Narration in Lukas Jüligers Graphic Novel "Vakuum". Mit welchen Mitteln inszeniert die Graphic Novel ihren Handlungsverlauf?

Erzähler, Figuren, Zeit und Raum


Bachelorarbeit, 2014

68 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Fragestellung der Arbeit

2. Methodisches Vorgehen

3. Einführung in die Entstehungsgeschichte der Graphic Novel

4. Aktueller Forschungsstand
4.1 Definitorische Annäherung an den Gegenstand
4.2 Exemplarischer Vergleich der Graphic Novel mit Comic und Bildgeschichte

5. Intermediales Erzählen - Wesensmerkmal der Graphic Novel

6. Analysekategorien zur Erfassung intermedialen Erzählens
6.1 Raum
6.2 Zeit
6.3 Erzähler
6.4 Figuren

7. Analyse
7.1 Einführung in Handlung und Inhalt
7.2 Vorgehensweise
7.3 Analyse

8. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Fragestellung der Arbeit

Durch die Kombination verschiedener Medienformen wird eine gegenwärtig noch weitgehend unerforschte Gattung geschaffen, die Graphic Novel1. Häufig wird das Medium Comic und seine Unterarten wie die Graphic Novel im Vergleich mit anderen Darstellungsmedien als untergeordnet eingestuft.

„Diese Unterordnung basiert häufig aus dem Postulat, dass der Comic aufgrund seiner spezifischen Verquickung von stark reduzierten Bild- und Sprachanteilen nicht so viel leisten könne wie der Film oder das Buch. Bei näherer Betrachtung ist allerdings festzustellen, dass die eigentliche Stärke des Comics gerade dort liegt, wo er an die Grenzen dessen stößt, was er leisten kann.“ (Schneider: 61)

Interessant erscheint das Phänomen Graphic Novel aus literaturwissenschaftlicher Sicht, weil die verschiedenen Medienelemente der Gattung über differenzierte Möglichkeiten in Bezug auf Grenz- und Wirkungskreise verfügen und in ihrer Kombination eine völlig neue Kategorie erschaffen. Die Graphic Novel überschreitet die Grenzen der Literaturwissen- schaft als auch die der reinen Filmwissenschaft (Mahne: 126). Nicht nur durch die Wir- kung der Medienkombination, sondern auch das erzählerische Potential weckt philologi- sches Interesse an der Textgattung.

„Die Sprache der Comics, […] ist in aller Regel zweistimmig: verbal und graphisch. Gerade auf diese Zweistimmigkeit beruht sicherlich ein erheblicher Anteil ihrer Komplexität und Attraktivität.“ (Schüwer a: 46)

Besonders die Untersuchung des erzählerischen Potentials soll im Mittelpunkt dieser Bachelorarbeit stehen. Daraus lassen sich folgende Forschungsfragen ableiten, welche im Verlauf der Arbeit thematisiert werden. Mit welchen Mitteln inszeniert die Graphic Novel ihren Handlungsverlauf? Und wie gelingt es der Graphic Novel eine Erzählung herzustellen, wenn diese hauptsächlich aus Bildern besteht?

2. Methodisches Vorgehen

Die vorliegende Bachelorarbeit lässt sich in zwei Bestandteile gliedern. Der erste Teil ver- mittelt theoretische Grundlagen, welche für die anschließende intermediale Analyse rele- vant sind. Zu diesen theoretischen Grundlagen zählt zunächst ein Einstiegskapitel, welches Informationen zur Entstehungsgeschichte der Textgattung Graphic Novel darlegt. An- schließend folgt die Erläuterung des aktuellen Forschungsstandes, insbesondere mit Blick auf die definitorische Problematik der Graphic Novel. Durch die Erkenntnisse eines exem- plarischen Vergleichs mit anderen Medien wird versucht, eine eigene Definition für die Textgattung zu schaffen. Im folgenden Kapitel wird eine Einführung in das intermediale Erzählen gegeben, welches als Wesensmerkmal der Graphic Novel anerkannt werden kann und es wird der Frage nachgegangen, warum eine klassische Erzähltheorie zur Analyse der Graphic Novel als nicht hinreichend erachtet werden kann. Weiterführend werden auch die Analyseebenen Raum, Zeit, Erzähler und Figur definiert und geeignete Instrumente zur Analyse vorgestellt, welche im praktischen Analyseteil verwendet werden. Für diesen ers- ten Grundstein der Arbeit werden als Methoden Literatur- und Internetrecherche herange- zogen.

Im zweiten Teil, welcher den Hauptbestandteil der vorliegenden Arbeit darstellt, werden Werkzeuge der intermedialen Erzähltheorie genutzt, um die Narration in Lukas Jüligers Graphic Novel „Vakuum“ zu untersuchen. Das Augenmerk liegt dabei besonders auf der Fusion von Bild und Text, welche über ein besonderes erzählerisches Potenzial verfügt. Die Analyse vollzieht sich an ausgewählten Panels/Panelsequenzen oder ganzen Seiten2. Dabei nehmen unter anderem auch die Gutters3 zwischen den Panels eine besondere Stel- lung ein. Abschließend wird ein Überblick über die wichtigsten Analyseergebnisse gege- ben.

In Bezug auf die Graphic Novel „Vakuum“ von Lukas Jüliger gibt es keine Sekundärliteratur, somit steht in der Analyse das eigenständige Forschen im Vordergrund. Darüber hinaus liegt der Reiz des Werks darin, dass Autor und Illustrator eine Person sind, welches eine Ausnahme darstellt. Normalerweise sind beide Produktionsschritte voneinander getrennt, sodass zwei Personen bei der Gestaltung mitwirken. Dadurch, dass in diesem Fall nur eine Person das Gesamtwerk kreiert hat, können Interpretationsversuche aufgestellt werden, welche sich eindeutig nur auf Lukas Jüliger zurückführen lassen. Auch die komplexen Handlungsstränge der Graphic Novel, welche die Haupthandlung stetig durchqueren, stellen einen Anreiz dar, sich näher mit dem Werk zu beschäftigen.

3. Einführung in die Entstehungsgeschichte der Graphic Novel

Erst im späten 19. Jahrhundert entwickelte sich das epische Erzählformat aus der Textsorte Comic (Hallet: 4). Die nachfolgend dargestellten Entwicklungsetappen stellen nur ausge- wählte Aspekte dar, welche für ein Grundverständnis verinnerlicht werden müssen. Dabei ist zunächst ein kurzer Einblick in die Comic-Geschichte notwendig, um wichtige Etappen auf dem Weg zur Graphic Novel zu illustrieren. Seit 1933 wurden Comics, welche vorerst nur als Comicstrips4 in Zeitungen existent waren, auch in Heften publiziert. Durch die Ver- marktung von Heften, sollte vornehmlich eine jugendliche Zielgruppe erreicht werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Comic-Entwicklung jedoch andere Wege ein- schlagen. Vordergründig durch die Fokussierung gewalttätiger und ernster Themen, sollten erwachsene Leser animiert werden, sich für Comics zu interessieren. Durch diese Inhalte wurde in den 50er Jahren eine „Schmutz- und Schanddebatte“ ausgelöst, welche zum Ziel hatte Kinder und Jugendliche vor den Gefahren des Comics zu schützen (Knigge: 18f.). Der Comic wurde als „Opium der Kinderstube“ oder „Blasenfutter für Analphabeten“ be- zeichnet, da dieser subversiv sei und die eher textarme Darstellungsweise unter anderem die Entwicklung der Lesefähigkeit gefährde (ebd.: 19f.). Es gab sogar Vorwürfe, dass Medium hätte Mitschuld an der Jugendkriminalitätsrate (Schüwer: 2ff.). So erscheint es nicht verwunderlich, dass Frederik Wertham, ein New Yorker Psychologe, 1953 ein Buch veröffentlicht, in welchem er eine Apokalypse für Kinder und Jugendliche vorhersagt, die sich mit Comics beschäftigen. Er fordert zur öffentlichen Verbrennung auf, welche tatsächlich stattgefunden haben (Knigge: 19). Das Image des Comics ist vor allem in den USA und Deutschland nachhaltig zerstört worden.

In den 60er Jahren bemühte sich die Comicbewegung des „underground comix“5, die Grenzen des Comics auszuweiten und vor allem Themen, welche als Tabu-Themen (u.a. Drogen, Sexualität) kategorisiert werden konnten, gesellschaftlich zu etablieren. Wenig erfolgreich wurde diese Idee anschließend von dem Trend des „ground-level comics“ in weniger radikaler Form fortgeführt (Lambiek: Internetquelle).

Es wird vermutet, dass die begriffliche Zuschreibung Graphic Novel zum ersten Mal im Jahr 1964 von Richard Kyle verwendet wurde. In das öffentliche Interesse gelang der Be- griff jedoch erst durch Willi Eisners Werk „Contract with God“ im Jahre 1978. Er verwen- dete bewusst den Begriff Graphic Novel als Untertitel, um sein Werk, welches sich der Darstellungsweise des Comics bediente, vom schlechten Image der „Schandliteratur“ abzu- heben und als ernst zu nehmendes Werk zu vermarkten. Seitdem geht mit der Begrifflich- keit eine Vernetzung zur Klassifikation einer anspruchsvolleren Comicdarstellung einher.

Diese Annahme wird von Forschern oft kritisiert, da die Graphic Novel keinesfalls höher gestellt werden darf, als der Comic (Wolk: 7ff.). Mittlerweile hat sich dieses Erzählformat auch in Deutschland fest etabliert und fasziniert nicht nur Leser, die sich ohnehin für Co- mics interessieren (Knigge: 5f.). An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass der Begriff Graphic Novel bislang weniger verbreitet ist und oft als Synonym des Comics angesehen wird. Um größere Leserkreise über das narrative Potenzial der Erzählgattung zu informie- ren, wurden insgesamt 20 Graphic Novels in die Bibliothek der Süddeutschen Zeitung auf- genommen (Süddeutsche Zeitung: Internetquelle). Auch das Internet bietet eine Möglich- keit zum Thema Graphic Novel zu recherchieren. Auf der Internetseite www.graphic- novels.info können neben Informationen zu der Textgattung auch Daten über ein angeleg- tes Archiv, welches seit 2008 geführt wird, im Bezug auf Pressetermine und Graphic Novel Neuerscheinungen eingesehen werden. Die aktuell wichtigsten Comicverlage in Deutsch- land, welche Graphic Novels veröffentlichen, sind Reprodukt, avant-verlag, Edition 52, Edition Moderne und Carlsen Comics.

Aktuelle Tendenzen zeigen, dass nach der Etablierung der Graphic Novel im Buchformat mit der visuellen Erzählweise experimentiert wird. Graphic Novels werden unter anderem auch als Liveact dargestellt, das Buch bleibt jedoch der primäre Illustrationsweg (Baetens, Surdiacourt: 360). Trotz des zunehmenden Interesses existieren zum jetzigen Zeitpunkt kaum wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Thematik Graphic Novel.

4. Aktueller Forschungsstand

Die Graphic Novel ist eine relativ neue Gattung und stellt ein noch weitgehend unerforsch- tes Feld dar. Aktuelle Beiträge zum Forschungsgegenstand reduzieren sich größtenteils auf die historische Entstehung der Gattung oder auf fachdidaktische Überlegungen für die Schulpraxis. Gerade in Bezug auf narratologische Untersuchungen kann bisher nur ein konkreter Sammelband mit Aufsätzen zu Teilaspekten der Narratologie herangezogen wer den. Der Band „Erzählen im Comic - Beiträge zur Comicforschung“ (2013), herausgege- ben von Otto Brunken und Felix Giesa, bezieht sich auf die Tagungsbeiträge der Deutschen Gesellschaft für Comicforschung aus dem Jahre 2009. Erste Gedanken zur Raum- und Zeitlinguistik oder konkrete Untersuchungstechniken im Bezug auf die Erfassung visueller Komponenten des Mediums Comic, bilden interessante Ansatzpunkte für die Analyse der Graphic Novel.

Nach der Reflexion der Entstehungsgeschichte liegt es nahe, den mangelnden Forschungs- stand durch das gesellschaftlich negativ konnotierte Image des Comics und seiner Folge- gattungen zu begründen. Schüwer konstatiert hingegen, dass diese Begründung zu kurz ge- fasst sei, denn auch die Ausdrucksmittel des Comics/der Graphic Novel, welche sich so- wohl bildlich als auch literarisch verorten lassen, stellen eine Problematik dar, da sie die traditionellen Grenzen der szientifischen Wissenschaftszweige überschreiten (Schüwer: 4). Clausberg erweitert den Gedanken, indem er postuliert, dass nicht nur die Medien Comic und die Graphic Novel vom Forschungsinteresse verdrängt wurden. „[E]ine der seltsams- ten systematischen Fehlleistungen der Kulturgeschichtswissenschaften[ist]:[das] fast voll- ständig Übersehen jeder eigenartigen ausdrucksgeladenen Mischform, die Text und Bilder seit der Antike eingegangen sind.“ (Clausberg: 25) Aus dieser mangelnden Beschäftigung mit jenen hybriden Mischformen, zu denen auch die zu analysierende Gattung gehört, ergeben sich unter anderem grundlegende definitorische Schwierigkeiten. Was ist eine Graphic Novel? Existiert ein Unterschied zwischen Graphic Novel und Comic? Stellt die Titulierung Graphic Novel nur eine Marketingstrategie dar? Diese und weitere Fragen werden im aktuellen Diskurs kontrovers diskutiert.

4.1 Definitorische Annäherung an den Gegenstand

Bei Definitionsversuchen lassen sich grob gesehen zwei Extremrichtungen erkennen. Zum Einen wird versucht, die Graphic Novel möglichst genau mit prägnanten Merkmalen zu definieren. Auf der anderen Seite gibt es Bestrebungen, möglichst viele Charakteristika der Bildgeschichte zu inkludieren, um eine Ahnenfolge aufstellen zu können (Schüwer: 7). Darüber hinaus gibt es Werke in den präferiert wird, gar keine Definition von Graphic Novel zu nennen. Als exemplarisches Beispiel könnte hier Gravetts „Graphic Novels: Everything you need to konw“ (2005) genannt werden. Eisner schlägt eine andere Rich- tung ein. „Mit Bildern erzählen. Comics & Sequential Art“(1995) lautet der Titel seines Werkes, welcher verdeutlicht, dass hier anstatt einer expliziten Definition eine Umschrei- bung der Textgattung präferiert wird. Hallet (:4) versucht die Textgattung wie folgt zu defi- nieren: Die Graphic Novel ist „eine fiktionale, romanartige Langerzählung, die sich der Darstellungsweise der Comics bedient.“ Als wichtig wird dabei erachtet, dass die Gattung nicht den Aufbau eines Romans aufgreift, sondern nur die Komplexität der Handlungs- stränge wie sie für den Roman typisch sind.

Darüber hinaus sind in der Fachliteratur auch diverse Synonyme aufzufinden. Die Graphic Novel wird unter anderem als „Bildgeschichte“, „narrativer Zyklus“, „Comic“ oder „Co- micstrip“ deklariert (Grünewald: 1). Für die vorliegende Arbeit wird das Synonym „narra- tiver Zyklus“ verworfen. Spricht man von einem narrativen Zyklus, hat es den Anschein, dass Graphic Novels aus mehreren in sich geschlossenen Einzelbänden bestehen, in denen Hauptfiguren immer wieder aufgegriffen werden. Da die Graphic Novel jedoch größten- teils auf Serialität verzichtet (Wolk: 27f.), wird diese synonyme Verwendung nicht über- nommen. Ähnlich verhält es sich mit dem Terminus Comicstrip. Der Begriff Comicstrip wird ausschließlich im Kontext mit kurzen Bildgeschichten, welche in Zeitungen veröf- fentlicht werden, genutzt (Schüwer a: 9). Im Gegenteil dazu stellt die Graphic Novel ein eigenständiges Werk im Buchformat dar, daher kann auch hier keine Entsprechung herge- stellt werden. Ob die Begriffe Comic oder Bildgeschichte als Synonym der Graphic Novel angesehen werden können, bedarf einer ausführlicheren Analyse, welche im nächsten Teilkapitel folgt.

Aufgrund der kontroversen Definitionsbestrebungen im Bezug auf die thematisierte Gat- tung wird im Folgenden versucht, relevante Merkmale der Graphic Novel durch den Ver- gleich mit anderen Gattungen zu erschließen. Diese Merkmale sollen im Anschluss zur Hilfe genommen werden, um eine eigenständige Definition des Phänomens Graphic Novel zu entwickeln.

4.2 Exemplarischer Vergleich der Graphic Novel mit Comic und Bildgeschichte

Da sich die Graphic Novel aus dem Medium Comic entwickelt hat, erweist es sich als sinnvoll, dass diese zwei Gattungen zuerst auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten untersucht werden. Zunächst unterscheiden sich beide Medien durch ihren Umfang und das Format. Aus druck- und vermarktungstechnischen Motiven werden Graphic Novels als Buch gebunden und in Buchhandlungen vertrieben. Ihr Standardumfang ist weitaus umfangreicher als der eines Comics, welcher vorwiegend in Heftformat publiziert und in Zeitschriftenhandel oder spezifischen Comicläden verkauft wird (Knigge: 7).

Doch auch inhaltsbezogene Unterschiede kontrastieren beide Textgattungen. Graphic No- vels zeichnen sich durch eine individuelle und oft komplexe Themenvielfalt aus und ver- zichten oft auf einen Helden als Protagonisten (ebd.: 7). Für den Comic dagegen, stellen der Superheld und ein einfach gehaltenes Handlungsgefüge ein Aushängeschild dar. Im Gegensatz dazu ist die Handlung der Graphic Novel durch ein „komplexes Handlungsgefü- ge“ (Hallet :4) bestimmt, welches oft auch autobiographische Züge enthalten kann. Daraus ergeben sich auch, wie bereits im Kapitel der Entstehungsgeschichte thematisiert, Unter- schiede im Lesepublikum. Während Comics eher für die Zielgruppe der Kinder und Ju- gendlichen (oder Comicliebhaber) ausgerichtet sind, sprechen Graphic Novels größtenteils erwachsene Rezipienten an (Wolk: 27f.). Auch bereits erwähnt wurde der bedeutende Ver- zicht auf Serialität in Graphic Novels. Sie sollen als einzigartiges Gesamtwerk fungieren. Der Comic hingegen nutzt das Merkmal der Serialität, um Verbindungen zwischen einzelnen Comicheften herzustellen und so auf bereits vorhandene Lese- und Sehgewohnheiten zurückgreifen zu können (ebd.: 27f.). Trotz dieser Unterschiede lassen sich auch Gemeinsamkeiten beider Medien feststellen:

„Gerade die Schemenhaftigkeit der rudimentären Bildanteile ist es, die dem Rezipienten medienbedingt für eine befriedigende Lektüre imaginatorische Tätigkeit abverlangt, ihn also zur Aktivität geradezu zwingt. […] Hinzu kommen die sowohl Imagination als auch Interpretation fordernden Lücken zwischen den Panels“ (Schneider: 74f.)

Dieses Zitat verdeutlicht, die Gleichheit der Darstellungsmittel im Comic und in der Graphic Novel. Beide Medien illustrieren durch ihre Darstellungsmöglichkeiten einen kinetischen Verlauf, bei dem zeitliche Abläufe in Panels komprimiert und lebendig dargestellt werden, ungleiches wird durch Sprechblasen gleichzeitig dargestellt (Knigge: 22). Die Darbietung imitiert Darstellungsstrategien des Filmes mit einer entscheidenden Abwandlung: Sowohl Comics als auch Graphic Novels bieten dem Rezipienten die Möglichkeit an allen Stellen des Handlungsverlaufes individuell zu verweilen, vor- oder zurückzuspringen (Hallet: 3). Eine solche Möglichkeit besteht in Filmen nicht.

Als Zwischenfazit kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Comics und Graphic Novels sich in bedeutenden Aspekten unterschieden. Dennoch bleibt die große Gemeinsamkeit beider Medien die gleiche Darstellungsweise. An dieser Stelle kann vorweggenommen werden, dass der Begriff Graphic Novel nach diesem Überblick nicht mit dem Begriff des Comics gleichgesetzt wird.

Ein weiterer Vergleich muss mit dem Medium der Bildgeschichte gezogen werden,welche oft als Ursprung für die Entstehung des Comics und aller Nachfolgegattungen tituliert wird (u.a. Grünewald „Das Prinzip Bildgeschichte“). Die Darstellung in Bildgeschichten ist da- durch gekennzeichnet, dass diese unbewegliche, starre Bilder darstellen, welche durch Fix- punkte erfasst werden (Götz/Götz: 23ff.). Somit stellen Bildgeschichten einen Gegensatz zu kinetischen Medien wie dem Film oder dem Theater und in gewisser weise auch zur Graphic Novel dar, welche zwar auch über starre Bildfolgen verfügt, jedoch kinetischen Darstellungstechniken imitiert.

Das narrative Potenzial des Bildes ist in beiden Medien übereinstimmend. Bilder verwei- sen in beiden Medien auf erzählende Aspekte, welche als obligatorisch und eigenständig wahrgenommen werden können und keinesfalls ein Beiwerk zu Texten darstellen (Grüne- wald: 6). Trotz punktueller Verwandtschaft der Graphic Novel zu Bildgeschichten, gibt es einen entscheidenden Unterschied in der Bildfolge. Während die Graphic Novel auf enge Bildfolgen baut, sind in Bildgeschichten oftmals weite Bildfolgen zu finden. Jedoch lässt diese Hypothese nicht allgemein auf jede Bildgeschichte übertragen, denn auch hier gibt es fließende Übergänge (Schüwer a: 11). Diesen Überlegungen zur folge kann die Graphic Novel auf das „Prinzip Bildgeschichte“ (Grünewald 2006) zurückgeführt werden, stellt je- doch eine Erweiterung dieses Mediums dar. Aus diesen Erkenntnissen lässt sich eine Defi- nition der Gattung herleiten.

Eine Graphic Novel ist eine an das komplexe Handlungsgefüge des Romans angelehnte Textgattung, welche individuelle Handlungen in meist engen, zweidimensionalen Bildse- quenzen mit den Darstellungsmöglichkeiten des Comics illustriert und somit auch Techni- ken kinetischer Medien imitiert. Ein fakultatives Merkmal, welches jedoch die meisten Graphic Novels einschließt, ist die Fusion von Text und Bild, welche intermediales Erzäh- len ermöglichen.6

5. Intermediales Erzählen - Wesensmerkmal der Graphic Novel

Intermediles Erzählen ist als „Hyperonym […] die Gesamtheit aller Mediengrenzen über- schreitenden Phänomene.“ (Rajewsky: 12) An dieser Stelle wird direkt auf die Problematik der Terminologie hingewiesen. Der Begriff intermediales Erzählen dient als Oberbegriff und obliegt keiner näheren Definition, sodass Intermedialität in verschiedenen Kontexten und mit verschiedenen Bedeutungen als Umschreibung genutzt wird (Schmerheim: Internetquelle). Rajewsky versucht in ihrem Werk „Intermedialität“ (2012) als eine der ersten Forscherinnen Klassifikationskategorien für den Begriff der Intermedialität zu definieren. Dabei stehen drei Formen der Intermedialität im Vordergrund: Medienkombina- tion, Medienwechsel und intermediale Bezüge. Unter Medienkombination lässt sich eine dauerhafte oder stellenweise Verknüpfung von mindestens zwei verschiedener Darstel- lungsformaten verstehen. Beim Medienwechsel wird ein Prätext in ein anderes semiotisches Gebilde, das heißt ein anderes Medium, übertragen. Bei dieser Form der Intermedialtät zählt nur das Endprodukt (bspw. bei der Verfilmung eines schriftlichen Drehbuchs). Intermediale Bezüge können immer dann erkannt werden, wenn ein Medium in bestimmten Situationen auf ein anderes Medium Bezug nimmt (Rajewsky: 19). Doch welcher Form der Intermedialität gehört nun die Graphic Novel an?

„Die Sprache der Comics ist eine narrative. Verglichen mit der wichtigsten narrativen Sprache, der Verbalsprache, weist sie jedoch einige Unterschiede auf. Der offensichtlichste von ihnen besteht in der überwiegen grafischen Natur der Erzählung in den Comics.“ (Barbieri: 125)

Wie dieses Zitat verdeutlicht, erzählt auch Graphic Novel mithilfe von zwei Medien: der Sprache und der Graphik. Besonders das graphische Erzählen stellt eine eindeutige Abwei- chung zu Erzähltexten in mündlicher oder schriftlicher Form dar. Die Graphic Novel geht in pantomimisch gestalteten Geschichten sogar noch einen Schritt weiter, sie kann auch ohne Text erzählen. Somit sind verbale Vermittlungen oder eine Erzählinstanz für diese Gattung fakultativ (Schüwer b: 35). Dass die epische Erzählform ohne Text erzählen kann, heißt jedoch nicht, dass sprachliche Elemente bedeutungslos sind. Sprache übernimmt in Graphic Novels eine andere Funktion als in schriftlichen Texten (ebd.: 46). Kennzeichnend ist, dass für die meisten Texte der Gattung eine bedeutsame Fusion aus Bildelementen und Sprache entsteht. Durch die Verbindung von Text und Bild entsteht ein neues Erzählformat, das hybride Erzählen in Form der Medienkombination. Intermedial ist diese Form des Er- zählens, weil verschiedene Kunstformen miteinander verschmelzen und ein neuartiges Ge- samtprodukt ergeben, bei dem beiden Teilprodukten die Eigenschaft des Erzählens zuge- wiesen werden kann.

„In Comics ist das verbale Erzählen also in synchroner wie in diachroner Hinsicht mit dem Bild zu einer funktionalen Einheit verflochten.“ (Schüwer a: 21) Dabei vereint die Kunst- gattung jedoch nicht nur die Künste der Literatur- und Kunst-/Medienwissenschaft, son- dern etabliert durch ihre Darstellungsweise auch Kunstformen wie die Filmwissenschaft, das Theater (in Bezug auf Belichtung) aber unter anderem auch wahrnehmungspsycholo- gische Aspekte. Es entsteht ein Gesamtprodukt, welches durch seine Medienkombinatorik klassifiziert werden kann: die Graphic Novel. Selbst wenn Graphic Novels ohne Text aus- kommen, lassen sich medienkombinatorische Elemente wiedererkennen, in dem das Medium Bild mit Einstellungsgrößen und Perspektiven des Medium Films verbunden werden.

Wenn so viele verschiedene und auch differenzierte künstlerische Einflüsse auf eine Gattung und ihr Erzählen einwirken, stellt sich die Frage: Kann man noch vom Erzählen im li - teraturwissenschaftlichen Sinne sprechen?

Diese Frage bedarf einer genaueren Prüfung. Denn gerade durch visuelle und zeichnerische Effekte, welchen in Graphic Novels eine große Bedeutung zugeschrieben werden können, sind für erzähltheoretische Ansätze nicht fassbar (Schüwer a: 36). Es kann ein bestimmtes Motiv, ein bestimmtes Gefühl, ein Zustand innerhalb der Geschichte durch bildliche Quali- täten wie Perspektivität, Zeichenstil, Farbgestaltung oder eine bestimmte Raumillusionie- rung visualisiert werden, die durch die Anwendung erzähltheoretischer Überlegungen nicht greifbar sind. An dieser Stelle müssen Grenzen der Erzähltheorie bewusst werden. Dieser Eindruck verfestigt sich auch, wenn man sich den Überlegungen zum Erzählen im literaturwissenschaftlichen Sinne nach Genette widmet. Dieser konstatiert, dass Erzählen im engeren Sinne unabdingbar mit einer verbalen Mediation zusammenhängt (Genette: 41). Somit ist die Präsenz eines Erzählers Voraussetzung, um einer Erzählung im eng ge- führten literaturwissenschaftlichen Sinne gerecht zu werden. Wie bereits oben angeführt, ist die Graphic Novel jedoch nicht unbedingt an ein erzählvermittelndes Medium gebun- den.

„Geht man […] von einem weiten Begriff von Narrativität aus und beschränkt man sich auf das Merkmal der erzählten Handlung, so zeigt sich, daß auch vermeintlich nicht-narrative Genres wie Comics, Filme und Dramen sehr wohl eine Geschichte erzählen. Folgerichtig weiten viele Er zähltheoretikerInnen den Objektbereich der Erzähltheorie auf Erscheinungsformen des Narrativen in den visuellen Medien aus.“ (Nünning/Nünning: 7)

Verinnerlicht man diese Bestrebung, wird auch deutlich, dass trotz einer Erweiterung des Begriffs eine Beschränkung auf eine erzählte Handlung stattfindet. Hier wird also implizit eine vermittelnde Instanz vorausgesetzt. Auch dieser Versuch der Annäherung aus literatur- wissenschaftlicher Sicht erscheint noch zu engstirnig für das Erzählen in Graphic Novels. An dieser Stelle bedarf es einer weiteren Ausweitung des Erzählbegriffs. Als Grundlage des intermedialen Erzählens wird für diese Arbeit eine Minimaldefinition des Narrativen von dem Literaturwissenschaftler Werner Wolf (: 51) herangezogen. Nach den theoreti- schen Überlegungen Wolfs ist Erzählen:

„[D]ie Darstellung wenigstens von Rudimenten einer vorstell- und miterlebbaren Welt, in der mindestens zwei verschiedene Handlungen oder Zustände auf dieselben anthropomorphen Gestalten zentriert sind und durch mehr als bloße Chronologie miteinander in einem potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zusammenhang stehen.“

Dieses Konzept wird präferiert, weil es sich von der Existenz einer vermittelnden Erzählin- stanz löst, diese jedoch nicht ausschließt. Somit befriedigt dieser Ansatz die Ansprüche der Graphic Novel, welche sowohl mit als auch ohne Erzählerstimme funktionieren kann. Nar- ration wird hier im Sinne einer kognitiven Skizze seitens des Rezipienten repräsentiert, welche eine „kulturell erworbene[...] und mental gespeicherte[...] Schema[ta] im Sinne der frame theory [...]“ (Wolf: 9) bedeuten. Folglich ist Erzählen nach Wolf medienunabhängig und beruht auf verschiedenen Darstellungsweisen und der Wahrnehmung des Rezipienten (ebd.: 9). Schüwer stellt sich an dieser Stelle bewusst die Frage, wie die Illusionierung von zusammenhängenden Handlungsverläufen beim Rezipienten ohne Erzähler erzeugt wird (Schüwer a: 36). An dieser Stelle lässt sich auf die wichtige Funktion der Leerstellen zwi- schen den Panels der Graphic Novel verweisen. Durch die einzelnen Panels wird lediglich ein Grundgerüst an Kohärenz erschaffen. Die innere Struktur zwischen den Panels wird dem Betrachter überlassen (Hein, Michaels: 56). Der Rezipient bildet aufgrund seines Weltwissens genau an diesen Stellen Imagination zum Erzählen und zum Handlungsver- lauf. Dabei kann auch ohne Erzählinstanz ein kohärenter Handlungsverlauf und eine logi- sche Erlebniswelt erschaffen werden.

Durch diese Darstellung zeigt sich, dass sich das Erzählen der Gattung mit den traditionellen Modellen der Literaturwissenschaft (u.a. Genette) kaum vereinbaren lässt und es einer Ausweitung dieser Modelle bedarf, um Medien beschreiben zu können, die nicht ausschließlich an das Medium Text gebunden sind, dennoch aber Gegenstand der Philologie sein können. In der Graphic Novel leistet auch das Bild einen Beitrag zu Etablierung der literaturwissenschaftlichen Kategorien von Figuren, Raum, Zeit und Erzähler. Nach den obigen Betrachtungen liegt es nahe, dass „[es] nicht damit getan [ist], narratologische Beschreibungsmodell[e] lediglich zu 'exportieren' und auf andere Genres anzuwenden.“ (Nünning,Nünning: 11f.) Es besteht der Anspruch, neue Instrumente zu schaffen, die grundlegende Gedanken der Erzähltheorie zu erweitern und zu modifizieren, um visuelles Erzählen beschreiben zu können (Schüwer a: 20).

Es müssen also Theorien geschaffen werden, welche intermediales Erzählen in allen Facetten und künstlerischen Bestandteilen berücksichtigen, denn Graphic Novels

„[...]have both literary and pictorial narrative dimensions: it is a hybrid art form that employs narrative strategies closely connected to literature, on the one hand, and other pictorial meida, on the ohter.“ (Pratt: 107)

Analysemodelle, die genau dieses versuchen sind beispielsweise die „Transmediale Erzählteorie“ (2007) nach Mahne7, „Comic-Analyse“ (2008) nach Dittmar oder das Werk „Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur“ (2008) von Schüwer.

6. Analysekategorien zur Erfassung intermedialen Erzählens

6.1 Raum

Ein Raum ist in der Graphic Novel ein mögliches Umfeld für Akteure innerhalb der Ge- schichte. Er ist „etwas, in dem sich Figuren befinden können und in das sie hineingehen können.“ (Dennerlein: 71) Diese sehr offen gehaltene Definition von Raum ermöglicht es, auch fiktiv gestalte Räume, welche nicht der alltäglichen Wahrnehmung von Raum ent- sprechen, als potenziellen Handlungsraum anzusehen. Dieses erscheint besonders wichtig in Hinblick auf die Graphic Novel, welche durch fiktive Geschichten gekennzeichnet ist. Aus diesem Grund erfolgt das Raumverständnis für diese Arbeit auf der Grundlage der Konzeption Dennerleins.

Betrachtet man die Darstellungsweisen von Raum in den oben genannten Analysewerken, so lassen sich eindeutige Unterschiede feststellen. Dittmar zeigt in seinem Werk zwar viele einzelne Untersuchungsmomente auf, bildet jedoch keine greifbaren Analysekategorien (bspw. Zeit, Raum, Erzähler). Darüber hinaus fällt auf, dass er mit seiner Darstellung weni- ger eine Erweiterung des erzähltheoretischen Ansatzes anstrebt, sondern eine von der Er- zähltheorie losgelöste Analyse für den Comic erschaffen will (Abel: Internetquelle). Wie das Kapitel zum intermedialen Erzählen verdeutlicht hat, müssen erzähltheoretische Ansät- ze erweitert und verändert werden, um Graphic Novels beschreiben zu können; eine völlige Loslösung von diesen Ansätzen, scheint für die Analyse nicht plausibel. Aufgrund dieser Tatbestände wird der Ansatz Dittmars für weitere Arbeitsschritte nicht weiter berücksich- tigt.

Schüwer hingegeben fokussiert die Raumdarstellung aus sehr technischer und zeichneri- scher Perspektive. In einem sehr umfangreichen Kapitel bezieht sich Schüwer unter ande- rem auch auf theoretische Modelle von den Philosophen Henri Bergson oder Gilles Deleu- zes und bringt somit Erkenntnisse aus der Film- und Kunstwissenschaft ein. Trotz alledem ist das Kapitel sehr kleinschrittig und teilweise ohne erweiterte Kenntnisse in den Kunst- und Medienwissenschaften nur schwer verständlich gestaltet. Somit wird auch dieser An- satz nicht als Grundlage für weiterführende Analysearbeiten genutzt. Komprimiert und übersichtlich dagegen illustriert Mahne ihre Analyseinstrumente zur Erfassung des Raum- es. Sie unterschiedet insgesamt drei Raumdimensionen, die prägend für das Medium Co- mic sind: das Panel, die Panelsequenz und das Seitenlayout. Diese Einteilung erfolgt nach dem Prinzip vom kleinen Blickwinkel zum großen Blickfeld. Da die Unterteilung in Di- mensionen klare Strukturen für eine Analyse bietet, wird dieser Dreischritt auch in der praktischen Anwendung verwendet. Im Folgenden werden ausgewählte Analyseinstrumen- te vorgestellt.

Das einzelne Panel kann auf verschiedene Einstellungsgrößen untersucht werden. Diese sind aus der Filmtheorie entlehnt und können auf Comics oder Grahpic Novels übertragen werden. Die Einstellungen sind insofern wichtig, da sie das Panel als eigenständigen Raum eingrenzen. Sie bestimmen welchen Raumausschnitt der Rezipient wahrnehmen kann und bestimmt dann im Zuge einer Interpretation den Handlungs- und Aktionsraums (Mahne: 65).8 Mahne nennt vier Einstellungsgrößen: Weitaufnahme, Totale, Detail- und Großauf- nahme (ebd.: 64f.). An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die verschiedenen Ein- stellungsgrößen nur sehr komprimiert und oberflächlich abgehandelt werden. Da die Ein- stellungsgrößen für die zu analysierende Graphic Novel „Vakuum“ von großer Bedeutung sind, muss der Ansatz Mahnes an dieser Stelle um einige Einstellungsgrößen ergänzt werden. Zusätzlich werden die Größen Halbtotale, Amerikanisch und Nah integriert.

Neben den filmischen Bildgrößen spielt auf der Ebene des Panels auch die Komposition, also die Beziehung zwischen den dargestellten Gegenständen, die räumliche Tiefe erzeugen, eine bedeutende Rolle. Ein Raum mit Tiefenstrukturen kann durch die Größe der in ihm angeordneten Gegenstände, mithilfe von Staffelungen, Überlagerungen oder durch die Farb- oder Kontrastwahl hergestellt werden (ebd.: 64). Dazu gehört auch die Beziehung zwischen Darstellungs- und Handlungsraum und deren Darstellungsmittel. Denn „die Raumzeichen beziehen sich keineswegs nur auf den Hintergrund, sondern auch im Vordergrund vor den Personen.“ (Krafft: 40ff.) Aus der Analyse dieser tiefenstrukturierenden Aspekte können wichtige Erkenntnisse im Bezug auf Handlungsräume und das Verhalten bestimmter Personen in diesen Räumen gewonnen werden.

Auf der zweiten Ebene werden Sequenzen untersucht. Bei diesen Untersuchungsmomenten werden vor allem die Kohärenz zwischen einzelnen Panels betrachtet. Werden Bildelemente des Darstellungs- oder Handlungsraumes im nachfolgenden Panel inkludiert, entsteht ein räumlich-kausaler Zusammenhang zwischen den Einzelbildern. „[Auch] [d]er Wechsel zwischen der fokalisierenden Figur […] und dem Objekt der Wahrnehmung stellt den räumlichen Zusammenhang her.“ (Mahne: 66) Panelsequenzen, welche nicht durch Überlappung oder Übernahme von Details dargestellt werden, müssen eigenständig von dem Rezipienten in einer kausalen Beziehung gebraucht werden (ebd.: 66).

Die dritte Ebene der Panels stellt das Seitenlayout dar. Das Layout wird nach Eisner auch als „Makropanel“ benannt (Eisner: 41ff.). Besonders das Format und die Ausrichtung der Panels können wichtige Hinweise im Bezug auf Relationen von Handlungs- oder Präsentationsraum geben, welche für den weiteren Handlungsverlauf unabdingbar sind (Mahne: 70f.). Zusammengefasst werden bei der Analyse des Raumes also besonders die Gestaltung der kleinsten Raumeinheit dem Panel, die Übergänge und Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen der Sequenz, welche einen Gesamteindruck des Raumes vermitteln, aber auch die Wirkung der Gesamtseite als Raum analysiert.

6.2 Zeit

Nach erzähltheoretischen Ansätzen zeichnen sich narrative Texte durch das Phänomen einer „doppelte[n] Zeitlichkeit“ aus; auf der einen Seiten verfügen solche Texte über „jene Zeit, über die erzählt wird, und jene Zeit, in der erzählt wird.“ (Lahn/Meister: 136) Diese Zeitdimensionen werden auch mit den Begriffen „erzählte Zeit“ und „Erzählzeit“ umschrieben. Diese „doppelte Zeitlichkeit“ lässt sich ohne Abstriche auf die Graphic No- vel übertragen. Auch hier lassen sich genau diese Zeitphänomene wiedererkennen. Der ein- zige Unterschied besteht in der Darstellungsweise dieser Zeitlichkeit. Da die Narration in der Grahpic Novel primär durch ihre Bildlichkeit erzeugt wird, müssen die Analysewerk- zeuge, welche der Erzähltheorie entspringen, auf bildliche Inhalte übertragen und erweitert werden. Auch an dieser Stelle wird auf ausgewählte Elemente des Modells von Nicole Mahne zurückgegriffen. Die Begründung für diese Entscheidung ist dieselbe wie schon im Kapitel „Raum“. Die verschiedenen Zeitperspektiven lassen sich am einfachsten über die einzelnen Raumebenen Panel, Panelsequenz und das Seitenlayout analysieren.

Auf der kleinsten Untersuchungsebene lässt sich zunächst erkennen, dass viele Sprechsequenzen gleichzeitig dargestellt werden können, obwohl diese in chronologischer Abfolge nacheinander erfolgen müssten. Dies bedeutet auf der „werkexternen“ Ebene, dass eine Verlangsamung der erzählten Zeit durch die vielen einzelnen Anteile der Figurenrede erzeugt wird. Auf der „werkinternen“ Ebene erfolgt eine lineare chronologisch ausgerichtete Rezepition, welche die Erzählzeit beeinflusst (Abbott: 162). Somit lässt sich festhalten, dass große Panels oder Panels mit viel Text/ viel Bildmaterial ein verlangsamtes Wahrnehmen, also eine Zeitdehnung, erzeugen. Kleinere Panels mit weniger Bild/Text ermöglichen hingegen ein schnelles Lesen (Raffung) (Pellitteri: 58).

Neben den Rezeptionszeiten nehmen auch zeitliche Abläufe innerhalb des Panels einen ho- hen Stellenwert ein. Besonders werden diese verdeutlicht durch bewegte Gegenstände, denn zeitliche Abläufe können nicht durch starre Bilder, sondern nur durch Bewegungen dargestellt werden. „Typisch für die comic-eigene Bildlichkeit ist besonders die Bewe- gungslinie. Sie verdichtet verschiedene Zeitpunkte, in denen die Ansicht eines Körpers sich wandelt.“ (Balzer/Diek: 49). Somit können auch Bewegungen bzw. Bewegungslinien Ge- genstand der Analyse sein, wenn es darum geht, eine zeitliche Einordnung vorzunehmen. Weiterführend können diese Bewegungen auch Gegenstand der zweiten Untersuchungs- ebene der Panelsequenz sein, da Bewegungen im Panel nur angedeutet werden.

[...]


1 In dieser Arbeit wird ausschließlich der englische Begriff Graphic Novel verwendet. Dabei wird der Be- griff mit Hilfe der deutschen Grammatik dekliniert.

2 Das Panel stellt einen einzelnen Bestandteil der Comicseite/Graphic Novel Seite dar. Dieser kann aus einem Bild oder der Fusion aus Bild und Text bestehen. Eine Panelsequenz entsteht immer dann, wenn mindestens zwei Panels hintereinander geschaltet sind und ein linearer Zusammenhang zwischen diesen, in Form einer Handlung/ Geschichte, erkennbar ist (Albert: Internetquelle). Die Panelsequenz kann als typisches Merkmal für Comics und Graphic Novels angeführt werden.

3 Dieser Fachbegriff stammt aus dem Bereich der Printmedien und wird von McCloud in seinem Werk „Understanding Comics: The Invisible Art“ (1994) genutzt, um den Zwischenraum zwischen einzelnen Panels zu definieren. Alternativ sind in der Fachliteratur auch die Synonyme „Hiatus“ oder „(weißer) Steg“, welches schlichtweg die Übersetzung von `gutter´ darstellt, zu finden.

4 Als „Comicstrip“ wird die streifenartige/lineare Anordnung von kurzen, in sich abgeschlossenen Comicgeschichten in Zeitungsformaten bezeichnet.

5 In dem Begriff „comix“ wird bei der Pluralbildung bewusst auf das -s verzichtet. Diese soll als Hinweis dienen, dass sich diese Comicform von den gewöhnlichen Comicformaten und Themen abhebt. Darüber hinaus soll das -x auf die Altersfreigabe x-rating verweisen (Lambiek: Internetquelle). Diese Altersfreigabe wurde noch bis 1990 genutzt, um Literatur oder Filme als nicht jugendfrei zu klassifizie - ren.

6 Diese Definition wurde eigenständig verfasst und entspricht meinem Gedankengut.

7 An dieser Stelle ist anzumerken, dass der Titel „Transmediale Erzähltheorie“ irreführend ist. Mahne stellt in ihrem Werk primär Instrumente dar, welche zur intermedialen Erfassung eines Werkes herangezogen werden können. Ein vergleichendes Erzählen zwischen einzelnen Medien findet in diesem Werk kaum statt.

8 „Die visuelle Präsentation der Figurenrede ist Bestandteil der Darstellungsebene […] [a]uch […] Gedan - kenbeiträge der Figuren und extra- oder intradiegetische Erzählerkommentare bilden Elemente des Präsentationsraums. [Der] Darstellungsraum [der Figuren] und [der] diegetischer Raum überlagern sich folglich innerhalb des Erzählbildes.“ (Mahne: 66) Zentrales Element des Handlungsraumes hingegen ist der Hintergrund (ebd.: 66).

Ende der Leseprobe aus 68 Seiten

Details

Titel
Narration in Lukas Jüligers Graphic Novel "Vakuum". Mit welchen Mitteln inszeniert die Graphic Novel ihren Handlungsverlauf?
Untertitel
Erzähler, Figuren, Zeit und Raum
Note
2,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
68
Katalognummer
V343349
ISBN (eBook)
9783668336247
ISBN (Buch)
9783668336254
Dateigröße
676 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Germanstik, Graphic Novel, Lukas Jüliger, Vakuum, Analyse, Interpretation
Arbeit zitieren
Janine Tyzak (Autor:in), 2014, Narration in Lukas Jüligers Graphic Novel "Vakuum". Mit welchen Mitteln inszeniert die Graphic Novel ihren Handlungsverlauf?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/343349

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