Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung

Eine Fallstudie


Bachelorarbeit, 2015

100 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Methode
2.1 Einzelfallstudie
2.2 Befragung
2.3 Qualitative Inhaltsanalyse

3. Terminus ‚Menschen mit geistiger Behinderung‘, Prävalenzrate und Klassifikationen
3.1 Definitionen und Ursachen der geistigen Behinderung
3.2 Klassifikationsinstrument ICD-10 auf medizinischen Grundlagen
3.3 Ergänzende Faktoren der geistigen Behinderung
3.4 Das bio-psycho-soziale Modell ICF

4. Erweiterte Definition von Sexualität

5. Pubertät und Sexualverhalten im Kontext von Eltern, ErzieherInnen und Peers

6. Pädagogik bei Menschen mit geistiger Behinderung
6.1 Das Normalisierungsprinzip
6.2 Selbstbestimmung und Empowerment
6.3 Sexualerziehung

7. Qualitative Inhaltsanalyse des Interviews
7.1 Bestimmung des Ausgangsmaterials
7.2 Verwendetes Kategoriensystem
7.3 Ergebnisaufbereitung
7.3.1 Erwachsensein und Familiensituation des Teilnehmers
7.3.2 Selbstbestimmung
7.3.3 Partnerschaft
7.3.4 Sexualität
7.3.5 Zusammenfassende Interpretation in Rückbezug auf die Theorie

8. Reflexion

Literaturverzeichnis

Anhang

Aushang zur Suche eines Teilnehmer / einer Teilnehmerin

Fragenkatalog zum leitfadengestützten Interview

Transkribiertes Interview Sexualerziehung bei geistig Behinderten Interview Nr. 001

1. Einleitung

Anlass zu dieser Arbeit sind aktuelle Diskussionen in den Medien um Frühsexualisierung beziehungsweise Sexualerziehung im Kindergarten. Die Parallele zu Menschen mit geistiger Behinderung formuliert Rett in der These, dass Sexual-Alter und Intelligenz-Alter bei Menschen mit geistiger Behinderung divergieren (vgl. Rett 1981, S. 135). Die Heranwachsenden werden auf der sexuellen Ebene auf die Stufe eines 4-8 Jährigen gestellt, welche noch keine sexuellen Regungen und Empfindungen kennen würden (vgl. Schmetz 1998, S. 35). Sexualerziehung wurde daher lange Zeit als unnötig befunden. Paradox ist, dass neben dem Vorurteil der Asexualität auch das Vorurteil besteht Menschen mit geistiger Behinderung seien hypersexuelle Wesen (vgl. ebd., S. 26). Das Thema Sexualität und Sexualerziehung wird, wenn überhaupt, im allgemeinen Verständnis auf Sexualaufklärung begrenzt. Damit einhergehend werden vor allem Problemfelder behandelt wie Empfängnisverhütung, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch, Ehe, Nachkommenschaft und sexueller Missbrauch. Wobei hier die Schwangerschaftsverhütung und die Prävention von sexuellem Missbrauch im Vordergrund stehen. Im Rahmen dieser Arbeit wurden viele Gespräche mit ErzieherInnen und LeiterInnen aus Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung geführt, sowie mit Angehörigen und mit einer spezialisierten Beraterin der Pro Familia Stelle in Augsburg. Die Gespräche und die Literatur ergaben einen Konsens, dass das Thema sehr belastet ist, so ist es Konvention den Bewohnerinnen ein Verhütungsmittel zu verabreichen, mit oder ohne Aufklärung. Auch, wenn dies beispielsweise nicht gegen sexuellen Missbrauch schützt, schwingen Ängste von ungewollten wie auch gewollten sexuellen Kontakten bei dieser Praxis mit. Wenn von einer Deregulierung des sexuellen Umgangs mal die Rede ist, sind Themen wie die mangelnde Raumgestaltung in Betreuungseinrichtungen zentral, um Intimsphäre zu gewährleisten. Sowohl Sexualität, als auch Behinderungen sind schwierige Themen schon wenn es darum geht passende Begrifflichkeiten zu finden. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Ängste und Unsicherheiten den Umgang prägen.

Normenprobleme können als zentraler Ausgangspunkt für pädagogisches Denken und Handeln gelten. Mit der hermeneutisch erarbeiteten Theorie sollen Begriffe definiert werden und die normative Haltung der Verfasserin geklärt werden. Aus gegeben Anlass also soll Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung näher untersucht werden. Um auf die Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung eingehen zu können, wird Sexualität als Teil der Identität und unabdingbar zur Persongenese gesehen. Um eine ungestörte psychosexuelle Entwicklung zu gewährleisten, zählt ein erhöhtes Zeitzugeständnis und Erziehungsmaßnahmen zum Ausgleich der Differenz in der Entwicklung, zu den grundlegenden Voraussetzungen. Methodisch soll sowohl hermeneutisch herangegangen werden, wie auch durch eine Fallanalyse. Durch die Herangehensweise sollen Besonderheiten der Sonderpädagogik erarbeitet werden und passende Begriffe werden mit Bedeutungsgehalt gefüllt. Um eventuelle Schwierigkeiten in der Umsetzbarkeit zu verdeutlichen oder Aspekte hervorzuheben, welche eine Differenz von Theorie und Praxis in Bezug auf die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe aufzeigen, ist die Fallanalyse von besonderer Bedeutung. Die Fallanalyse soll die theoretischen Annahmen praxisnah verdeutlichen oder widerlegen. Durch das Interview soll ermöglicht werden sich in die Wahrnehmung der Menschen mit geistigen Behinderungen hineinzuversetzen, dadurch soll eine Pädagogik ermöglicht werden, die Menschen mit Behinderungen denselben Stellenwert eingesteht, wie der restlichen Bevölkerung. Eine Haltung der Wertschätzung und ein Zugeständnis von Mit- und Selbstbestimmung sollen als Recht für alle Menschen durchgesetzt werden. Hierbei soll von einer Defizitorientierung wenn möglich Abstand genommen werden, um die Potentiale von Sexualerziehung und Sexualität aufzuzeigen.

2. Methode

Zuerst soll die methologische Vorgehensweise geklärt werden. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass Menschen mit geistiger Behinderung selbst über ihr Verständnis von Erwachsensein und Sexualität kaum befragt worden sind. Deshalb lehnt sich diese Arbeit an die Beiträge von Walter und Hoyer-Hermann an, die ‘besondere Deutungsmuster der Lebenswirklichkeit’ bei Menschen mit geistiger Behinderung in einem hermeneutischen Versuch untersuchten, aber auch durch Befragungen. Ausgangspunkt bieten dezidierte Auffassungen von Nichtbehinderten über Erwachsensein und Sexualität. In einer früheren Studie von Walter 1980 wurde durch die Untersuchung von Einstellungen und Beobachtungen von MitarbeiterInnen in Behinderteneinrichtungen festgestellt, dass sowohl Sexualität, als auch Sexualverhalten signifikant abhängig von der Toleranzbreite sexueller Normhandhabung der BetreuerInnen sind, was durch das Phänomen der sekundären Behinderung erklärbar ist. Die lebenslange Abhängigkeit und die gesellschaftliche Normvorstellung von Erwachsensein als mündige und selbständige Wesen, schließen die Vorstellung von Behinderten als Erwachsene aus. Ziel der neueren Untersuchung von Walter und Hoyler-Heinemann war es durch theoretische Reflexionen der biographischen Interviews die Lebenswirklichkeit von Behinderten in Bezug auf Sexualität und Erwachsensein durch Befragungen zu erforschen (vgl. Walter/Hoyler-Hermann 1987, S. 5 - 13f.).

Zu den Befragungen formulierten die Forschenden: „Unsere Untersuchung verfolgt das praxisorientierte Ziel, über ein besseres Verstehen von Erwachsensein und Sexualität in der Lebenswirklichkeit geistigbehinderter Menschen zur Verbesserung der konkreten Lebensbedingungen und zur Ermöglichung einer Erwachsenen-Identität und Erweiterung soziosexueller Interaktions- und Kommunikationskompetenz geistigbehinderter Erwachsener beizutragen“ (ebd., S. 14). Die Arbeit sollte praxistheoretische Entwürfe konzeptionell fundieren. Um dem Verständnis über Erwachsensein, welches Menschen mit geistiger Behinderung nicht mit einschließt, eine Alternative bieten zu können, wird ein individualisierter Erwachsenenbegriff verwendet, welcher dynamisch prozesshafter ist (vgl. Walter/Hoyler-Hermann 1987, S. 14).

Ähnlich soll in dieser Arbeit die Wahrnehmung zur Sexualität und Sexualerziehung bei und von Menschen mit geistiger Behinderung aufgezeigt und untersucht werden. Ohne Erfahrungen von Menschen mit geistiger Behinderung zu sammeln, kann nach den angewendeten Prämissen in der Sonderpädagogik, kein Konzept zur Sexualerziehung erarbeitet werden.

Die explorative Fallstudie soll dazu dienen den Untersuchungsgegenstand konsequent bearbeiten zu können (vgl. Lamneck 2005, S. 303). Sexualerziehung und Sexualität soll nicht ohne den Bedeutungsgehalt von Menschen mit geistiger Behinderung betrachtet werden. Hintergrund für die Annahme bietet der Symbolische Interaktionismus, welcher vor allem auf George Herbert Mead zurück zu führen ist. Der Untersuchungsgegenstand 'Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung' befindet sich außerhalb des Lebensbereiches der forschenden Person, daher soll der Wissensverstand mit dem naiven Alltagsverstand verknüpft werden (vgl. ebd., S. 37f.).

2.1 Einzelfallstudie

„Die Einzelfallstudie ist zwischen konkreter Erhebungstechnik und methologischem Paradigma angesiedelt. Die Einzelfallstudie stellt einen Approach dar, einen Forschungsansatz“ (ebd., S. 298, Hervorhebungen im Original). Im Hintergrund der Befragung stehen bereits bestehende Theorien. Der Approach gilt als ein Forschungsansatz, der "die theoretischen Vorgaben der Methologie in praktische Handlungsanweisungen umsetzt, ohne selbst Erhebungstechnik zu sein […]. Tatsächlich geht es der qualitativen Einzelfallstudie besonders darum, ein ganzheitliches und damit realistisches Bild der sozialen Umwelt zu zeichnen. Mithin sind möglichst alle für das Untersuchungsobjekt relevanten Dimensionen in die Analyse einzubeziehen“ (ebd., S. 299). Das Untersuchungssubjekt soll nicht auf ein paar Variablen reduziert werden. Der Anspruch, den Einzelnen der Studie in seiner Totalität zu betrachten, hat zur Folge, dass er als Fachmann für die Deutung und Interpretation seiner Alltagswelt gesehen wird (vgl. ebd., S. 300). „Durch die Beschäftigung mit einer einzelnen Person als Einheit sollen die alltagsweltlichen Deutungen und Interpretationen wissenschaftlich kontrolliert fremdverstanden werden“ (ebd., S. 301).

Zentrale Prinzipien der qualitativen Forschung -Offenheit, Kommunikativität, Naturalistizität und Interpretativität- werden aus der Natur des Approach realisiert (vgl. ebd., S. 313).

Im Normalfall ist bei einer Einzelfallstudie eine Methodentriangulation aufgrund des Anspruches der Einzelfallstudie unbedingt notwendig. Im Rahmen der Bachelorarbeit allerdings größtenteils vernachlässigt, da es in der Analyse des Interviews primär, um Wahrnehmung, Stellungnahme und Bewertungen in Bezug auf Sexualität und Sexualerziehung der befragten Person geht. Die Einstellungen der Bezugspersonen beispielsweise werden daher nicht erhoben. Die Methodentriangulation wird insofern durchgeführt, dass die Theorien hermeneutisch erörtert werden, das Interview durch eine Befragung durchgeführt und mit einer qualitativen Inhaltsanalyse interpretiert wird.

„Für den Test nichtdeterministischer Theorien oder Hypothesen wie auch für Prognosen, die sich auf Kollektive beziehen, eignen sie [Einzelfallstudien, L.N.] sich […] weniger, da Generalisierungen nur selten möglich sind. Dagegen gelten sie als sehr gut geeignet zur Plausibilisierung von Theorien oder Hypothesen sowie zur Illustration quantitativer Ergebnisse“ (Kromrey, 2015, S.504).

Die Untersuchungseinheit wurde daher durch Theoretical Sampling ausgewählt. Bei der Auswahl geht es darum, die theoretischen Konzepte komplexer, differenzierter und profunder zu gestalten und darzustellen (vgl. Lamnek 2005, S. 313f.). „Dabei geht man folgendermaßen vor: Die Untersuchungseinheit für die erste Fallstudie wird aufgrund ihrer Eignung als extremer oder idealer Typ ausgewählt. Dabei ist der Forscher auf Vermutungen bzw. äußerliche Merkmale angewiesen“ (ebd., S. 314). Der Teilnehmer der nachfolgenden Analyse gilt als idealer Fall. Die erste Untersuchungseinheit bietet den Ausgangspunkt für weitere Fälle, wobei die Handlungsmuster das Auswahlkriterium bilden. Entweder werden in den Folgestudien ähnliche Fälle gesucht oder in der untersuchten Einheit davon zu unterscheidende Fälle (vgl. ebd.). Voraussetzungen für die Teilnahme an dem Interview sind eine bestehende leichte bis mittelgradige Intelligenzminderung, Volljährigkeit und das Wohnen in einer Einrichtung. Eine schwere Intelligenzminderung schränkt die kommunikativen Fähigkeiten so weit ein, dass die kommunikative Kompetenz zwischen Forscherin und TeilnehmerIn zu weit divergieren, um ein gemeinsames Symbolsystem gebrauchen zu können und wurde daher im Vorfeld ausgeschlossen. Die Volljährigkeit wurde erwartet, damit von bereits vorhandenen Erfahrungen und Beschäftigungen mit dem Thema Sexualerziehung zu rechnen ist und um eine Einwilligung in das Interview und Einblick in die Diagnosen zu erleichtern. Ziel war davon ausgehen zu können, dass die Pubertät weitestgehend abgeschlossen ist. Die Oberaltersgrenze wurde auf 25 gesetzt, um die Aktualität des Themas zu gewährleisten. Die Sexualerziehung ist insbesondere bei Menschen mit geistiger Behinderung mit 25 nicht abgeschlossen, da eine regelmäßige Wiederholung notwendig ist. Trotzdem wurde davon ausgegangen, dass sich eine jüngere Person eher auf die Fragen einlässt, auch weil genau diese Themen im Verlauf des Erwachsen-Werdens von hoher Bedeutung sind und auf Interesse der teilnehmenden Person trifft. Das Wohnen in einer Einrichtung ist bei Menschen mit geistiger Behinderung oft der Normalfall und daher Voraussetzung, um den ‚idealen Typ‘ darzustellen.

Die Ergebnisse aus der Einzelfallstudie können durch diese Arbeit nicht generalisiert werden. Zunächst muss der Einzelfall in seiner Gesamtheit analysiert werden. Erst durch die Abstraktion werden fallvergleichenden Analysen und Generalisierungen ermöglicht (vgl. Kromrey 2009, S. 490).

2.2 Befragung

Als Verfahren der Datenerhebung wurde die Befragung mit einem leitfadengestützten Interview als teilstandardisierte Methode mit offenen Fragen gewählt (vgl. Zierer/Speck/Moschner 2013, S. 64).

„Befragung bedeutet Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Personen. Durch verbale Stimuli (Fragen) werden verbale Reaktionen (Antworten) hervorgerufen: Dies geschieht in bestimmten Situationen und wird geprägt durch gegenseitige Erwartungen. Die Antworten beziehen sich auf erlebte und erinnerte soziale Ereignisse, stellen Meinungen und Bewertungen dar“ (Atteslander 2003, S. 120f.).

Die Methode erlaubt den Bezug zu bestehenden Theorien und Hypothesen und gleichzeitig die Offenheit auf den/die TeilnehmerIn mit dem Hintergedanken des Symbolischen Interaktionismus einzugehen. Auf den/die TeilnehmerIn der Studie soll so intensiv wie möglich eingegangen werden können. Der erstellte Fragenkatalog bietet den Rahmen für das Interview in dieser Arbeit und ermöglicht gegebenenfalls eine Standardisierung in weiteren Interviews. Es ist möglich Fragen auszulassen oder zu ergänzen.

Das Vorverständnis der forschenden Person wird durch die Konzepte und Definitionen im Anschluss erläutert. Durch die Begriffsbestimmungen von Sexualität und Sexualerziehung kombiniert mit der Theorie der Fragebogenkonstruktion nach Kromrey (vgl. Kromrey 2009, S. 347 – 366) und der Anlehnung an die Fragen von Walter und Hoyler-Hermann (vgl. Walter/Hoyler-Herrmann 1987, S. 266 – 296) sind folgende Themenkomplexe entstanden: Einleitung, Peers, Wohnen, Erwachsensein, Sexualität, Partnerschaft.

Mit den Fragen eins bis acht, soll ein leichter Einstieg für den/die Befragten/Befragte gemacht werden. Die Fragen beziehen sich auf das Aufwachsen der befragten Person und die familiäre Situation. Damit können zudem formale Informationen erhoben werden, wie die berufliche Stellung der Eltern, was sich auch auf den Werdegang der teilnehmenden Person ausgewirkt hat und auswirkt. An dieser Stelle soll nach den Geschwistern gefragt werden, da der Umgang mit Gleichaltrigen eine besondere Stellung einnimmt. Dafür wurde der zweite Themenblock ‚Bezugspersonen‘ von Frage 10 bis 18 konstruiert. Auch das Verhältnis zu den Lehrkräften soll hier abgefragt werden. Lehrkräfte verbringen viel Zeit mit den Heranwachsenden und können auch als Bezugspersonen fungieren, sofern ein Verhältnis durch Vertrauen geprägt ist und eine gewisse Intimität zulässt. Auch die Fragen 9, 35, 36 und 43 erfragen Beziehungen, die intime Gesprächsthemen zulassen. Intime Gespräche sind Ausdrucksform von Sexualität (vgl. Stöckmann 2005, S. 59). Mit dem dritten Themenbereich ‚Wohnen‘ mit den Fragen 19 bis 25 soll insbesondere die Selbstbestimmung und damit mitunter die Entscheidungsfreudigkeit, sowie Selbstständigkeit des Teilnehmers / der Teilnehmerin erhoben werden. ‚Erwachsenwerden‘ erfragt das Verständnis zu diesem Thema und die Selbstwahrnehmung als Schritt zur Identitätsfindung durch die Pubertät und Adoleszenz. Eine differenzierte Ansicht des Erwachsenenalters soll hierbei für eine reflektierte Auseinandersetzung mit Prozessen des Erwachsenwerdens gelten. Die Fragebatterie ‚Sexualität‘ ist mit über 20 Fragen der größte und erhebt nicht ausschließlich die Sexualität der befragten Person und ihre Einstellung dazu, sondern zusätzlich Aspekte der Sexualerziehung. Mit den Fragen 42 und 47a – 50 wird Sexualität mit der Definition Stöckmann erhoben (vgl. Stöckmann 2005, S. 59). Der fünfte und letzte Themenblock ‚Partnerschaft‘ von Frage 51 bis 54 erkundet die Einstellungen, Erwartungen und die Erfahrungen des/der TeilnehmerIn zu den Themen Liebe, Partnerschaft, Ehe und schneidet das Thema Kinderwunsch an. Trotz der Zugehörigkeit von Partnerschaft zu Sexualität wird das Thema explizit erwähnt, da das Recht auf Partnerschaft (Geschützte Ehe und eheähnliche Gemeinschaft) unter anderem aufgrund von rechtlichen Regulierungen genauso wie das Thema Nachkommenschaft als Problemfelder der Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung gelten (vgl. Schmetz 1998, 42 – 44 & 56 – 58). Der/die TeilnehmerIn hat die Möglichkeit Schwerpunkte zu setzen und das Interview mit zu gestalten.

Als Erhebungsort wird die Face-to-Face-Befragung gewählt, welche durch ihre Unmittelbarkeit gekennzeichnet ist. Aufgrund der Sensibilität der Thematik, soll das Interview in einem für den Teilnehmer/ die Teilnehmerin gewohnten Umfeld stattfinden. Die befragte Person soll diesen wählen. Wegen der vorausgesetzten Intelligenzminderung ist es von hoher Bedeutung, dass sich der/die Befragte in Sicherheit weiß und Verständnisfragen sofort geklärt werden können. Neben den hohen Erhebungskosten muss auch die mögliche Beeinflussung durch Interviewer-Effekte als Nachteil erwähnt werden. Es besteht die erhöhte Gefahr, dass der/die teilnehmende Person statt einer zutreffenden Antwort, eine Antwort geben wird, welche für die Erwartung des Gegenübers gehalten wird. Der Effekt heißt soziale Erwünschtheit (vgl. Zierer/Speck/Moschner 2013, S. 69).

„[...] Abweichungen können nicht allein darauf zurückgeführt werden, dass Befragte bewusst falsche Angaben machen – was natürlich auch vorkommen wird. Abweichungen müssen vielmehr schon deshalb auftreten, weil in der Befragung nicht die eigentlich interessierenden Merkmale erhoben werden können (Einstellungen; Einkommen; Bildung), sondern einzig Kenntnisse oder Vermutungen der Befragten über den jeweiligen Sachverhalt zum Zeitpunkt und in der Situation der Befragung. Diese Kenntnisse aber können fehlerhaft, die Vermutungen können ungenau sein. Sie werden zunehmend ungenauer, je komplizierter der erfragte Sachverhalt für den Befragten ist, je geringer seine persönlichen Erfahrungen mit dem Sachverhalt sind und je weiter das erfragte Ereignis zeitlich zurückliegt“ (Kromrey 2015, S. 337).

Bei den Ergebnissen der Befragung soll es nicht, um richtige oder falsche Angaben gehen, sondern um die subjektiven Einstellungen und Wahrnehmungen.

2.3 Qualitative Inhaltsanalyse

Nachdem das Interview als Audiodatei vorliegt, wird es nach Thorsten Dresing und Thorsten Pehl (2013) transkribiert und anschließend durch eine qualitative Inhaltsanalyse weiter bearbeitet. Eine Inhaltsanalyse soll fixierte Kommunikation systematisch, regel- und theoriegeleitet analysieren mit dem Ziel bestimmte Rückschlüsse auf Kommunikation zu gewährleisten. Genauer wäre also der Begriff kategoriengeleitete Textanalyse (vgl. Mayring 2015, S. 13). Durch Analyseschritte- und Regeln führt die Methodik zu einer systematischen und überprüfbaren Interpretation des Materials (vgl. ebd., S. 50). Als qualitativ-verstehender Ansatz geht es darum, sich in den Forschungsgegenstand letzten Endes hineinzuversetzen (vgl. ebd., S. 19). Unter anderem bei Einzelfallanalysen können qualitative Analysen bestens eingesetzt werden (vgl. ebd., S. 23). Dabei ist die qualitative Inhaltsanalyse keine feststehende Technik, sondern eine Reihe von Festlegungen und Entscheidungen zum weiteren Vorgehen, wofür theoretische Annahmen hinzugezogen werden. Der spezifische Gegenstandsbezug hat zur Folge, dass die Methodik keine reine Technik ist und nicht beliebig eingesetzt werden kann. Für jedes Material, müssen Kategorien gebildet und überprüft werden (vgl. ebd., S. 52). „Mit Theoriegeleitet ist gemeint, dass der Stand der Forschung zum Gegenstand und vergleichbaren Gegenstandbereichen systematisch bei allen Verfahrensentscheidungen herangezogen wird“ (ebd., S. 53). Validität wird hier vor das Gütekriterium der Reliabilität gestellt (vgl. ebd.).

„Theorien so wird häufiger gesagt, würden das Material verzerren, den Blick zu sehr einengen, würden ein »Eintauchen in das Material« behindern. Begreift man jedoch Theorie als System allgemeiner Sätze über den zu untersuchenden Gegenstand, so stellt sie nichts anderes als die gewonnenen Erfahrungen anderer über diesen Gegenstand dar. Theoriegeleitet heißt nun an diese Erfahrungen anzuknüpfen, um einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen“ (ebd., S. 59f.).

So soll auch in dieser Arbeit die Theorie nicht als verfälschende Einheit gesehen werden, sondern als bereichernder Erfahrungsschatz.

Mayring differenziert drei Grundformen der Analysetechnik: Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung. Je nach Forschungsfrage soll die passende Technik ausgewählt werden (vgl. ebd., S. 67). Für die Analyse des Interviews wurde die inhaltliche Sturkturierung gewählt. „ Strukturierung: Ziel der Analyse ist es, bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen“ (ebd., S. 67, Hervorhebungen im Original). Hierbei ist das Hauptkategoriensystem vorweg festgelegt (deduktive Kategorienanwendung), wozu der Erfahrungsschatz aus den theoretischen Annahmen dient. Das Material der Einzelfallstudie soll „[...] zu bestimmten Inhaltsbereichen extrahiert und zusammengefasst werden (inhaltliche Strukturierung)“ (ebd., S. 68, Hervorhebungen im Original).

Das Thema Sexualerziehung wird hermeneutisch dargelegt und anschließend die Wahrnehmung, Einstellung und Erfahrungen des Befragten dazu analysiert. Durch das Erstellen des leitfadengestützten Fragebogens für das Interview wurden bereits Hauptkategorien vorkonstruiert, welche in der Analyse Anwendung finden. Theoretische Annahmen sollen so durch einen Einblick in die Praxis konkretisiert und kritisiert werden.

3. Terminus ‚Menschen mit geistiger Behinderung‘, Prävalenzrate und Klassifikationen

In den nächsten Kapiteln werden die theoretischen Konzepte erläutert, welche für diese Arbeit von Relevanz sind. Zusätzlich werden Begriffe definiert und mit Bedeutung gefüllt, um die Normvorstellung darzulegen und hinterfragbar zu machen. Zu Beginn wird die Subjektgruppe der Arbeit erörtert. Vorweg wird die Schwierigkeit der Bezeichnung ‚geistig Behinderte‘ skizziert, da sich der Begriff ‚geistige Behinderung‘ auch heute noch einer eindeutigen Bestimmung entzieht (vgl. Kulig/Theunissen/Wüllenweber 2006, S. 116). Bei der Definition, muss zunächst auf den Terminus eingegangen werden, da in den letzten 200 Jahren eine Vielzahl von Diskussionen um den Begriff 'geistige Behinderung' und den damit bezeichneten Personenkreis geführt wurden. Im normativ-moralischen Sinne wird durch den Begriff definiert, welche Menschen zu dem Personenkreis hinzuzuzählen sind und welche nicht. Um den Personenkreis klar zu definieren und auch abzugrenzen, wird im Folgenden der Terminus ‚Menschen mit geistiger Behinderung‘ gebraucht. Die klare Benennung soll vor die Verschleierung der spezifischen Entwicklung gestellt werden. Der Mensch nimmt in seiner Ganzheit einen höheren Stellenwert ein als die Beeinträchtigung und soll daher auch vor dieser benannt werden (vgl. Bender 2012, S. 15f.). Der Begriff bestimmt nicht nur die pädagogische Praxis, sondern verteilt juristisch gesehen Leistungsansprüche. Trotz seiner strukturierenden Wirkung ist der Begriff selbst nicht klar strukturiert (vgl. Kulig/Theunissen/Wüllenweber 2006, S. 116).

„Der Begriff Geistige Behinderung ist allerdings auf einer sehr hohen Abstraktionsebene angesiedelt. Mit anderen Worten: Geistige Behinderung ist ein abstrakter Begriff, der sehr unterschiedliche Störungsbilder einschließt. Dabei sind die Unterschiede nicht allein durch das ebenfalls sehr globale - und häufig recht vage- Kriterium des Schweregrades, sondern noch viel mehr durch das von Person zu Person sehr unterschiedliche Muster der Stärken und Schwächen in den einzelnen psychischen Funktionen bedingt“ (Seidel 2006, S. 161).

Daher wird auf mehrere Ansätze Bezug genommen, die ‚geistige Behinderung‘ klassifizieren und Definitionen ergänzen.

Im Folgenden soll kurz auf die Datenlage und Prävalenzrate von Menschen mit geistiger Behinderung eingegangen werden, anschließend werden die Ursachen und Zeitpunkte der Behinderung erläutert. Es soll sowohl eine medizinische Sichtweise aufgezeigt werden, wie auch eine Sichtweise, welche soziale Faktoren integriert.

Zu Prävalenzrate können zurzeit „[…] folgende Untersuchungsansätze und Behindertenstatistiken unter den genannten Einschränkungen herangezogen werden:

- Sonderpädagogische Statistiken und Schätzungen
- klinisch-epidemiologische Einzeluntersuchungen
- Mikrozensus-Erhebungen des Statistischen Bundesamtes
- Behindertenstatistiken der Versorgungsämter
- Internationale Schätzungen“ (Walter/Hoyler-Hermann 1987, S. 65).

Zusammenfassend wird davon ausgegangen, dass 0,6% der schulpflichtigen Kinder als sonderschulbedüftige geistig Behinderte zu betrachten sind. In einer Sonderschule für Lernbehinderte sieht der Prozentsatz anders aus (vgl. Sander 1973, S. 36). Diese Prävalenzrate ist bei Erwachsenen in Frage zu stellen, beispielsweise aufgrund der niedrigeren Lebenserwartung und kann daher etwas niedriger angesetzt werden (vgl. Walter/Hoyler-Hermann 1987, S. 67).

3.1 Definitionen und Ursachen der geistigen Behinderung

„Eine Geistige Behinderung spiegelt stets eine eingetretene Schädigung von bestimmten Funktionen und/oder Strukturen des Gehirns wider. (Dabei ist dem verbreiteten Missverständnis vorzubeugen, dass Schädigungen von Funktionen und Strukturen des Gehirns nur durch fassbare biologische oder physische Faktoren zustande kommen [...].) Dies hervorzuheben ist notwendig, weil viele Definitionen und Beschreibungen diesen Sachverhalt umgehen“ (Seidel 2006, S. 161). Die Begriffsbestimmung der ‚geistigen Behinderung‘ ist sehr vielschichtig, daher wird nur ein Einblick in die medizinischen Grundlagen gegeben und eine Auswahl an sozialen Faktoren erörtert, welche für diese Arbeit von Bedeutung sind.

Art, Schwere, Zeitpunkt, sowie die Einwirkungsdauer der Schädigung bedingt den Umfang der Schädigung von Strukturen und Funktionen. Biologische Ursachen und/oder psychosoziale, wie auch soziokulturelle Faktoren können Hirnfunktionen schädigen (vgl. ebd.). Neben psychosomatischen Faktoren sind auch anthropogene Faktoren für die Betrachtung des heranwachsenden Menschen erforderlich. Soziokulturelle Wirkfaktoren, wie Bildungsangebote, Normen etc. beeinflussen ebenso die Entwicklung. Sowohl Vererbung, als auch Interaktion bedingen und beeinflussen sich (vgl. Schmetz 1998, S. 29). Ist die Schädigung besonders schwer, so ist eher von einer biologischen Ursache auszugehen, genauso bei Mehrfachbehinderungen. Eine leichte Schädigung kann auch psychosoziale oder soziokulturelle Ursachen aufweisen. Psychosoziale Faktoren haben im Lebenslauf stets Einfluss auf die Entwicklung, sowohl in positiver, als auch in negativer Weise. Dies wird insbesondere im Verlauf unter dem Schlagwort der sekundären Behinderung erläutert. Für jede Lebensphase gibt es typische verursachende Faktoren für eine geistige Behinderung. Mehrere Faktoren können auch zusammenwirken, so dass keine monokausale Ursache auszumachen ist (vgl. Seidel 2006, S. 162).

„Als wichtigste ursächliche Faktoren Geistiger Behinderung sind zu nennen:

– Genetische Ursachen
– Toxische Noxen (z. B. Genussgifte, Umweltgifte, Gewerbegifte, Medikamente)
– Physikalische Noxen (z. B. mechanische Einwirkungen, Radioaktivität)
– Sauerstoffmangel des Embryos, des Fetus
– Sauerstoffmangel des Neugeborenen (z. B. bei Unreife, Frühgeburt
– Mikrobiologische Noxen (z. B. virusbedingte Hirnentzündungen)
– Frühkindliche Erkrankungen mit primärer oder sekundärer Hirnbeteiligung
– Stoffwechselerkrankungen der Mutter (z. B. mütterliches Diabetes)
– Stoffwechselerkrankungen des Kindes (z. B. angeborene Schilddrüsenunterfunktion)“ (ebd., S. 162).

Genetisch verursacht, bedeutet, dass die durch die Gene enthaltene DNA für die Störungen verantwortlich ist, dies kann wiederum auch physikalische Ursachen haben kann. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass die Störung vererbbar ist. Das ist für die Behandlung der Frage um Nachkommenschaft wichtig (vgl. ebd.).

Eine Hirnschädigung kann mehrere biologische Ursachen haben. Am häufigsten tritt diese schon vor der Geburt auf, also pränatal. Hier sind genetische Ursachen verantwortlich oder die Schädigung durch exogene/endogene Noxen. Der Alkoholkonsum der Mutter kann beispielsweise der Grund für die geistige Behinderung des Kindes sein. An zweiter Stelle wird die Schädigung während und um die Geburt herum (perinatal) verursacht, zum Beispiel durch Infektionen und andere Komplikationen bei der Geburt. An letzter Stelle ist der Zeitpunkt der Schädigung nach der Geburt, also postnatal. An dieser Stelle sind diverse Traumata verantwortlich, sowie Mangelernährung und Verwahrlosung aber auch Infektionen und Krankheiten.

„Natürlich haben zusätzliche Behinderungen, chronische Krankheiten und Risiken für akute Krankheiten, zu denen sich natürlich die üblichen, allgemeinen Erkrankungsrisiken hinzustellen, u.U. erheblichen Nachteiligen Einfluss auf die individuelle Entwicklung eines Menschen mit einer geistigen Behinderung. Außerdem ist zu bedenken: Zusätzliche Behinderungen, z.B. Sinnesbehinderungen, motorische Störungen oder psychische Behinderungen wie Autismus, können einerseits die Anwendbarkeit bzw. Auswertbarkeit von Testverfahren zu Quantifizierung der Geistigen Behinderung erheblich einschränken, andererseits auch mit denjenigen Merkmalen konfundieren, die üblicherweise der qualitativen Beschreibung der Beeinträchtigungsschwere bzw. des Hilfebedarfs dienen“ (ebd., S. 166).

Nicht selten besteht eine Mehrfachbehinderung. Die geistige Behinderung kann Ausgangspunkt für andere Behinderungen sein, aber auch die Folge von bestehenden Behinderungen. Kenntnisse über die Ursache der Behinderung können der Vorhersage des voraussichtlichen Entwicklungsverlaufs, sowie der Erstellung eines Profils von Stärken und Schwächen dienen. Ein Beispiel zur Verdeutlichung ist das Wissen um die überdurchschnittliche Häufigkeit von Fehlbildungen des Herz-Kreislauf-Systems, sowie die Demenz vom Alzheimer-Typ bei Menschen mit Down-Syndrom. Die Komplexität der Sachlage ist hoch und nicht in seiner Vollständigkeit hier abgebildet (vgl. Seidel 2006, S. 161–165). „In diesem Zusammenhang ist auf die begriffliche Überschneidung von frühkindlicher Demenz und Geistiger Behinderung hinzuweisen: Unter einer Demenz verseht man allgemein den Abbau vorher vorhandener intellektueller Fähigkeiten. Dieser Abbau wirkt sich im Verlust alltagspraktischer Handlungskompetenzen aus. Bei einer frühkindlichen Demenz erfolgt dieser Abbau im frühkindlichen Alter, jedenfalls vor dem 18. Lebensjahr“ (ebd., S. 163).

3.2 Klassifikationsinstrument ICD-10 auf medizinischen Grundlagen

Eine der bekanntesten Definitionen von Geistiger Behinderung ist nach dem Klassifikationsinstrument ICD-10, welche näher auf die Intelligenzminderung eingeht. Diese wird ausführlicher erläutert, da sie für das Thema der Arbeit einen besonderen Stellenwert einnimmt. Für die Begriffsbestimmung von geistiger Behinderung auf medizinischen Grundlagen ist die Definition, als eine unterdurchschnittliche Intelligenz und den damit verbundenen Beeinträchtigungen im alltäglichen Leben, ausreichend (vgl. ebd., S. 160).

Das Klassifikationsinstrument ICD-10 beschreibt die Intelligenzminderung als „[...]eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten“ (Dilling 2006, S. 276). Anpassungsschwierigkeiten in unterschiedlichen Graden sind vorhanden, welche bei einer leichten Intelligenzminderung in geschütztem Rahmen nicht auffallen müssen. Bei intelligenzgeminderten Personen ist die Wahrscheinlichkeit für sexuellen Missbrauch und andere Formen der Ausbeutung erhöht. Zudem wird in der Klassifikation auf ein drei- bis viermal erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen und der Möglichkeit auf Kombinationen auch mit anderen Störungen hingewiesen (vgl. ebd.). „Wenn die Ursache der Intelligenzminderung bekannt ist, dann hat eine zusätzliche Kodierung mittels einer anderen ICD-10-Diagnose zu erfolgen [...]. Eine Intelligenzminderung schließt zusätzliche Diagnosen [...] nicht aus“ (ebd.). Da Intelligenz kein einheitliches Phänomen ist, können insbesondere bei Menschen mit Intelligenzminderung große Unterschiede bestehen. In einem Bereich (beispielsweise Sprache) können schwere Beeinträchtigungen gemessen werden, während in anderen Bereichen (beispielsweise visuelle Wahrnehmung) besondere Begabungen festgestellt werden. Deswegen ist eine Diagnose unter vielfältigen Gesichtspunkten zu stellen. „Dazu gehören klinischer Eindruck, Anpassungsverhalten, gemessen am kulturellen Hintergrund des Individuums, und die psychometrische Leistungsfähigkeit. Für die endgültige Diagnose muss ein vermindertes Intelligenzniveau mit der Folge der erschwerten Anpassung an die Anforderungen des alltäglichen Lebens bestehen“ (Dilling 2006, S. 277). Die gewählte diagnostische Kategorie der ICD-10 bezieht sich daher auf eine Summe von Fähigkeiten und nicht eine bestimmte Fertigkeit oder Beeinträchtigung. So ist auch der IQ nicht zu starr anzuwenden und muss als Test sowohl spezifische körperliche und psychische Behinderungen einbeziehen, als auch den kulturellen Kontext mitbedenken, der IQ ist als Richtlinie zu denken (vgl. ebd.).

Schon bei einer leichten Behinderung, bei der die Bewältigung des Alltags, wie das Anziehen, das Sprechen lernen und auch eine Schulausbildung, wenn auch verzögert, möglich ist, wird durch eine zusätzliche soziale und emotionale Unreife das Eingehen einer Ehe oder die Kindererziehung nicht möglich (vgl. S. 278).

„Wenn ausreichend standardisierte Intelligenztests angewendet werden, ist der IQ-Bereich von 50 - 69 ein Hinweis auf eine leichte Intelligenzminderung. Sprachverständnis und Sprachgebrauch sind oft in unterschiedlichem Ausmaß verzögert, und Probleme beim Sprechen, welche die Entwicklung zur Selbstständigkeit behindern, können bis ins Erwachsenenleben andauern. Eine organische Ursache ist bei einer Minderheit der Betroffenen festzustellen. Begleiterscheinungen, wie Autismus, andere Entwicklungsverzögerungen, Epilepsie, Störungen des Sozialverhaltens oder körperliche Behinderungen, stellt man in unterschiedlicher Anzahl fest“ (ebd.).

Liegt eine mittelgradige Intelligenzminderung vor, so gestaltet sich die Diagnose von anderen Störungen schwieriger aufgrund des eingeschränkten Ausmaßes an Sprachentwicklung. Gewöhnlich liegt der IQ im Bereich zwischen 35 und 29 und auch hier sind sehr verschiedene Leistungsprofile möglich. Das bedeutet für das sprachliche Ausdrucksvermögen, dass von Handzeichen zur Mitteilung von Basisbedürfnissen bis einfache Unterhaltungen denkbar sind (vgl. ebd., S. 279). „Ein vollständig unabhängiges Leben im Erwachsenenalter wird nur selten erreicht. Die Betroffenen sind jedoch in der Regel voll beweglich und körperlich aktiv; bei der Mehrzahl finden sich Anzeichen für eine soziale Entwicklung, so in der Fähigkeit, Kontakt aufzunehmen, mit anderen zu kommunizieren und einfache soziale Aktivitäten zu erbringen“ (ebd.). In der Kategorie der schweren Intelligenzminderung wird der IQ auf unter 20 geschätzt, was aber unter anderem aufgrund des Sprachverständnisses schwer zu messen ist. Im günstigen Fall werden grundlegende Anweisungen und Formulierungen einfacher Forderungen verstanden (vgl. ebd., S. 281). Das Klassifikationssystem ICD-10 beschreibt Geistige Behinderung, trotz seiner medizinisch-diagnostischen Stellung, weder als Krankheit noch als Folge einer körperlichen Krankheit. Psychologische und psychosoziale Faktoren werden in die Diagnose mit einbezogen (vgl. Seidel 2006, S. 167f.).

Eine geistige Behinderung mit einer Intelligenzminderung gleichzusetzen ist problematisch. Eine IQ-bezogene Sichtweise ist nicht nur wegen der Kritik am Intelligenzquotienten und dessen Messbarkeit schwierig. Auch für die Praxis ist eine Überbetonung des kognitiven Bereichs folgenreich. Kinder und Jugendliche werden für Lerneinheiten kaum begeistert beziehungsweise unterfordert (vgl. Theunissen 2000, S. 15 - 17). Um für die Sexualerziehung die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen, muss der Kontaktperson die eventuell bestehende Lernschwierigkeit bekannt sein, sie darf sich auf diese allerdings nicht verlassen. Eine vorausgesetzte Unbildbarkeit oder ein erahntes Desinteresse sollen nicht den Rahmen geben, die Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung ausfallen zu lassen.

3.3 Ergänzende Faktoren der geistigen Behinderung

„Im DSM-IV wird in Anlehnung an Empfehlungen der American Association on Mental Retardation (AAMR) aus dem Jahre 1992 geistige Behinderung unter drei Kriterien gefasst:

1. Durch unterdurchschnittliche, allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit;
2. Durch eine starke Einschränkung der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei der folgenden Bereiche: Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Wohnen, soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbestimmung, Gesundheit und Sicherheit, funktionale schulische Leistungen (Kulturtechniken) Freizeit und Arbeit;
3. Durch einen Zeitfaktor, nachdem der Beginn einer geistigen Behinderung (Entwicklungsstörung) vor dem Alter von 18 Jahren liegen muss“ (ebd., S.18).

Diese Kriterien ergänzen die ICD-Klassifikation um einige soziale Faktoren, zeigen aber gleichzeitig auf in welchen Bereichen Lernbedarf und -potentiale bestehen.

Auch Mühl ergänzt bei dem Versuch einer Beschreibung von geistiger Behinderung die Definition über einen IQ mit „Beeinträchtigung der seelischen Gesamtentwicklung, der Lernfähigkeit, einzelner psychischer Funktionen, z.B. im kognitiven, sprachlichen, sozialen, emotionalen und motorischen Bereich sowie der Bedarf an lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfestellung; geistige Behinderung wird als komplexes Phänomen verstanden, das unterschiedliche Bereiche berührt“ (Mühl 1984, S. 31).

Mit dem Hintergrund der Ansätze AAMD (Association on Mental Deficiency), welches neben der Intelligenz auch Anpassungsfähigkeiten betrachtet, wie eine unabhängige Lebensführung, persönliche Verantwortung und ökonomische Verantwortung und PAC (Progress Assessment Chart), welches Lernziele zur sozialen Entwicklung enthält, wie Selbsthilfe, Verständigungsvermögen, Beschäftigung, Sozialanpassung (vgl. Walter/Hoyler-Herrmann 1987, S. 18) ist „‘geistige Behinderung’ ein mehrperspektivischer Begriff, der sowohl genetische, prä-, peri- und postnatale Ursachen erkennt, aber vor allem Attributionen und Reaktionen des jeweiligen Umfeldes in sozialer Interaktion als identitätsstiftende bzw. Identität gefährdende Faktoren für Menschen mit geistiger Behinderung berücksichtigen“ (Walter/Hoyler-Herrmann 1987, S. 19).

3.4 Das bio-psycho-soziale Modell ICF

Wie schon angedeutet findet ein Wandel der Klassifikationen, von reiner Defizitorientierung zu Berücksichtigung von Einflussfaktoren wie der Umwelt und zu Funktionsfähigkeit statt (vgl. Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen 2005, S. 4–14). Eine bio-psycho-soziale Beschreibung von geistiger Behinderung soll die Folgende sein. Durch die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wird die psychische Funktion unter dem Kapitel Mentale Funktionen klassifiziert. Die ICF-Terminologie und ihr Klassifikationssystem von Mustern aus Schwächen und Stärken bezieht verstärkt die Kontextfaktoren, sowie Art, Ursache und Zeitpunkt der Schädigung während der individuellen Entwicklung mit ein (vgl. Seidel 2006, S. 161).

Da nach der ICF Geistige Behinderung nicht als Kategorie festgelegt wird, wird diese auf mehreren Ebenen beschrieben.

- „Behinderungen auf der organischen Ebene als Schädigung der Körperfunktionen und Körperstrukturen
- Behinderungen auf der individuellen Ebene als Beeinträchtigungen der Aktivitäten und
- Behinderungen auf der sozialen Ebene als Beeinträchtigungen der Teilhabe“ (ebd., S. 168).

Mentale und körperliche Schädigungen werden differenziert und sehr detailliert klassifiziert. Unter Einschränkungen in Domänen wie der Teilhabe und Aktivität lässt auch die ICF den Schluss zu, dass Geistige Behinderung mit einer unterdurchschnittlichen intellektuellen Funktion einhergeht, welche eben die Beeinträchtigungen in den Domänen mit verursacht (vgl. ebd., S. 169).

4. Erweiterte Definition von Sexualität

Auch Sexualität zu definieren, ist kein einfaches Unterfangen. Uwe Sielert stellte das fest und begründet durch die Widersprüchlichkeit der Bedeutungen und ihrer Manifestation im Unterbewussten. Trotzdem soll im Anschluss eine Definition erarbeitet werden, die vom Ursprung der Begriffsbedeutung bis hin zu einer erweiterten Begriffsdefinition geht. Ursprünglich stammt der Begriff ‘Sexualität’ aus der Biologie und konstatierte das Vorhandensein von weiblichen beziehungsweise männlichen Organismen. Im 19. Jahrhundert bezog sich 'Sexualität' auf das Fortpflanzungsgeschehen (vgl. Sielert 2005, S. 37 - 39). „Sexualität hat eine treibende organische Basis, die lange Zeit um psychoanalytischen Jargon als Trieb identifiziert wurde, heute jedoch vorsichtiger als allgemeine Lebensenergie bezeichnet wird“ (Sielert 2005, S. 41). Sowohl die Ein-, wie auch die Abgrenzung des Begriffs Sexualität ist schwer.

Auch heute wird Sexualität oft und vor allem im Sinne von Genitalsex gedacht. Die Begrifflichkeit soll im Folgenden erweitert werden. Grundsätzlich soll allerdings angemerkt werden, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung Genitalsexualität zuzusprechen ist, da nicht zwei Arten von Ethik angewendet werden dürfen; eine für Behinderte und eine für Nichtbehinderte. Auch, wenn entgegen der Ängste von Eltern und ErzieherInnen der genitale Kontakt bei schwer behinderten Menschen selten vorkommt. Sowohl bei homosexuellen, als auch bei heterosexuellen Kontakten bleibt es meist auf der Ebene des Zärtlichkeitsaustausches (vgl. Schmetz 1998, S. 37f.). Im erweiterten Sinne kann „Sexualität […] begriffen werden als allgemeine auf Lust bezogene Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus vielfältigen Quellen gespeist wird, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen kennt und in verschiedenster Hinsicht sinnvoll sein kann“ (Sielert 1993, S. 41).

Stöckmann beschreibt ein erweitertes Verständnis von Sexualität:

„Jedes Verhalten, das sich aus der Anziehungskraft und dem Spannungsverhältnis zwischen Menschen ergibt und das wesentlich auf dem Anderssein der Geschlechter beruht [sic!] ist als sexuell geprägt bezeichnet. Einige Ausdrucksformen der Sexualität sind: Gegenseitige Wertschätzung, Achtung, Zuneigung, Vertrauen, intime Gespräche (sich mitteilen und zuhören können), das Austauschen von Zärtlichkeiten (Streicheln, Haut- und Blickkontakte). Der Mensch bleibt bis zu seinem Lebensende eine Einheit von Leib und Seele und Geist, die auch in dem sexuellen Verhalten nicht durch falsche Erwartungshaltung oder gesellschaftliche Zwänge gestört werden darf. Deshalb sollte von uns die Vielfalt der Ausdrucksformen menschlicher Sexualität bis ins Alter als nichts verwerfliches [sic!] sondern als wesentliches und natürliches Mittel der Kommunikation geachtet werden“ (Stöckmann 2005, S. 59, Hervorhebungen im Original).

Sexualität eröffnet einen Zugang zum ganzheitlichen Erleben und zum lustvollen Erfahren des Selbst und ermöglicht eine erweiterte Fremd- und Selbsterkenntnis (vgl. Molinski 2005, S. 90).

Eine Annahme, warum davon ausgegangen wurde (und teilweise noch wird), dass das Thema Sexualität und damit verbunden Sexualerziehung für Menschen mit geistiger Behinderung nicht sinnvoll ist, kann in der signifikanten Differenz von 'Sexual-Alter' und Intelligenz-Alter gesehen werden. Die sexualbiologische Reifung verläuft in den meisten Fällen unabhängig von der Intelligenzentwicklung altersgemäß. Rett versteht unter Sexual-Alter „das äußere Erscheinungsbild der primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen [...] und nicht unbedingt auch die generative Potenz“ (Rett 1981, S. 134). Der Heranwachsende wird auf der sexuellen Ebene auf die Stufe eines 4-8 Jährigen gestellt, der noch keine sexuellen Regungen und Empfindungen kenne (vgl. Schmetz 1998, S. 35). Sexualität und damit verbunden die Sexualerziehung ist mit dieser Sichtweise vor allem auf biologische Vorgänge beschränkt.

5. Pubertät und Sexualverhalten im Kontext von Eltern, ErzieherInnen und Peers

Pubertät ist ein vielseitiges Konstrukt und ein Prozess in dem Sexualität einen hohen Stellenwert einnimmt. Pubertät und die Adoleszenz danach ist eine Zeit, in der sich die Identität der Heranwachsenden von besonderer Intensivität ausbildet, hier spielt auch die Entwicklung und Akzeptanz von Sexualität eine Rolle.

Mit der Pubertät werden auf der einen Seite körperliche Vorgänge beschrieben, welche biologisch durch einen Wandel im Hormonhaushalt zu erklären sind. Auf der anderen Seite müssen diese körperlichen Veränderungen seelisch verarbeitet werden. In der Jugendpsychologie wird letzterer Prozess Adoleszenz genannt (vgl. Walter 2005, S. 160f.).

„Die puperale Entwicklung geistig behinderter Kinder unterscheidet sich hinsichtlich der somatischen Veränderungen bis auf […] genetisch-organisch bedingten Entwicklungsabweichungen [...] nur wenig von Nichtbehinderten. Die psychosexuelle Entwicklung geistig Behinderter findet jedoch ihre besondere Problematik darin, daß[sic!] die körperliche Sexualentwicklung in Pubeszenz und Adoleszenz unabhängig von intellektuellen Faktoren verläuft. Der Prozeß[sic!] des körperlichen, psychischen und sozialen Reifens ist erheblich verzögert und erschwert. Zwischen sexuellem Reifestadium und retardiertem Intelligenzalter besteht in der Regel eine erhebliche Diskrepanz, die in Abhebung von Normalsinnigen zu einer weitaus erschwerten Lebensbewältigung führt, Sexuelle Auffälligkeiten in Pubeszenz und Adoleszenz resultieren weitgehend aus diesem Faktum und sind keineswegs als abartig zu bewerten. Während der Normalsinnige außerdem die Möglichkeit hat, seine sexuellen Wünsche in der Phantasie auszuleben, so ist auch hier der geistig Behinderte in seinen Möglichkeiten sehr eingeschränkt“ (Schmetz 1998, S. 34f.).

Dies wurde weniger ausführlich im Kapitel der Definition von Sexualität erläutert, hat jedoch in der Pubertät einen entscheidenden Einfluss, da Pubertät nicht nur körperliche Veränderungen bedeutet, sondern eben auch psychische.

Im Schnitt setzt die Pubertät bei Mädchen mit zehn Jahren und bei Jungen mit elf Jahren ein. Drei Dinge werden ab diesem Zeitpunkt verändert: das Gehirn, der Körper und die Gefühlswelt. Im Gehirn findet der Wandel vor allem im vorderen Hirnbereich statt, welches für Entscheidungsfähigkeit, Planung Motivation und Wertebildung verantwortlich ist, sowie das Gefühlszentrum. Die Folge ist, dass der Umgang mit Situationen und die Bewertung erschwert werden. Übellaunigkeit und Gereiztheit sind in der Pubertät normal. Außerdem verändern sich die Schlafgewohnheiten, was bei Jungen noch eher als bei Mädchen Nachtaktivität mit sich bringen kann. Der Rhythmus kann sich um circa fünf Stunden verschieben (vgl. Henning/Bremer-Olszewski 2012, S. 112f.).

Neben dem Wachstumsschub verändert sich auch der Körperaufbau im Allgemeinen. Unter der Haut wird bei Mädchen vermehrt Fett angelagert, insbesondere an Oberarmen, Hüfte, Brust, Oberschenkel und Po. Zudem wird das Becken breiter, um gebärfähig zu werden. Die aktivere Arbeit der Schweißdrüsen und Talgdrüsen führt zu einem neuen Körpergeruch und letzteres zum Entstehen von Pickeln oder Akne. In den Achselhöhlen und in der Schamgegend beginnt ein borstiger Haarwachstum, welcher in Form und Farbe nicht der des restlichen Körpers entsprechen muss. Das Brustwachstum beginnt mit dem Anschwellen der Warzenhöfe und endet zwischen dem 15. und 19. Lebensjahr. Auch am Geschlechtsteil finden Veränderungen statt, so wachsen die Schamlippen und schon vor der ersten Periode sondert die Scheide Flüssigkeit ab, den sogenannten Zervixschleim. Mit der Menarche kann es monatlich zweimal schmerzhaft werden, bei der Regel und beim Eisprung. Zudem müssen Frauen mit zyklusbedingten Hormonschwankungen rechnen, welche Stimmungsschwankungen verursachen können (vgl. Henning/Bremer-Olszewski 2012, S. 112 - 118). Die Menarche kündigt sich Wochen vorher in Spasmen an und muss in den Informationsprozess miteinbezogen werden (vgl. Rett 1981, S. 136). Sie wird von Symptomen begleitet, welche oft als unangenehm und lästig empfunden werden, sowie nötigen hygienischen Maßnahmen, welche erklärt werden müssen. Dies ist für viele Mütter nicht einfach, trotzdem notwendig, da weder die peer group noch die Massenmedien diese Aufgabe übernehmen können (vgl. Schmetz 1998, S. 35f.).

Schon im Mutterleib macht erst das Testosteron den Fötus zum Jungen, so ist auch in der Pubertät ein erneuter Schub an Testosteron verantwortlich für die Veränderung. „Er sorgt für Haarwuchs, eine tiefere Stimme und unbändige Lust. Aber er macht auch aggressiv. Das Schwierige: All das kündigt sich kaum an. Jungen werden quasi über Nacht von der Pubertät heimgesucht und verstehen plötzlich die Welt nicht mehr“ (Henning/Bremer-Olszewski 2012, S. 133). Jungen pubertieren zwischen dem 10. und 17. Lebensjahr und ca. mit 13 findet ein Wachstumsschub von Armen, Beinen, Füßen und dem Penis statt, welcher erst mit 19 abgeschlossen ist. Demnach sehen Jungen in dem Alter oft schlaksig aus (vgl. ebd., S. 133 - 136). Die Bewusstwerdung des Andersseins, welches in der Pubertät entsteht, mit dem In-sich-zurückziehen und der Wachstumsschub ergeben zusammen eine gekrümmte Haltung mit gesenktem Kopf und gesenktem Blick (vgl. Rett 1981, S. 137). Auch sie sind von Pickeln und Akne durch eine erhöhte Talgproduktion betroffen. Da das Testosteron den Kehlkopf wachsen lässt, kommen Jungen ca. mit 15 in den Stimmbruch, was die Stimme tiefer werden lässt. Bevor der Penis wächst, fangen zwischen 11,5 und 15 Jahren die Hoden an zu wachsen. Dann beginnt die Produktion von Spermien und Samenflüssigkeit und es kann zu ungewollten und vermehrten Erektionen kommen, auch ohne sexuelle Reizung. Da der Testosteronpegel zwischen vier und fünf Uhr morgens am höchsten ist, ist es auch wahrscheinlich nachts einen Samenerguss zu bekommen und morgens mit einer Morgenlatte aufzuwachen (vgl. Henning/Bremer-Olszewski 2012, S. 133 - 136).

Oft werden Jugendliche nicht rechtzeitig aufgeklärt, beziehungsweise die Erklärungen werden nicht verstanden und die Menarche oder erste Pollution kommt überraschend (vgl. Schmetz 1998, S. 35). Dies kann auch Angst als Reaktion hervorheben und kontraproduktiv für die Bejahung des eigenen Körpers wirken.

Eine lustvolle Auseinandersetzung mit dem Körper bietet die Selbstbefriedigung. Diese wird heute überwiegend toleriert, sowohl der Nichtbehinderte als auch der Mensch mit Behinderung muss sich spätestens ab der Geschlechtsreife mit dem Geschlechtstrieb auseinandersetzen und lernen diesen zu steuern. Während die Masturbation in dem Intimbereich des Einzelnen als psychosomatische Entwicklung anerkannt ist, verstößt das Masturbieren in der Öffentlichkeit oder in Gruppen Situationen gegen das vorherrschende Normsystem. Aufgrund der teilweise nicht ausgebauten Schamgrenze ist es pädagogische Aufgabe, dem geistig Behinderten Wissen um Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbefriedigung zu vermitteln. Gegen Masturbation hinter der eigenen verschlossenen Tür ist nichts einzuwenden, wohingegen das Masturbieren im Unterricht nicht erwünscht ist. Immer wieder muss mit der Person der Unterschied von Öffentlichkeit und Privatsphäre besprochen werden. Rückzugsmöglichkeiten haben einen hohen Stellenwert im Bereich der Sexualität. Im Gegensatz zu der theoretischen Wissensvermittlung wird die praktische Anleitung zur Selbstbefriedigung kontrovers diskutiert und erfordert individuelle Fallbetrachtung (vgl. ebd., S. 36f.). „Aus pädagogischer Perspektive ist auch zu bedenken, daß[sic!] mit Selbstbefriedigung zumeist Probleme, die nichtsexueller Art sind, überdeckt werden. Isolation, die Verdrängung von Problemsituationen, das Fehlen sinnvoller und ansprechender Betätigungsmöglichkeiten z.B. können als eigentliche Ursachen in Frage kommen. Schon vor diesem Hintergrund ist ein pauschales Mißbilligen[sic!] nicht angebracht“ (ebd., S. 37).

„Je höher das Intelligenz-Niveau, umso eher ist mit der Hand als Werkzeug zu rechnen, je massiver die Retardierung umso primitiver wird der Vorgang, umso häufiger der Einsatz von Gegenständen, vor allem Spielzeug, häufig auch bleibt es beim Reiben der Genital-Region am Boden oder an Möbeln. Mit zunehmende Alter werden dann nicht selten Kleidungsstücke des gegengeschlechtlichen Elternteils oder der Geschwister eingesetzt. Für viele Angehörige wird Masturbation oft erst nach Jahren als solche erkennbar, wird häufig als «Anfall» angesehen, wobei der Zustand nach dem Orgasmus als postconvulsives Erschöpfungs-Stadium gedeutet wird“ (Rett 1981, S. 137).

Zudem wird von geistig Behinderten vor allem nach negativen Erlebnissen, Erfahrungen und Gefühlen masturbiert. Masturbation bietet hier eine Art ‘Ventil’ zur befristeten Verdrängung (vgl. ebd.).

Neben den auch lustvollen Erfahrungen mit dem eigenen Körper, werden in der Pubertät erste erotische Erfahrungen mit Gleichaltrigen gesammelt. Geschlechtsverkehr findet gegen die Ängste der Erwachsenen erst vergleichsweise spät, teilweise bei einer sehr stark ausgeprägten Behinderung gar nicht statt. Zuerst werden Kusserfahrungen gemacht und das Gefühl von nacktem Körperkontakt gehört zu den Höhepunkten der Erfahrungen. Im Gegensatz zu Nichtbehinderten wird behinderten Jugendlichen nur selten erotische Aufmerksamkeit zu Teil. Weder erleben sie sich selber als erotisch, noch bekommen sie entsprechendes Feedback von anderen. „Dadurch fehlt ihnen die entscheidende Gelegenheit, die Bejahung oder gar Bewunderung des eigenen Körpers durch einen Partner positiv zur Akzeptanz des eigenen Körpers und für den Aufbau eines Körperbewußtseins[sic!] zu nutzen“ (Walter 2005, S. 170).

In der Pubertät erhöht sich das Körperbewusstsein. „Nicht selten kommt es zum fast zwanghaften Vergleich mit Nichtbehinderten, zur Über-Identifikation und Idealisierung eines vollkommenen, aber letztlich unerreichbaren Körperschemas“ (ebd., S. 167). Bei Behinderten verändert sich der Körper wie bei Nichtbehinderten und wie oben beschrieben aufgrund von asynchronem Wachstum kommt es zu einer unförmigen Erscheinungsform, jedoch vergröbern sich bei Behinderten die schon vorhanden Auffälligkeiten. Dadurch werden sie auffälliger und leichter zu stigmatisieren. Erwachsene, ErzieherInnen und Eltern gehen schneller auf Distanz. Suizidgedanken sind durch jene Gedanken nicht selten (vgl. ebd., S. 167f.).

Hiermit soll die Skizze der körperlichen Veränderungen in der Pubertät abgeschlossen sein. Auf der anderen Seite müssen diese körperlichen Veränderungen seelisch verarbeitet werden. In der Jugendpsychologie wird letzterer Prozess Adoleszenz genannt. Um nach unserem sozio-kulturellem Verständnis erwachsen zu werden, müssen drei Aufgaben der Reife abgeschlossen werden. Jugendliche müssen körperlich, psychisch und sozial reif werden, um die Geschlechtsreife, die geistig-seelische Reife und Mündigkeit zu erlangen. Ziele sind die Übernahme von Geschlechterrollen, die emotionale und materielle Unabhängigkeit vom Elternhaus hin zur Selbstständigkeit (vgl. ebd., S. 160f). „Pubertät ist für jeden Jugendlichen ein leidvoller Prozeß[sic!] psychischer Umstrukturierung voller Erschütterungen und oft jäher Umbrüche im Gesamtverhalten“ (ebd., S. 162).

[...]

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung
Untertitel
Eine Fallstudie
Hochschule
Universität Augsburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
100
Katalognummer
V323527
ISBN (eBook)
9783668231603
ISBN (Buch)
9783668231610
Dateigröße
797 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sexualität, Sexualerziehung, Behinderung, Sonderpädagogik, Fallanalyse
Arbeit zitieren
Lisa Maria Neulist (Autor:in), 2015, Sexualerziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323527

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