Deutsche Polizei in Afghanistan. Zwischen neuen Aufgaben und interkulturellen Herausforderungen


Masterarbeit, 2011

124 Seiten, Note: 2.1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Problemstellung/Zielstellung
1.2 Forschungsmethoden
1.3 Vorgehensweise

2. Westliche Gesellschaftsentwicklungen
2.1 Gesellschaftsentwicklungen nach Elias
2.2 Entwicklung der Polizei nach Winter
2.3 Folgeentwicklungen
2.4 Auslandsanforderungen an die deutsche Polizei
2.5 Das Trennungsgebot

3. Afghanistan
3.1 Geschichtliche Entwicklungen Afghanistans
3.2 Die deutsch-afghanischen Beziehungen
3.3 Strukturierungen
3.3.1 Das Gewaltmonopol und die Rechtstaatlichkeit
3.4 Die Sicht der Experten
3.5 Der afghanische Weg zu einer eigenen Organisationsstruktur?
3.6 Das Engagement arabischer Staaten

4. Deutsche Polizei in Auslandsmissionen
4.1 Internationale polizeiliche Zusammenarbeit in Afghanistan
4.1.1. Zusammenarbeit mit internationalen Kräften
4.1.2. Zusammenarbeitmit Afghanen
4.2 Folgen des Auslandsengagements

5. Kulturen
5.1 Polizeikulturparadigmen
5.2 Auf dem Weg zur Interkultur
5.3 Die Sicht der Beamten

6. Interkulturell kommunizieren
6.1 Kommunikation

7. Transferüberlegungen

8. Zusammenfassung und Fazit

Literaturverzeichnis

Internetauellen

Anlage 1 - Die Transkriptionsregeln

Anlage 2 - Das Experteninterview mit Beamten К

Anlage 3 - Das Experteninterview mit Beamten C

Anlage 4 - Das Experteninterview mit Beamten В

denn irgendwann hast du festgestellt, dass du nur da bist, um Zahlen zu pro­duzieren, damit Deutschland ein entsprechendes Renommee von der internatio­nalen Gemeinschaft erntet.

Du bist nicht da, um den größtmöglichen Erfolg bei den Afghanen zu erzielen, weil, wenn das das oberste Ziel wäre, den größtmöglichen Erfolg zu erzielen, müssten mehr Beamte rein gebracht werden, es müsste noch mehr Geld investiert werden und es müsste eine höhere Risikobereitschaft gewählt werden, ... wenn man mehr Erfolg wirklich reell produzieren will.

(Polizeibeamter B., C 28)

1. Einleitung

Zwei Gesamtentwicklungen lieferten in der Vergangenheit die Voraussetzungen für diese Arbeit: Der 11.09.01 war eines der bedeutendsten Ereignisse der Weltgeschichte. Zu den eingetretenen Folgen des Anschlags auf das World Trade Center sind mindestens zwei Kriege, mehrere einzelne Militäraktionen und eine besondere neue geistige sowie körperliche Auseinandersetzung mit der muslimischen Welt zu zählen. In der breiten Öffentlichkeit herrschte die Angst vor einem Kampf der Kulturen (vgl. Huntington). Unter dem Mantel des Kalten Krieges schien dieses Thema noch sekundärer Natur zu sein, nach dem Zerfall des Warschauer Paktes entfaltete es sich jedoch erneut rasant.

Perestroika und Glasnost ermöglichten auch weitere Entwicklungen, den Fall der Mauer, den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik und damit die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität. Die Weltgemeinschaft forderte nun von der Bundesrepublik, sich nicht mehr nur finanziell an internationalen Krisen zu beteiligen, sondern auch mit Personal und Material teilzunehmen. Der Sonderstatus nach dem Zweiten Weltkrieg, internationalen Einsätzen unter Hinweis auf die Geschichte fernzubleiben, entfiel. Somit begannen zu diesem Zeitpunkt für die meisten deutschen Sicherheitsbehörden, mit Ausnahme des Bundesnachrichtendienstes, die ersten Auseinandersetzungen mit Out-of-Area-Einsätzen. Die Bundeswehr passt seitdem in verschiedenen Wehrreformen ihr Fähigkeitsprofil den Gegebenheiten an, um im Ausland zu agieren; auch die deutschen Polizeikräfte finden sich mit der Aufgabe konfrontiert, bei internationalen Organisationen oder Einsätzen im Ausland ihren Dienst zu versehen. Nach Jahrzehnten der Ost-West-Konfrontation waren nicht nur die Militärblöcke erstarrt, sondern auch die staatlichen Behörden der jeweiligen Länder. Die Auslandsmissionen der Polizei fungieren somit nicht nur als neue Herausforderungen, sondern liefern einen deutlichen Impuls zum Wandel der Behörde. In der internationalen Polizeimission in Afghanistan findet die Arbeit im muslimischen Raum statt, in dem die Beamten1 täglich mit diesen Fremdheitserfahrungen leben und ihr in Deutschland generiertes Wissen an die afghanische Polizei weitergeben sollen. Der Umgang mit anderen Kulturen zählt aber mittlerweile nicht nur zum Profilbild der Polizei im Auslandeinsatz, sondern auch zum polizeilichen Alltag innerhalb Deutschlands.

1.1 Problemstellung/Zielstellung

Im Zuge internationaler Missionen steht die deutsche Polizei unter dem Einfluss von Internationalisierung und Europäisierung. Diese Masterarbeit untersucht, welche Probleme auftreten, wenn das gesellschaftlich und historisch gewachsene deutsche Polizei(selbst-)verständnis mit afghanischen sowie weiteren internationalen Auffassungen über polizeiliches Arbeiten und deren Rolle in der Gesellschaft konfrontiert wird.

Wann stößt die deutsche Polizei an ihre Grenzen, wenn ihr Polizeiverständnis in die afghanische Kultur übertragen werden soll? Hierbei soll konkret die Frage geklärt werden, was Polizeiarbeit in Afghanistan im historischen, kulturellen und traditionellem Sinne eigentlich bedeutet und ob sich diese afghanische Polizeirolle in der Zusammenarbeit mit der deutschen Polizei widerspiegelt.

Die Schwierigkeit liegt nicht nur im Umgang mit anderen Kulturen im Ausland, sondern auch im Inland, in welchem Migranten für die Polizei eine Problemgruppe bilden können, deren Integration in die Gesellschaft und in die eigene Behörde nicht immer einfach erscheint. Entsteht aus dieser Betrachtung wiederum eine Transfermöglichkeit für den Umgang mit anderen Kulturen im Inland?

Die organisatorische Ausrichtung der internationalen Polizeikräfte ist schon in vergangenen Einsätzen harscher Kritik ausgesetzt gewesen (Feltes 2009: 2). Sind es hier demnach möglicherweise organisatorische Defizite, die das Zusammenwirken erschweren?

Nach der Betrachtung unterschiedlicher Aspekte der Polizeimission in Afghanistan soll der Leser in die Lage versetzt werden, die Problemfelder des Einsatzes überblicken zu können, um die Grundlagen zu einer Verbesserung der Situation diskutieren zu können. Es sollen Schwachstellen in der Konzeption eines Auslandeinsatzes extrahiert werden, die nicht ausschließlich vonseiten der Literatur angetragen werden, sondern von denen Teilnehmer berichten. Diese Arbeit dient demnach als Grundlagenliteratur auf dem Feld der soziologisch­kriminologischen Begutachtung der Auslandseinsätze der Polizei.

1.2 Forschungsmethoden

Meine erste Vorstellung über das Thema der Masterarbeit entwickelte sich während eines Vortrages des Beamten K., der im Landeskriminalamt Niedersachsen seine Erfahrungen als Ausbilder in Masar-i-Sharif als Teilnehmer der Polizeimission in Afghanistan schilderte. Diese Erlebnisse der täglichen Interaktionen mit afghanischen Polizeischülern führten bei mir zu den oben genannten Fragestellungen.

Da grundsätzlich qualitative Methoden geeignet sind, um darzustellen, welche Bedeutung eine Person unterschiedlichen Prozessen innerhalb eines Einsatzes zuschreibt (Mayring 2002: 22), fasste ich den Plan, ihn und weitere Beamte als Experten für Interviews zu gewinnen. Die innerhalb des Vortrags vermittelten Eindrücke und Gefühle spiegeln den besonderen Mehrgewinn wider, eben genau das abzubilden, was man erlebt und wie man es erlebt (Bohnsack 2008: 210).

Aus diesem Grund entschied ich mich für das Experteninterview in einem teilstrukturierten Interviewverfahren, was systematisiert der Informationsgewinnung aus dem Handlungs- und Erfahrungswissen dient.

In einem Experteninterview sollten in Afghanistan eingesetzte Polizeibeamte, die für die Ausbildung sowie für Mentoring initialisiert wurden, mit unterschiedlichen Themenfeldern aus ihrem Einsatzalltag konfrontiert werden, zu denen sie dann die Möglichkeit bekommen, relativ frei Stellung zu nehmen.

Diese Experten verfügen über technisches, Prozess- und Deutungswissen, das sich auf ein spezifisches professionelles oder berufliches Handlungsfeld bezieht. Insofern besteht das Expertenwissen dieser Polizeibeamten nicht allein aus systematisiertem, reflexiv zugänglichem Fach- oder Sonderwissen, vielmehr weist es zu großen Teilen den Charakter von Praxis- oder Handlungswissen auf (Bogner/Menz 2005: 46). Diese qualitative Methode möchte ich durch eine Analyse der vorhandenen wissenschaftlichen Schriften ergänzen, um den Ausgangsfragen näher zu kommen. Zur Klärung der Ausgangsfragen erscheint es jedoch wenig sinnvoll, sich ausschließlich auf bereits verfasste Schriften zu stützen, da hierfür die Statements der Teilnehmer die konkrete Situation treffender umfassen und einschätzen.

Hierbei sollen in dem Sinne keine Hypothesen geprüft werden, sondern in einem freien Charakter die Einschätzung der Beamten erfragt werden.

Obwohl die Bedeutungszuschreibungen sprachlich-symbolisch und damit beobachtbar präsentiert werden, erfahren diese unzweifelhaft eine Interpretation der Beamten. Das heißt auch, dass ein anderer Teilnehmer zu anderen Gewichtungen und Schwerpunkten während des Interviews gelangen kann, diese müssen dann dementsprechend herausgefiltert werden.

Die Interviews wurden auf Tonträgern aufgezeichnet und anschließend transkribiert (vgl. Anhang 2,3,4). Dazu wurden in Anlehnung an Hitzier, die Gespräche transparent und nur „so kompliziert wie nötig“ (Hitzier 1991: 299) zu machen, die von Fricke kreierten vereinfachten Transkiptionsregeln übernommen (siehe Anhang 1).

Obwohl sich durch die Ähnlichkeit der Fragen und die Gemeinsamkeit der Themenfelder eine grobe Leitfadenstruktur abzeichnet, wendete ich für die Analyse kein voll strukturiertes Auswertungsverfahren an (z. B. nach Meuser/Nagel), da die Anzahl der Interviewten und die Struktur der Antworten dafür nicht geeignet erscheint. Die Inhalte wurden gemäß der dokumentarischen Methode, im Sinne Bohnsacks, in den Kapiteln teils reformuliert (Bohnsack 2008: 134) und einer reflektierenden Interpretation unterzogen. Diese Auffassung kann niemals dem Anspruch der Unabhängigkeit vom Deutungszusammenhang des Analysierenden entsprechen (Reckwitz 2000: 293).

1.3 Vorgehensweise

Literatur, die polizeiliche Auslandsmissionen tangiert, existiert in großem Ausmaß. Die Polizeimission in Afghanistan ist weniger zahlreich vertreten - einige wissenschaftliche oder politische Schriften ausgenommen. Innerhalb dieser raren Publikationen werden auch noch unterschiedliche Themenbereiche diskutiert.

Aus der Perspektive der Ausgangsfragen differenzierte ich in einem ersten Schritt Themenfelder, die zur Beantwortung der Fragen sinnvoll erschienen.

Die dafür erlangte Literatur, die als Recherche zur Verfügung stand, gliederte geistig die Kapitel der vorliegenden Abhandlung und der Themenfelder, die ich in einem groben Leitfaden in die Form des themenstrukturierten Interviews einfließen ließ (Bereswill 2001: 254). Als letzten Schritt setzte ich die Ergebnisse des Interviews wieder in Beziehung zur Analyse der Literatur.

Im Prozess des Schreibens verschob sich auch der Fokus der ersten Überlegungen insofern, als nun speziell die Erfordernisse und Ergebnisse aus Afghanistan den Schwerpunkt bilden. Der Rückgriff auf weitere ausländische Kulturregionen wurde nicht mehr in die Konzeption adaptiert.

Die Rolle der Experten für das Masterarbeitsthema nahmen drei Polizeibeamte des Landeskriminalamtes in Niedersachsen ein, die mir durch die gemeinsame Arbeitsstelle im Vorfeld schon bekannt waren. Ebenso wusste ich von deren Teilnahme an der Polizeimission in Afghanistan. Sie bewältigten im Einsatzland unterschiedliche Aufgaben und können somit die verschiedenen Facetten des Engagements ausreichend beschreiben.

Die Tätigkeiten aller entsendeten Beamten weichen in Deutschland stark voneinander ab, demnach war es kaum möglich, eine Art Durchschnittsbeamten mit Durchschnittsverwendung zu definieren und als allgemein gültiges Modell zu bezeichnen. Man kann aufgrund der Gleichheit der Polizeiarbeit innerhalb der Strukturen der Bundesrepublik jedoch aber davon ausgehen, dass sich die gemachten Erfahrungen in Afghanistan nicht möglicherweise deshalb unterscheiden, gerade weil die interviewten Beamten aus Niedersachsen stammen.

Der Wunsch nach Anonymität bestand jedoch aufgrund der derzeitigen Verwendung bei allen Beamten. Die Kontaktaufnahme und die Einwilligung, mich bei meiner Arbeit zu unterstützen, erfolgte informell und nach kurzem informatorischen Vorgespräch über meine Arbeit. Ebenso führte das Inkenntnissetzen des Dezernatsleiters zu keinen weiteren Einwänden.

Die drei Interviews fanden alle in den Räumen des Landeskriminalamtes statt, wobei wir uns nach den Terminen der Beamten richteten und uns jeweils vor dem Dienstbeginn des einzelnen Beamten in dessen Büro trafen. Bei einem Interview reichte die geplante Zeit vor dem Dienstbeginn trotzdem nicht aus, um in dem Büro des Beamten ungestört zu bleiben. Während aller Gespräche, die mittels Laptop aufgezeichnetwurden, standen Getränke zur Verfügung.

Da die interviewten Experten gleichzeitig Arbeitskollegen für mich als Interviewer sind, hatte ich zunächst Bedenken, dass die Rolle unter Kollegen die Offenheit der getätigten Aussagen negativ beeinflussen könnte. Dies bewahrheitete sich nicht, sondern der überwiegende Eindruck war eher gegenteilig, sodass ein hoher Grad an Intimität während der Interviews erreicht wurde. Meine Rolle in der Wahrnehmung der Interviewten war möglicherweise die des Wissenden als eine

Art Со-Experte (Bogner/Menz 2005: 47ff.), da ich zwar ebenso Polizeibeamter bin und viele ähnliche Erfahrungen und Wissen von Berufs wegen mit den Interviewten teile, aber eben nicht dieses spezielle Wissen um Afghanistan.

Es wurde zwar nicht nach biographischen Erlebnissen im Sinne eines narrativen Interviews gefragt, aber besonders viel Raum für die Narration und die Darlegung eines eigenen Relevanzsystems gelassen (Bohnsack 2008: 219), um die Darstellung von 'Eigentheorien' anzustoßen (Meyer 2001: 127). Nachfragen waren eingeplant, sollten aber so gering wie möglich gehalten werden, um den Redefluss des Interviewten nicht zu irritieren. Dies war zum Konkretisieren des Erlebten und als Anregung für eine weitere Schilderung vorgesehen. Zusätzliche Interviews mit Dozenten, die in der Vorbereitung für die Auslandverwendung an der Bundespolizeiakademie in Lübeck dozieren, kamen aufgrund von Terminschwierigkeiten nicht zustande.

2. Westliche Gesellschaftsentwicklungen

„Der Ursprung der Gegenwart ist in der Vergangenheit zu finden. Wirklichkeit ist nie besser zu verstehen, als durch ihre Ursache.“

Gottfried Wilhelm Leibniz

„Man kann aus der Geschichte unglaublich weise werden, aber nie klug fürs nächste Mal.“

Jakob Burkhardt

Die Diskussion der Geschichtswissenschaftler um den tatsächlichen Nutzen des Wissens um die Geschichte soll hier nicht unerwähnt bleiben. Wie jedoch schon eingangs erwähnt, ist dieses spezielle Wissen über die eigene gesellschaftliche Entwicklung essentiell, um den Umgang mit der eigenen Geschichte und den heutigen Umständen kritisch würdigen zu können.

Es sei besonders darauf hingewiesen, dass sich gerade diese einzelnen westlichen Tendenzen stark von der gesamten orientalischen Gesellschaftsstruktur und deren Entwicklung abheben, was die weitere Betrachtung in dieser Arbeit beeinflussen wird. Zu einem späteren Zeitpunkt wird auf die besondere afghanische Entwicklung noch spezieller eingegangen.

Zum anderen, ist hier der Weg an sich zu inspizieren, warum es in diesen Breitengraden zu gewissen institutioneilen Entwicklungen gekommen ist, warum sich die angesprochenen Kulturen und Denkmuster entfaltet haben und insbesondere diese und keine anderen. Hierbei kann dieses Aufzeigen ebenso als Prüfstein dienen, um die eigene Entwicklungsgeschichte kritisch zu hinterfragen und diese nicht als sakrosankt anzusehen.

Aus diesen Dokumentationen der Gesellschaftsentwicklung und der Entwicklung der Institution „Polizei“ resultieren die ersten Konfrontationspunkte und Fragestellungen in Bezug auf die internationale Polizeimission in Afghanistan.

Eine theoretische Einführung

2.1 Gesellschaftsentwicklungen nach Elias

In Norbert Elias' Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ (1997) visiert er den Zeitraum von etwa 800 bis 1900 n. Chr. an. Er untersucht dabei den Wandel der Sozialstrukturen, der dadurch auch einen langfristigen Wandel der Persönlichkeitsstrukturen bewirkt. Dieser soziale Wandel wird durch kontinuierlichen technischen Fortschritt und ,,... die Differenzierung der Gesellschaften einerseits sowie den ständigen Konkurrenz- und

Ausscheidungskampf zwischen Menschen und Menschengruppen andererseits verursacht“.2

Dieser soziale Wandel verursachte in Westeuropa eine Zentralisierung und Einrichtung von staatlichen Monopolen. Diese ähnliche Entwicklung beschreibt auch später Winter im Zusammenhang mit der institutioneilen Entwicklung der Polizei. Elias sieht als Bindeglied zwischen den sozialstrukturellen Veränderungen (Soziogenese) und denen der Persönlichkeitsstruktur (Psychogenese) gegenseitige Abhängigkeiten, sogenannte „Interdependenzketten“. Diese Dependenzen veranlassen zu einem verstärkten Überdenken des eigenen Handelns aufgrund eines Wissens über die gegenseitigen Wechselwirkungen. Diese gesellschaftliche Selbstkontrolle tritt verzögert vor der Zentralisierung innerhalb der Persönlichkeiten ein. Elias sieht einen Prozess in Gang gesetzt, der durch das Überdenken der eigenen Handlungen im Verhältnis zur Umwelt geschieht. Schamschwellen und Peinlichkeitsschwellen rücken vor, Empathiefähigkeit und die Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlung vorauszuberechnen, steigern sich. Dadurch sinkt u. a. gleichzeitig die Gewaltbereitschaft und Sexualität erfährt eine weitere Tabuisierung (Elias 1997: 408).

Der soziale Strukturwandel, der auch als Staatenbildungsprozess begriffen werden kann, subsumiert Integrations- und Differenzierungsprozesse auf demographischer, politischer, sozialer und ökonomischer Ebene, wobei Elias die Modernität hauptsächlich durch eine Machtmonopolisierung gekennzeichnet sieht. Diese Stabilität führt zu „befriedeten Räumen“ (Elias 1997:151).

Die frühen gesellschaftlichen Entwicklungsphasen, die in vielen Hinsichten afghanische Zustände widerspiegeln, ,,... sind vor allen Dingen durch die Dominanz der Naturalwirtschaft, den geringen Grad des Geldgebrauches, gering ausgeprägte Handelsbeziehungen sowie Arbeitsteilung und durch einen geringen Grad der Staatsbildung und Pazifizierung bestimmt“ (Elias 1997: 160). Der Gebrauch der Gewalt ist solange ein probates Mittel, wie eine Monopolisierung von Gewalt nicht vorherrschend ist. Die ständige Bedrohung durch körperliche Gewalt jederzeit verhinderte in der damaligen Zeit eine langfristige vorausschauende Planung des Lebens durch die Menschen. „Das Gewaltmonopol des Staates erlaubt es den Menschen nun, langfristig zu planen, da der Kampf nicht mehr notwendig und auch nicht mehr legitim ist.“ In früheren Gesellschaften war der einzelne Mensch freier, sich der Lust hinzugeben, auf der anderen Seite war er gefährdeter durch Feinde oder Naturphänomene.

Im Kontext zu dieser Deskription sind deutliche Parallelen zu afghanischen Verhältnissen zu beobachten, die uns erlauben, aus der Retrospektive der abendländischen Konstitution eine Einschätzung abzugeben, in welcher Phase des Entwicklungsprozesses sich die afghanische Gesellschaft befinden könnte. Die afghanische Regierung hat in vielen Distrikten keine oder kaum Kontrolle. In diesen Gebieten herrschen verstärkt regionale oder lokale Warlords oder Kommandeure.

„Auf diese Weise vollzieht sich also der geschichtlich-gesellschaftliche Prozess von Jahrhunderten, in dessen Verlauf der Standard der Scham- und Peinlichkeitsgefühle langsam vorrückt, in dem einzelnen Menschen in abgekürzter Form von neuem. Wenn man darauf aus wäre, wiederkehrende Prozesse als Gesetz auszudrücken, könnte man in Parallele zu dem biogenetischen von einem soziogenetischen und psychogenetischen Grundgesetz sprechen“ (Elias 1997: 174).

2.2 Entwicklung der deutschen Polizei nach Winter

Innerhalb dieser gesellschaftlichen Trends ist es nun für die Arbeit von Interesse, wie sich die Institution3 einer Polizei herausbilden konnte. Winter geht davon aus, dass die Polizei als das Produkt zweier geschichtlicher Differenzierungsprozesse begriffen werden kann. Dieses konkretisiert er dadurch, dass erstens eine Spezialisierung innerhalb des staatlichen Apparates stattfand, indem die Polizei eine organisatorisch eigenständige Ordnungsbehörde wurde und sich weiter ausdifferenzierte aus dem staatlichen Exekutivapparat als 'bürokratische Institution Polizei'. Im 15. und 16. Jahrhundert bestand Polizei erst als Begriff, der mit einer einfachen Umschreibung eines 'Zustandes der guten Ordnung des Gemeinwesens' ('die gute Policey') einherging.

Diese Polizei-Ordnung umfasste alle Lebensbereiche, Fragen der Lebensführung und auch die allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt. Die Polizei war regelrecht für alle staatlichen Aufgaben zuständig, außer der Rechtspflege, der Finanz- und Kriegsverwaltung (Boldt 1992: 12). Winter plausibilisiert, dass bis in das 18. Jahrhundert hinein die Polizeigewalt generell für die Staatsgewalt im Inneren stand, wobei ersieh auf Götz bezieht: Die Polizei sei der 'juristische Inbegriff der absoluten Herrschaft über die Untertanen' (Götz 1993: 14). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts konnte man jedoch eine deutlichere Entwicklung erkennen, dass sich die Polizei zu einer eigenständigen Institution heranbildet.

Dies hing mit einer Konkretisierung des Aufgabenbereiches zusammen, welches in dem berühmten Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes von 1882 unter anderem seinen Ursprung findet (Knemeyer 1993: 4). Diese gerichtliche Kompetenzbeschränkung der Polizei bewirkte die Abkopplung von der allgemeinen Wohlfahrtspflege und die Reduzierung der polizeilichen Aufgaben auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Im 19. Jahrhundert, verstärkt ab Mitte des 20., vollzog sich der nächste wichtige Schritt, indem sich noch direkter die Vollzugspolizei von den anderen Ordnungsbehörden abgrenzte. Besonders ist dabei, dass die Aufteilung der inneren Staatsaufgaben auf verschiedene spezialisierte Behörden gleichzeitig mit dem Aufbau eines rechtsstaatlichen Systems stattfand.

Winter bezeichnet den zweiten großen Differenzierungsschritt mit dem Begriff der 'Entpolizeilichung' durch die Lösung der Polizei vom Militärischen. Die Unheil bringenden Verbindungen dieser beiden Einrichtungen im Dritten Reich unter dem Dach des Reichssicherheitshauptamtes riefen die endgültige Trennung in Deutschland hervor. Dazu muss jedoch bedacht werden, dass dies eine besondere, der deutschen Geschichte geschuldete Entwicklung ist. In vielen europäischen Ländern ist es auch noch heutzutage üblich, dass die Polizei in Gänze oder zu Teilen der Organisationsstruktur des Militärs zuzuordnen ist (Mosse 1975).

Spannend erscheint diese Betrachtung im Hinblick auf die Sicherheitsstruktur des Einsatzlandes Afghanistan, sofern die Entwicklung der Trennung von polizeilicher und militärischer Gewalt diskutiert wird (Ostermeier 2009: 86).

In Afghanistan finden wir oft ähnliche Grundvoraussetzungen oder Zustände der Verwaltungsstrukturen, die sich aber keiner weiteren Entwicklung unterzogen haben (Stodiek 2009, CPHD 2007, Afghan Development Report 2007).

Die Reformfraktion in der preußischen Bürokratie hatte seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Absicht, 'eine strikte Staatlichkeit mittels einer staatlichen Polizei durchzusetzen' und damit der staatlichen Verwaltung des Monarchen gegenüber den adeligen Gutsbesitzern zum Sieg zu verhelfen. Dies musste durch stark militärisch geprägte Schutzmannschaften durchgesetzt werden, da die Substitution des Militärs Schlagkraft und militärische Bewaffnung erforderlich erscheinen ließen (Winter 1998: 50). Öffentlich gewordene Klagen über die militärische Brutalität gegenüber Menschenmengen zwangen zur Verdrängung des Militärs vom staatlichen Gewalteinsatz nach innen.

Um Eskalationen zu vermeiden, sollte durch geschlossene kasernierte Polizeieinheiten das Militär aus dem Bereich der Inneren Sicherheit herausgehalten werden. In der Weimarer Republik und der jungen Bundesrepublik waren die geschlossenen paramilitärischen Polizeieinheiten innenpolitisch einsetzbar und ließen dadurch keine Notwendigkeit mehr erkennen, für diese Aufgaben Militär einsetzen zu müssen (Winter 1998: 51). In der Bundesrepublik fand ein lang andauernder polizeilicher Abkopplungsprozess vom Militärischen statt. Militärische Ausrüstung und Ausbildung verschwanden sukzessiv von den Dienstplänen sowie Ausstattungsplänen der Polizei und somit auch aus dem Fähigkeitsprofil.

2.3 Folgeentwicklungen

Hierdurch entsteht im Folgenden eine unerwartete Brisanz. In Deutschland und den meisten westlichen Demokratien konnte sich ein solcher polizeilicher Entwicklungsprozess nur aufgrund der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung herausbilden. Die Vorraussetzungen sind in diesem Ausmaß in Afghanistan als post-conflict-Region nicht vorhanden, und demnach gestalten sich die polizeilichen Erfordernisse auch danach.

Die Sicherheitslage erfordert eine Polizeibehörde, die Aufständischen mit militärischen Fähigkeiten gewachsen ist. Hier entfacht eine grundsätzliche Diskussion, wann es überhaupt als Alternative angemessen erscheint, Polizei oder Militär in eine internationale Mission zu entsenden, da die paramilitärischen Aufgaben und Fähigkeitsprofile ineinanderzu verschwimmen drohen (Wiefelspütz 2007: Kempin/Kreuder-Sonnen 2010, Ostermeier 2009: 86).

Standardbewaffnung eines afghanischen Polizisten ist aufgrund der Sicherheitslage immerhin das Sturmgewehr AK 47/74 (keine Pistole oder ein Schlagstock), und der Großteil der polizeilichen Maßnahmen fußt auf militärischen Taktiken (C15). Ein Hinterland, in dem die zivile Polizei arbeiten kann, und eine Frontfür Militärpolizei sind so nicht existent (vgl. Behr 1999).

Die Nachkriegsumstände, an die sich die deutsche Polizei bis zum heutigen Zeitpunkt angepasst hat, weisen einen geradezu krassen Unterschied zu den gesamten, in der deutschen Polizeigeschichte dokumentierten gesellschaftlichen Zuständen auf. Nicht nur dies ist die Resonanz von mehr als 65 Jahren ohne kriegerische Auseinandersetzungen auf mitteleuropäischem Boden.

Das heißt aber ebenso, dass die deutsche Polizei seit genauso langer Zeit keine bürgerkriegsähnlichen Einsatzlagen oder Einsatzlagen in einem solchen Gesamtumfeld zu bewältigen hatte.

Nun konstituiert sich seit den ersten Entsendungen deutscher Polizisten in Auslandmissionen eine Auseinandersetzung mit polizeilichen Einsatzlagen und Erfordernissen, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr mit den Erfordernissen und Fähigkeiten in Deutschland übereinstimmt.

Eine sich entwickelnde Polizei wird jetzt mit Fähigkeitsanforderungen konfrontiert, die sich eigentlich im Laufe ihrer eigenen Geschichte überholt hatten. Überspitzt gesagt, trifft eine Polizei aus einer Wohlstandskultur in einer post-conflict-Kultur ein und wird mit dieser konfrontiert (Hills 2009).

Unklar ist dabei, ob es sich hier tatsächlich um eine Weiterentwicklung, eine reine bürokratische Anpassung an die tatsächliche Kriminalitätslage in Deutschland oder um eine fachliche Degeneration darstellt. Es könnte als ein tatsächlicher Verlust von Fähigkeiten gesehen werden, auch in unruhigen Zeiten polizieren zu können.

2.4 Auslandsanforderungen an die deutsche Polizei

Um zunächst die Arbeitsauffassung und das Arbeitsverständnis in Afghanistan zu veranschaulichen, helfen hier als Erstes die Eindrücke, die von den interviewten Beamten gesammelt worden sind. Aus diesen Darstellungen werde ich dann die Anforderungen an deutsche Polizisten ableiten.

Die interviewten Beamten identifizierten während ihres Aufenthaltes Zustände in Afghanistan, die den Leser an Ausführungen von Elias und Winter erinnern, in denen u. a. der fehlende technische Fortschritt und die willkürliche Machtausübung präzisiert werden.

Sie betonen als Hauptarbeit der afghanischen Polizei (A 13) das Besetzen von Checkpoints (oft ohne Strom (A19)) und die Kontrolle über den Verkehr. Dies vollzieht sich über eine Dauer von 10 bis 14 Tagen, im Anschluss gibt es einen freien Tag, wobei man allerdings immer im Dienst ist (A20). Die vorhandene Machtposition wird genutzt, um die Zugangsmöglichkeiten für den

Zuständigkeitsbereich zu regulieren. Wer nicht zur Sippe gehört oder anders bekannt ist, muss eine Art inoffiziellen Wegezoll abtreten, der Bakschisch genannt wird. Durch dieses zusätzliche Einkommen wird das eigentliche Gehalt soweit ergänzt, dass es zum Überleben reicht. Der Beamte K. betont dies als Jahrhunderte alte Verfahrensweisen, welche er in dieser Region nicht als Korruption im westlichen Sinne versteht (A13), sondern als eine Art Zugangsgebühr.

Die Arbeitsweise ist an diesen Checkpoints generell nicht mit den deutschen Aufgabedefinitionen der Polizei vergleichbar. Der Bürger hat nicht die Möglichkeit, eine Art Notruf zu nutzen, der dann von der Polizei entgegengenommen wird (A20, C13). Der afghanische Polizist ist nur anwesend und wartet, was passiert. Er illustriert an dieser Stelle die afghanische Polizei weiter als einen paramilitärischen Haufen, der an Ecken stehen und kämpfen muss.

Der Beamte B. resümiert nach seinen Erfahrungen (C15) aus Afghanistan seine dortige Tätigkeit als eine Ansammlung von vielfältigen handwerklichen und logistischen Herausforderungen, die allesamt in einem militärischen Kontext zu stehen scheinen, da „die polizeilichen Maßnahmen, (...) stark auf militärische Taktiken zurückgreifen, Er verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff des polizeilich, infrastrukturellen Entwicklungshelfers, da diese Verwendung die Verbesserung des polizeilichen Gesamtzustandes inkludiert. Dies betrifft die Nutzbarmachung und Ergänzung der vorhandenen Polizeigebäude (C14, A19) und Fahrzeuge sowie die eigentliche Dienstgestaltung und Aus- und Fortbildung, wie es der Beamte C. erwähnt (B14).

Diese Darstellung und Interpretation decken deutlich den Unterschied zum westlichen Polizeiapparat auf. Die Aufgaben internationaler Polizeikräfte beinhalten während der internationalen Einsätze Exekutivbefugnisse, Trainings­und Ausbildungsunterstützungen, Monitoring und Beratungsfunktionen etc. (Preuss 2007). Gemessen an diesen unterschiedlichen Aufgaben, untergliedern sich dementsprechend die benötigten Fähigkeiten der internationalen Kräfte. Neben dem alltäglichen exekutiven Polizeigeschäft, das oft ähnlich wie in den meisten Entsendestaaten ist und dem Einsatz- und Streifendienst, dem Kriminaldienst und der Bereitschaftspolizei gleichkommt, entstehen in post- conflict-Ländern die Erfordernisse einer robusteren Polizei mit diplomatischem Geschick und bautechnischen Können. Kempin/Kreuder-Sonnen (2010) skizzieren diese Erfordernisse, indem sie verdeutlichen, dass es sich hierbei um Lagen dreht, in denen Militärfähigkeiten nicht mehr angemessen sind und das Umfeld für zivile Akteure noch nicht sicher genug ist4 (Stodiek 2004: 264, 344). Hier sollten diese internationalen Polizeikräfte dazu im Stande sein, in einem instabilen Umfeld eigenständig zu operieren und Unruhen ebenso effektiv einzudämmen wie organisierte Kriminalität“ (Kempin/Kreuder-Sonnen 2010). Als Polizeieinheit mit robustem Selbstschutz und Einsatzkapazitäten, die je nach Einsatzlage unter militärisches oder ziviles Kommando gestellt werden können. „Internationale zivile Polizeikräfte sind allein in der Lage, lokale Experten zivilpolizeilich auszubilden und auszustatten. Nach diesen Trainings sind jedoch auch die örtlichen Polizeieinheiten allenfalls in unbefriedigendem Maße imstande, gegen die skizzierten Bedrohungen vorzugehen.“ (Kempin/Kreuder-Sonnen 2010). Sie stufen dies als Sicherheitslücke ein, da die internationalen Polizeiexperten an die Lokalkräfte keine robusten Fähigkeiten vermitteln können, die sie selbst nicht haben.

Weiter wird der UN-Sonderbeauftragte Tom König zitiert, der sagt, „die dortigen Polizeisperren müssten in der Lage sein, sich gegen einen Angriff sogar mit automatischen Waffen zu verteidigen. Diese Fähigkeit könne ihnen aber kein europäischer Polizist vermitteln.“

Die Konsequenz ihrer Ausführungen mündet in einer Forderung zur Bildung von 'hybriden' Polizeieinheiten ähnlich einer Gendarmerie5, die sowohl militärische als auch polizeiliche Fähigkeiten besitzen und diese kombinieren können.

Zum einen würde die sogenannte Sicherheitslücke geschlossen werden, da die Fähigkeiten und Ausstattung der Einsatzlagen angemessen wäre. Zum anderen entstünde auch keine Entsendelücke, da bis zum tatsächlichen Eintreffen internationaler Polizeikräfte meist Jahre vergehen. Eine entsprechend prädestinierte Einheit würde ein beschleunigtes Entsendeverfahren implizieren. Schmunk fordert in seinen Ausführungen zum deutschen Provincial Reconstruction Team6 sogar eine Überlegung zum Aufbau einer 'Joint Transatlantic Nation Building Task Force', in der zivile und militärische Fähigkeiten symbiotisch Zusammenwirken und dadurch den höchsten Grad an Wirkung erzielen könnten (2005). So könnten ebenso in diesem Rahmen Konzepte und Instrumente zum internationalen Nation Building fortentwickelt werden. Der Bundesgrenzschutz verfügte bis zur Transformation zumindest über diese robuste Einsatzfähigkeit und war eine paramilitärische Polizei par excellence7 (Benda 1971).

Zu einem inhaltlichen Konsens gelangt auch Wiefelspütz8, wenn er fordert, dass deutsche Kräfte auf die spezifischen Herausforderungen vorbereitet sein müssen, wenn sie einen wirksamen Beitrag zur Friedenssicherung leisten sollen und auch nicht nur dann, wenn ein militärischer Einsatz am konstitutiven Parlamentsvorbehalt scheitere (Gareis 2007).

2.5 DasTrennungsgebot

Das Zusammenwirken und das gemeinschaftliche Arbeiten von Polizei und Militär sowie das paramilitärische Agieren von Polizeikräften scheint demnach sogar ein rechtliches Problem zu reflektieren. Die Frage nach der adäquaten Zusammenarbeit und rechtlichen Zuständigkeit beinhaltet ebenso zu gleichen Teilen die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im Inneren, zur Abwehr von Gefahren, die sich außerhalb polizeilicher Maßnahmen und Möglichkeiten befinden. Die Verfahrensweise innerhalb des Staatsgebietes der Bundesrepublik wird über die Zuständigkeit des Grundgesetzes geregelt. Nach der Einführung der Wehrverfassung 1956 stehen sich die jeweiligen Regelungskomplexe für die innerstaatliche Verwendung gegenüber (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG und Art 87a Abs. 4 Satz 1 GG). Fischer-Lescano behauptet, dies geschehe mit einer solchen Konsequenz, dass dieses Prinzip auch für das Ausland gelte (2003).

Außerhalb dieses Gebietes ist dies jedoch ausdrücklich nicht in dem gleichen Maße geregelt, und dies ist der „Stein des Anstoßes“. Wiefelspütz betont, dass es sogar Meinungen gäbe, die argumentieren, dem Grundgesetz sei ein striktes Trennungsgebot zu entnehmen, welches den Streitkräften im Ausland verbiete, polizeiliche Aufgaben zu erfüllen (2011). Die Konstellation, das sich deutsche Uniformierte wieder außerhalb des Staatsgebietes mit Waffen und Exekutivbefugnissen bewegen, war bei der Schaffung gesetzlicher Regelungen nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch noch kein Thema. Dennoch agierte und agiert mittlerweile die Bundeswehr auch in originär rein polizeilichen Zuständigkeiten im Ausland.9 Dies bedingte unter anderem ein vielfältiges Stimmungs- und Meinungsbild in der rechtswissenschaftlichen Literatur, in der zum einen für eine Trennung gesprochen wird (Schultz, Brinkmann, Heinicke, Braun/Plate), und zum anderen, wo der Gedanke von einem ungeschriebenen Trennungsgebot nicht überzeugend ist (Wolff, Heintschel von Heinegg). Das Verhältnis des Trennungsgebotes der Nachrichtendienste zur Polizei sei nicht übertragbar auf das von Polizei und Militär. Hier existiere kein alliierter Polizeibrief.

Trotzdem darf nicht versäumt werden, dass die Rechtsbetrachtung bei beiden Sichtweisen generell auf den Schwerpunkt der jeweiligen Maßnahme abgestimmt sein muss (Fischer- Lescano 2009).

Wiefelspütz entdeckt die Lösung des Problems in der Interpretation des Art. 87a Abs.2 GG., wobei dies ausschließlich die Handhabe Innerdeutschlands regelt. Die Bundeswehr dürfte demnach durchaus im Ausland auch ein polizeiliches Gepräge haben, dass es durch ein verfassungsrechtlich abgeleitetes Trennungsgebot untersagt sei, gehöre laut Wiefelspütz in das Reich der staatsrechtlichen Legenden (2011). Mit dieser Interpretation gäbe es zumindest aufseiten des Militärs kein Hindernis, welches die Polizeiarbeit im Ausland der Bundeswehr zuschreiben würde. Eine derartige rechtliche Diskussion seitens der polizeilichen Zuständigkeit in bewaffneten Missionen im Ausland fehlt völlig, zumindest als öffentliche Diskussion. Oder es ist damit verbunden, dass sofort ergänzt wird, dass die Bundeswehr als Schutzkomponente dabei agiert. Hierbei kommt man nicht umhin, zu bedenken, dass dabei allerdings wieder eine faktische Vermengung der eingesetzten Kräfte stattfindet. Für die afghanische Bevölkerung unterscheiden sich die deutschen Beamten zunächst nicht10, durch die Körperschutzausstattungen und die Sturmgewehre ähneln sich Polizisten und Soldaten in ihrem Auftreten stark.

Hermann Lutz, ehemaliger GdP-Vorsitzender und Mitglied der Bundeswehrkommission, wirft die Frage auf, ob das Trennungsgebot ein „alter Zopf“ ist oder die Vermischung, Polizei unter ein militärisches Kommando zu stellen, tatsächlich ein veraltetes Modell ist (Halt/Holecek 2000). Kritiker verteidigen das abgeleitete Trennungsgebot, indem sie als Schlagwort von dem 'bewährten Modell' sprechen, welches erhalten bleiben soll. Es bleibt jedoch völlig undifferenziert und berücksichtigt kaum die unterschiedlichen Gesellschaftsformen, geistigen Strömungen und geschichtlichen Zusammenhänge. Deutschland ist mit diesem Modell weltweit einzigartig und das ausschließlich aufgrund der geschichtlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges.

Das 'bewährte' Modell kann sich daher noch gar nicht bewährt haben können, da die tatsächliche Praxistauglichkeit und ebenso die jetzigen Bewährungsituationen bis zur völligen Souveränität der Bundesrepublik unter einem Verzerrfaktor des Kalten Krieges standen. Situationen, in denen nun die Sinnhaftigkeit und Tauglichkeit einer Trennung erstmaligen Prüfungen unterliegt, sind erst durch die Auslandsmissionen in der Praxis offensichtlich geworden.

Dass sich eine enge Zusammenarbeit in der Vergangenheit nicht als erfolgreich erwiesen haben soll, hängt erheblich mit den Assoziationen verbrecherischer Handlungen der Reichspolizei von 1933 bis 1945 zusammen. Vor allem die Aktionen der Polizeibataillone hinter der sowjetischen Front plakatieren den Missbrauch dieser Polizeieinheiten deutlich, ebenso wie die Gefahr des Missbrauchs von geschlossenen Einheiten (Lichtenstein 1984). Damit ist gleichzeitig die Verbannung des paramilitärischen Polizeigedankens verbunden, um einer unnötigen Gewaltzentrierung und deren Instrumentalisierung vorzubeugen. Das Teile der Exekutivmacht des Deutschen Reiches an verbrecherischen Handlungen beteiligt waren, ist nichts Neues und ist ebenso kein starkes Argument in der Diskussion über eine heutige Organisation von Polizeieinheiten (Nachtwei 1988).

Eine weiterführende Analyse würde durch einen Vergleich mit anderen Nationen und deren polizeilichen Zuständigkeitssystemen zielführender sein. Wo sind tatsächlich Probleme entstanden bei paramilitärischen Polizeien oder Polizeien unter militärischem Kommando anderer Nationen? Wieso ist keine internationale Tendenz erkennbar, sich dem deutschen Modell anzupassen?

Nachtwei entwirft für das Dilemma einen Kohärenzvorschlag: Wenn die Kräfte im Ausland unweigerlich Zusammenarbeiten, müssten sie diese Zusammenarbeit in Deutschland zumindest lernen. Im Vorbereitungsseminar für deutsche Polizisten für Afghanistan finden knapp 3,5 Tage auf dem Gelände und unter Durchführung der Bundeswehr statt, aber mit rudimentären militärischen Inhalten und nicht mit den Einheiten, mit denen die Beamten im Einsatz Zusammenarbeiten.

Dies war u. a. auch eine deutliche Forderung des Beamten В. (C38), „wie man sich die Kommunikation mit der Bundeswehr vorstellt, wie man dort zusammen auftritt, wer welchen Part der Gesprächsführung übernimmt und wie man dann gemeinsam die Gesprächsführung gestaltet“, dass man in allen Bereichen der Zusammenarbeit den gleichen Informationsstand hat. Dies hätte allerdings zur Folge, dass schon vor der Entsendung des Polizeibeamten feststehen müsste, welche Aufgabe derjenige konkret im Einsatzland übernehmen wird.

Dies entscheidet sich allerdings meistens erst kurz vor der Entsendung und oft auch erst aufgrund von Personalmangel oder Änderungen im Ausbildungsplan vor Ort. Das verhindert die geforderte, langfristige, qualitativ-intensive Planung der Vorbereitung für das Einsatzland. Die momentane Vorbereitung, die von der Bundespolizei für alle Bundesländer abgehalten wird, behandelt überwiegend allgemeine Themen, um einen deutschen Polizisten auf Gefahren und Gebräuche in Afghanistan zu sensibilisieren. Ferner weist sie ihn darin ein, mit einem Sturmgewehr umzugehen. Davon ausgenommen ist die tatsächlich konkrete Situation, mit den Afghanen über spezielle Themen zu kommunizieren und die entsprechende Didaktik in einem allgemeinen Unterricht.

Doch erscheinen nicht nur Überlegungen über die geeignete Organisationsstruktur der Einheit, der materiellen Ausstattung und Überlegungen zur taktischen und rechtlichen Ausrichtung angebracht. Es bestehen noch intensive Bedarfe an den sogenannten 'Soft Skills'. Für internationale Krisen eingesetzte Beamte würden demnach in ihren Ausbildungen auch speziell in interkulturellen Kommunikationen, Gesprächs- und Verhandlungsführungen geschult werden. Auf diesen Aspekt soll später noch konkreter eingegangen werden.

3. Afghanistan

Im vorherigen Kapitel wurde speziell die westliche (polizeiliche) Entwicklung inspiziert. Nach diesen europäischen Gründen und Motiven im Hinblick auf den Wandel diskutiert dieses Kapitel Grundlegendes für deutsche Kräfte im Einsatzland Afghanistan.

Deutsche Polizeikräfte sind derzeit in vielen unterschiedlichen Weltregionen11 tätig, die sich alle stark voneinander unterscheiden. Deshalb ist es besonders wichtig, sich im Speziellen der jeweiligen Einsatzregion zu widmen. Bei einer Betrachtung des gesellschaftlichen Zustandes in Afghanistan und der Entwicklung der deutsch-afghanischen Beziehungen können hier schon wichtige Schlüsselfaktoren für eine positive Zusammenarbeit herausgefiltert werden sowie elementare Kontraste in den zeitlichen Epochen.

Die historische Begutachtung am Anfang des Kapitels dient der grundsätzlichen Orientierung für das Verständnis der gegenwärtigen Verhältnisse in Afghanistan. Kapitel 3.2 zeigt die bisherige deutsch-afghanische Zusammenarbeit auf, um dies unter 3.3 weiter zu strukturieren, indem Gemeinsamkeiten und Unterschiede differenziert werden.

3.1 Geschichtliche Entwicklungen Afghanistans

Um im gleichen Zeitraum mit der Betrachtung der afghanischen Entwicklung zu beginnen, wie Winter und Elias es für den europäischen Raum taten, müssen zunächst kurz die geschichtlichen Geschehnisse im Jahre 800 n. Chr. im damals identischen Gebiet des heutigen Afghanistans angeschaut werden:

Nach dem Niedergang der 427-jährigen sassanidisch-persischen Herrschaft (224-651 n. Chr.) über das Gebiet des heutigen Afghanistans etablierte sich langsam über mehrere Jahrhunderte, innerhalb der danach herrschenden, persischen Lokaldynastien, der sunnitische Islam als vorherrschende Religion.

In der Folge dominierten einige verschiedene Herrscher oder Stämme das Gebiet, in dem sich dann für eine längere Periode die Dynastie der Timuriden in der Region behaupten konnte (1363-1506 n. Chr.). Die persische Fürstendynastie der Safawiden, mit schiitischer Staatsreligion, herrschte von 1501-1722 n. Chr. im östlichen Teil des heutigen Afghanistans, im westlichen dominierte das indische Mogulreich. Der Stamm der Paschtunen erhob sich nun unentwegt gegen äußere Machthaber, bis der Paschtune Ahmad Schah Durrani im Jahr 1747 ein selbstständiges Königreich12 im Osten Persiens ins Leben rief und damit als der Begründer des heutigen Afghanistans gilt. Um 1800 zerfiel das Land wegen des Streits um die legitime Nachfolge, bis sich in schweren Kämpfen die Dynastie der Baraksai durchsetzte und 1823 das Emirat Afghanistan gegründet wurde. Verschiedene Baraksai-Paschtunenführer wurden nun in einen geopolitischen Machtkampf zwischen Russland und Großbritannien verwickelt.

Drei britisch-afghanische Kriege13 wurden geführt, in denen Großbritannien das Ziel vertrat, den russischen und persischen Einfluss zu kontrollieren. In Anlehnung an diesen wurde zur Wahrung britischer Interessen die Grenze zu Britisch-Indien neu gezogen.14 Diese gezogene Grenze läuft noch heute mitten durch das historische Stammesgebiet der Paschtunen und ist der Grund für vielfachen Widerstand. Die heutige Republik Afghanistan erklärte diese Grenze für ungültig, da die vertragliche Vereinbarung mit Britannien und nicht mit dem heutigen Pakistan vollzogen wurde und bis 1993 zeitlich begrenzt war. Diese nicht offizielle Demarkationslinie ist immer noch weitgehend unbewacht, Kämpfer bewegen sich relativ ungehindert und finden so Schutz in den autonomen Paschtunengebieten in Pakistan. Bis zum Ersten Weltkrieg behauptete sich das Emirat bei mehreren Aufständen im Land und festigte ebenso seine neutrale Rolle gegenüber den Großmächten. Während des Ersten Weltkrieges fand der erste Kontakt mit dem Deutschen Reich statt.

3.2 Die deutsch-afghanischen Beziehungen

Die Niedermayer-Hentig Expedition, die 1915 Kabul erreichte, sollte bewirken, dass Afghanistan aufseiten Deutschlands in den Krieg gegen Britisch-Indien eintrat. Die Zusammensetzung des ca. 60-köpfigen Expeditionskorps ist aus heutiger Sicht schon bemerkenswert, multinational und komplex. Die Teilnehmer bestanden nicht nur aus militärischem und diplomatischem Personal, sondern auch aus weiteren qualifizierten Fachleuten (Neudeck 1988). Das angestrebte Ziel wurde nicht erreicht, aber dennoch wurden große Sympathien gewonnen, die nach dem Ersten Weltkrieg 1919 weiter vertieft werden konnten. König Amanullah bestieg den Thron und verfolgte daraufhin die Absicht, die Wirtschaft des Landes mit Deutschlands Hilfe in großem Maße zu modernisieren. Als 1923 in Kabul die 'Deutsch-Orientalische Handelsgesellschaft AG', (später 'Deutsch- Afghanische-Compagnie AG') gegründet wurde, arbeiteten 200 deutsche Experten in Afghanistan, um Wasserkanäle und Talsperren zu bauen, Telegraphenleitungen zu verlegen und das Straßennetz zu erweitern - inoffiziell ebenso Offiziere als Berater und Ausbilder der afghanischen Armee. Mit deutscher Hilfe wurde 1924 die berühmt gewordene Nejat-Oberrealschule in Kabul, zu Ehren Amanullahs „Amani-Schule" genannt, errichtet. Deutsche Lehrer unterrichteten dort bis 1984 (Möller 2004). Durch den deutsch-afghanischen Freundschaftsvertrag von 1926 wurden die Beziehungen weiter intensiviert. Trotz Amanullahs Sturz wurden diese Handelsbeziehungen auch von seinen Nachfolgern erhalten. Im Austausch von Krediten engagierten sich renommierte Unternehmen wie Siemens, IG-Farben und Hartmann AG in Afghanistan (Ghaus 1988). 1937 wurde sogar ein Verwaltungsabkommen über die Entsendung deutscher Ingenieure an den Hindukusch, das sog. Dr. Todt-Abkommen, unterzeichnet (Schreiber 1984: 145). Möller hält fest, dass 1938 die Flugverbindung Berlin-Kabul durch die Lufthansa eingerichtet wurde und der Aufbau der afghanischen Luftwaffe vom Deutschen Reich unterstützt wurde Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Staatsbesuche, Entwicklungsprojekte und Verträge über wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit unterzeichnet. Seit 1962 existiert eine Partnerschaft zwischen den Universitäten Köln, Bonn und Bochum einerseits und Kabul andererseits.

Bis zum sowjetischen Umsturz von 1978-79 blieben die Handelsbeziehungen und die bildungspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Afghanistan auf einem hohen Niveau, danach stoppte die Bundesregierung diese Entwicklungsarbeit (Schetter 2007).

3.3 Strukturierungen

Diese intensiven bilateralen Beziehungen belegen, dass seitens der Wirtschaft und auch seitens deutscher Behörden schon lange Jahre Erfahrung mit der afghanischen Geschichte und Kultur bestehen. Hier soll mithilfe einer Gliederung von Ostermeier (Ostermeier 2009: 94) darauf fokussiert werden, inwiefern heute Situationen existieren, die mit vorherigen Geschehnissen verglichen werden können. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Darstellungen auf das Gesamtumfeld bezogen sind und auf die Beamten am direktesten zutreffen, die sich in Aushandlungssituationen mit der afghanischen Gemeinschaft befinden. Beamte, die zur Ausbildung innerhalb eines Camps eingesetzt sind und hauptsächlich innerhalb dieses begrenzten gesellschaftlichen Rahmens agieren, finden zwar künstliche, aber grundsätzlich auf den gleichen Faktoren beruhende Voraussetzungen wieder. Die für diese Arbeit zur Verfügung stehenden Beamten äußerten sich u. a. zu den Themen der Rechtsstaatlichkeit und dem Gewaltmonopol. Aus diesem Grunde reflektiert das folgende Kapitel ausschließlich auf die ersten beiden Punkte Ostermeiers, der vier interdependente Faktoren unterscheidet, inwiefern sich das Arbeitsumfeld der Beamten in Afghanistan von dem ihrer Entsendestaaten in der EU abhebt:

Rechtsstaatlichkeit - In Afghanistan gilt anderes Recht (sofern überhaupt eine klare Rechtslage existiert), es herrschen Bedingungen des Rechtspluralismus, es besteht keine zuverlässige Befehlskette und kein funktionierendes Justiz- und Strafvollzugssystem.

Gewaltmonopol - Die Gewalt ist nicht monopolisiert, das Ausmaß der Gewaltanwendung ist ungleich höher; an der Reform sind auch zahlreiche private Akteure beteiligt.

Demokratie - Die Zusammenarbeit und Koordination mit Regierungen und anderen Reformakteuren gestaltet sich intransparent und weitgehend unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit.

Souveränität- Der Staat, d. h. die afghanische Zentralregierung und dessen Förderer werden regional in sehr unterschiedlichem Umfang und auf unterschiedliche Art als legitime Autorität akzeptiert.

3.3.1 Das Gewaltmonopol und die Rechtsstaatlichkeit

Der größte augenscheinliche Unterschied von allen deutschen bilateralen Vereinbarungen mit Afghanistan besteht im Einfluss der ausgeübten Gewalt im Land. Afghanistan hatte, wie erwähnt, zu vielen Zeitpunkten instabile Momente und selbst in stabilen Phasen war die Anwendung von Gewalt in Form von Aufständen und Unruhen sichtbar. Diese Gewalt hatte während der stabilen Augenblicke ihre Ursachen in innenpolitischen Aspekten, oder das Land wurde gänzlich zum Spielball außenpolitischer Interessen der Großmächte. An diesen gewaltsamen Einflüssen hatte Deutschland, obwohl es in den Weltkriegen erfolglos angestrebt wurde, kein Mitwirken.

Das heutige Engagement unterscheidet sich von den vorausgegangenen in diesem Kriterium: Deutschland erscheint an der Seite einer internationalen Gemeinschaft, die durch den militärischen Anteil ihrer eigenen Präsenz auch exekutiv in dem Land in Erscheinung tritt. Somit ändert sich für diesen deutschen Einsatz erstmals die Rolle vom ausschließlich gewaltlosen Förderer und Unterstützer zu einem Teilnehmer einer internationalen militärischen Allianz. Die günstigen geschichtlichen Voraussetzungen sind also hier nicht mehr vollends gegeben. Neben dem Einsatz von externem Gewalteinfluss ist auch das eigene afghanische Gewaltmonopol (i. S. von Winter) geschichtlich unterschiedlich stark ausgeprägt, welches die Souveränität des Staates sowie eine funktionierende Befehlskette dementsprechend stark beeinflusst. Abgesehen von dem Gewaltpotenzial der einzelnen Stämme, herrschte bis zum Abzug der Sowjetunion und Beginn des Afghanischen Bürgerkrieges ein auf

Mehrheitsbeschluss regierendes Oberhaupt, dessen Willen sich der überwiegende Teil der Bevölkerung unterwarf, obwohl eine tatsächliche staatliche Durchdringung des Landes aber nie stattfand (Schetter 2008: 1).

Seit Beginn des Bürgerkrieges und dem internationalen Einmarsch war dies nicht länger der Fall, sodass kein alleiniger 'Vertragspartner' auf afghanischer Seite mehr existierte, der für die Integrität und Einhaltung von Abkommen für alle Afghanen garantieren konnte. So ist der momentane Status bestimmt von komplexen lokalen Macht- und Gewaltstrukturen, welche durch sogenannte Warlords oder Kriegsfürsten forciert werden. Schetter behauptet, auch die internationale Intervention und der Wiederaufbau könnten die lokalen Machtstrukturen nicht determinieren. Im Süden des Landes entwickele sich die Situation „immer stärker zu einem Krieg zwischen externer Einflussnahme und lokalen Autonomieansprüchen“, wohingegen im Norden die Maßnahmen eher die lokalen Herrschaftsstrukturen verstärken würden. Er unterscheidet zwei Szenarien: Entweder kann die jetzige Situation als Ende der einhundertjährigen, künstlichen Staatlichkeit verstanden werden, oder wir sehen diesen Zustand ähnlich den großen Staatsbildungsprozessen in Europa, dem das Kriegsfürstentum der Condottieri und Landsknechte im Umbruch vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit vorausging (vgl. Elias im Kapitel „Westliche Gesellschaftsentwicklungen“).

Zemp konstatiert, dass in Afghanistan mehrere Rechtsdimensionen nebeneinander existieren: „Es herrscht also ein ausgeprägter Rechtspluralismus vor.“ (Zemp 2008, Ostermeier 2009: 79). Neben der Scharia, die das islamische Recht definiert, besteht das Gewohnheitsrecht, welches in einer Jirga (Ratsversammlung) und Shura (islamischer Rat)15 von der Provinz bis zu den Staatsebenen Ausdruck findet, das formelle staatliche Recht sowie die Menschenrechtsprinzipien (Wardak 2003: 1). Das staatliche Recht ist hauptsächlich in den Städten am präsentesten, da der Staat es nicht schafft, bis in die entlegenen Winkel des schwach besiedelten Landes durchzudringen (Schetter 2008: 1). Gemäß dem Human Development Bericht des UNDP aus dem Jahre 2007 lösen die Jirgas und Shuras rund 80 bis 95% aller Konfliktfälle (Schetter 2007: 91, Wardak 2004, Meininghaus 2007). Diese Zahlen verdeutlichen die große gesellschaftliche Dimension dieser Institutionen und das faktisch fehlende Vertrauen in staatliche Rechtssysteme (Nöelle-Karimi 2005: 192).

3.4 Die Sicht der Experten

Die Beamten weisen diesem Zustand eine ganz entscheidende Bedeutung für die afghanische Polizei zu und beschreiben bemerkenswert die Rolle der Polizei in der afghanischen Gesellschaft (A 15, C11) und in der vorherrschenden Macht- und Gewaltstruktur. Polizei wird immer als ein Instrument des aktuell Herrschenden angesehen (A4), als Verfügungsmasse für regionale Kommandeure. Diese Verfügungsmasse hat zwar somit Arbeit, lebt aber gefährlich - als Hauptanschlagsziel Nummer eins (A 26, 28).

Jemand, der sich freiwillig dieser Arbeit aussetzt, gehört zu dem Teil der Gesellschaft, der es sich nicht anders aussuchen kann, und demnach zur Unterschicht. Der Beamte K. tituliert diesen somit als eine „arme Wurst“ (A15) - aus der Sicht der afghanischen Bevölkerung.

Das schlechte Ansehen der Polizei (C11) rührt aber noch von einem anderen Grund her. Das fehlende Vertrauen in staatliche Rechtsysteme und das Fortführen der traditionellen Systeme wie Jirga und Shura haben Bestand, da die Institution Polizei ein zu fragiles Element repräsentiert und deren polizeiliche Handlungen nicht ausreichend und angemessen sind (A17, C11). Beides ist mit deutlichen Korruptionsvorwürfen belastet (A15, C11, B12): Posten können genauso wie Gefälligkeiten gekauft werden (A13, A14), weil die chronisch schlechte Grundbesoldung dadurch Ergänzung findet. Das hierfür präsente rituelle Abnehmen von Wegezoll wird entschieden seitens der Bevölkerung abgelehnt und als Wegelagerei erachtet (A13, A15, C11). Die gesellschaftliche Rolle der afghanischen Polizei ist demnach geprägt von Misstrauen (C11).

Dieses Misstrauen wird noch zusätzlich dadurch ergänzt, dass der eigentliche Sinn und Nutzen von Polizei grundsätzlich schon in Frage gestellt wird (A13, C10), da jedwede Probleme traditionell durch die Clanstrukturen informell geregelt werden (A15, B37). Die afghanischen Polizeischüler fragten in der Klasse des Beamten K. regelmäßig, was denn eigentlich ihre Aufgabe wäre, da das Verständnis für die Aufgabe der Polizei in der Gesellschaft fehlte (A13, A15). Wer zur Polizei geht, hat keine ausreichend starke Familienstrukur, die die Lösung von Problemen übernehmen würde. Damit signalisiert derjenige nur öffentlich die Schwäche seines Clans und damit seinen eigenen geringen Status (A15).

Eine Existenz von einer Institution „Polizei“ scheint daher für den Großteil der Bevölkerung schon überflüssig zu sein.

Das Ansehen der Polizei ist zwar generell niedrig, aber immer noch von dem Ansehen des jeweiligen Polizeiführers der Region beeinflusst (B10, B12, B18, A12). Hier werden die Tugenden und positiven wie negativen Eigenschaften des regionalen Polizeiführers mit denen der Polizei verbunden, da sie ihm direkt unterstehen. Eine Assoziation mit einem neutralen, zentralstaatlichen Kontrollorgan existiert nicht.

Feltes führt zu diesem Thema mit dem Beispiel Kosovo an, dass durch die demokratischen Wahlen der Führer oftmals eher die Macht politischer Hardliner gestärkt wurden, da diese genau über entsprechende Netzwerke und Strukturen verfügen (Feltes 2009:58): „Die Menschen vertrauen weiterhin ihren alten Netzwerken, vor allem dann, wenn die neuen nicht schnell und zuverlässig funktionieren (...).“ (Feltes 2009: 57).

Dieser schwierigen Rolle der Polizei innerhalb der afghanischen Gesellschaft, wird seit 2008 durch diverse Community Policing versucht, entgegenzuwirken (Zemp 2008, A13). Solange die Institution „Polizei“ nicht von der eigenen Bevölkerung als vertrauenswürdig und der Gesellschaft dienend geschätzt wird, werden auf dem Feld des Polizeiaufbaus nur mühsam Erfolge zu erzielen sein (Schetter 2008). Dass dieser mögliche afghanische Wandel, der durch deutsche Beratung oder sonstige Unterstützung nur über einen langen Zeitraum begleitend, Erfolg versprechend installiert werden kann, demonstrierte der vorherige Blick auf die Geschichte. Hier werden von den Beamten durchgängig Zweifel geäußert.

Aufgrund der besonderen Gefährlichkeit des Einsatzes in Afghanistan und der bereits beklagten menschlichen Verluste ist das Engagement für die deutsche Öffentlichkeit unpopulär, demnach soll nicht länger in dem Land geblieben werden als notwendig (A13), ohne die internationale Reputation Deutschlands zu gefährden (C28). Ein Aufbauen von Vertrauensbeziehungen war in der Planung für den Polizeiaufbau vorgesehen, scheitert aber an den tatsächlichen realpolitischen Gegebenheiten. Vonseiten der entsendenden Bundesländer schwindet generell die Bereitschaft, sich an dem Einsatz zu beteiligen und sich überhaupt längerfristig zu engagieren. Was vielleicht über lange andauernde Patenschaften (A13) und immer wiederkehrende Ausbilder garantiert werden würde, ist so nicht möglich. Der Beamte B. klagt mit den Worten, als Vorwort meiner Einleitung, die geschilderte Gesamtsituation eindrucksvoll an (C28), was spätestens in dem Kapitel 4.2 detaillierter erläutert wird.

[...]


1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit beschränke ich mich im Folgenden auf orthographisch eindeutige männliche Artikel und Endungen des Plurals. Gemeint sind immer beide Geschlechter. Wenn speziell männliche oder weibliche Personen betroffen sind, wurde dies kenntlich gemacht.

2 Hierbei sei angemerkt, dass genau dieser fehlende kontinuierliche technische Fortschritt und die fehlende weitere Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der afghanischen Gesellschaft Vorraussetzungen für einen ausbleibenden sozialen Wandel darstellen könnten.

3 Behr benutzt allerdings den soziologischen Begriff der Institution als die kulturabhängige Durchsetzung sozialer Regeln innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Ich beziehe mich hier jedoch ausschließlich auf die Definition, die Goffmann (1972) folgt, der Institutionen gleichsetzt mit sozialen Organisationseinrichtungen.

4 Internationale Polizeikräfte der UNMIK sahen sich mit Gewaltausbrüchen konfrontiert, denen sie sich kaum zur Wehr setzen konnten. Binnen 48 Stunden wurden 19 Menschen getötet, 900 verletzt. UNMIK Polizisten und KFOR standen diesem Ausmaß der Gewalt weitgehend hilflos gegenüber.

5 Acht EU-Staaten verfügen über Gendarmerien: Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, die Niederlande, Bulgarien, Rumänien und Polen.

6 Zum Prozess der Entwicklung des amerikanischen PRT-Konzepts und der deutschen Variante siehe Michael Schmunk (2005).

7 Abzulesen an der Unterbringung in Kasernen, den Ausbildungsmethoden, der Bewaffnung und dem Kombattantenstatus.

8 Der Einsatz der Bundespolizei im Ausland, in Möllers, M H.W./R.C. van Ooyen (Hrsg.): Jahrbuch öffentliche Sicherheit 2006/2007, Frankfurt/M, S. 255-268.

9 Wiefelspütz nennt als Beispiel die Evakuierung deutscher Staatsbürger 1997 aus Albanien, die Operation Atalanta am Horn von Afrika und die Operation zur Entsetzung der Hansa Stavanger 2009.

10 Die gepanzerten MOWAG Eagle IV Polizeifahrzeuge sind dafür blau gestrichen, um sich von denen der Bundeswehr zu unterscheiden. Dies führte unter anderem zu starkem Unmut, da die Fahrzeuge deswegen auch leicht als Ziel auszumachen sind.

11 Ca. 364 Beamte in zwölf verschiedenen Missionen. Stand 2011-08-09, Braun, Sascha (2010).

12 Das Durrani Reich 1747-1826 umfasste auch große Teile des heutigen Pakistans.

13 1. Britisch-Afghanischer Krieg (1839-1842), 2. Britisch-Afghanischer Krieg (1878-1881), 3. Britisch­Afghanischer Krieg (1919).

14 Durand Linie.

15 Der hauptsächliche Unterschied zwischen Jirga und Shura besteht darin, dass sie in unterschiedlichen ethnischen Gruppen vorkommen. Außerdem kommen beide Formen oftmals auch in den jeweils anderen Gemeinschaften vor. (Zemp 2008).

Ende der Leseprobe aus 124 Seiten

Details

Titel
Deutsche Polizei in Afghanistan. Zwischen neuen Aufgaben und interkulturellen Herausforderungen
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut fuer Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Kriminologie Soziologie
Note
2.1
Autor
Jahr
2011
Seiten
124
Katalognummer
V314134
ISBN (eBook)
9783668181748
ISBN (Buch)
9783668181755
Dateigröße
1035 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Polizei, Afghanistan, Polizeiwissenschaften, GPPT, Topic_Polizei
Arbeit zitieren
Christian Klein (Autor:in), 2011, Deutsche Polizei in Afghanistan. Zwischen neuen Aufgaben und interkulturellen Herausforderungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/314134

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