Der kantische Rechtsbegriff im Sozialstaat und in der Informationsgesellschaft


Hausarbeit, 2015

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Die Fragestellung

2 Der kantische Rechtsbegriff – ein zusammenfassender Überblick
2.1 Systematische Einordnung – Freiheit, Moral, Recht
2.2 Inhalt des kantischen Rechtsbegriffs
2.3 Die Zwangsbefugnis im Recht

3 Kann der moderne Sozialstaat aus dem kantischen Rechtsbegriff abgeleitet werden?
3.1 Der Begriff des Sozialstaats
3.2 Kants Rechtsposition zum staatlich Sozialen
3.3 Sind die modernen Sozialgesetze legitim im Sinne des kantischen Rechtsbegriffs?

4 Kann das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem kantischen Rechtsbegriff abgeleitet werden?
4.1 Der Begriff des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung
4.2 Kants Rechtsposition zum informationellen Selbstbestimmungsrecht
4.3 Ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung legitim im Sinne des kantischen Rechtsbegriffs?

5 Resumé

6 Literaturverzeichnis

1 Die Fragestellung

Immanuel Kant hat vor mehr als 200 Jahren „Die Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ verfasst[1]. Sein Ziel war es, innerhalb der Metaphysik der Sitten nicht eine „Theorie des Rechts“ sondern ein „System der Prinzipien des Rechts“[2] zu schaffen. Es ging ihm dabei um die Begründung von Staat und Rechtswesen aus den Prinzipien der reinen Vernunft[3]. Da diese Prinzipien gerade nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden, beanspruchen sie von Kultur, Ort und Zeit unabhängige Geltung.

Davon streng zu unterscheiden sind die Ausübung und Umsetzung dieser Prinzipien durch Justiz und Politik, deren Geschäft es ist, „dem Rechtsbegriffe Effekt zu verschaffen.“[4]. Die Ausübung des Rechtsbegriffs durch Legislative und Judikative ist - im Gegensatz zu diesem selbst - sehr wohl kultur-, ort- und zeitabhängig. So verwundert es nicht, dass die Freie und Hansestadt Hamburg zum Beispiel kein Almgesetz hat, während es ein solches im Freistaat Bayern seit 1932 gibt[5]. Kant konnte die beiden großen gesellschaftlichen Entwicklungen nach ihm, die das Zusammenleben der Menschen von Grund auf und nachhaltig verändern sollten, nicht vorhersehen. Seine Philosophie konnte deshalb ohne das Erleben der industriellen Revolution des 19. Jahr-hunderts und der Computerrevolution des 20. Jahrhunderts auskommen. Von den gesellschaftlichen Umwälzungen, die damit verbundenen sein sollten, war im Königsberg von 1797[6] nichts zu spüren. Trotzdem müssten wegen ihrer Universalität und Absolutheit die kantischen Rechtsprinzipien auch in dem von den genannten Entwicklungen geprägten Sozialstaat und in der Informationsgesellschaft Geltung beanspruchen können. Ob das tatsächlich so ist, ist Thema dieser Arbeit.

Im Folgenden wird es deshalb darum gehen, den Rechtsbegriff Kants zusammenfassend näher zu erläutern. In einem zweiten Schritt wird dann untersucht,

- in wieweit sich Leistungen des Sozialstaats aus dem kantischen Rechtsbegriff ableiten lassen oder gar im Widerspruch zu ihm stehen,
- ob sich aus dem Rechtsbegriff Kants Datenschutzgesetze der heutigen Informationsgesellschaft herleiten lassen oder eher nicht.

Im Ergebnis werde ich dazu kommen, dass sich aus dem liberalen Menschenbild[7] resultierenden Rechtsbegriff Kants kein Rechtsanspruch des bedürftigen Individuums auf staatliche Sozialleistungen ergibt. Entsprechendes gilt für das moderne Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich jedenfalls in seiner öffentlich-rechtlichen Ausprägung, also im Verhältnis vom Menschen zum Staatswesen, nicht aus den kantischen Rechtsprinzipien begründen lässt.

2 Der kantische Rechtsbegriff – ein zusammenfassender Überblick

2.1 Systematische Einordnung – Freiheit, Moral, Recht

Kants Rechtslehre ist Teil seiner Schrift „Die Metaphysik der Sitten“, die aus zwei eigenständigen Werken besteht, nämlich der Rechtslehre und der Tugendlehre. Wegen dieser sich schon äußerlich aufdrängenden Ei-genständigkeit der Werke unter einem gemeinsamen Titel, ist das Verhältnis von Kants Moralbegriff einerseits und seinem Rechtsbegriff andererseits zu unterscheiden. Ausgangspunkt für beide ist die nach Kant angeborene Freiheit des Menschen:

Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“[8] (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Kants „Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff“[9], der unabhängig von jeglicher Erfahrung die Würde des Menschen ausmacht. Dieser angeborenen Freiheit kommt eine innere und eine äußere Dimension zu; erstere resultiert aus einer intrinsischen Motivation, während zweitere sich auf die äußere Handlungssphäre des Menschenbezieht[10]. Diese Systematik des Freiheitsbegriffs findet ihr Pendant in den kantischen Begriffen von Moral und Recht, in seiner Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten[11]:

- Als innere Instanz schränken moralische Gesetze die durch Neigungen motivierte Willkür ein. Moralische Gesetze können freilich „Nur so fern sie als a priori gegründet und notwendig eingesehen werden können…“[12] Geltung beanspruchen.
- Das Recht dagegen begrenzt durch die äußere Gesetzgebung die Handlungsfreiheit. Summarisch heißt es bei Kant: „Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das tut das ius) sondern nur für die Maximen der Handlungen.”[13].

Treffend fasst Ludwig zusammen:

„Befolgung der (Gesetze der) juridischen Gesetzgebung (d.h. Befolgung der Gesetze aufgrund anderer Triebfedern als der Idee der Pflicht) ist Legalität; Befolgung der (Gesetze der) ethischen Gesetzgebung ist Moralität. Die moralischen Handlungen bilden eine Teilklasse der legalen Handlungen: Legal ist jede Befolgung der moralischen Gesetze, moralisch ihre Befolgung, sofern sie darüber hinaus aus Pflicht geschieht.“[14]

2.2 Inhalt des kantischen Rechtsbegriffs

Inhaltlich erfasst der kantische Rechtsbegriff laut der „Tafel der Einteilung der Rechtslehre“[15] die beiden großen Teile ‚Privatrecht‘ und ‚öffentliches Recht‘.

In der vorliegenden Arbeit werden nur wichtige Grundsatzfragen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts – nämlich des Staatsrechts - erörtert. Die Darlegung der gesamten Rechtslehre Kants ist dagegen nicht Gegenstand der folgenden Überlegungen.

Entscheidend ist jedoch die über allem stehende Formel des kantischen Rechtsbegriffs:

„Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ [16]

Danach erfasst der Rechtsbegriff

- „…nur das das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere…“[17]
- „…nicht das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des anderen…“[18]
- lediglich die „Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür […] und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse.“[19]

Mit Kants Rechtsbegriff lassen sich laut Höffe jegliche positiven Gesetze auf ihre Legitimität hin überprüfen[20]. Just von dieser Möglichkeit soll später unter 3.3 und 4.3 Gebrauch gemacht werden.

2.3 Die Zwangsbefugnis im Recht

Bei Kant ist die Befugnis, auch körperlichen Zwang anzuwenden, konstitutiver Bestandteil des Rechts – allerdings nur insoweit, als der Zwang eine Reaktion auf einen vorausgehenden unrechtmäßigen Zwang darstellt. Unrechtmäßig ist derjenige Zwang, der ein „Hindernis oder Widerstand“ gegen die Freiheit ist[21]. Rechtmäßig ist umgekehrt derjenige Zwang, der Unrecht abwehrt[22].

3 Kann der moderne Sozialstaat aus dem kantischen Rechtsbegriff abgeleitet werden?

3.1 Der Begriff des Sozialstaats

In der aktuellen deutschen Verfassung wird die Bundesrepublik Deutschland als „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ bezeichnet[23], ohne dass im Grundgesetz selbst eine Definition dafür zu finden wäre. Deshalb gilt dieser Verfassungsgrundsatz als einigermaßen „diffus“[24] und bietet folglich Raum für die unterschiedlichsten Interpretationen – je nach politischem Standpunkt.

Historisch stammt der Begriff von Lorenz von Stein, der 1850 ein „Königtum der sozialen Reform“ forderte. Der „sociale Staat“ habe unter anderem die Aufgabe, die mit der „Industrialisierung verbundenen Formen der Armut zu mildern, um sowohl die Entstehung allzu großer sozialer Ungleichheiten und Ungleichgewichte zu verhindern als auch seine eigene politische Stabilität zu sichern.“[25]

Bemerkenswerterweise kommt der Begriff des Sozialstaats nur im deutschsprachigen Raum vor; international spricht man vom ‚Wohlfahrtsstaat‘[26]. Nach aktuellem, bundesrepublikanischen Verfassungsverständnis steht jedem Bürger ein individueller Rechtsanspruch zur Sicherung seines Existenzminimums zu, der sich dem Grundsatz nach unmittelbar aus der Menschenwürde ableitet. Das Bundesverfassungs-gericht hat zum Beispiel in seiner ‚Hartz-IV‘-Entscheidung vom 9. Februar 2009 geurteilt:

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozial-staatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“[27]

Aus sozialpolitischer Sicht ist in diesem Zusammenhang der quantitative Aspekt interessant: So hat Deutschland für Sozialausgaben zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) verfügbar gemacht, zu Beginn des 21. Jahrhundert beläuft sich die Zahl auf 30 Prozent des BIP[28].

3.2 Kants Rechtsposition zum staatlich Sozialen

Bei Kant finden sich nur rudimentär sozialstaatliche Ansätze. Er schreibt in den Anfangsgründen der Rechtslehre:

„Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten. Von Staatswegen ist also die Regierung berechtigt, die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach nicht sind, herbei zu schaffen…“[29]

Nach diesem Textausschnitt gibt es allerdings kein ausdrückliches, individuelles, gar mit Gewalt erzwingbares Recht des Bedürftigen auf staatliche Leistungen. Unter seinem Rechtsbegriff hat Kant für Habenichtse keinen Platz. Im Zusammenhang mit „frommen Stiftungen“ spricht Kant gar von „Erwerbmitteln für faule Menschen“[30]. Wenn sich der Staat aber gleichwohl der Armenfürsorge annimmt, so liegt das ausschließlich in seinem Eigeninteresse und seiner Selbsterhaltung. Kant meint, der Staat müsse notleidende Bürger mit dem Notwendig-sten versorgen, andernfalls sei seine eigene Stabilität gefährdet[31].

Diese Position entspricht dem formalen kantischen Freiheitsgedanken und Zwangsrecht, wonach die Abwehr von Unrecht legitim ist[32]. Demnach darf sich der besitzende Reiche notfalls mit Gewalt gegen die unmittelbare Forderung des Armen auf Überlassung des Nötigsten wehren. Denn der Anspruch des Notleidenden auf den fremden Besitz ist ein äußerer Vorgang, bei dem es auf die intrinsische Motivation[33] – also das Bedürfnis, Hunger stillen zu wollen- nicht ankommt.

Andererseits haben sich bei Kant die Bürger als freie Vernunftwesen selbst der Staatsgewalt unterworfen. Deshalb haben es die Besitzenden hinzunehmen, wenn ihnen der Staat - nicht aber der Minderbemittelte in persona - Beiträge zur Armenfürsorge abverlangt.

3.3 Sind die modernen Sozialgesetze legitim im Sinne des kantischen Rechtsbegriffs?

Nach dem modernen Sozialstaatsgedanken steht dem bedürftigen Bürger ein persönlicher, notfalls gerichtlich durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Unterstützung in Not zu. Ein derartiger Rechtsanspruch ist, wie wir gerade gesehen haben, mit dem kantischen Rechtsbegriff unvereinbar, weil er die Handlungsfreiheit des Anspruchsgegners ohne Legitimation einschränkt.

Davon streng logisch zu unterscheiden ist eine Armenfürsorge des Staates, die dieser gewährt, ohne dass sie auf einer Rechtsposition des Bedürftigen beruht. Insofern haben wir es mit einer willkürliche Entschließung der Staatsgewalt zu tun, die zwar reflexartig der Wohlfahrt des Bettlers nützt, ihm aber kein Teilhaberecht einräumt. Das wird in Teilen der Sekundärliteratur, die aus dem kantischen Rechtsbegriff sozialstaatliche Ansprüche des Bedürftigen herleiten möchten, oft nicht auseinandergehalten[34].

4 Kann das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem kantischen Rechtsbegriff abgeleitet werden?

4.1 Der Begriff des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kodifiziert. Es handelt sich vielmehr um eine Rechtsfortbildung durch Richterrecht[35]: Das Bundesverfassungsgericht hat 1983 im sogenannten Volkszählungsurteil das ,Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung‘ als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz) und der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz statuiert. Der wegweisende 1. Leitsatz lautet wörtlich:

„Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“[36]

In seiner Begründung bezieht sich das Gericht auf das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Das sieht es als gefährdet an, wenn mittels elektronischer Datenverarbeitung Einzeldaten über persönliche Verhältnisse zeitlich und örtlich beliebig speicherbar sind, und so aus verschiedenen, vernetzten Datenbanken ein Persönlichkeitsprofil erstellt werden kann. Das Gericht sieht die Gefahr, dass ein Betroffener weder die Richtigkeit dieser Daten überprüfen noch deren weitere Verwendung steuern kann. Das aber schränkt die verfassungsrechtlich geschützte Entscheidungsfreiheit des Einzelnen ein, weil er in Unkenntnis dessen, was staatliche Organe und andere über ihn wissen, sich im öffentlichen Raum deshalb möglicherweise so gerieren wird, dass sein Verhalten nicht auffällt:

„Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten.“ [37]

Umgekehrt ist aber nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Demokratie auf derartige Mitwirkung ihrer Bürger angewiesen.

4.2 Kants Rechtsposition zum informationellen Selbstbestimmungsrecht

Dass man bei Kant unmittelbar zur elektronischen Datenverarbeitung nichts findet, versteht sich von selbst. Da aber der kantische Rechtsbegriff vernunftgeboren ist und daher immer und überall gilt, müsste sich selbst das moderne Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus ihm herleiten lassen.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, ob es im Zusammenhang mit der informationellen Selbstbestimmung um ein „Verhältnis von Menschen zu Menschen“ geht[38]. Nur dann liegt überhaupt ein im Rahmen des Rechtsbegriffs zu behandelndes Thema vor. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht nach der derzeitigen deutschen Rechtslage schützt vor

- unzulässiger Sammlung, Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Staatsgewalt
- unzulässiger Sammlung, Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten durch Private (in der Regel kommerzielle Unternehmen).

Da nach Kant gilt: „der Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und keine (Zwangs-)Pflichten.“[39], folgt daraus, dass die Staatsgewalt kein Rechtsgenosse ist, von dem man rechtlich etwas fordern dürfte. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht von 1983 wurde aber gerade deshalb verfassungsrechtlich konstituiert, damit der einzelne der Staatsgewalt bei der elektronischen Datenverarbeitung nicht schutzlos ausgeliefert ist. Da sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung insoweit gegen die Obrigkeit richtet, ist es schon aus diesem Grunde mit dem kantischen Rechtsbegriff inkompatibel.

Dagegen können Unternehmen in privater Rechtsform, wie zum Beispiel Vereine, Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Aktiengesellschaften, ohne weiteres in rechtliche Verhältnisse mit Menschen im Sinne Kants eintreten. Derartige Gebilde werden nämlich durch ,Menschen‘ (Geschäftsführer beziehungsweise Vorstände) repräsentiert, die die Rechte und Pflichten jener Gebilde für diese wahrnehmen. Es sind damit Mitmenschen, deren Verhältnisse untereinander auch im Hinblick auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht nach Maßgabe des kantischen Rechtsbegriffs auf ihre Legitimität hin untersucht werden können.

4.3 Ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung legitim im Sinne des kantischen Rechtsbegriffs?

Da die Staatsgewalt bei Kant, wie bereits ausgeführt, keinerlei Pflichten hat, kann sie nicht Anspruchsgegner irgendeines bürgerlichen Rechts sein . Damit kann man nach Kant von der Staatsgewalt nicht verlangen, dass sie ihre eigene Sammlung, Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten unterlässt oder auch nur einschränkt.

Dagegen stehen private Unternehmen zu einer Person im „Verhältnis von Menschen zu Menschen“. Deshalb ist es in dieser ‚bürgerlichen Fallkonstellation‘ möglich, die äußere Willkürfreiheit des einen auf die formale widerspruchsfreie Übereinstimmung mit der äußeren Willkür-freiheit aller anderen abzuprüfen. Konkret stellt sich hier also die Frage, ob das Sammeln, Speichern und Verwenden von fremden persönlichen Daten ein Gebrauch von Freiheit ist, der die davon Betroffenen in ihrer Willkür tangiert. Unter diesen Umständen wären Datenschutzgesetze legitim, weil auf diese Weise Datenverarbeitung eingeschränkt und die Freiheit der Betroffenen wieder hergestellt würde. Umgekehrt wäre ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung ungerechtfertigt, wenn es eine Datenverarbeitung verböte, die die Willkürfreiheit anderer in keiner Weise limitiert. Dann wäre das Recht auf informationelle Selbstbestimmung selbst ein Hindernis der Freiheit und damit Unrecht.

In sachlicher Hinsicht greift der private Datensammler in keiner Weise in die Handlungsfreiheit des ‚Betroffenen‘ ein. Der weiß häufig nicht einmal davon, dass Informationen über seine Person erfasst werden und was mit ihnen geschieht. Wie sollte er davon also betroffen sein? Insofern fällt es schwer, in der Sammlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten nicht eine Bedingung zu sehen, unter der „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ – mithin also rechtens ist.

Anders ist die Verwendung der ‚Ergebnisse‘ der Datenverarbeitung zu beurteilen. Wer zum Beispiel mittels Datenverarbeitung ein Persönlichkeitsprofil erstellt hat und dieses nutzt, etwa um den Betroffenen gezielt mit Werbung zu behelligen, tangiert dessen Willkürfreiheit. Soweit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung davor schützt, ist es nach Kant ohne weiteres legitim.

5 Resumé

Kant hat weder die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts noch die Medienrevolution des 20. und 21. Jahrhunderts erlebt. Gleichwohl stellt der kantische Rechtsbegriff ein Instrumentarium bereit, mit dem heutige Gesetze nach Kant auf ihre Legitimität hin geprüft werden können. Das ist in der vorliegenden Arbeit exemplarisch an Hand moderner Sozial- und Datenschutzgesetze geschehen. Im Ergebnis hat sich gezeigt, dass

- nach dem kantischen Rechtsbegriff, dem Bedürftigen – anders als nach dem deutschen Sozialhilferecht – kein individueller Anspruch auf Hilfe zusteht. Allerdings hat der Staat bei Kant ein Eigeninteresse, die Not von Bürgern zu lindern.
- das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber der öffentlichen Gewalt nicht gerechtfertigt ist, weil man als Bürger nach Kant den Staat nicht in die Pflicht nehmen kann.

Gegenüber Privaten ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur insoweit legitim, als es die Verwendung personenbezogener Daten zur Wahrung der Willkürfreiheit der Betroffenen limitiert. Nicht legitimiert ist dagegen ein Gesetz, das bereits die Erhebung und Verarbeitung persönlicher Daten einschränkt, weil dadurch die Handlungsfreiheit anderer nicht berührt wird.

Diese Ergebnisse spiegeln Kants liberales Menschen- und Staatsverständnis wider, wie er es auch in „Über den Gemeinspruch…“ formuliert. Demnach ist „.das öffentliche Heil […] gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert: wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht […] dem Rechte anderer Mituntertanen, Abbruch tut.“[40].

Angesichts des gesellschaftlichen Wandels durch globale Industrialisierung und Digitalisierung, vor dem der Mensch nicht fliehen kann, bleibt der kantische Rechtsbegriff freilich hinter den Anforderungen zurück, die heute zum Kanon der Menschenrechte gehören. Insofern enthalten die Rechtsprinzipien Kants zwar notwendige aber nicht hinreichende Bedingungen für eine aktuelle Grundrechtecharta.

6 Literaturverzeichnis

Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 15. Dezember 1983, Aktenzeichen 1 BvR 209/83

Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 09. Februar 2010 – Aktenzeichen BvL 1/09.

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23.12.2014 (Bundesgesetzblatt I Seite 2438)

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Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. in Kant, Immanuel: Moralische Schriften | Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe. Leipzig 1920.

Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. 3. Auflage. Berliner Ausgabe 2014.

Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. in Kant, Immanuel: Moralische Schriften | Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe. Leipzig 1920.

Kott, Sandrine: Sozialstaat und Gesellschaft | Das deutsche Kaiserreich in Europa. Göttingen 2014.

Kühnemund, Burkhard: Eigentum und Freiheit -Ein kritischer Abgleich von Kants Rechtslehre mit den Prinzipien seiner Moralphilosophie. Kassel 2008.

Ludwig, Bernd: Kants Rechtslehre | Kant-Forschungen Band 2. Hamburg, 2. Auflage 2005.

Meyer, Thomas: Kant und die Links-Kantianer | Liberale Tradition und soziale Demokratie. in: Kant im Streit der Fakultäten. Herausgegeben von Volker Gerhardt. Berlin 2005.

Ossenbühl, Fritz: Gesetz und Recht - Die Rechtsquellen. in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland | Band V Rechtsquellen, Organisation, Finanzen. Herausgegeben von Josef Isensee und Paul Kirchhof. Heidelberg 2007.

Park, Kap Hyun: Kant über das Erhabene | Rekonstruktion und Weiterführung der kritischen Theorie des Erhabenen Kants. Würzburg 2009.

Seeleib-Kaiser, Martin: Sozialstaatskonzeptionen im Wandel der Zeit. in: Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert | Ökonomische Anforderungen, europäische Perspektiven, nationaler Entscheidungsbedarf | Ein Werkstattbericht. Herausgegeben von Gisela Färber und Jürgen Schupp. Münster 2005.

[...]


[1] Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. in Kant, Immanuel: Moralische Schriften | Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe. Leipzig 1920. Seiten 305ff.

[2] Höffe, Otfried: Immanuel Kant. 7., überarbeitete Auflage. München 2007. Seite 215.

[3] Höffe, Otfried: ibidem.

[4] Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. In Kant, Immanuel: Moralische Schriften | Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe. Leipzig 1920. Seite 700.

[5] Siehe „Gesetz über den Schutz der Almen und die Förderung der Almwirtschaft“ vom 28. April 1932, zuletzt geändert zum 1.Januar 2002. München 2002. Bayerische Rechtssammlung (BayRS) 7817-2-E.

[6] Das Erscheinungsjahr von „Die Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“

[7] Vergleiche hierzu Meyer, Thomas: Kant und die Links-Kantianer | Liberale Tradition und soziale Demokratie. In: Kant im Streit der Fakultäten. Herausgegeben von Volker Gerhardt. Berlin 2005. Seiten 171 f.

[8] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 344.

[9] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 325.

[10] Vergleiche Falk, Johanna: Freiheit als politisches Ziel | Grundmodelle liberalen Denkens bei Kant, Hayek und Böckenförde. Frankfurt am Main 2012. Seite 46.

[11] Park, Kap Hyun: Kant über das Erhabene | Rekonstruktion und Weiterführung der kritischen Theorie des Erhabenen Kants. Würzburg 2009. Seite 208.

[12] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 318.

[13] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 523.

[14] Ludwig, Bernd: Kants Rechtslehre | Kant-Forschungen Band 2. Hamburg, 2. Auflage 2005. Seite 90.

[15] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 312.

[16] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 335.

[17] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 335.

[18] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 335.

[19] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 335.

[20] Höffe, Otfried: ibidem. Seite 221.

[21] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 336.

[22] Vergleiche Höffe, Otfried: Der kategorische Rechtsimperativ - „ Einleitung in die Rechtslehre“. In: Immanuel Kant | Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Herausgegeben von Otfried Höffe. Berlin 1999. Seite 57.

[23] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. Artikel 20 Absatz 1.

[24] So auch Heinig, Hans Michael: Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit | Zur Formel vom „sozialen“ Staat in Art. 20 Abs. 1 GG. Tübingen 2008. Seite 11.

[25] Zitiert nach Kott, Sandrine: Sozialstaat und Gesellschaft | Das deutsche Kaiserreich in Europa. Göttingen 2014. Seite 135.

[26] Seeleib-Kaiser, Martin: Sozialstaatskonzeptionen im Wandel der Zeit. In: Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert | Ökonomische Anforderungen, europäische Perspektiven, nationaler Entscheidungsbedarf | Ein Werkstattbericht. Herausgegeben von Gisela Färber und Jürgen Schupp. Münster 2005. Seite 10.

[27] Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 09. Februar 2010 – Aktenzeichen BvL 1/09. 1. Leitsatz.

[28] Seeleib-Kaiser, Martin: ibidem. Seite 11f.

[29] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 448.

[30] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 449.

[31] Vergleiche anstelle vieler Hain, Karl Eberhard: Wie wird Freiheit heute rechtlich geordnet? Rechtsphilosophie nach Kant. In: Nach Kant: Erbe und Kritik. Herausgegeben von Ian Kaplow. Münster 2005. Seite 214.

[32] Vergleiche oben 2.3.

[33] Vergleiche oben 2.2, 2. Spiegelstrich.

[34] So zum Beispiel bei Kühnemund, Burkhard: Eigentum und Freiheit -Ein kritischer Abgleich von Kants Rechtslehre mit den Prinzipien seiner Moralphilosophie. Kassel 2008. Seite 175. oder genauso wenig bei Friedrich, Rainer: Eigentum und Staatsbegründung in Kants Metaphysik der Sitten. Berlin 2004. Seite 52.

[35] Zum Begriff vergleiche Ossenbühl, Fritz: Gesetz und Recht - Die Rechtsquellen. in Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland | Band V Rechtsquellen, Organisation, Finanzen. Herausgegeben von Josef Isensee und Paul Kirchhof. Heidelberg 2007. Seite 160 f.

[36] Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 15. Dezember 1983, Aktenzeichen 1 BvR 209/83.

[37] Bundesverfassungsgericht: ibidem. Randnummer 172.

[38] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 348.

[39] Kant, Immanuel: ibidem. Seite 440.

[40] Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. 3. Auflage. Berliner Ausgabe 2014. Seite 23.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der kantische Rechtsbegriff im Sozialstaat und in der Informationsgesellschaft
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Lehrstuhl für Philosophie II)
Veranstaltung
Seminar Freiheit, Recht, Macht. Philosophische Grundlegung der Rechtslehre
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
16
Katalognummer
V336484
ISBN (eBook)
9783668263499
ISBN (Buch)
9783668263505
Dateigröße
623 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rechtsbegriff, sozialstaat, informationsgesellschaft
Arbeit zitieren
Götz-Ulrich Luttenberger (Autor:in), 2015, Der kantische Rechtsbegriff im Sozialstaat und in der Informationsgesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336484

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