Zur Entstehung von Magersucht. Ursachen, Entwicklung, persönliche Faktoren und Belastungen


Hausarbeit, 2015

19 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition

3. Geschichtliche Entwicklung

4. Gesellschaftliche Ursachen
4.1 Die Gesellschaft
4.2 Die Schule
4.3 Die Peergroups
4.4 Die Medien

5. Magersucht in der Familie
5.1 Zu den einzelnen Familienmitgliedern
5.1.1 Die Mutter
5.1.2 Der Vater
5.1.3 Die Geschwister

6. Persönliche Faktoren und Belastungen
6.1 Die Rolle der Pubertät
6.2 Leistungsdenken und Rivalität unter Gleichaltrigen
6.3 Die Rolle des Sports

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

Zu der Entstehung von Magersucht

1. Einleitung

Seit den letzten Jahren steigt die Anzahl der Menschen, die an Magersucht erkranken, stetig an. Mit der Zunahme der Betroffenen wächst auch das öffentliche Interesse des Themas. Die Veröffentlichungen reichen von Zeitschriftenartikeln über Erfahrungsberichte bis zu Fernsehreportagen. Das Krankheitsbild wurde erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts näher beschrieben, allerdings wird die Diagnose erst seit den letzten 50 Jahren gehäuft gestellt. Aus diesem Grund ist es nicht eindeutig, ob die Krankheit in der heutigen Gesellschaft tatsächlich häufiger auftritt oder ob sie aufgrund der steigenden Aufmerksamkeit vermehrt diagnostiziert wird. Es ist jedoch bekannt, dass sich die Idealwerte der Menschen bezüglich ihres äußeren Erscheinungsbildes verändert haben. Das heutige Idealbild wird durch das Idealgewicht bestimmt, welches eine Vielzahl der Menschen mit Diäten, Sport und Disziplin versucht zu erreichen oder zu halten. In der Vergangenheit wurde die Magersucht überwiegend bei Frauen diagnostiziert, allerdings erkrankten in den letzten Jahren immer mehr Männer an der Essstörung. Auffallend ist, dass das durchschnittliche Eintrittsalter in die Magersucht immer weiter sinkt. Schon junge Mädchen und Jungen verfügen über ein ausgeprägtes Körperbewusstsein und vergleichen sich mit Idolen oder Mitschülern. Sowohl das eigene Aussehen als auch das Wahrgenommen werden durch das Umfeld haben bei jungen Menschen einen hohen Stellenwert.

Grundsätzlich gelten Menschen als magersüchtig, die einen Body Mass Index (BMI) von weniger als 17,5 kg/m² haben bzw. das Körpergewicht 15 Prozent unter dem zu erwartendem Gewicht liegt. Des Weiteren zählt zu den diagnostischen Kriterien ein eigenständig herbeigeführter Gewichtsverlust durch die Vermeidung hochkalorischer Speisen, selbstinduziertes Erbrechen, das Benutzen von Abführmitteln, übertriebene körperliche Aktivitäten oder der Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika. Zudem haben Betroffene eine Körperschemastörung, das heißt, dass sie unter einer tief verwurzelten Angst dick zu werden leiden. Sollte die Anorexia zu Beginn der Pubertät eintreten, besteht die Gefahr einer Verzögerung oder Hemmung der pubertären Entwicklungsschritte (vgl. Fichter, 2009, S.15ff.).

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Anzahl der magersüchtigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland zwischen 0,3 Prozent und drei Prozent schwankt. Da sich Betroffene selbst oftmals gar nicht als krank betrachten ist es aber schwierig, in repräsentativen Studien eine konkrete Anzahl anorektischer Patientinnen und Patienten zu ermitteln. Die Prävalenz, also die Anzahl der Erkrankten insgesamt, liegt bei etwa einem Prozent (vgl. Schulte-Markwort/Zahn, S. 15f.).

Aber wie kommt es heutzutage dazu, dass vor allem junge Frauen eines der banalsten Grundbedürfnisse – das Essen – verweigern? Im Folgenden werde ich mich mit der Frage beschäftigen, welche gesellschaftlichen und persönlichen Ursachen und Bedingungen zu der Entstehung von Magersucht beitragen können.

2. Definition

Bei dem Versuch mögliche Gründe und Ursachen für die Entstehung von Magersucht zu entfalten ist es unerlässlich, Begriffe mit einzubeziehen, die in diesem Kontext von Bedeutung sind.

Die wissenschaftliche Bezeichnung für Magersucht lautet „Anorexia nervosa“ und ist dem Griechischen und Lateinischen zu entnehmen. „Anorexia“ bedeutet Appetitsverminderung bzw. Appetitlosigkeit, der Zusatz „nervosa“ weist darauf hin, dass die Krankheit psychische Ursachen hat.

Die Bezeichnung wurde 1874 von Sir William Gull eingeführt und hat sich in der medizinischen und wissenschaftlichen Literatur durchgesetzt. Dennoch weisen zahlreiche Autorinnen und Autoren, die den Begriff „Anorexia“ bzw. „Anorexia nervosa“ verwenden darauf hin, dass dies unter etymologischen Gesichtspunkten eine falsche Bezeichnung ist. Obwohl die Nahrungsaufnahme in manchen Fällen nahezu vollkommen eingestellt ist, leiden die Betroffenen nicht unter einem fehlenden Verlangen nach Nahrung oder an einem Mangel an Appetit. Vielmehr interessieren sich Magersüchtige geradezu zwanghaft für das Thema Essen. Dieses ausgeprägte Interesse zeigt sich zum Beispiel in dem Bekochen für andere (vgl. Bruch, 1993, Wardetzki, 2003).

Weiteren wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Betroffene dauerhaft Hunger oder Appetit haben. Demnach ist die Bezeichnung von Anorexia nervosa irreführend und ungenau. Dennoch benutzen wir diesen Terminus, um dem Sprachstil nicht allzu sehr zu verfremden. Neben dem Begriff Anorexia nervosa wird im deutschen Sprachgebrauch der Ausdruck Magersucht verwendet (vgl. Beyer, 2000). Allerdings sind Menschen mit anorektischem Verhalten nicht als süchtig im Sinne des klassischen Suchbegriffs[1] zu definieren. Demnach beinhaltet auch dieser zweite Ausdruck bedenkliche Implikationen. Dennoch findet auch dieser – aus oben genannten Grund – Anwendung im heutigen Sprachgebrauch.

3. Geschichtliche Entwicklung

Bereits in der Antike und im Mittelalter traten erste beispielhafte Anzeichen auf, die mit der später diagnostizierten Magersucht gleichzusetzen sind. Der griechische Arzt Hippokrates (460 v. Chr. – 377 v. Chr.) war zum Beispiel fest von der heilenden Wirkung des Fastens als Reinigung der Seele überzeugt. Des Weiteren glaubte er, dass durch den Nahrungsverzicht der Körper von Krankheiten und Giften befreit wurde (vgl. Reich, 2003, S.1).

Laut Aufzeichnungen des Mönchs Wolfhard begann die Leibeigne Friderada im Jahr 895 ihre Nahrungsaufnahme auf Milch und Käse zu beschränken. Parallel dazu ekelte sich Friderada immer mehr vor dem Essen, was sie lebensgefährlich abmagern ließ. Als ihr eine Heilungsmöglichkeit angeboten wurde, schlug die junge Frau dieses aus (vgl. Habermas, 1994, S. 51f.).

Überlieferungen sind zu entnehmen, dass es im 13. Jahrhundert Frauen gegeben hat, die sich durch das Fasten und Eintreten ins Kloster einer Zwangsheirat oder körperlichen Übergriffen von Männern entzogen haben. Darüber hinaus war das Hungern der „Heiligen Anorektikerinnen“ ein Weg, um Autonomie zu erlangen (vgl. Bell, 1985, S. 149).

Beleuchtet man das Mittelalter näher, ist das Fasten vorrangig im Rahmen eines religiösen Weltbildes zu verstehen. Frauen in Klöstern versuchten durch ein anhaltendes Hungern eine Befreiung vom weiblichen Körper und der weiblichen Rollenzuschreibung zu erlangen. Der Verzicht der Nahrungsaufnahme hat sie unterstützt, eine hohe Mauer um das eigene Ich zu bauen und sich somit vor unerträglicher Einmischung von außen zu schützen (vgl. Braun, 2003, S. 217).

Die erste ausführliche Charakteristik des Phänomens des Hungerns ist dem englischen Arzt Richard Morton (1637 – 1698) zu entnehmen. In seinem 1689 veröffentlichen Werk „Phthisiologia, seu Exercitationes de Phthisis“, benutzt er die Bezeichnung „nervöse Atrophie“[2] für eine Form von Schwindsucht, deren begleitende Symptome Verdauungsbeschwerden sowie Appetitsverlust waren. Morton berichtet in seinem Buch von zwei Fällen der Sucht nach Hunger und beschreibt Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, Appetitslosigkeit, Verstopfung und lebensgefährliche Abmagerung. Des Weiteren spricht Morton die kennzeichnende Gleichgültigkeit der abgemagerten Menschen in Bezug auf ihren Zustand und die Heilung an. Entsprechend dieser Erläuterungen ist zu entnehmen, dass es sich bei dem vorgestellten Kuriosum um Anorexia nervosa handelt.

1873 wurde Anorexia nervosa erstmalig als eigenständige Krankheit mit einer manifest definierten Symptomatik anerkannt. Der Vorreiter, welcher den freiwilligen Nahrungsverzicht in nahezu identischer Weise beschrieben haben, war Ernest Charles Lasègue. Lasègue, Professor für klinische Medizin an der Universität in Paris, beschrieb Anfang 1873 ein detailliertes Bild der Anorexia nervosa. Zu dem Zeitpunkt ging er bereits auf die hohe körperliche Aktivität der fastenden Betroffenen und deren fehlende Krankheitseinsicht ein (vgl. Selvini Palazzoli, 1998, S. 18ff.).

William Withey Gull, Chirurg in London, veröffentlichte ein Jahr darauf einen Bericht mit verschiedenen Beispielfällen. In seinen Ausführungen betrachtete er die Magersucht als eine „Fehlfunktion der gastrischen Zweige der pneumogastrischen Nerven, die von einer Hysterie erinnernden psychischen Verfassung begleitet war“ (ebd.). Dementsprechend legte Gull dar, dass emotionale Faktoren für funktionale Störungen verantwortlich sein können (vgl. Habermas, 1994, S. 67; Selvini Palazzoli, 1998, S. 21).

1914 kam es zu einer neuen Betrachtung und einem anderen Verständnis der Anorexia nervosa. Morris Sommonds, Hamburger Mediziner, beschrieb zu dem Zeitpunkt Fälle von Kachexie[3], die aufgrund einer Atrophie des Vorderlappens der Hypophyse[4] tödlich verliefen. Typische Fälle der Anorexia nervosa wurden von 1916 – 1940 als Hypophysenschwäche oder als sogenannte „Simmondssche Krankheit“ behandelt (vgl. ebd.; Gast, 1989, S.10).

Seit Ende der dreißiger Jahre sind zahlreiche, unterschiedliche wissenschaftliche Veröffentlichungen u.a. von Selvini Palazzoli (Erstauflage 1963), Minuchin und Fishman (Erstauflage 1983) und Weber und Stierlein (Erstauflage 2001) erschienen, die „das Wirrwarr“ der unterschiedlichen Auffassungen von Anorexia nervosa hinter sich lassen. Dennoch wird in der Gesamtbetrachtung deutlich, wie weitreichend die damaligen Auffassungen die Forschungen hinsichtlich der Selbstaushungerung bis ins 21. Jahrhundert beeinflusst haben.

4. Gesellschaftliche Ursachen

Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht erfindet jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit. Diese erfundene Wirklichkeit und somit auch die konstruierten „inneren Landkarten“ werden durch die unterschiedlichsten Erwartungen, Normen und Werte beeinflusst, welche die Gesellschaft aufstellt. Nahezu alle Elternteile orientieren sich (wenn auch unbewusst) an diesen Normen und Werten und vermitteln diese ihren Kindern (vgl. Weber/Stierlein, 2003, S. 30). Aus diesem Grund erscheint es mir sinnvoll, nicht nur den hungernden Menschen an sich zu betrachten, sondern auch dessen Eingebunden sein in mögliche größere Zusammenhänge.

Je nach Interesse und Perspektive des jeweiligen Beobachters kann jedes System in seinen Zusammenhängen mit übergeordneten, untergeordneten oder benachbarten Systemen gesehen werden (vgl. Willke, 2000, S. 54). Jedoch muss beachtet werden, dass nicht alle Umweltbereiche von gleicher Bedeutung für das jeweilige System sind. Auf das System einer Familie, in welcher sich eine Person anorektisch verhält, wirken insbesondere die Gesellschaft, die Schule, die Peergroups und die Medien als relevante Umwelten ein.

4.1 Die Gesellschaft

Verschiedene Forschungen und Untersuchungen zeigen, dass der Entschluss zur Selbstaushungerung in Verbindung mit westlichen Lebensformen steht (Herpertz/Senf, 2000, S.157). Die Krankheit tritt dementsprechend vermehrt in Gesellschaften auf, in denen Nahrung frei zugänglich ist und bzw. oder ein Überfluss herrscht wie es zum Beispiel in industrialisierten Ländern der Fall ist (vgl. Herzog, 2002, S.380). Entsprechend der oben genannten Untersuchungs- und Forschungsergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass ein reduziertes Essverhalten in einem großen Maße mit dem jeweiligen Kulturkreis im Zusammenhang steht. Wie man isst, mit wem die Speisen eingenommen werden und zu welcher Tages- oder Nachtzeit dieses stattfindet, wird von Kultur zu Kultur in unterschiedlichen Regelsystemen mehr oder weniger festgelegt (vgl. Herzog, 2002, S. 375). Vor allen in den hoch industrialisierten Ländern, in denen ein großer Nahrungsmittelüberschuss besteht, unterwerfen sich immer mehr Menschen – insbesondere Mädchen und Frauen – dem „Schlankheitsideal“ (vgl. Herpertz/Senf, 2000, S. 157; Brunner/Resch, 2004, S. 576).

[...]


[1] Unter Sucht bzw. Abhängigkeit wird allgemein ein unbeherrschbares Verlangen bzw. ein Angewiesen sein eines Menschen auf bestimmte Substanzen oder Verhaltensweisen verstanden (Pschyrembel, 1998 S.3).

[2] Die Bezeichnung Atrophie (griech.) bedeutet übersetzt Ernährungsmangel (Psychrembel, 1998, S. 145).

[3] Die Bezeichnung Kachexie hat griechischen Ursprung und bedeutet übersetzt Auszehrung, schlechter Zustand oder schwere Form der Abmagerung (Psychrembel, 1998, S. 789).

[4] Die Hypophyse ist ein in der knöchernen Schädelbasis lokalisiertes, aus verschiedenen Anteil zusammengesetztes, weintraubengroßes Organ (Psychrembel, 1998, S. 727).

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zur Entstehung von Magersucht. Ursachen, Entwicklung, persönliche Faktoren und Belastungen
Hochschule
Hochschule Hannover
Note
2,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
19
Katalognummer
V323609
ISBN (eBook)
9783668227675
ISBN (Buch)
9783668227682
Dateigröße
627 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entstehung, magersucht, ursachen, entwicklung, faktoren, belastungen
Arbeit zitieren
Marina Kupczyk (Autor:in), 2015, Zur Entstehung von Magersucht. Ursachen, Entwicklung, persönliche Faktoren und Belastungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323609

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