n. Chr. als Joseph Ben Matthias geboren, stamme er aus einer priesterlichen Familie aus Jerusalem, habe ab seinem sechzehnten Lebensjahr die Frömmigkeitsschulen der Pharisäer, der Sadduzäer und der Essener durchlaufen und sich anschliessend dem Asketen Banus angeschlossen. Mit neunzehn Jahren habe er begonnen, (im pharisäischen Stil) am öffentlichen Leben teilzunehmen: Im Jahr 63/64 n. Chr. sei er zunächst Teil einer Gesandtschaft nach Rom gewesen (erfolgreiche Bitte um Freilassung inhaftierter Priester); zurück in Judäa will er dann versucht haben – diesmal allerdings erfolglos –, die sich anbahnende Revolte gegen Rom abzuwenden. Später habe er als jüdischer Befehlshaber in Galiläa gewirkt, sei aber 67 n. Chr. im Zusammenhang mit der Eroberung Jotapatas in röm. Kriegsgefangenschaft geraten. Dort will Josephus Vespasian prophezeit haben, der nächste Kaiser zu werden. Als dieser 69 n. Chr. von seinen Truppen (in Ägypten) tatsächlich als Kaiser ausgerufen worden ist, habe Vespasian ihm die Freiheit geschenkt. Josephus will zurück nach Judäa, zu Vespasians Sohn Titus gegangen und dort Zeuge der Eroberung Jerusalems geworden sein. Nach dem Krieg habe er Titus nach Rom begleitet, wo er auf Kosten Vespasians bzw. der Flavier (daher: Flavius Josephus) bis zu seinem Tod um 100 n. Chr. gelebt und seine (uns bekannten) Werke zu Papyrus gebracht habe.

Werk

Josephus ist weniger (als etwa Philo) ein eigenständig-philosophischer Denker als vielmehr ein (jüdisch-hellenistischer) Historiker, der durch seine Werke versucht, das Judentum gegenüber seiner römischen bzw. hellenistischen Leserschaft zu rechtfertigen bzw. dieses als vernünftige Lebensweise vorzustellen:

De bello Judaico /Der jüdische Krieg (sieben Bücher): Zwischen 75 und 79 n. Chr. geschrieben, schildert das Werk zunächst (Bde. I+II) die Entwicklung der makkabäischen Revolte bis zum jüdisch-römischen Krieg, ab dem Schluss von Bd. II ausführlich, detailreich (und ermüdend) das Kriegsgeschehen selbst. Die Darstellung ist allerdings bei all ihrer historischen Detailliertheit von ihrer Zielsetzung her gefärbt: Josephus versucht zu zeigen, dass keineswegs die Juden als Volk (sondern nur eine revoltierende Minderheit: die Zeloten) kriegerisch veranlagt und der Sieg der Römer daher nicht unbedingt als Triumph ihrer Götter (über den Gott der Juden) zu verstehen sei.

Antiquitates Judaicae /Jüdische Altertümer (zwanzig Bücher): Im Jahr 93/94 n. Chr. abgeschlossen, schildert das opus magnum des Josephus die jüdische Geschichte bis zum Vorabend der Revolte gegen Rom. Die ersten zehn Bücher sind eine Art Relektüre der Geschichte Israels (Schöpfung bis babylonisches Exil), wie sie von der LXX überliefert worden ist (die Zeit des ersten Tempels). Die Bücher elf bis zwanzig schliessen an die von der LXX überlieferte Geschichte an und führen (mit Fokus auf die Makkabäerzeit und Herodes d. Gr.) bis ins Jahr 66 n. Chr. (die Zeit des zweiten Tempels). Ziel der Antiquitates dürfte es gewesen sein, interessierte Nicht-Juden ins Judentum einzuführen. Bemerkenswert ist zudem das sog. Testimonium Flavianum in Ant XVIII,63f, ein ausserneutestamentlicher (christlich überarbeiteter?) Abschnitt, der von Jesus spricht (vgl. als sicher von Josephus stammende Notiz zu Jesus noch Ant XX,200).

Vita /Autobiographie (ein Buch): Die Vita ist eine Ergänzung zu den Antiquitates. In diesem Werk versucht Josephus Vorwürfen zu begegnen, die ihm von Justus von Tiberias (in dessen Geschichte des Krieges gegen Rom) gemacht worden sind (Josephus habe Tiberias zum Aufstand gegenüber Rom angestiftet). Gleichzeitig kann die Vita aber auch als Essay gelesen werden, in dem sich Josephus als Beispiel eines (charakterlich) idealen Juden präsentiert.

Contra Apionem /Gegen Apion (zwei Bücher): Um 96 n. Chr. entstanden, dürfte das Werk urspr. den Titel Über das Alter der Juden o.ä. getragen haben; es ist apologetisch ausgerichtet und versucht, die bereits in der Antike immer wieder (z.B. eben vom in Rom wirkenden Alexandriner Apion) aufgebrachten Vorwürfe der Gottlosigkeit und des Menschenhasses ad absurdum zu führen. Dies tut Josephus, indem er auf das hohe Alter und die Sittlichkeit des Judentums hinweist und zu zeigen versucht, dass die Tora Frömmigkeit, Freundschaften und Menschenliebe fördert. Wie die Antiquitates dürfte auch Contra Apionem an ein interessiertes, aber nicht-jüdisches Publikum gerichtet gewesen sein.

Wirkung

Josephus bzw. sein Werk haben im Judentum seiner Zeit wenig Resonanz gefunden; für viele seiner jüdischen Volksgenossen ist Josephus ein Günstling Roms (und Verräter) gewesen und geblieben. Ganz anders in Rom: Hier sind seine Werke verbreitet und gelesen worden. Josephus’ Werke sind aber auch die wichtigsten ausserneutestamentlichen Quellen zur Erforschung der zeitgenössischen Geschichte und des frühen Christentums. Aus diesem Grund (und mangels Quellen für die Zeit der ersten Christen) bezieht sich auch Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte auf Josephus als seinen Kronzeugen.

Standard-Ausgaben

- Flavius Josephus, De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch, hg. u. mit einer Einl. sowie mit Anm. versehen v. Michel O. u. Bauernfeind O., 3 Bde., Darmstadt 31982.

- Flavius Josephus, Jüdische Altertümer. Vollständige Ausgabe. Übers. u. mit Einl. u. Anm. versehen v. Clementz, H., Wiesbaden 32011.

- Josephus, with an English Translation by Thackeray, H. St. J. u.a., 9 Bde., LCL, Cambridge (MA) – London 1926-1965.

2 Frühchristliche Literatur

Die Apostolischen Väter sind Autoren, welche die Apostel (inkl. Paulus) noch persönlich gekannt haben oder aber in hohem Masse in deren Tradition stehen. Ihre Texte umfassen den Zeitraum zwischen 96 und ca. 110 n. Chr. Sie sind wichtig, weil sie zeigen, wie die Texte, die später im ntl. Kanon aufgenommen worden sind, von frühester christlicher Zeit an verarbeitet worden sind. Im Folgenden werden zunächst die Apostolischen Väter bzw. v.a. deren Werke und ergänzend dazu einige nicht im engsten Sinn apostolische, wirkungsgeschichtlich aber bedeutende frühchristliche Werk bis ca. 150 n. Chr. (also die Epoche der Konsolidierung der Kirche) in ihrer möglichen historischen Abfolge knapp porträtiert:

2.1 Apostolische Väter im engeren Sinn

1 Klemensbrief

Der 1 Klemensbrief (65 Kapitel) ist das erste datierbare christliche Dokument ausserhalb des NTs. Er wird 96/97 n. Chr. von Klemens, Schüler von Petrus/Paulus und Bischof der Gemeinde in Rom, im Namen seiner Kirche nach Korinth geschrieben worden sein, um einer drohenden Spaltung in der korinthischen Gemeinde entgegen zu wirken bzw. dieses Ärgernis aus der Welt und (neue) Einheit zu schaffen. Der Brief greift vielfach auf die LXX (als Schrift!) zurück, ist freundlich und würdevoll geschrieben und lässt sich gut gliedern: Einleitung (1-3), allgemeine Ausführungen (4-36), Überleitung (37-39), Behandlung der Situation in Korinth (40-58), Schluss (59-65). Das Werk atmet insgesamt ntl. Geist und gewährt uns einen Blick ins kirchliche Leben (Theologie, Ekklesiologie, Ethik) am Ende des 1. Jhs. n. Chr.

Ignatiusbriefe

Die sieben Ignatiusbriefe werden am Anfang des 2. Jhs. n. Chr. von Ignatius, Bischof von Antiochia, während dessen Reise von Syrien nach Rom, wo er 107/9 n. Chr. den Märtyrertod erlitten hat, geschrieben worden sein. Ignatius hat seine Pastoralbriefe an die Epheser (21 Kapitel), Magnesier (15 Kapitel), Trallianer (13 Kapitel), Römer (10 Kapitel), Philadelphier (11 Kapitel), Smyrnäer (13 Kapitel) und an Bischof Polykarp von Smyrna (8 Kapitel) geschrieben – um die Eintracht in den kleinasiatischen Gemeinden (unter ihrem jeweiligen Bischof!) zu fördern und sie vor häretischen Einflüssen (Wanderpredigern) zu warnen. Die sieben Ignatianen atmen ntl. Geist, erlauben uns einen Blick ins kirchliche Leben (Theologie, Ekklesiologie, Ethik) am Anfang des 2. Jhs. n. Chr. und ins Leben eines christlichen Leiters, der von höchsten christlichen Idealen erfüllt und (im Rahmen seiner Mystik und Martyriumstheologie) bereit dazu war, für seine Überzeugungen zu sterben.

Polykarpbriefe

Die beiden Polykarpbriefe an die Kirche in Philippi (zusammen 14 Kapitel) werden am Anfang des 2. Jhs. n. Chr. von Polykarp, Apostelschüler und Bischof von Smyrna, geschrieben worden sein. 1 Phil (Kapitel 13) wird zur Zeit der Todesfahrt des Ignatius nach Rom, 2 Phil (Kapitel 1-12; 14) einige Monate später abgefasst worden und nach Polykarps Märtyrertod 155/156 n. Chr. in Smyrna zu einem Werk vereinigt worden sein. Polykarp gibt sich als Hüter der apostolischen Tradition zu erkennen, der sich für (r)echtes christliches Handeln im Sinne der apostolischen (v.a. paulinischen) Tradition und gegen anderslautende Häresien stark macht. Während 1 Phil die Korrespondenz zwischen Polykarp und der Kirche in Philippi erkennen lässt, atmet auch 2 Phil ntl. Geist und erlaubt uns einen Blick ins kirchliche Leben (Christologie, Ekklesiologie, Ethik) am Anfang des 2. Jhs. n. Chr.

Nicht im engsten Sinn zu den Apostolischen Vätern zählen folgende, breit rezipierte und wirkungsgeschichtlich bedeutende frühchristliche Werke.

2.2 Apostolische Väter im weiteren Sinn

Didache (Zwölf-Apostellehre)

Die Didache (16 Kapitel) dürfte am Anfang des 2. Jhs. in Syrien geschrieben worden sein, und zwar von einem unbekannten Autor. Das Werk zeichnet sich weniger durch theologische Reflexion als vielmehr durch (stark traditionell verankerte; vgl. z.B. das Vaterunser in 8,2 mit Mt 6,9-13) praktische Anweisungen im Blick auf den Alltag (1-6: Ethik/Zwei-Wege-Lehre; ganz ähnlich Barn 18-20) und das kirchliche Leben (7-10: Liturgik; 11-13: Wanderprediger; 14-15: Gemeindeordnung; 16: Eschatologie) von Christen aus. Insofern kann die Didache von ihrer Form her als eine Art Kirchenordnung für einen gut organisierten Kirchenverband (in einem primär jüdisch geprägten) Umfeld gelesen werden – mit der Zielsetzung, die vermittelten Anweisungen/Ordnungen verbindlich zu machen.

Papiasfragmente

Das (verschollene) fünfbändige Werk (Titel etwa: Auslegung der Herrenworte), aus dem die (durch Kirchenväter überlieferten) 22 Papiasfragmente stammen, dürfte um 125/130 n. Chr. (nach Eusebius bereits um 110) von Papias, Bischof von Hierapolis, geschrieben worden sein. Papias zeigt starkes Interesse an der mdl. Jesus-Tradition, um diese (interpretierend) schriftl. festzuhalten; insofern kann sein Werk als Brücke zwischen der mdl. und der schriftl. Tradition verstanden werden. Obwohl es der Umfang der 22 Fragmente nicht zulässt, die Theologie (oder die Biographie) des Papias zu rekonstruieren, wird doch das Ziel seines (gegen Wanderprediger z.T. polemisch ausgerichteten) Werkes bzw. der daraus stammenden, uns überlieferten Fragmente deutlich: Papias hält die mdl. Jesus-Tradition schriftl. fest, damit seine Leser zwischen vertrauenswürdiger Tradition und Häresie unterscheiden können.

Barnabasbrief

Der Barnabasbrief (21 Kapitel) dürfte 130 – 132 n. Chr. (wo?) geschrieben worden sein, und zwar kaum von Barnabas (so aber z.B. Klemens von Alexandrien), sondern von einem unbekannten christlichen Autor. Das Werk präsentiert sich als (auf dunklem jüdischen Hintergrund leuchtendes) briefliches christliches Propaganda-Schreiben an ein christliches Publikum und ist nur schwer zu gliedern (1: Einleitung; 2-16: Hauptteil A/Schriftzitate; 17: Überleitung; 18-20: Hauptteil B/Zwei-Wege-Lehre; 21: Schluss). Ziel des Schreibens ist es, die Leser für die präsentierten Gedanken zu gewinnen: Christi Tod (und Auferstehung) ist Teil des in der (hier christlich interpretierten!) LXX offenbarten Heilsplanes bzw. Willens Gottes. Die LXX wird entsprechend als entscheidende Norm und nur als prophetische Offenbarung der christlich-eschatologischen Zeit gelesen; an ihr muss sich entscheiden, was als christlich zu gelten hat.

2 Klemensbrief

Der 2 Klemensbrief (20 Kapitel) dürfte 130 – 150 n. Chr. (in Ägypten?) geschrieben worden sein, und zwar kaum vom röm. Bischof, sondern von einem unbekannten christlichen Autor. Ziel dieser wenig strukturierten, ebenfalls stark in der (als christliche Schrift gelesene!) LXX verankerten christlichen Mahnrede (kein Brief; ev. eine Predigt) ist es, die angeschriebene Kirche in verschiedenen Bereichen (persönliches, innerkirchliches Leben und Verhalten gegenüber der Umwelt) im Blick auf die Lebensheiligung ethisch zu ermahnen. Dies deshalb, weil dem richtigen ethischen Verhalten (dem Barnabasbrief vergleichbar) eine soteriologische Relevanz eignet. Rettung hängt vom Tun der Gerechtigkeit und von der nötigen Busse ab; die angemahnte Ethik ist damit (auf der Basis von Christi Vergebung) im Blick auf das Heil grundlegend.

Hirt des Hermas

Der Hirt des Hermas (114 Kapitel) ist die umfangreichste frühchristliche (und in der Kirche sehr geschätzte) Schrift und wird von Hermas, einem prophetisch begabten Christen (einem ehemaligen Sklaven) zwischen 70 und 150 n. Chr. in Rom geschrieben worden sein. Das Werk des Hermas ist eine (durch Mittler, v.a. einen Engel, den Hirten/Führer des Hermas) überirdisch offenbarte, später überarbeitete eschatologisch ausgerichtete Apokalypse in drei ungleichen Teilen: 5 visiones/Visionen (ca. 1/5), 12 mandata/Gebote (ca. 1/4), 10 similitudines/Gleichnisse (ca. 1/2). Die Schrift ruft zur Reue bzw. Busse, zur Erneuerung und zur kompromisslosen Sittlichkeit auf, damit die Kirche (wieder) sein kann, was sie sein soll: Salz und Licht der Welt. Der Fokus des Werkes liegt demnach auf der Ekklesiologie bzw. der damit verbundenen Ethik (so gelten z.B. die Taufe und das daraus folgende gerechte Leben als notwendige Bedingungen zur Erlangung des Heils). Daraus folgt: Der Hirt des Hermas gewährt uns einen Blick in die Entwicklung der christlichen Kirche im 2. Jh. n. Chr. und ist eine wichtige Quelle zur Erforschung des frühen Christentums.

2.3 Neutestamentliche Apokryphen

Neben den oben porträtierten frühchristlichen Schriften sind uns viele weitere Werke überliefert worden, die unter dem Sammelbegriff Neutestamentliche Apokryphen eingeordnet werden. Dabei handelt es sich um Evangelien (z.B. das Thomasevangelium, das Evangelium nach Philippus, das Ägypter- und das Petrusevangelium, Kindheitsevangelien u.a.), Apostolisches (z.B. Pseudepigraphen, Apostelgeschichten des 2./3. Jhs., Pseudoklementinen u.a.) und Apokalypsen (z.B. die Himmelfahrt Jesajas, das 5./6. Buch Esra u.a.). Weil diese Schriften aber in der Regel später anzusetzen bzw. inhaltlich weiter vom NT entfernt sind und insofern für die Interpretation des NTs weniger austragen, sei an der Stelle lediglich auf die entsprechenden Texteditionen (vgl. unten Schneemelcher) verwiesen.

Standard-Ausgaben

- Fischer, Joseph A., Die Apostolischen Väter, eingel., hg., übertr. u. erl. (SUC 1), Darmstadt 2006 (= Sonderausgabe = unver. Nachdr. 101993).

- Körtner, Ulrich J. und Leutzsch, Martin, Papiasfragmente, Hirt des Hermas, eingel., hg., übertr. u. erl. (SUC 3), Darmstadt 2006 (= Sonderausgabe = unver. Nachdruck 1998).

- Schneemelcher, Wilhelm (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 2 Bde. I: Evangelien, II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61999.

- Wengst, Klaus, Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet, eingel., hg., übertr. u. erl. (SUC 2), Darmstadt 2006 (Sonderausgabe = unver. Nachdr. 1984).

B Umwelt des Neuen Testaments

Weil das NT Teil der antiken jüdisch-hellenistischen Kultur und wesentlich in dieser und aus dieser Kultur heraus entstanden ist, genügt es nicht, die entsprechende zeitgenössische und im Blick auf die Interpretation des NTs einschlägige (Quellen-)Literatur zu kennen. Wichtig ist zudem, das zeitgenössische Umfeld, die geschichtlichen Hintergründe, die politische, wirtschaftliche, soziale und geistige Situation, in einem Wort: das ‚Biotop’ zu kennen, in dem das NT entstanden ist. Das Folgende bietet daher eine Einführung (mehr nicht!) ins Judentum und in die hellenistisch-römische Welt zur Zeit des zweiten Tempels.

1 Judentum zur Zeit des Neuen Testaments

Die Zeit des NTs ist in politischen Entwicklungen verwurzelt, die tief in die Zeit vor Jesu Geburt hinab reichen und deren Äste bis ins zweite Jh. n. Chr. (und darüber hinaus) weisen. Zum angemessenen Verständnis des NTs ist es daher unerlässlich, die wichtigsten zeitgeschichtlichen Entwicklungen und Eckdaten zu kennen und entsprechend einordnen zu können. Das Folgende skizziert diese Entwicklungen und hält Eckdaten in tabellarischer Form fest.

1.1 Politische Geschichte in hellenistischer Zeit

Ein Blick zurück: das Ende des israelitisch-jüdischen Staates und das Exil

722 v. Chr. erobern die Assyrer (unter Sargon II.?) Samaria bzw. zerstören das Nordreich Israel und deportieren die Oberschicht der zehn dort lebenden israelitischen Stämme; das Volk Israel existiert damit de facto nicht mehr. Geblieben sind die beiden in Judäa siedelnden Stämme Juda und Benjamin. 587 v. Chr. erobern die Babylonier (unter Nebukadnezar) Jerusalem (nach 597 v. Chr. zum zweiten Mal), zerstören den Tempel und deportieren die Oberschicht der Stämme Juda und Benjamin nach Babylon, wo sie in (relativ) geschlossenen Kolonien als Volksgruppe (über-)leben. Es folgt eine Periode theologischer Verarbeitung der erlebten politischen/theologischen Katastrophe und eine kultisch-rituelle Neuausrichtung.

[...]

Ende der Leseprobe aus 174 Seiten

Details

Titel
Die Welt des Neuen Testaments. Eine allgemeinverständliche Einführung
Untertitel
Studienreihe IGW Band 1 (2. leicht überarbeitete Auflage)
Hochschule
IGW International
Autor
Jahr
2016
Seiten
174
Katalognummer
V303177
ISBN (eBook)
9783668013438
ISBN (Buch)
9783668013445
Dateigröße
7886 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neues Testament, Einführung, Welt, Stefan Wenger, IGW
Arbeit zitieren
Stefan Wenger (Autor:in), 2016, Die Welt des Neuen Testaments. Eine allgemeinverständliche Einführung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/303177

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