Narzissmus und Paranoia? Die Figurenzeichnung in Goethes "Torquato Tasso"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

26 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Vorbemerkung

2 Goethes Begriff des Charakters

3 Charakteranalyse
3.1 Torquato Tasso
3.2 Alphons der Zweite
3.3. Leonore von Este
3.4 Leonore Sanvitale
3.5 Antonio Montecatino
3.6 Figurenkonstellation

4 Schlussbemerkung

5 Quellen- und Literaturverzeichnis
5.1 Textausgaben
5.2 Literatur

1 Vorbemerkung

Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit den Charakteren in Johann Wolfgang Goethes Drama Torquato Tasso, welches 1790 erstmalig verlegt wurde und als erstes reines Künstlerdrama der Weltliteratur gilt1. Für die Zitation des Dramas wird die Münchener Ausgabe2 verwendet, da sie sich auf die ursprüngliche Druckfassung von 17903 bezieht. Bloße Erwähnung, aller- dings keine Berücksichtigung findet die alternative, um etwa ein Fünftel der Textmenge ge- kürzte Bühnenfassung des Stückes von 18074, da diese für eine Betrachtung hinsichtlich der Charaktergestaltung der Figuren weniger fruchtbar erscheint. Goethe glaubte, wie viele seiner Freunde und Rezensenten des Werkes nicht an die Bühneneignung des Tasso in seiner Fas- sung von 17905, welche er selbst als Ätheaterscheues Werk“6 bezeichnete.

Der Tasso ist ein Zeugnis von Goethes großer inhaltlicher Beschäftigung mit und Affinität zu dem historischen Dichter Torquato Tasso.7 Die Entstehungszeit des Tasso lässt sich begin- nend mit den Jahren 1780/81, auf den Zeitraum bis direkt vor der Veröffentlichung eingren- zen und umfasst somit sowohl Goethes Italienreise als auch die ersten Weimarer Jahre. Die Arbeit an diesem Drama gestaltete sich schwierig, das Arbeitstempo war langsam und wurde durch die Arbeit an anderen Werken immer wieder unterbrochen. Goethes hohe Ansprüche an dieses Drama und die große Mühe, die dafür aufgewendet wurde, trugen wohl dazu bei. Die Schaffenszeit lässt sich in drei Phasen einteilen: In den Jahren 1780/81 entstand der ÄUr- Tasso“, welcher allerdings ebenso, wie die 1786/87 im Zuge der Italienreise entstandenen Fragmente und die Niederschriften 1788/89 in Weimar nicht erhalten sind. Lediglich eine Reinschrift von Goethes Rohmanuskript sowie eine Vorlage für den Setzer blieben erhalten, beide Textzeugen stellen allerdings keine Autographen dar. Mutmaßlich vernichtete Goethe seine eigenen Aufzeichnungen nachdem er die Arbeit an diesem Drama abgeschlossen hatte.8

Zum Aufriss des Dramas im Allgemeinen lässt sich sagen, dass es aus fünf Aufzügen zu je fünf Auftritten besteht, mit Ausnahme des ersten Aufzuges, der nur 4 Auftritte hat. Das Per- sonal beschränkt sich auf fünf Hauptpersonen: den Dichter Torquato Tasso, den Herzog von Ferrara (Alfons der Zweite), seine Schwester (Leonore von Este), die Gräfin von Scandiano (Leonore Sanvitale) und Antonio Montecatino. Als Ort wird Äauf Belriguardo, einem Lust- schlosse“9 angegeben. Die Handlung lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen:

Der Dichter Torquato Tasso gerät am Hof des Herzogs von Ferrara mit dessen Staatssekretär Antonio aneinander. Dieser glaubt sich gegenüber Tasso herabgesetzt, da dieser mit einem Lorbeerkranz geschmückt wurde. Tasso hingegen fühlt sich persönlich von Antonio abgewie- sen, der seine Offensiven, eine Freundschaft einzugehen, abweist. Dieser Konflikt muss nun vom Herzog geschlichtet werden. Sowohl die Schwester des Fürsten, Leonore, als auch die Gräfin Leonore von Scandiano, beide dem Dichter zugeneigt, versuchen jeweils Einfluss auf die Schlichtung zu nehmen, wobei beide Frauen aber auch persönliche Interessen verfolgen. Unterdessen nimmt Tassos Verfolgungswahn immer heftigere Züge an: Nachdem er auch die (seiner Meinung nach) letzte Verbündete, die Schwester des Herzogs, gegen sich aufgebracht hat, indem er ihre platonische Liebe zu seiner Kunst mit Liebe zu seiner Person verwechselt hat und diese ihn nach einer stürmischen Umarmung brüsk abweist, erklärt er alle Menschen in seinem Umfeld zu seinen Feinden und fordert seine Freistellung vom Hof. Er will nach Rom aufbrechen. Hier schließt die Handlung mit einem offenen Ende. Zu der historischen Vorlage des Dramas, dem Dichter, der 1544 in Sorrent geboren wurde, lässt sich folgendes feststellen:

ÄPsychisch labil, wurde er nach öffentlichen Ausfällen unter anderem gegen Herzog Alfonso 1577 von diesem vorübergehend unter Hausarrest gestellt und 1579 als geisteskrank eingekerkert. Bei seiner Ent- lassung 1586 gesundheitlich zerrüttet, starb er 1595 kurz vor seiner geplanten öffentlichen Krönung zum ›poeta laureatus‹ auf dem Kapitol durch Papst Clemens VIII. Zu der kurz nach seinem Tod einsetzenden Legendenbildung steuerte schon Tassos erster Biograph Battista Manso die angebliche Liebesgeschichte Tassos mit der Schwester des Herzogs, Leonore d’Este, bei; einer späteren Überlieferung zufolge sei Tassos Wahnsinn mit einer öffentlichen Umarmung der Prinzessin ausgebrochen und er deshalb einge- sperrt worden.“10

Für eine Charakteranalyse erweist sich Goethes Torquato Tasso insofern als außerordentlich geeignet, als er bereits in den ersten Reaktionen, vor allem Äußerungen zur Gattungsproble- matik in jener Hinsicht aufwarf, dass der Tasso ein Übermaß an Charakterdarstellung und lediglich ein Minimum an Handlung vorweise, was wiederum einige Rezensenten dazu verlei- tete, dem Tasso die Gattungszuordnung zum Drama ebenso abzusprechen zu wollen, wie auch die zur Gattung Roman.11 Erkennbar ist die Beurteilung des Werkes nach Maßstäben der Auf- führbarkeit12 und die dazu genutzte Brechung des Dramas auf der Folie der aristotelischen Dramentheorie. Zwar wird die Ordnung der französischen tragédie classique mit der Einheit von Zeit und Ort eingehalten, auch das Personal entspricht hinsichtlich seines Standes ganz dieser Form, jedoch widerspricht die Dominanz des Charakters über die Handlung strukturell theoretisch dieser Zuordnung.13 Jedoch soll diese Gattungsdiskussion an dieser Stelle nicht geführt werden; lediglich dient die Beobachtung, dass in Goethes Drama eine sehr detaillierte Arbeit an den Charakteren stattfindet als Anlass und Ausgangspunkt für diese Untersuchung. Ein vielzitierter Satz zum Tasso, seinen Charakteren und deren Herkunft respektive realer Vorlagen, stammt vom Autor selbst:

ÄIch hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Kontrast den Antonio gegenüberstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte.“14

Beginnend mit einem Aufriss über Goethes Charakter-Begriff, wird im Folgenden analysiert, ob sich seine Begriffsbildung zur Untersuchung der Figuren des Tasso heranziehen lässt. Dieser Teil der Arbeit stützt sich im Wesentlichen auf Goethes Rede zum Shakespeares-Tag15, das Goethe-Wörterbuch und zwei Lexikonartikel mit Goethe-Schwerpunkt. Anschließend wird eine Charakteranalyse der Hauptfiguren hinsichtlich der im ersten Abschnitt erarbeiteten Parameter vorgenommen und abschließend ein Fazit gezogen. und die historische Dichtergestalt. Frankfurt am Main. Internationaler Verlag der Wissenschaften 2014.

2 Goethes Begriff des Charakters

Goethes Rede zum Shakespeares-Tag, welche er mutmaßlich am 14. Oktober 1771 in Frank- furt am Main in seinem Elternhaus hielt16, enthält einige Äußerungen, welche hier genutzt werden sollen, um zu überprüfen, inwiefern Goethe sich in seinem Drama Torquato Tasso an seine eigenen Aussagen messen lassen kann. Diese Rede lässt sich eher als Rede eines Dich- ters über einen Dichter, denn als literarische Kritik oder Interpretation begreifen; er preist das Werk und das Genie Shakespeares.17 Sie gilt außerdem als klare Positionierung Goethes ge- gen jede Form von Regelpoetik.

Für die Betrachtung des Tasso ist besonders der folgende Abschnitt der Rede relevant, der die Bauform des Tasso konkret zu kommentieren scheint:

ÄIch zweifelte keinen Augenblick dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft, und fühlte erst dass ich Hände und Füße hatte. Und ietzo da ich sahe, wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wie viel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte, und nicht täglich suchte ihre Türne zusammenzuschlagen.

Das griechische Theater, das die Franzosen zum Muster nahmen, war, nach innrer und äußerer Beschaffenheit, so, dass eher ein Marquis den Alcibiades nachahmen könnte, als es Corneillen dem Sophokles zu folgen möglich wär.

Erst Intermezzo des Gottesdiensts, dann feierlich politisch, zeigte das Trauerspiel einzelne große Handlungen der Väter, dem Volk, mit der reinen Einfalt der Vollkommenheit, erregte ganze große Empfindungen in den Seelen, denn es war selbst ganz, und groß.“18

Goethe kritisiert eben die Parameter, an denen sein Drama Tasso gemessen wird - nämlich an der Tauglichkeit eines dramatischen Textes Auf der Bühne. Damit bemängelt er aber gleich- zeitig die Aristotelische Regelpoetik und die daraus hervorgegangenen Regelpoetiken, be- zeichnet die ÄFesseln“, die der ÄEinbildungskraft“ angelegt werden als Älästig“ und spricht sich somit gegen die klassische Bauform des Dramas aus. Jedoch setzt Goethe im Tasso eini- ge Jahre später eben diese Regelpoetik in geradezu bestechender Präzision um, was im ersten Augenblick irritierend erscheinen mag.19 Auf diesen vermeintlichen Widerspruch wird im nächsten Kapitel noch näher eingegangen. Die Thematik der Gattungszugehörigkeit des Tasso wird allerdings nur am Rande thematisiert, da sie das Sujet der Arbeit nur geringfügig berührt.

Zur Eigenheit des Begriffes Charakter merkt Goethe in der Rede zum Shakespeares-Tag an:

ÄDie meisten von diesen Herren, stoßen auch besonders an seinen [Shakespeares] Charakteren an. Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen. […]

Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in Colossalischer Größe; darin liegts dass wir unsre Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft.

Und was will sich unser Jahrhundert unterstehen von Natur zu urteilen? Wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen, und an andern sehen. Ich schäme mich oft vor Shakespearen, denn es kommt manchmal vor, dass ich beim ersten Blick denke, das hätt ich an- ders gemacht! Hinten drein erkenn ich, dass ich ein armer Sünder bin, dass aus Shakespearen die Natur weissagt, und dass meine Menschen Seifenblasen sind von Romanengrillen aufgetrieben.“20

In diesen Zeilen kritisiert Goethe den Umgang mit den Figuren, die nicht der Realität nachge- bildet würden, sondern quasi einem überlebensgroßem Abbild einer realen Figur, was dazu führe, dass Äwir unsere Brüder verkennen“. Vielmehr plädiert er dafür, sich bei der Figuren- zeichnung an die Natur, beziehungsweise natürliche Vorlagen zu halten. Diese, den Sturm und Drang herbeizitierende Aussage, legt nahe, Figuren aus dem Äechten Leben“ zu beziehen und diese nicht mit übermenschlichen Attributen auszustatten, wie es lange Tradition in der Litera- tur war. Gleichzeitig übt Goethe jedoch Selbstkritik, indem er anmerkt, dass er dieser eigenen Vorstellung und Maßgabe häufig nicht gerecht werden könne. Ob dies auch beim Tasso der Fall ist, gilt es später zu prüfen.

Unter dem Schlagwort Charakter findet man im Metzler Goethe Lexikon folgende Definition:

ÄG. interessieren die Charaktere ganzer Völker und Kontinente […], öfters jedoch diejenigen einzelner Menschen. Im Werther dient der Begriff wiederholt zur Beschreibung eines inneren Wesens, das sich durch Taten in der Welt nach außen lebt. ‚Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter.‘, heißt es in Wilhelm Meisters Lehrjahre […] und im West-östlichen Divan schreibt G.: ‚Der Charakter ruht auf der Persönlichkeit, nicht auf den Talenten.‘ Charakterstudien in diesem Sinne liefert G. in seiner mit ‚Charakter‘ betitelten Winkelmannstudie, ebenso in der Schilderung seines Dichterfreundes Lenz am Beginn des 14. Buches von Dichtung und Wahrheit. […]

Die Schwierigkeiten einen Charakter zu beschreiben hält G. im Vorwort zur Farbenlehre fest: ‚Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen und Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.‘“21

In dieser Definition lässt sich bereits erkennen, dass es nicht ganz einfach ist, den Begriff trennscharf zu fassen. Charakter soll allerdings im Folgenden durchaus ein Begriff zur Beschreibung einzelner Menschen sein, wie hier vorgeschlagen. Eine Option, wie im Werther angedeutet ist es also, den Charakter als Innenleben des Menschen anzusehen, welches durch seine Taten auch für andere sichtbar wird.

Einen etwas anderen Schwerpunkt setzt das Goethe-Lexikon, welches mit Hilfe von Beleg- stellen aus der Italienischen Reise, ähnlich wie in Wilhelm Meisters Lehrjahre nahelegt, dass Charakter sich aus der ÄGeschichte“22 eines Menschen konstruiere, beziehungsweise ÄDas Leben des Menschen […] Charakter [sei.]“23. Diese retrospektive Betrachtung der Vokabel Charakter, welche mit Persönlichkeit gleichgesetzt wird24, stellt allerdings insofern ein Prob- lem dar, als dass sie eben nur retrospektiv zu verwenden ist, also der Charakter erst wird, aber zum Zeitpunkt des Handels selbst eben noch nicht ist. Jedoch sind diese Hinweise auf Goe- thes Verständnis des Begriffes Charakter an dieser Stelle immer noch unscharf und lassen sich noch spezifizieren.

In der Geschichte der Farbenlehre schließlich wird Goethes Definition des Begriffes etwas deutlicher und ausführlicher; so definiert er nicht nur den Begriff selbst, sondern auch einen Ästarken“, einen Äsich selbst getreuen“ und einen Ägroßen“ Charakter:

ÄJedes Wesen, das sich als eine Einheit fühlt, will sich in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unverändert erhalten. Dies ist eine ewige, notwenige Gabe der Natur, und so kann man sagen, jedes einzelne habe Charakter bis zum Wurm hinunter, der sich krümmt, wenn er getreten wird. In diesem Sinne dürfen wir dem Schwachen, ja dem Feigen selbst Charakter zuschreiben: denn er gibt auf, was andere Menschen über alles schätzen, was aber nicht zu seiner Natur gehört: die Ehre, den Ruhm, nur damit er seine Persönlichkeit erhalte. Doch bedient man sich dem Begriff des Charakter gewöhnlich in einem höheren Sinne: wenn nämlich eine Persönlichkeit von bedeutenden Eigenschaften auf ihrer Weise verharret und sich durch nichts davon abwendig machen läßt. […]

Einen starken Charakter nennt man, wenn er sich allen äußerlichen Hindernissen mächtig entgegensetzt und seine Eigentümlichkeiten, selbst mit Gefahr seine Persönlichkeit zu verlieren, durchzusetzen sucht. […]

Ein sich selbst getreuer. Ängstlich ist es anzusehen, wenn ein starker Charakter, um sich selbst getreu zu blieben, treulos gegen die Welt wird und, um innerlich wahr zu sein, das Wirkliche für eine Lüge erklärt und sich dabei ganz gleichgültig erzeigt, ob man ihn für halsstarrig, verstodt, eigensinnig oder für lächerlich halte. Dessenungeachtet bleibt der Charakter immer Charakter, er mag das Rechte oder das Unrechte, das Wahre oder das Falsche wollen und eifrig dafür arbeiten. […]

Einen großen Charakter nennt man, wenn die Stärke dessen zugleich mit großen unübersehlichen, unendlichen Eigenschaften, Fähigkeiten verbunden ist und durch ihn ganz originelle, unerwartete Absichten, Pläne und Taten zum Vorschein kommen. […]

Das Hauptfundament des Sittlichen ist der gute Wille, der seiner Natur nach nur aufs Rechte gerichtet sein kann; das Hauptfundament des Charakters ist das entschiedene Wollen, ohne Rücksicht auf Recht und Unrecht, auf Gut und Böse, auf Wahrheit und Irrtum; es ist das, was jede Partei an den Ihrigen so höchlich schätzt. Der Wille gehört der Freiheit, er bezieht sich auf den inneren Menschen, auf den Zweck, das Wollen gehört der Natur und bezieht sich auf die äußere Welt, auf die Tat.“25

Zunächst spricht Goethe also von dem Charakter als der Natur eines Menschen, also dem, was ihm von Natur aus eigen ist, ganz gleich, ob feige, schwach oder stark. Spezifizierend fügt er an, dass die Vokabel häufig jedoch anders, nämlich wertend verwendet wird. Diese verengte Definition umfasst eine Verteidigung der Eigenheiten gegenüber äußeren Einflüssen. ÄSchwache“ Charaktere gäbe es demnach bei Goethe nicht. Ein starker Charakter hingegen zeichne sich nun dadurch aus, dass dieser nicht nur versucht, seine Persönlichkeit vor Angriffen zu schützen, sondern es auch fertig bringt. Ein sich selbst getreuer Charakter wiederum sei ein starker Charakter, der sich in dem Versuch, er selbst zu bleiben gegen seine Umwelt stelle und hierbei jeglichen Bezug zur Realität verliere, wobei ihm unterdessen gleichgültig sei, was andere Menschen von ihm denken. Ein großer Charakter indes ergibt sich, wenn ein starker Charakter außerdem innovative Ideen in sich birgt.

Im Goethe-Wörterbuch wird in sehr großer Ausführlichkeit dargelegt, in welchen Zusammen- hängen und mit welchen Bedeutungszuschreibungen Goethe den Begriff Charakter verwen- det:

Ä[…] Rund 1200 Belege, davon fast die Hälfte als Charakter des Menschen (3), etwa ein Drittel in der künstlerischen Terminologie (4). […] Der Gebrauch des Wortes wird im Wesentlichen von der Möglich- keit bestimmt, sowohl individuierende wie typisierende Merkmale zu erfassen. Das individuierende Moment spielt in Bezeichnung der (moralisch indifferenten) Grunddisposition des Menschen, seiner Grundbestimmung in G-s Charakterlehre die zentrale Rolle (3 a). […] Als das ‘Allgemeine’, ‘Generelle’ steht es neben ‘Typus’, ‘Idee’ u ‘Begriff’. […] Er [der Begriff] bezeichnet ebenso die abstrakt-begriffl Charaktertypik der Aufklärungsästhetik wie das subjektive Moment der von der Genieästhetik propa- gierten Ausdruckskunst […] G benutzt ihn unter wechselnden Aspekten sowohl positiv wie auch nega- tiv. […]

3 Wesensart, innere Konstitution des Menschen (vereinzelt in Ausdehnung des Begriffs auf den Gesamtkomplex der Lebewesen)

a individuelle Eigenart, Wesensbeschaffenheit

α angeborene Individualität, in sich stabile Grundveranlagung eines Lebewesens, Persönlichkeitsstruk- tur, ‘Grundbestimmung’, ‘Dämon’ des Menschen; auch […] ‘angeborener, eigener, besonderer, indivi- dueller Ch.’, neben ‘Naturell’, ‘Persönlichkeit’, ‘Wesen’, ‘Individualität’; als ‘subjektives’ Moment von bes Bedeutung […].

β unter dem Aspekt der Modifizierbarkeit: (angeboren u) ausbildbar, entwicklungsfähig, päd beeinflußbar 2); vereinzelt verbunden mit Formvorstellungen; auch […] ‘einen anderen Ch. annehmen’, ‘aus seinem Ch. gehen’, ‘sich einen fremden Ch. aufbinden’ der eigene Ch., von der Natur verliehen, durch ununterbrochene Thätigkeit ausgebildet

γ bestimmte (durch positive od negative Eigenschaften gekennzeichnete) Wesens-, Gemüts- od Sinnesart eines Menschen; mit Attr wie: rein, heiter, sanft, aufrichtig, […]

b Charaktertypus, vereinzelt metonym: Mensch von best Wesensart; auch iZshg einer (an natwiss Begriffen orientierten) Charaktertypologie

c innerer, sittl Wert, innere Dimension, ethische Haltung des Menschen; den Wertaspekt implizierend od in Vbdg mit wertenden od entsprechend differenzierenden Attr: ‘großer, bedeutender, besonderer, guter, schöner, edler, trefflicher, herrlicher, unschätzbarer, geprüfter, erprobter, sittlicher, moralischer Ch.’, ‘Größe, Großheit, Tiefe des Ch-s’, auch ‘jds Ch. verderben’ uä; definitorisch u in konkr Bezug […]

4 a das Bezeichnende, Charakteristische, in der Porträtkunst u Figurendarstellung auch das Individuelle eines Darstellungsgegenstandes; iVbdgn wie ‘den Ch. treffen, verfehlen, fliehen’, ‘eigentlicher, individueller, auffallender, sich aussprechender Ch.’[…]

d β poetischer Charaktertypus, durch individuelle u/od typisierende Merkmale gekennzeichnete poeti- sche Figur (meist Pl); ‘Wahrheit’, hist Glaubwürdigkeit der Charaktere u ihre ideelle Überhöhung, ‘Ab- sonderung’, Unterscheidung, Kontrastierung, Abstufung der Figuren u ihre Integration in ein komposito- risches Gesamtkonzept einzeln thematisiert od (programmatisch) verbunden; mehrf in Übertragung

[...]


1 GOETHE, JOHANN WOLFGANG VON: Torquato Tasso. In: Dramen 1776 - 1790. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Dt. Klassiker-Verl 1988 (=Bibliothek deutscher Klassiker), S. 1416. (=FA I,5)

2 GOETHE, JOHANN WOLFGANG VON: Torquato Tasso. In: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaf- fens. Münchner Ausgabe. Bd. 3. Italien und Weimar. 1786 - 1790. München [u.a.]: Hanser 1990. (=MA 3.1)

3 Vgl. BUCK, THEO U. BERND WITTE: Dramen. Stuttgart [u.a.]: Metzler 1997 (=Goethe-Handbuch in vier Bänden / hrsg. von Bernd Witt u.A.; Bd. 2), S. 230.

4 Vgl. LANDFESTER, ULRIKE: Torquato Tasso. In: Kindler Kompakt: Deutsche Literatur, 18. Jahrhundert. : J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, 2015. ProQuest Ebook Central. Web. 21 August 2016.

5 Vgl. FA I,5 [Kommentar], S. 1409.

6 GOETHE in einem Brief an die Schauspielerin Friederike Bethmann vom 17.12.1781. Zitiert nach: FA I,5 [Kommentar], S. 1402.

7 Vgl. TRÁVNÍCEK, REINHARD: Goethes Torquato Tasso und die historische Dichtergestalt. Frankfurt am Main. Internationaler Verlag der Wissenschaften 2014. S. 9-10.

8 Vgl. FA I,5 [Kommentar] S. 1376-1382.

9 MA 3.1 S. 426.

10 Vgl. LANDFESTER 2015. Mehr zu diesem Thema bei TRÁVNÍCEK, REINHARD: Goethes Torquato Tasso

11 Vgl. BUCK/ WITTE 1997, S. 233-24.

12 Vgl. BUCK/ WITTE 1997, S. 242.

13 Vgl. FA I,5 [Kommentar] S. 1404-05.

14 Mit Eckermann, 06.05.1827, zitiert nach FA I,5 [Kommentar] S. 1390.

15 GOETHE, JOHANN WOLFGANG VON: Zum Shakespeares-Tag. In: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12. Schriften zur Kunst. München. Deutscher Taschenbuch Verlag 2000. S. 224-227.

16 Vgl. GOETHE [Anmerkungen] 2000. S. 691.

17 Vgl. GOETHE [Anmerkungen] 2000. S. 692.

18 GOETHE 2000. S. 225.

19 Mehr zu Goethes Rede und seinem Ästhetik-Verständnis bei: SEELE, KATRIN: Goethes poetische Poetik: über die Bedeutung der Dichtkunst in den "Leiden des jungen Werther", im "Torquato Tasso" und in "Wilhelm Meisters Lehrjahren". Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 ([Epistemata/Reihe Literaturwissenschaft] Epistemata: Würzburger wissenschaftliche Schriften). S. 37-46.

20 GOETHE 2000. S. 226-227.

21 VINZENZ, ALBERT: Charakter. In: Metzler-Goethe-Lexikon. Hrsg. von Benedikt Jeßing [u.a.]. Stuttgart [u.a.]. Metzler 1999. S. 75-76.

22 VINZENZ 1999. S: 75.

23 SCHMIDT, HEINRICH: Goethe-Lexikon. Leipzig. Kröner 1912. S. 24.

24 SCHMIDT 1912. S. 24.

25 GOETHE/Farbenlehre, zitiert nach SCHMIDT 1912. S. 24-25.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Narzissmus und Paranoia? Die Figurenzeichnung in Goethes "Torquato Tasso"
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Charakter und Arbeit: Ästhetiken des Handelns
Note
2,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
26
Katalognummer
V343525
ISBN (eBook)
9783668332225
ISBN (Buch)
9783668332232
Dateigröße
732 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Goethe, Tasso, Torquato Tasso, Charakter, Figurenzeichnung, Paranoia, Narzissmus
Arbeit zitieren
Birte Katrin Jensen (Autor:in), 2016, Narzissmus und Paranoia? Die Figurenzeichnung in Goethes "Torquato Tasso", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/343525

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