Welche Gefahren birgt die utilitaristische Ethik? Eine Untersuchung von Fjodor M. Dostojewskijs „Schuld und Sühne“


Hausarbeit, 1998

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung

II. 1. Zur utilitaristischen Ethik
1.1 Ursprung des Utilitarismus
1.2 Grundelemente der utilitaristischen Ethik
2. Literarischer Bezug: Dostojewskijs „Schuld und Sühne“
2.1 Raskolnikows Theorie über das Verbrechen
2.2 Deutung des Romans
3. Zur gegenwärtigen Auseinandersetzung des Utilitarismus
3.1 Utilitarismus als Angriff auf die Würde des Menschen
3.2 Grenzen der Bioethik

III. Fazit / Stellungnahme

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Während die utilitaristische Ethik der Durchschnittsbevölkerung weniger bekannt sein dürfte, hat sie doch seit ihrer Entstehung Einfluß auf das gesellschaftliche Leben und auf moralische Vorstellungen genommen.

Als Beispiel sind u. a. Diskussionen über den § 218 zu nennen. Das Thema Abtreibung erfordert stets die Auseinandersetzung mit der Frage, zu welchem Zeitpunkt menschliches Leben entsteht, ab welchem Entwicklungsstadium ein Embryo als Mensch angesehen werden soll oder ob ihn erst die Geburt zum menschlichen Wesen werden läßt. Für prinzipielle Abtreibungsgegner bedeutet eine Schwangerschaftsunterbrechung in jedem Fall Tötung menschlichen Lebens.

Kürzlich geriet die Mannheimer Ausstellung „Körperwelten“ in die öffentliche Kritik. Insbesondere seitens der Kirchen wurden die unterschiedlichen plastischen Darstellungen des menschlichen Organismus als unwürdig bezeichnet.

Nicht zuletzt eröffnet das Thema der Euthanasie die Notwendigkeit, derzeit bestehende oder praktizierte sittliche Grenzen neu zu überdenken, um letztlich auch seinen eigenen Standpunkt diesbezüglich finden zu können.

So wendet sich diese Arbeit im folgenden den Grundgedanken des Utilitarismus zu. Unter Rückgriff auf die literarische Vorlage „Schuld und Sühne“ des russischen Autors Fjodor M. Dostojewskij wird aufgezeigt, wo Gefahren der praktischen Umsetzung dieser Ethik zu vermuten sind und weshalb eine kritische Betrachtung erwogen werden sollte.

Beispiele aus dem Bereich der Bioethik erläutern den Bezug dieser Theorie zu gegenwärtigen Sichtweisen.

II. 1. Zur utilitaristischen Ethik

1.1 Ursprung des Utilitarismus

Der Utilitarismus (von lat. utilis = nützlich; engl. = utilitarianism) verdankt seine Entstehung der Notwendigkeit von allgemein anerkannten Grundregeln und Handlungszielen, ohne welche ein Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft nicht möglich wäre. Er wendet sich an moralische Normen, die selbst in der heutigen pluralistischen Gesellschaft übergreifende Gültigkeit besitzen, ohne deshalb einzelne bzw. bestimmte Gruppen in ihrer individuellen Freiheit einzuschränken. Jene universalen Normen zielen auf ein menschliches und gerechtes Zusammenleben untereinander und dienen somit dem Zusammenhalt der Gesellschaft.

Entstanden ist der Utilitarismus im England des 18. Jahrhunderts, wo Jeremy Bentham und John Stuart Mill erstmals ausführlich und analytisch die Frage nach moralisch richtigem Handeln und der Nützlichkeit der daraus entstehenden Folgen schriftlich niederlegten. So vereint diese Ethik verschiedene philosophische Strömungen, die auf unterschiedliche Epochen der vorigen Jahrhunderte zurückzuführen sind. Der Hedonismus (darunter versteht man das Streben nach Sinneslust und Genuß) findet demnach seinen Ursprung in der Antike, der Universalismus läßt sich auf christliches Denken zurückführen. In Form eines radikalen Egoismus finden sich Konsequenzen- und Utilitätsprinzip im 17. Jahrhundert bei Thomas Hobbes wieder.

Während sie in Deutschland von bedeutenden Philosophen wie z. B. Kant, Nietzsche und Marx weitgehend abgelehnt wurde, führte diese Theorie im englischsprachigen Raum zur Entwicklung von verschiedenen Varianten. So lassen sich heute der hedonistisch geprägte Utilitarismus Benthams und Mills vom idealen (G. E. Moores), der subjektive vom objektiven, der positive vom negativen sowie Handlungs- und Regelutilitarismus (R. B. Brandt) unterscheiden.

1.2 Grundelemente der utilitaristischen Ethik

Ohne auf diese einzelnen Formen näher einzugehen, können jedoch einige gemeinsame, charakteristische Grundmerkmale aufgezeigt werden:

1. Der Utilitarismus versteht sich als Versuch, „allgemein verbindliche Normen mit wissenschaftlichen Mitteln (...) zu begründen“ (Höffe 1975, S 8).
2. Durch die Frage nach der moralischen Verbindlichkeit und ihrer rationalen Begründung grenzt sich diese Philosophie prinzipiell von jeder metaphysischen Rechtfertigungsebene ab und verzichtet zudem auf weitere religiöse, politische Einflüsse bzw. gesellschaftliche Traditionen.
3. Was als moralisch richtig oder falsch zu bewerten ist, wird durch die utilitaristische Theorie selbst festgelegt. Demnach muß eine moralisch richtige Handlung als das Ergebnis einer, unter verschiedenen Handlungsmöglichkeiten ausgewählten, Vernunftsentscheidung angesehen werden.

Jene Rationalität basiert auf folgenden vier Teilkriterien:

a) Handlungen / Normen sind nicht aus ihren Eigenschaften heraus richtig oder falsch. Ihre Richtigkeit ergibt sich vielmehr aus den Folgen.
b) Maßstab für die Beurteilung der Folgen ist nicht ihr Nutzen für beliebige Werte, Ziele oder Zwecke, sondern für das „Gute“ im allgemeinen.
c) Analog zum klassischen Utilitarismus nach Bentham und Mill, gilt das „menschliche Glück“ als höchster Wert der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Interessen. Ziel ist hierbei die bestmögliche Bedürfnis- / Interessenbefriedigung bzw. die mini-malste Frustration. Die positiven Folgen einer Handlung werden mit den negativen Auswirkungen verglichen.
d) Dieser sogenannte Gratifikationswert, wie Höffe ihn nennt, ist nicht nur für den Handelnden, sondern für alle durch die Handlung Betroffenen ausschlaggebend.

Somit erweist sich die utilitaristische Ethik als keine Egoismus-Theorie. Im Gegensatz dazu bezieht sie menschliches Handeln auf das Allgemeinwohl, welchem sie sich verpflichtet fühlt.

Hieraus läßt sich letztendlich das sogenannte „utilitaristische Prinzip“ ableiten, was folgendermaßen ausgeführt werden kann: „Diejenige Handlung bzw. Handlungsregel ist moralisch richtig, deren Folgen für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind“ (Höffe 1975, S. 10).

2. Literarischer Bezug: Dostojewskijs „Schuld und Sühne“

Dostojewskijs 1867 erschienene Kriminalgeschichte ist nicht nur aus psychoanalytischer Sicht des Verbrechens äußerst interessant komponiert. Im Kontext des Themas dieser Arbeit zeigt sie sich insofern relevant, da der Autor einige utilitaristische Einflüsse geschickt in seinen Roman übernommen hat und schon damals auf mögliche negative Auswirkungen aufmerksam machen wollte.

Erzählt wird von dem 23-jährigen, verarmten Studenten Rodion Raskolnikow, der, besessen von einer ganz persönlichen Theorie, einen Doppelmord an seiner Pfandleiherin und deren Schwester begeht. Die Entwicklung des Mordplanes einerseits, die Auseinandersetzung mit der Tat andererseits, bilden die Rahmenhandlung des Romans. Wie sich schließlich zeigt, ist Raskolnikow dieser Belastung psychisch nicht gewachsen. So äußert sich sein ganzheitlicher Zusammenbruch in Wahnvorstellungen, Fieberzuständen und Delirien, die dazu führen, daß er sich als Mörder verrät. Letztlich muß Raskolnikow erkennen, daß der einzige Ausweg aus dieser erdrückenden Situation nur über ein Geständnis und Strafe als Sühne erfolgen kann. Die wahre Rettung erfährt er jedoch erst als Strafgefangener in Sibirien, wo es ihm gelingt, sich endgültig von seiner Theorie über die Menschen loszulösen. Durch die Liebe zu der ihm gefolgten Prostituierten Sonja, wird es Raskolnikow möglich, sich wieder, analog zur Auferweckung des Lazarus im Neuen Testament, dem realen Leben zuzuwenden.

Neben der äußerst detaillierten Beschreibung von der psychologischen Verarbeitung des Verbrechens durch seinen Protagonisten Raskolnikow, bildet die Theorie über das Verbrechen den Kernpunkt des Romans. In ihr hat Dostojewskij das zur damaligen Zeit neue, sozialistische Fortschrittsdenken als eine Mischung aus westeuropäischem Materialismus und utilitaristischem Gedankengut verbunden. Mit dieser zentralen Stelle wird sich im folgenden näher befaßt.

2.1 Raskolnikows Theorie über das Verbrechen

Ausgehend von einem unbekannten Naturgesetz klassifiziert Raskolnikow die Menschen in zwei Kategorien. Zur ersten Kategorie gehören die sogenannten „Ungewöhnlichen“. Er charakterisiert sie als fortschrittlich denkende Menschen, die zum Allgemeinwohl der Ge-sellschaft beitragen. Aus diesem Grund sei es ihnen grundsätzlich erlaubt, bestehende Gesetze und moralische Grenzen zu brechen, insofern die Durchsetzung ihrer Ziele andernfalls verhindert würde. Selbst einen Mord sieht er in einer solchen Situation durch den guten Zweck gerechtfertigt:

„Falls die Entdeckungen Keplers und Newtons der Menschheit infolge irgendwelcher Um-stände nur hätten bekannt werden können, wenn einer, wenn zehn, hundert oder noch mehr Personen geopfert worden wären, die diese Entdeckung gestört oder verhindert hätten, dann hätte Newton das Recht gehabt, ja, wäre sogar verpflichtet gewesen ... diese zehn oder hun-dert Menschen zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Welt mitzuteilen“ (Dostojewskij 1995, S 330).

Verpflichtet sind diese „Ungewöhnlichen“ dagegen nur ihrem eigenen Gewissen, sonst trifft sie keine Schuld. Gleichzeitig erklärt Raskolnikow alle bedeutenden Menschen schon deshalb für Verbrecher, als sie schon durch die Einführung einer neuen Idee die gegenwärtige zerstörten und somit das alte Gesetz brachen.

Angehörige der zweiten Kategorie, die „Gewöhnlichen“, treten gemäß ihrer Bestimmung konservativ, gesetzestreu, ordentlich und gehorsam, vielmehr niedrigdenkend auf. Ihre Auf-gabe bestehe in der Fortpflanzung der Menschheit, um unter einer Millionen Menschen einen „Ungewöhnlichen“ zu gebären. Sie leben bloß in der Gegenwart; Gesetze zu übertreten steht ihnen nicht zu. Andernfalls straft sie die Gesellschaft oder ihr eigenes Gewissen.

2.2 Deutung des Romans

Dostojewskij läßt dieses Menschenbild für seinen Protagonisten zu tiefstem Glaube und Gesetz werden. So verwundert es nicht, daß Raskolnikow lediglich nach seinem euklidischen Verstand bzw. „logischen Kalkül“ handelte. Sein Verbrechen erschien ihm als einfaches Rechenexempel: Ein Mord für hunderte Leben, die durch das Geld der alten Frau besser und glücklicher existieren könnten.

Dementsprechend fühlte er sich durch ein Gespräch zweier Studenten, die dieses logische Kalkül allerdings bloß theoretisch erwogen, bestätigt:

„(...) da ist auf der einen Seite ein dummes, nutzloses, nichtswürdiges, böses, krankes altes Weib, das kein Mensch braucht und das im Gegenteil allen schadet, das selber nicht weiß, wozu es auf der Welt ist, (...). Und auf der anderen Seite gibt es junge, unverbrauchte Kräfte, die ohne Unterstützung nutzlos verkommen, (...). Da sind hundert, tausend Existenzen, die vielleicht auf den richtigen Weg gebracht, Dutzende von Familien, die vor dem Elend, der Zersetzung, dem Untergang, dem Laster, (...) gerettet werden könnten – und all das mit dem Geld dieses Weibes! Bring sie um und nimm ihr ihr Geld, und dann widme dich mit dessen dem Ziel, der ganzen Menschheit und der gemeinsamen Sache zu dienen – (...). Und wieviel ist denn, alles in allem genommen, das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen, bösen alten Frau wert? Nicht mehr als das Leben einer Laus (...)“ (Dostojewskij 1995, S. 86).

Doch trotz der „guten Absicht“ in utilitaristischem Sinne, läßt der Autor seinen Helden scheitern und verdeutlicht damit klar seine Verurteilung des ausschließlich rational orien-tierten, moralischen Denkens. Im Gegensatz zur ursprünglichen Zielsetzung utilitaristischer Ethik, folgert Dostojewskij daraus eine sogenannte „Selbstermächtigung des Menschen“

(Schernus 1991, S. 277). Denn die Absicht, durch den Mord sowohl sein eigenes Glück als auch das der vielen Bedürftigen zu vermehren, rückt schließlich in den Hintergrund. Wichtiger erscheint stattdessen, sich selbst und der Gesellschaft gegenüber zu beweisen, daß Raskolnikow der Kategorie der „Ungewöhnlichen“ angehört. Exakt dieses damit verbundene Recht und die Macht, andere, nach persönlicher Auffassung minderwertige Menschen zu töten, hält Dostojewskij für verwerflich. Zu dieser Erkenntnis muß letztlich auch der Held gelangen:

„(...) ich mußte wissen, und zwar so rasch wie möglich, ob ich eine Laus bin wie alle anderen oder ein Mensch; ich mußte wissen, ob ich jene Grenze überschreiten kann oder nicht, ob ich es wagen würde, mich zu bücken und die Macht zu packen; (...).“ „Ich wollte dir nur das eine klarmachen: daß mich damals der Teufel verleitet hat und daß er mir nachher erklärte, ich hätte gar nicht das Recht gehabt, diesen Weg zu gehen, weil ich ebenso eine Laus bin wie alle andern!“ (Dostojewskij 1995, S. 536).

[...]

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Welche Gefahren birgt die utilitaristische Ethik? Eine Untersuchung von Fjodor M. Dostojewskijs „Schuld und Sühne“
Hochschule
Katholische Hochschule Freiburg, ehem. Katholische Fachhochschule Freiburg im Breisgau
Veranstaltung
Anthropologische und ethische Grundlagen
Note
1,3
Autor
Jahr
1998
Seiten
14
Katalognummer
V320007
ISBN (eBook)
9783668186743
ISBN (Buch)
9783668186750
Dateigröße
698 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Utilitarismus, Bioethik, Dostojewskij, Menschenwürde, Abtreibung, Euthanasie, Medizin, Forschung, Sterbehilfe
Arbeit zitieren
Christiane Lhotta (Autor:in), 1998, Welche Gefahren birgt die utilitaristische Ethik? Eine Untersuchung von Fjodor M. Dostojewskijs „Schuld und Sühne“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320007

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