Jugendliteratur des Exils. Hermynia Zur Mühlens "Unsere Töchter, die Nazinen" als Apell an die Humanität


Hausarbeit, 2009

15 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Biographische Vorbemerkung

2. Das Leben im Exil

3. Der Widerstand

4. Die Analyse – Die Wandlungen der Töchter

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Im Jahr 1933 kamen Adolf Hitler und seine Partei, die NSDAP, an die Macht. Durch das friedfertige Werben war es ihnen gelungen das Vertrauen der deutschen Bevölkerung zu gewinnen. Überzeugend versprachen die Nationalsozialisten die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. Die Angstgefühle vor einer ungewissen Zukunft wichen. Mit Marschmusik zogen die Parteimitglieder durch die Straßen. Sie sangen, lachten und verkörperten das Bild von Kameradschaft. Das imponierte vor allem der Jugend. Mit großer Bereitschaft schlossen sie sich den Nationalsozialisten an und bemerkten nicht die Gefahr. Innerhalb kürzester Zeit entstand eine Diktatur, die auf Gewalt und Willkür beruhte. Nicht mehr der Wille des Einzelnen zählte, sondern der des Führers. Gewerkschaften wurden aufgelöst, Verwaltungen gleichgeschaltet, Gegner verfolgt. Ziel war es, alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens mit nationalsozialistischer Ideologie zu durchdringen. Die Vielschichtigkeit der deutschen Kultur hatte aufgehört zu existieren. Eine Atmosphäre der Verunsicherung und Einschüchterung wurde geschaffen. In Scharren verließen die Menschen Deutschland. Auch die Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen ereilte dieses Schicksal. Schockiert von der Skrupellosigkeit des NS-Regimes, emigrierte sie 1933 nach Österreich. Im Kampf gegen das Grauen verfasste sie zahlreiche literarische Werke. Am bekanntesten ist der Roman ‚Unsere Töchter, die Nazinen’. Hier versucht die Autorin der Frage nachzugehen, warum sich vor allem die jungen Menschen der nationalsozialistischen Bewegung anschlossen. Drei Mädchen, die in einer kleinen Stadt am Bodensee leben, werden im Verlauf der Geschichte zu Nazinen. Ihre Gründe sind unterschiedlich: Toni Gruber hat die Stellung in der Fabrik verloren und ist zutiefst betrübt. Nichts von dem „was 1918 versprochen wurde“[1], hat sich für die Arbeiter verwirklicht. Claudia Saldern hält es nicht mehr bei ihrer gräflichen Mutter aus, die vereinsamt in einer kleinen Villa am See lebt. Ihr Wunsch ist es endlich „das wirkliche Leben“[2] zu genießen. Und Lieselotte Feldhüter langweilt sich in dem kleinbürgerlichen Milieu ihrer Familie. Erzählt wird diese spannende Geschichte in sechs Monologen von den Müttern, die die Wandlungen ihrer Töchter, ihre Ratlosigkeit und ihre Konflikte miterleben. Lieselotte mag keinen Sauerkohl. Das findet sie nicht lecker. Sie ist ohnehin zu dick. Liesel Im Folgenden soll es nun um das Leben und Werk der bedeutenden Autorin Hermynia Zur Mühlen gehen. Zu Beginn der Arbeit wird ein kurzer biographischer sowie historischer Überblick gegeben. Hierbei soll verdeutlicht werden, wie prägend das Exil für das Handeln der Schriftstellerin war. Daran anschließend wird auf den antifaschistischen Widerstand eingegangen, der von passiver Resistenz bis zum Attentat reichte. Stets unterstütze Hermynia Zur Mühlen mit ihren Worten den Protest gegen den Nationalsozialismus. Ihr Anliegen war einerseits Deutschland aufzuklären und andererseits eine friedvolle Einheit zu schaffen. Dies wird auch in ihrem Werk ‚Unsere Töchter, die Nazinen’ deutlich. Mit großem Interesse habe ich mich diesem Roman zugewendet und eine eingrenzende Fragestellung entwickelt. Das Ziel der Analyse ist es, die Wandlung der Tochterfiguren aufzuzeigen. Am Ende wird eine Schlussfolgerung zu der vorgestellten Thematik gezogen.

1. Biographische Vorbemerkung

Am 12. Dezember 1883 wurde Hermynia Zur Mühlen als Hermine Isabella Gräfin Folliot de Crenneville-Poutet geboren. Ihre Familie entstammte höchsten Wiener aristokratischen Kreisen. Nach einer gescheiterten Ehe mit einem baltischen Großgrundbesitzer lebte sie von 1919 bis 1933 zusammen mit dem ungarischen jüdischen Emigranten und ehemaligen Redakteur des ‚Pester Lloyd’ Stefan Isidor Klein in Frankfurt am Main. Zu Beginn der zwanziger Jahre machte sie sich vor allem durch ihre proletarischen Märchen einen Namen. Neben diesen eigenen schriftstellerischen Arbeiten übersetzte Hermynia Zur Mühlen zahlreiche Werke aus dem Französischen, Russischen und Englischen ins Deutsche. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wanderten Zur Mühlen und Klein am 1. April 1933 nach Wien aus. Bereits im selben Jahr wurden ihre Werke in Deutschland auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“[3] gesetzt. Aus der Ferne versuchte sie vor der Faszination des Faschismus zu warnen, was ihr jedoch nur mäßig gelang. Im Jahr 1938 erfolgte die erneute Flucht – diesmal in die Tschechoslowakei. Der Grund hierfür war der ‚Anschluss’ Österreichs an das Dritte Reich. Doch auch in ihrer neuen Heimat konnte das Paar nicht lange verweilen. Bereits 1939 musste es angesichts der politischen Verfolgungen nach England emigrieren. Dort lebten Zur Mühlen und Klein zunächst in London, danach – verarmt und schwer erkrankt – in Radlett/Hertfordshire. Bis zu ihrem Tode am 19. März 1951 veröffentlichte Hermynia Zur Mühlen zahlreiche Werke sowie Übersetzungen, ohne aber große Aufmerksamkeit zu erfahren. 1945 wurden ihre Publikationen in Österreich und Deutschland noch einmal im Rahmen der kommunistischen und sozialdemokratischen Literatur rezipiert, doch gerieten sie bald in Vergessenheit.[4]

2. Das Leben im Exil

Ein Leben im Exil – das ist mit Abstand das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. „[Es] löscht aus, macht gesichtslos und vergangenheitslos.“[5] In der Zeit des Nationalsozialismus wählten viele Schriftsteller den Weg in die Fremde. Schockiert von den politischen Vorgängen in Deutschland, widmeten sie ihre literarische Tätigkeit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus. Ihr zentrales Thema wurde die Skrupellosigkeit des Hitler-Regimes sowie der Widerstand der Antifaschisten.[6] Niemand konnte sich auf lange Sicht vorstellen, dass die nationalsozialistische Diktatur für immer Bestand haben würde. Die Hoffnung auf ein rasches Ende war allgegenwärtig und beflügelte die Gedanken vieler. Mit einer großen Bereitschaft stellten sich die meisten Autoren auf ihre veränderte Lebenssituation ein. Nicht mehr die persönlichen Wünsche standen dabei im Vordergrund, sondern die Notwendigkeit zu überleben und die Familie zu versorgen. Dies konnte in erster Linie nur gelingen, wenn man bereit war, sich den neuen Umständen anzupassen. Die so genannte Assimilation reichte vom Wechsel der Sprache oder der Gattung, bis zur gänzlichen Aufgabe des Schreibens und der Hinwendung zu einem 'praktischen' Beruf. Vor allem die Frauen waren bereit, sich auf dem neuen Arbeitsmarkt zu orientieren. Ihnen fiel es, im Gegensatz zu den Männern, leichter sich umzustellen. Das kann unter anderem die Literaturwissenschaftlerin Margot Ruben bezeugen. Sie sagt: „Frauen haben jede Arbeit angenommen. Sie waren Köchin, Serviererin, Putzfrau. Als Frauen waren sie ja auch solche Arbeiten eher gewohnt. Die Männer hatten es da schwerer. Für sie bedeuteten diese Arbeiten einen sozialen Abstieg.“[7] Das übliche Rollengefüge veränderte sich somit grundlegend. Selbstinitiative und Entschlossenheit wurden zu wesentlichen Charakterzügen der Frauen. Sie entwickelten nahezu ungeahnte Kräfte.[8] Nicht jedem gelang es, das Exil auf diese Weise zu bewältigen. Viele Schriftsteller vereinsamten. In der Regel blieb ihnen dann nur noch „die Erinnerung, die Geschichte und das Bewusstsein, in einer besseren Vergangenheit gelebt zu haben.“[9] Kurzum: Die vollkommene Isolation. Doch so unterschiedlich die Lebenswege auch sein mochten, die Ziele waren dieselben. Es galt, etwas zu erhalten: „Die Heimat gegen das Exil, die eigene Sprache sowohl gegen die Fremde als auch gegen den Sprachzerfall im Dritten Reich, die Kultur gegen die Barbarei, den Geist gegen den Ungeist und nicht zuletzt auch die noch vorhandenen Leser, denen es das Bewahrte und Bewährte, das noch Erhaltene oder zu Erhaltende zu vermitteln galt.“[10] Dieses gemeinsame Anliegen einte die Autoren. Es entstanden zahlreiche literarische Werke, die von Mitleid und Trauer geprägt sind. Auf eigentümliche Weise offenbaren sie den kritischen Blick der Exilanten nach Deutschland, der mit der Zeit immer unschärfer wurde. Hierfür waren die wachsende Distanz sowie das spärliche Fließen der Nachrichten verantwortlich. Die Gefahr war groß, die Heimat vollends aus den Augen zu verlieren. Von diesem Hintergrund ausgehend, muss die Entstehung der Exilmythen verstanden werden. Nicht länger die politische Wahrheit wurde aufgezeigt, sondern der verzweifelte Glaube an das Gute.[11] Sinnstiftend wurden literarische Figuren, geschichtliche Ereignisse und Zukunftsentwürfe in einen Zusammenhang gebracht. Mit anderen Worten: Das Chaos der Gegenwart schien durch das Mythenerzählen überwindbar.[12]

3. Der Widerstand

Der Widerstand in Deutschland während des Nationalsozialismus bestand vorwiegend „aus kleinen Gruppen und Individuen, die als Zellen in einem größeren Ganzen, meistens ohne gegenseitige Kontakte und deshalb in größter Vereinzelung, ihre Arbeit taten“.[13] Ursache für diese Art des Handelns war stets die Befürchtung entdeckt zu werden. Dadurch unterschied er sich deutlich vom Widerstand im Ausland, der nicht so einen hohen „Isolationscharakter“[14] aufwies. Der deutsche Widerstand kann in zwei Kategorien unterteilt werden. Die erste Gruppe beinhaltet Menschen, die von Anfang an das Regime ablehnten. Ihr Kampf blieb jedoch erfolglos, da beispielsweise in der KPD aber auch in vielen anderen Organisationen mangelnde Führung herrschte und Hitler zunächst nicht als Gefahr galt. Die zweite Gruppe setzte sich aus Befürwortern des Nationalsozialismus zusammen, die sich von den nationalen Erneuerungen blenden ließen. Hier kam der Gedanke des Widerstandes erst spät auf. Dabei lässt sich der Widerstand nicht nur in Kategorien einteilen, sondern er weist auch eine Entwicklung auf, die in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden kann. Der Prozess beginnt zunächst mit der Unzufriedenheit sowie der Nichtanpassung an die Vorgaben des Regimes. Dieser so genannte passive Widerstand kann in verschiedenen Formen auftreten, so zum Beispiel bei der Verweigerung des Hitlergrußes oder auch durch den demonstrativen Kirchenbesuch. In der Geschichtsforschung wird dieses nicht aktive Handeln als Resistenz oder Dissens bezeichnet.

Der passive Widerstand kann jedoch auch verschiedene Formen annehmen, die teilweise in den Ansatz des aktiven Widerstandes übergehen. Beispielsweise gibt es die gesellschaftliche Verweigerung. Hierzu gehört die Verbreitung von Flugblättern und Zeitungen. Vor allem in den dreißiger Jahren erschienen zahlreiche Schriften wie ‚Neu Beginnen’ oder die ‚Sozialistische Aktion’. Während der Kriegsjahre änderte sich dies grundlegend. Die Angst vor harten Repressalien wuchs – die Friedensparolen verschwanden. Weitere Formen des Widerstandes waren der Protest und der Streik. Sie besaßen in Deutschland nur eine geringe Bedeutung. Nur selten äußerten die Menschen Protest gegen die Praktiken des Nationalsozialismus. Ebenso verhielt es sich beim Streik. Nach der langen wirtschaftlichen Depression in der Weimarer Republik verbesserte sich die Wirtschaftslage unter Hitler. Aufgrund der Entstehung der Rüstungsindustrie und dem Autobahnbau entspannte sich die Arbeitslosensituation. Viele Arbeiter, die nach langer Zeit wieder einen Arbeitsplatz erworben hatten, wollten diesen nicht durch einen Streik aufs Spiel setzen. Zudem verloren die Gewerkschaften während der Weimarer Republik an Einfluss. Dadurch gelang es ihnen nicht bei der Machtergreifung Hitlers 1933 zum Generalstreik aufzurufen.[15] Ebenso gehörten die Sabotage, die Weitergabe von Nachrichten und die Spionage zum passiven Widerstand. Insbesondere in den letzten Kriegswochen traten diese Formen verstärkt auf. Als eine der letzten Formen des passiven Widerstandes nennt Ger van Roon die Desertation. Die Beweggründe der Soldaten waren hierfür sehr unterschiedlich. Die Einen wollten sich den aussichtlosen Kriegshandlungen entziehen und versteckten sich deshalb in schwer zugänglichen Gebieten. Die Anderen schlossen sich bewusst den Gegnern Hitlers an. Doch egal welche Motive die Deserteure hatten, bei einer eventuellen Verhaftung wurden keine Unterschiede gemacht.[16]

Die höchste Stufe des deutschen Widerstandes und zugleich die radikalste Form ist der aktive Widerstand. „Dabei wird das Regime als solches abgelehnt, und man kämpft für eine Alternative. Ein Umsturz ist das kurzfristige Ziel, eine neue Regierung mit einem neuen Programm das längerfristige.“[17] Für dieses Vorhaben mussten jedoch bestimmte Voraussetzungen vorhanden sein. Zunächst benötigte man Kampftruppen oder Stoßtrupps, die speziell ausgebildet wurden. Des Weiteren mussten Waffen- und Munitionsvorräte angelegt, sowie militärische Nachrichten gesammelt werden. So konnte in weiterer Folge ein Staatsstreich durchgeführt werden. Von entscheidender Bedeutung waren die Bildung einer Übergangsregierung und die Erarbeitung eines neuen Regierungsprogramms. In Deutschland existierten kaum solche Vorkehrungen. Zwar bildeten sich Organisationen, wie zum Beispiel das ‚Reichsbanner’, die ‚Roten Frontkämpfer’ und die ‚Eiserne Front’, jedoch besaßen sie nicht die oben genannten Voraussetzungen, um die Regierung Hitlers ‚lahm zu legen’.[18] Während seiner Regierungszeit wurden zahlreiche Attentatsversuche auf Hitler unternommen, die von Einzelkämpfern, aber auch von Gruppen durchgeführt wurden. Sie scheiterten jedoch alle! Gegen Kriegsende wurde es immer beschwerlicher und im Grunde sogar unmöglich ein Attentat oder einen Staatsstreich durchzuführen, da Hitler „sein schwer bewachtes Hauptquartier fast nie mehr verließ“.[19] Später stellte sich heraus, dass nur das Militär die Möglichkeiten und Mittel besaß einen Staatsstreich durchzuführen. „Der bekannteste Versuch des Grafen Stauffenberg vom 20. Juli 1944 war bereits sein dritter Attentatsversuch auf Hitler.“[20] Doch trotz aller Vorkehrungen scheiterte auch dieser Staatsstreich - leider. Lieselotte

4. Die Analyse – Die Wandlungen der Töchter

Der Roman 'Unsere Töchter, die Nazinen' schildert den Sieg des Nationalsozialismus, die Auswirkungen des Antisemitismus und die Formierung von Widerstand am Modellfall einer süddeutschen Kleinstadt. Drei Perspektiven bestimmen den Blick auf das Geschehen: Die Mutterfiguren Kati Gruber, Agnes Saldern und Martha Feldhüter erzählen von ihren Töchtern und den Vorgängen in der Stadt in der Zeit zwischen dem 3. Januar 1933 und dem Sommer desselben Jahres. Der Erzählvorgang setzt mit dem Rückblick der sozialdemokratischen Arbeitern Kati Gruber auf ihre eigene Lebensgeschichte ein. Gedankenversunken erinnert sie sich: „Wie die Zeit vergeht. Heute, […], sind es gerade sechs Jahre, daß mein lieber Mann gestorben ist, und zwei Jahre, daß meine Toni ihre Arbeit verloren hat.“[21] Diese Anfangssituation, die durch Trauer und Verzweiflung gekennzeichnet ist, birgt schon den Keim der Katastrophe in sich. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfährt der Leser Näheres über Anton, dem verstorbenen Ehemann. Voller Liebe berichtet Kati Gruber von dem gemeinsamen Leben, das sie einst führten: […] Der Anton hat ganz gut verdient, und wir haben uns nett eingerichtet und geglaubt, es wird besser werden. Das heißt, der Anton hat das nicht nur geglaubt, er hat es gewusst, hat in Büchern gelesen, dicken Büchern; von denen ich kein Wort verstanden habe. Er war Sozialdemokrat.“[22] Diese Beschreibung lässt ihn wie einen Held erscheinen – mutig, klug und stark. Die Erinnerung an ihn ist die Quelle aus der Kati Gruber ihre Kraft schöpft, um den Kampf gegen den Nationalsozialismus aufzunehmen. Kritisch beschreibt sie die neue politische Bewegung mit den Worten: „Die Mitglieder der Partei liefen mit einem großen Abzeichen, dem Hakenkreuz, herum und brüllten und johlten. Sie redeten immer vom 'Führer', und das gefiel jenen, die nicht selbständig denken, sondern nur geführt werden wollten.“[23] Während Kati Gruber dem Geschehen ablehnend gegenübersteht, wendet sich Toni immer mehr dem diktatorischen Grauen zu. Geblendet von den leeren Versprechungen, übersieht sie die Gefahr. Ihre Mutter bemerkt zwar die negative Veränderung, ahnt jedoch nicht den Grund. Den plötzlichen Wandel ihrer Tochter schildert sie wie folgt: „Auch mit mir begann die Toni zu streiten, und auch mit ihren alten Freunden und Freundinnen, mit den Genossen, die zu uns kamen. Nichts war ihr recht, an allem hatte sie etwas auszusetzen. Ich nahm es ihr nicht übel, ich wußte die Untätigkeit frißt an ihr, und die Angst vor der Zukunft.“[24] Den Leser beschleicht an dieser Stelle eine leise Vorahnung, die später zur traurigen Gewissheit wird. Betroffen gibt Kati Gruber das Gespräch über die bevorstehende Reichtagswahl wieder, das ihre Welt ins Wanken brachte: „'Den Schwindler, den Scharlatan! Hast du den Verstand verloren? Den Kerl, der nur das Maul aufreißen kann und sich von der Schwerindustrie bezahlen läßt, den Hitler?' Mir ist der Schrecken in die Beine gefahren; das kann doch nicht der Toni ihr Ernst sein? Das kann doch nicht die Tochter von meinem Anton meinen. […] Die Toni hat einen Augenblick geschwiegen. Und wie sie wieder geredet hat, ist ihre Stimme gequält und traurig gewesen: […] 'Alle Parteien haben uns enttäuscht. Wir müssen den Nationalsozialisten Gelegenheit geben, zu zeigen, was sie können.'“[25] Dies ist der Beginn der Distanzierung zwischen den beiden Frauen. Hilflos muss Kati Gruber mit ansehen, wie ihre Tochter immer mehr in die Fänge der Nazis gerät. Unweigerlich werden sie zu Feindinnen. Einzig der Gedanke, dass Toni aus fester Überzeugung eine Nazine ist, macht die Situation für Kati Gruber erträglicher. In ihrer Not wendet sie sich an ihre alte Dienstherrin Gräfin Agnes, die fassungslos auf die Nachricht reagiert: „Ihre Toni, bei diesem Pöbel?“[26] Bereits durch diese Aussage wird klar, dass auch die kultivierte Gräfin Agnes den politischen Vorgängen in Deutschland ablehnend gegenübersteht. Doch ist ihre Antipathie vor allem ästhetisch begründet: Es ist die Abneigung eines kulturell gebildeten Menschen gegen die Unkultur, die Aversion des Stillen gegen alles Laute.[27] Weitere Einblicke in ihr Tagebuch offenbaren dem Leser, dass sie sich einsam fühlt. Bewusst entzieht sie sich den Schrecken des Alltags und flüchtet in die Welt der Bücher. Ihre Tochter Claudia, das Kind einer unglücklichen Ehe, leidet dagegen unter der aufgezwungenen Abgeschiedenheit. Sie erstickt fast vor Frust und Langeweile. Kunst und klassische Literatur sind für sie Geistererscheinungen aus einer Zeit, die hinweggefegt gehört. Die Beziehung der beiden ist durch Abneigung sowie Unverständnis geprägt. So beschreibt Gräfin Agnes ihre Tochter folgendermaßen: „Sie war ein schönes Geschöpf, aber es ging eine Kälte von ihr aus, die abstoßend wirkte.“[28] Wenige Jahre später verändert sich das Verhältnis grundlegend. Plötzlich heißt es: „Claudia begann, heiterer und lebensfroher zu sein. Ich freute mich, wenn ich sie ansah. Ihre Wangen hatten eine zarte Röte, und ihre schönen Augen glänzten. Sie wurde sogar freundlich zu mir. Die Mahlzeiten verbrachten wir nicht mehr in gedrücktem Schweigen. Claudia hatte immer etwas zu erzählen, […]“[29]. Glücklich über die positive Wandlung ihrer Tochter, fragt sie nicht nach dem Warum. Doch die Wahrheit holt auch sie ein. Mit Bestürzung muss sie erkennen, dass sich Claudia den Barbaren angeschlossen hat. Voll Eifer stürzt sie sich in den vermeintlich belebenden Strom. Es beginnt ein Kampf, der zur erneuten Entfremdung führt. Gräfin Agnes erkennt, dass sie nicht länger ihre Augen verschließen darf. Die Zeit zum Handeln ist angebrochen. Bewusst entscheidet sie sich für den Widerstand und gegen ihre Tochter. Die beiden werden zu Fremden, die einander nicht mehr verstehen. Bildhaft stellt die Autorin die Situation wie folgt, aus der Sicht Gräfin Agnes, dar: „Hitler zum Reichskanzler ernannt … Hitler … Reichskanzler … Und mir gegenüber ein strahlendes Gesicht und eine Stimme, die sagte: 'Jetzt wird alles gut. Du wirst sehen, Mutter.' […] 'Rühr mich nicht an', sagte ich. 'Rühr mich nicht an.'“[30] Die Situation scheint unüberbrückbar.

[...]


[1] Hermynia Zur Mühlen, Unsere Töchter, die Nazinen. Berlin - Weimar 1983, S. 20.

[2] Ebd., S. 42.

[3] http://www.berlin.de/rubrik/hauptstadt/verbannte_buecher/de, Stand: 07. September 2009.

[4] Vgl. Eva-Maria Siegel, Jugend, Frauen, Drittes Reich. Autorinnen im Exil 1933-1945, Pfaffenweiler 1993, S. 53.

[5] Helmut Koopmann, Geschichte, Mythos, Gleichnis: die Antwort des Exils, In: Ästhetik der Geschichte, Johann Holzner und Wolfgang Wiesmüller (Hrsg.), Innsbruck 1995, S. 77.

[6] Vgl. [Autorenkollektiv], Lyrik des Exils, Wolfgang Emmerich und Susanne Heil (Hrsg.), Stuttgart 2004, S. 31.

[7] Sigrid Schmid, Schriftstellerinnen im Exil – Zuständig fürs Überleben, S. 8. [http://www.literaturepochen.at/exil/lecturepage5038_0.html]

[8] Vgl. Silvia Schlenstedt, Überlegungen zu Anna Seghers „Frauen und Kinder in der Emigration“, In: Argonautenschiff, Berlin 1993, S. 125.

[9] Koopmann, Geschichte, Mythos, Gleichnis: die Antwort des Exils, S. 82.

[10] Ernst Loewy, Unsere Waffe ist die Feder, In: Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945, Ernst Loewy (Hrsg.), Stuttgart 1979, S. 674.

[11] Vgl. Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 424-425.

[12] Vgl. Koopmann, Geschichte, Mythos, Gleichnis: die Antwort des Exils, S. 91.

[13] Ger van Roon, Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick, München 1979, S. 15.

[14] Ebd.

[15] Vgl. Ger van Roon, Widerstand im Dritten Reich, S. 20-24.

[16] Vgl. Ebd., S. 24-25.

[17] Ger van Roon, Widerstand im Dritten Reich, S. 25.

[18] Vgl. Ger van Roon, Widerstand im Dritten Reich, 25-27.

[19] Ger van Roon, Widerstand im Dritten Reich, S. 26.

[20] Ebd., S. 27.

[21] Hermynia Zur Mühlen, Unsere Töchter, die Nazinen, S. 5.

[22] Ebd., S. 5-6.

[23] Hermynia Zur Mühlen, Unsere Töchter, die Nazinen, S. 11.

[24] Ebd., S. 18.

[25] Ebd., S. 19-20.

[26] Ebd., S. 30.

[27] Vgl. Ebd., S. 48.

[28] Zur Mühlen, Hermynia, Unsere Töchter, die Nazinen. Berlin - Weimar 1983, S. 38.

[29] Ebd., S. 45.

[30] Ebd., S. 59.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Jugendliteratur des Exils. Hermynia Zur Mühlens "Unsere Töchter, die Nazinen" als Apell an die Humanität
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Jugendliteratur des Exils (II)
Autor
Jahr
2009
Seiten
15
Katalognummer
V340991
ISBN (eBook)
9783668305649
ISBN (Buch)
9783668305656
Dateigröße
424 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
jugendliteratur, exils, hermynia, mühlens, unsere, töchter, nazinen, apell, humanität
Arbeit zitieren
Anja Giffey (Autor:in), 2009, Jugendliteratur des Exils. Hermynia Zur Mühlens "Unsere Töchter, die Nazinen" als Apell an die Humanität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/340991

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