Lebensort Straße. Die Chancen der Sozialen Arbeit, Obdachlosigkeit im Kontext des Tripelmandates zu verringern


Bachelorarbeit, 2016

53 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Obdachlosigkeit
2.1 Definition von Obdachlosigkeit
2.2 Geschichte und Entwicklung der Obdachlosigkeit
2.3 Erscheinungsformen von Obdachlosigkeit
2.4 Ursachen von Obdachlosigkeit
2.4.1 Individuelle Faktoren
2.4.2 Soziale und gesellschaftliche Faktoren
2.5 Folgen der Obdachlosigkeit
2.6 Zahlen

3 Soziale Arbeit
3.1 Definition Sozialer Arbeit
3.2 Aufgaben und Ziele der Sozialen Arbeit
3.3 Formen der Sozialen Arbeit
3.4 Methoden der Sozialen Arbeit
3.5 Mandate der Sozialen Arbeit
3.5.1 Das Doppelte Mandat
3.5.2 Das Tripelmandat

4 Soziale Arbeit mit Obdachlosen
4.1 Diversität der Klientel
4.2 Rechtliche Grundlagen und Hilfesysteme Sozialer Arbeit
4.3 Anforderungen und Ziele Sozialer Arbeit
4.4 Möglichkeiten und Formen Sozialer Arbeit
4.5 Grenzen Sozialer Arbeit
4.6 Das Tripelmandat als Instrument zur Verringerung von Obdachlosigkeit

5 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Ausgangspunkt und Motivation für die Themenwahl dieser Bachelorarbeit waren

1. die Durchführung eines Theorieprojektes mit der Thematik Obdachlosigkeit im Rahmen des Studiums (Feldforschung)[1] und
2. die beruflichen Vorerfahrungen Sozialer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Bereich der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII), deren Lebensmittelpunkt (meist kurz- oder mittelfristig) die Straße darstellte („Straßenkinder“)[2].

Obdachlosigkeit ist eine Problematik, die sich geschichtlich gesehen sehr weit zurückverfolgen lässt. Die Geschichte der Obdachlosigkeit ist zugleich die Geschichte der Armut und wird aus heutiger Sicht als extremste Form der Armut und Ausgrenzung bezeichnet (vgl. Ratzka 2012, S. 1218; Paegelow 2012, S. 8).

Spätestens seit Beginn der Industrialisierung ist Obdachlosigkeit nicht nur ein in jeder Gesellschaftsform und Epoche z. T. weit verbreitetes und facettenreiches Phänomen, sondern kennzeichnet auch eine „Problemgruppe“, die seit diesem Zeitpunkt immer vermehrter wahrgenommen wird und für die nach und nach ein eigenständiges Hilfesystem entwickelt worden ist (vgl. Wolf 2001, S. 1293; Ratzka 2012, S. 1218).

Obdachlosigkeit ist bis dato als soziales Problem in scheinbar hochmodernen, aufgeklärten und humanen Zivilgesellschaften existent, denn trotz vielschichtiger Sozialleistungen und -sicherungen reicht das Soziale Netz in der Bundesrepublik Deutschland (einem ökonomisch reichen Land) nicht aus, um alle Menschen ausreichend vor Armut zu schützen.

Spätestens seit den veränderten Fachdiskursen zur Obdachlosigkeit in den 1990er Jahren werden Obdachlosigkeit und Armut in einen direkten Zusammenhang gestellt und die Deutung von Obdachlosigkeit wird – entgegen der personenzentrierten Deutung in der Historie – als eine komplexe Problemlage mit vielfachen Ursachen und Entstehungsbedingungen begriffen (vgl. Watzenig 2013, S. 22; Malyssek et al. 2009, S. 54). Es kann davon ausgegangen werden, dass die gesellschaftlich-soziale Situation ein – wenn nicht sogar den – Parameter für die Entstehung und den Fortbestand von Obdachlosigkeit darstellt (vgl. Watzenig 2013, S. 21 ff.; Lutz et al. 2012, S. 9).

Diese Arbeit setzt sich mit Obdachlosigkeit und den mit diesem Einsatzgebiet und Arbeitsfeld verbundenen Aufgaben, Tätigkeiten und Zielen der Sozialen Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland auseinander. Sie soll einen Beitrag dazu leisten, Obdachlosigkeit mit all seinen Konsequenzen und Facetten darzustellen.

Bis heute existieren in Belletristik und Fachliteratur unterschiedliche Begrifflichkeiten für fast identische Problemlagen. Als z. T. veraltete, negativ behaftete und stigmatisierende Ausdrücke sind hier Penner, Vagabund, Nichtsesshafte, Asoziale, Volksschädlinge, Stadtstreicher, Landstreicher und Berber zu nennen (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 14). Als neutrale Begriffe finden heutzutage zwei Termini Verwendung, die in Politik und Medien meist synonym verwendet werden: Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit. Seit 1987 ist zusätzlich der Begriff Wohnungsnotfälle gebräuchlich, der beide Begriffe versucht zu vereinen (vgl. Specht 2011, S. 984; Watzenig 2013, S. 17). Eine genaue Definition der genannten Begriffe wird in 2.1 dieser Ausarbeitung vorgenommen.

Der Autor hat sich trotz dieser vorhandenen Begriffsdifferenzierung in seiner Arbeit bewusst für den Terminus Obdachlosigkeit entschieden, da dieser aus seiner Sicht der zutreffendste Begriff für diese soziale Problemlage und seine Klientel ist und keinerlei Stigmatisierung beinhaltet. Entgegen der Aussage von S. Gerull, die in ihrem Artikel proklamiert, dass Obdachlosigkeit heutzutage nur noch stigmatisierend verwendet wird (vgl. Gerull 2009, S. 37), impliziert der Begriff Obdachlosigkeit aus der Perspektive des Autors, dass ein Mensch regelmäßig oder für eine gewisse Zeit ohne Obdach ist, ihm also keine eigene Wohnung (Obdach) zur Verfügung steht. Dies beinhaltet somit auch Menschen, die in entsprechenden Einrichtungen (Obdachlosenasyle etc.) oder bei Freunden, Bekannten oder Verwandten (vorübergehend) einen Schlafplatz finden. Obdachlosigkeit kann damit als neutrale Begrifflichkeit für einen Zustand gesehen werden, der jedoch von einer Vielzahl von Menschen in stigmatisierender Art und Weise verstanden und verwendet wird.

Es geht in dieser Arbeit darum, zu veranschaulichen, dass Obdachlosigkeit eine im Vergleich zu dem der Wohnungslosigkeit weiter gefasste Definition darstellt, die den gesamten Personenkreis einer gesellschaftlichen Randgruppe (somit auch die Wohnungslosen) umfasst. Obdachlos zu sein bedeutet, in einer derart unzureichenden Unterkunft (oder ohne Unterkunft) leben zu müssen, was wiederum den Menschenrechten im Recht auf Wohnen widerspricht, da den Betroffenen keinerlei Schutz für Gesundheit und Leben gewährt werden kann (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 15; Lutz et al. 2012, S. 92 f.; Stark 2009, S. 191).

„Lebensort Straße“ wird im Rahmen dieser Arbeit als ein Zustand verstanden, indem Betroffene über keinen eigenen Wohnraum verfügen und somit faktisch „auf der Straße stehen“, ­ auch wenn nicht alle Obdachlosen permanent auf der Straße leben und nächtigen. Das Fehlen eines eigenen bzw. aus eigenen Mitteln finanzierten (gemieteten) Wohnraumes wird hier gleichgesetzt mit einem Leben auf der Straße.

Der Titel dieser Arbeit wurde somit bewusst ausgewählt, um die soziale Notlage der betroffenen Personen deutlich zum Ausdruck zu bringen, denen eben diese Wohnung nicht zur Verfügung steht.

Der Frage, was Wohnung und wohnen eigentlich bedeutet, wird in 2.1 nachgegangen.

Die Arbeit ist inhaltlich in drei Teile gegliedert:

Um einen Einstieg in die Thematik zu erhalten, wird im ersten Teil der Arbeit der Terminus Obdachlosigkeit definiert, um anschließend die geschichtliche Entwicklung, die Erscheinungsformen, die Ursachen und damit einhergehenden Folgen für die Betroffenen eingehender darzustellen. Geschätzte Zahlen und Statistiken schließen das Kapitel.

Im Fokus des zweiten Teils steht die Profession der Sozialen Arbeit im Allgemeinen, ihre Definition, ihre Aufgaben und Ziele, Formen, Methoden und Mandate.

Aufbauend auf Kapitel 2 und 3 wird im dritten Teil ein Bezug zwischen Sozialer Arbeit und Obdachlosigkeit hergestellt. Dieses Kapitel widmet sich explizit der Klientel, dem existierenden Hilfesystem, den Anforderungen und Zielen, Möglichkeiten und Formen, die an Soziale Arbeit im Kontext mit Obdachlosigkeit gestellt wird sowie den Grenzen der Sozialen Arbeit. Bezugnehmend zur Thesis dieser Bachelor-Arbeit werden in 4.6 die Möglichkeiten des Tripelmandats beschrieben, Obdachlosigkeit zu verringern.

Ein Resümee, ob durch das Tripelmandat der Sozialen Arbeit Obdachlosigkeit verringert werden kann, schließt die Arbeit.

2 Obdachlosigkeit

2.1 Definition von Obdachlosigkeit

„Wohnen ist ein zentrales Grundbedürfnis im Leben eines Menschen. In diesem Sinne definierte die UN-Deklaration der Menschenrechte von 1948 in Artikel 25 das Recht auf Wohnen als ein Menschenrecht […]. (Stark 2009, S. 191)

Aber was genau bedeutet Wohnung und wohnen eigentlich? Welche Aspekte und Werte stehen dahinter? Und auf was genau müssen Menschen verzichten, denen keine Wohnung zur Verfügung steht? Dies soll i. F. erörtert werden, um zu verdeutlichen, welche sozialen und humanitären Notlagen sich hinter Obdachlosigkeit verbergen.

Wohnen bzw. Wohnung ist ein sehr vielfältig ausgelegter Begriff und von der jeweiligen Fachrichtung und dem Kontext abhängig. Eine Definition lautet:

„nach außen abgeschlossene, zu Wohnzwecken bestimmte einzelne oder zusammenliegende Räume in Wohn- und sonstigen Gebäuden, welche die Führung eines eigenen Haushalts ermöglichen. Die Wohnung muss eine eigene Küche oder Kochnische und soll einen eigenen Wohnungseingang aufweisen, außerdem Wasserversorgung, Beheizbarkeit, Ausguss und Toilette. Einfamilienhäuser, Einzimmerappartements und Ferienhäuser mit diesen Eigenschaften zählen ebenfalls zu den Wohnungen. “ (IntQ 1)

Zusätzlich zu diesen Indikatoren wird Wohnen sowohl aus allgemeiner wie auch aus philosophischer Sicht zu den elementarsten Bedürfnissen des Menschen gezählt. Mit dem Begriff werden so grundlegende Bedürfnisse wie Schutz, Sicherheit, Intimität und Privatsphäre, Kommunikation, Kontakt, Selbstdarstellung und -verwirklichung, aber auch Repräsentation des sozialen Standes/ Ranges assoziiert (vgl. IntQ 2).

Wird dieses Grundrecht bedroht oder sogar konterkariert, stellt dies Betroffene vor ein enormes Problem, da das Fehlen einer Wohnung und somit eines nicht befriedigten Grundbedürfnisses zu sozialem Ausschluss führen kann (vgl. Stark 2009, S. 192). Ist keine Wohnung vorhanden, bedeutet dies auf viele, wenn nicht sogar auf sämtliche genannten Bedürfnisse verzichten zu müssen und somit einer Notsituation ausgesetzt zu sein. Diese soziale Problemlage wird als Obdachlosigkeit bezeichnet.

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, wird im fachlichen Diskurs versucht zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit eine Trennung zu erzielen.

Zum besseren Verständnis werden im Folgenden beide Begrifflichkeiten erst einmal definiert:

Obdachlosigkeit: Obdach bedeutet Unterkunft, Wohnung (vgl. IntQ 3). Als Obdachlosigkeit wird somit der Zustand beschrieben, in dem Menschen ohne festen Wohnsitz (o. f. W.) leben bzw. keinen festen Wohnsitz besitzen und im öffentlichen Raum, im Freien, bei Verwandten und Freunden oder in Notunterkünften übernachten müssen (vgl. Specht 2011, S. 984 ff.; IntQ 4).

Ordnungsrechtlich gesehen gilt eine Person als obdachlos, „die nicht Tag und Nacht über eine Unterkunft verfügt, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet, Raum, für die notwendigen Lebensbedürfnisse lässt und insgesamt den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft genügt.“ (Ruder et al. 2008, S. 5)

Wohnungslosigkeit: Wohnungslose Menschen sind eine spezifische Untergruppe der Obdachlosen (vgl. Lutz et al. 2012, S. 93). Nach Definition der Bundesarbeits-gemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAGW) gilt eine Person als wohnungslos, die nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt und aufgrund ordnungsrechtlicher Maßnahmen ohne Mietvertrag in Notunterkünften, Wohnungen oder anderen Unterbringungsformen eingewiesen ist. Im sozialhilferechtlichen Sektor werden mit wohnungslos Menschen bezeichnet, die ohne Mietvertrag untergebracht sind und deren Unterbringungskosten vom Sozialhilfeträger übernommen werden (z. B. nach §§ 67 - 69 SGB XII). Menschen, die vorübergehend in Heimen, Anstalten oder Asylen sowie Frauenhäusern und Notübernachtungsstellen wohnen oder ganz ohne Unterkunft "Platte machen", gelten ebenfalls als wohnungslos wie auch Menschen, die bei Verwandten oder Bekannten vorübergehend unterkommen oder als Selbstzahler in Billigpensionen leben (vgl. IntQ 4).

Die Begriffe Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit werden im allgemeinen Sprachgebrauch, in Verwaltungspraxis, Fachliteratur und Rechtsprechung oft synonym verwendet (vgl. Malyssek et al. 2009, S. 38 f.; Specht 2011, S. 984).

Im rechtlichen Sinne unterscheiden sich die Begriffe dadurch, dass nach §§ 67 ff. SGB XII bei Wohnungslosigkeit besondere soziale Schwierigkeiten vorliegen müssen. Dann erhalten Wohnungslose sozialrechtliche Hilfe, wohingegen Obdachlose lediglich ordnungsrechtlich unterzubringen sind (vgl. Paegelow 2012, S. 34).

Mittlerweile wurde durch die universale Verwendung des Terminus Wohnungs-losigkeit die Differenzierung zwischen Obdach- und Wohnungslosigkeit aufgehoben (vgl. Gerull 2009, S. 37), wobei der Begriff Obdachlosigkeit weiterhin geläufig und allgegenwertig ist und vielfach – auch parallel und synonym – verwendet wird.

Seit 1987 ist zusätzlich der Begriff Wohnungsnotfälle gebräuchlich, der versucht, beide Begrifflichkeiten zu vereinen, sozusagen als Klammer für beide Gruppen zu fungieren, um diese wenig sinnvolle Abgrenzung zu überwinden.

Der Wohnungsnotfall wird in folgende drei Hauptkategorien unterteilt:

- Personen, die unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht sind.
- Menschen, die aktuell von Wohnungslosigkeit betroffen sind.
- Personen, die in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben.

(vgl. Specht 2011, S. 985; Watzenig 2013, S. 17; Wolf 2001, S. 1292).

Als wohnungs- bzw. obdachlos gelten somit Menschen, die ordnungs- oder sozialrechtlich gesehen in Obdachloseneinrichtungen oder -wohnungen, Heimen, Pensionen, Notunterkünften oder Containern untergebracht sind, die kurzfristig bei Freunden, Verwandten oder Bekannten „Unterschlupf“ finden oder die draußen nächtigen (unter Brücken, in Parkanlagen, Parkbänken, Parkhäusern, öffentlichen Plätzen oder Toiletten etc.) (vgl. Geiger 2008, S. 385).

2.2 Geschichte und Entwicklung der Obdachlosigkeit

Obdachlosigkeit ist ein Phänomen, das sich sehr weit in der Geschichte der Menschheit zurückverfolgen lässt. Gründe hierfür waren religiöser, beruflicher, politischer und wirtschaftlicher Natur, wobei in diesem Kontext auch Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen oder Seuchen zu nennen sind (vgl. Geiger 2008, S. 389).

In diesem Abschnitt wird die Entwicklung der Obdachlosigkeit ab dem 19. Jahrhundert, also mit Beginn der industriellen Revolution, skizziert, wobei die vorherigen Epochen in diesem Zusammenhang auch kurz Erwähnung finden sollen.

Das soziale Problem der Obdachlosigkeit kann nicht allein am Fehlen eines festen Wohnsitzes festgemacht werden, sondern an der materiellen Not und der daraus resultierenden politischen und sozialen Isolation betroffener Personen. In der Vergangenheit galt Obdachlosigkeit als ein Ausdruck und Charakteristikum nichtsesshafter und defizitärer Lebensweisen und als Resultat individueller Verhaltensstörung. Ein Zusammenhang zwischen der jeweiligen historischen und politischen Situation, den Existenzbedingungen und den damit verbundenen differenten Ursachen der Mobilität wurde in diesem Kontext nicht hergestellt (vgl. Ratzka 2012, S. 1218, Lutz et al. 2012, S. 9).

„Zu den mobilen Umherziehenden gehörten so unterschiedliche Gruppen wie Gaukler, Hausierer, Gauner und Räuber, Wandergewerbetreibende, abgedankte Soldaten, verarmte Bauern, Angehörige so genannter ´unehrlicher´ Berufe, wandernde Handwerksgesellen oder auch Glaubensverfolgte.“ (Ratzka 2012, S. 1212 f.)

Im 18. Jahrhundert zogen nach Schätzungen vier bis zehn Prozent der Bevölkerung als Tagelöhner oder Vertriebene, Entlaufene und Entwurzelte durch die Lande, was als Gefahr für Eigentum und Sicherheit, als gefährliches Unruhepotenzial und als Gefahr „ für die geistige Vormachtstellung der Kirche angesehen wurde.“ (Lutz et al. 2012, S. 60) und dem mit Regressionen (Bettelverbot, Einweisung in Arbeits- und Zuchthäuser, Abschiebung, Nichterteilung von Betriebs- und Reise-erlaubnissen) gegen Betroffene auf ordnungspolitische Weise versucht wurde Einhalt zu gebieten (vgl. Ratzka 2012, S. 1219, Geiger 2008, S. 389).

Mit Beginn der Industrialisierung lässt sich Obdachlosigkeit in einem größeren Umfang ausmachen, da seitdem Wohnung und Unterkunft als Ware gilt (vgl. Wolf 2001, S. 1293 f.). Seitdem gab es kaum Zeitabschnitte ohne Wohnungsnot.

Bis zur deutschen Reichsgründung im Jahr 1871 kam es zu neuerlichen Wanderbewegungen, da die Menschen (insbesondere Handwerker, Bahn- und Chausseebauer, landwirtschaftliche Saisonarbeiter) gezwungen waren, Lohnarbeit außerhalb ihrer Heimat zu suchen und anzunehmen. Bedingt durch die Arbeitssituation und dem unkontrollierten Wachstum der Städte, die an Standorten entstanden, an denen Arbeit in hohem Maße durch Industrieproduktion geschaffen worden war, wurde Mobilität und damit verbundene Nichtsesshaftigkeit zu einer zwingenden Notwendigkeit (vgl. Paegelow 2012, S. 42; John 1988, S. 246 ff).

„Die Arbeitskraft wurde mobil, das Elend aber blieb und nahm neue Formen an; etwa in Gestalt der Wanderarmen und der unwirtlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, denen das Proletariat in den Fabriken und in den hastig aus dem Boden gestampften Städten der industriellen Ballungsräume ausgesetzt war.“ (Geiger 2008, S. 390)

Personen, die aufgrund ihrer Arbeitsfähigkeit und -notwendigkeit eine legale und geduldete nichtsesshafte Lebensführung in Kauf nehmen mussten, galten als freie Wander-, Bau- und Fabrikarbeiter. Im Gegensatz zu erwerbsgeminderten Personen bestritten sie ihren Lebensunterhalt ohne Bettelei und mussten keinerlei Straf- und Abschiebemaßnahmen befürchten (vgl. Ratzka 2012, S. 1219).

Arbeit und Wanderarmut wurde schon früh in Zusammenhang gesetzt. Die Wanderarmenhilfe nutzte Arbeit als Instrument, um bedürftige Arme von Vaganten und Landstreichern zu unterscheiden, die durch o. g. Regressionen wie Haft und Arbeitshaus gebessert werden sollten. Die in dieser Zeit existierenden und sich entwickelnden Hilfesysteme waren private Hilfen mit pädagogischem Anspruch auf Besserung und Heilung[3] (vgl. Wolf 2001, S. 1294).

Die Ansicht, dass Armut und Wohnungslosigkeit selbst verschuldet sei, führte dazu, dass diese Problematik auf extremste Weise individualisiert wurde, was zur Folge hatte, dass Konflikte mit der Obrigkeit gar nicht erst auftreten konnten. Eine Verantwortung bzw. ein Zusammenhang zwischen Armut/ Obdachlosigkeit und der herrschenden Gesellschaftsform und -situation wurde faktisch ausgeschlossen und somit war eine nach heutigem Kenntnis- und Wissensstand tatsächliche und zielführende Problemanalyse nicht möglich (vgl. Lutz et al. 2012, S. 61).

Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich diese Sichtweise. Initiiert u. a. durch den Marxismus und der Begründung des Konzeptes „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder aktivierender Fürsorge (Arbeit statt Almosen) durch Friedrich von Bodelschwingh wurde Vagabundentum und Obdachlosigkeit nicht mehr nur als individualisiertes Problem verstanden, sondern wurde als ein Produkt aus Sozialisationsbedingungen und Armut begriffen (vgl. Lutz et al. 2012, S. 61 f.; Paegelow 2012, S. 37).

Ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise (1929) am Ende der Weimarer Republik mit einhergehender Massenarbeitslosigkeit befanden sich die eingeführten sozialstaat-lichen Errungenschaften der Sozialversicherungen (Kranken-, Unfall-, Renten-, Ange-stellten- und Arbeitslosenversicherung), die viele Ausgrenzungsrisiken beseitigt bzw. minimiert hatten, wieder in Gefahr. Viele Arbeitslose fielen in die Armenhilfe zurück und Obdachlosigkeit stieg wieder an. Damit war in Deutschland der Nährboden und die daraus resultierende Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bereitet. In dieser Zeit fand eine qualitative sowie quantitative Steigerung der Stigmatisierung und Verfolgung der Obdachlosen statt bis hin zur Massenvernichtung dieser „Asozialen“ und „Gemeinschaftsfremden“ (vgl. Geiger 2008, S. 390; Lutz et al. 2012, S. 66).

Der anschließende 2. Weltkrieg hatte zur Folge, dass nach seinem Ende durch Kriegs-schäden und gravierende Zerstörungen viele Menschen ohne menschenwürdigen Wohnraum leben mussten. Die größte Wohnungsnot war erst 1960 überwunden. Bedingt durch den sozialen Wohnungsbau entstanden sog. Trabantenstädte, die eine Linderung dieser prekären Situation erzielten. Zu Anfang bis Mitte der 1980er Jahren entstand eine neuerliche Wohnungsnot, die sich aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge und der Zunahme an Single- Haushalten mit gleichzeitiger Wohnungs-knappheit entwickelte, wobei sich ab Mitte des Jahrzehntes diese Situation für eine kurze Periode entspannte (Erholung des Wohnungsmarktes, Rückgang der Miet- und Immobilienpreise, Leerstand) (vgl. Paegelow 2012, S. 42).

Seit den 1990er Jahren ist wieder ein Anstieg der Wohnungsnot zu verzeichnen. Gründe hierfür sind fehlender finanzierbarer Wohnraum in den Ballungszentren bei gleichzeitigem Leerstand in ökonomisch schwachen und ländlichen Gebieten als Produkt jahrelang verfehlter Wohnbau- und Sozialpolitik. Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum in ökonomisch starken Gebieten der Republik übersteigt das entsprechende Angebot. Im Umkehrschluss stehen in ökonomisch schwachen Gebieten eine Unzahl an Wohnungen leer (vgl. Paegelow 2012, 42 ff.).

Die Sichtweise auf das soziale Problem der Obdachlosigkeit änderte sich seit dem Ende des 2. Weltkrieges sukzessive. Die noch vorherrschende individualisierte und pathologische Denk- und Sichtweise auf die Ursachen von Obdachlosigkeit veränderte sich hin zur Erkenntnis und Akzeptanz von neuen Faktoren, die in einer dynamischen Wechselwirkung einander beeinflussen. Dieser Prozess vollzog sich jedoch sehr zögerlich, da bis in die 1980er Jahre weiterhin eine individualisierte und pathologische Ausrichtung auf die Ursachen angenommen wurde, was implizierte, dass Nichtsess-haftigkeit[4] therapeutisch behandelbar ist. Erst heutzutage weiß man, dass Obdachlosig-keit vielfältige individuelle und gesellschaftliche Gründe hat und der Aspekt der Armut ein Hauptmotiv für Obdachlosigkeit darstellt (vgl. Lutz et al. 2012, S. 68 f.)

2.3 Erscheinungsformen von Obdachlosigkeit

Obdachlosigkeit hat viele Gesichter und Erscheinungsformen. Die Ursachen, Ausprägungen und Betroffenen können nicht einfach kategorisiert und als homogene Gruppe angesehen werden. Im Gegenteil: ihre Ursachen sind mannigfaltig, ihre Erscheinungsformen bunt und vielfältig und ihre Mitglieder heterogener Natur (vgl. Watzenig 2013, S. 19; Strasser et al. 2008, S. 140). Sowohl in ihrem sozialen, familiären, gesellschaftlichen und ökonomischen Status divergieren Obdachlose; lediglich die intrinsisch (frei gewählte) oder extrinsische motivierte (notgedrungene) Freiheit der Straße verbindet sie (vgl. Stark 2009, S. 192 f; Geißler 2008, S. 211).

Aus heutiger Perspektive wird Obdachlosigkeit als extremste und brutalste Form der Armut und Ausgrenzung bezeichnet. In fast allen Lebensbereichen ist dieser Personen-kreis stark unterversorgt und ausgegrenzt. Obdachlose sind in einem hohen Maße von sozialer Benachteiligung und Isolation betroffen, denen die Minimalvoraussetzungen für ein normales bürgerliches Leben wie z.B. ein fester Wohnsitz oder das Vorhanden-sein eines Telefon- und/ oder Internetanschluss nicht gegeben sind. Bei dieser Personengruppe handelt es sich demzufolge nicht um eine einheitliche Gruppierung, sondern umfasst unterschiedliche Lebensläufe und Bedarfslagen, die nur das Merkmal Obdachlosigkeit gemeinsam haben (vgl. Ratzka 2012, S. 1227 f; Gillich et al. 2000, S. 89 ff.; Malyssek et al. 2009, S. 52; Albrecht 2012, S. 1405 f.).

Obdachlosigkeit galt und gilt zumeist immer noch als Männerphänomen bzw. als Männerdomäne. Erst Ende der 1980er Jahre wurde Obdachlosigkeit bei Frauen als eigenständiges Problemfeld entdeckt und die Sichtweise hat sich dadurch verändert (vgl. Ratzka 2012, S. 1230). In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass die Zahl der Frauen auf der Straße oder in Unterkünften stetig ansteigt. Deutlich erkennbar ist hierbei die Tatsache, dass Frauen zumeist jünger sind als Männer und über ein höheres Bildungsniveau verfügen (vgl. Lutz et al. 2012, S. 158).

Aktuell ist ebenfalls ein Anstieg von jungen Heranwachsenden zu verzeichnen, die den Weg in die Obdachlosigkeit finden (müssen) (vgl. Watzenig 2013, S. 29).

Eine Erscheinungsform, die bereits immer marginal vertreten war, aber in den letzten Jahren durch den EU- Beitritt der Balkanländer und der aktuellen Flüchtlingssituation einen immensen Anstieg zu verzeichnen hat (und in Zukunft vermehrt haben wird), ist die der Obdachlosen mit Migrationshintergrund. Hier kommen zu den gängigen Problematiken noch weitere hinzu: Sprachbarrieren, Kriegs- und Flucht-traumatisierungen, kulturelle Unterschiede und rassistische Anfeindungen. Dies macht die Situation für diesen Personenkreis noch schwieriger, da sie vielfach einer noch höheren Diskriminierung und einem sozialen Ausschluss ausgesetzt sind als es die Betroffenen dieser sozialen Randgruppe eh schon sind (vgl. Watzenig 2013, S. 35 f.).

Auch das Modell des selbstgewählten Obdachlosen, der sich ganz bewusst für ein Leben außerhalb der Gesellschaft und gegen die bestehenden bürgerlichen („spießigen“) Werte und Normen wie geregelte Arbeit, Familie und Konsum entschieden hat, ist eine Erscheinungsform. Dieses Modell der intrinsischen Motivation stellt aber in dieser Randgruppe eine Minderheit dar und gilt eher als Ausnahme (vgl. Strasser et al. 2008, S. 139).

In der Wohnungslosenhilfe und Forschung wird noch eine weiterführende Differenzierung in latent und manifest obdachlos vorgenommen. Der Unterschied besteht darin, dass latent Obdachlose bisher „nur“ von Wohnungsverlust bedroht sind und in unsicheren Wohn- und Mietverhältnissen leben (müssen), wohingegen manifest Obdachlose bereits ihre Wohnung verloren oder aufgegeben haben und auf der Straße und/ oder in Notunterkünften leben (müssen) (vgl. Strasser et al. 2008, S. 140).

Entgegen der gängigen Klischeevorstellungen gibt es somit nicht den typischen Obdachlosen, sondern es handelt sich um heterogene Personenkreise mit unterschiedlicher Ethnie, Biografie und Bildung sowie unterschiedlichem Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand (vgl. Watzenig 2013, S. 19).

In den letzten Jahren ist außerdem eine neue Entwicklung zu beobachten, die die Erscheinungsform noch einmal verändert hat. Bedingt durch die Versorgung mit Aufenthaltsräumen inklusive Dusch- und Waschmöglichkeiten, Notunterkünften, Kleiderkammern und Tafeln und durch die Tatsache, dass viele Obdachlose bei Freunden/ Bekannten kurz- bis mittelfristig „Unterschlupf“ finden, ist ein Obdachloser anhand von Hygiene- und Kleidungsmerkmalen oftmals nicht mehr von Menschen mit Wohnung zu unterscheiden. Der klassische Obdachlose, wie ihn sich viele Menschen stigmatisierend vorstellen („Penner“) stirbt langsam aus. Dadurch wird das Problem der Obdachlosigkeit zunehmend unsichtbarer, bleibt aber weiterhin eines der drängendsten Themen der Gesellschaft (vgl. Nakamura et al. 2013, S. VI).

Man kann attestieren, dass diese Randgruppe Menschen jeglicher Colour beheimatet und einen Querschnitt durch alle Bevölkerungsgruppen und -schichten und Bildungsniveaus darstellt. Jeder Mensch kann durchaus in die Gefährdungslage kommen, in die Obdachlosigkeit zu geraten – wenn auch die Wahrscheinlichkeit individuell divergiert.

2.4 Ursachen von Obdachlosigkeit

Wie die Überschrift impliziert, hat Obdachlosigkeit mehrere Ursachen. Wie bereits in 2.3 beschrieben, gibt es nicht den Obdachlosen, sondern seine Erscheinungsformen sind sehr facettenreich. Dies gilt ebenso für die Ursachen von Obdachlosigkeit, die eine Vielzahl an Entstehungsbedingungen aufweisen.

Gerät ein Mensch in diese Situation, ist in den meisten Fällen ein Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren vorausgegangen, die bei jedem Betroffenen different sind. Genauso individuell wie der betroffene Mensch in seinen Fähigkeiten und Defiziten ist, genauso individuell gestalten sich die Wege in die Obdachlosigkeit. Die Unterschiedlichkeit, wie jeder Einzelne mit Problemsituationen umzugehen in der Lage ist, also welche Bewältigungskompetenz (Resilienz) er besitzt, kann erklären, warum eine Person in die Obdachlosigkeit abrutscht und eine andere – bei ähnlichen Lebenssituationen – nicht (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 2). Nicht alle Menschen, die von Armut und sozialem Abstieg betroffen sind, landen zwangsläufig in der Obdachlosigkeit. Jedoch besteht bei den Betroffenen die Gefahr, dass der Weg in diese Richtung führen kann, wenn die persönlichen und beruflichen Kartenhäuser nach und nach einstürzen (vgl. Malyssek et al. 2009, S. 52).

Um deutlich zu machen, wie variantenreich die Ursachen für Obdachlosigkeit sein können, wird in den folgenden Abschnitten differenziert zwischen individuellen sowie sozialen und gesellschaftlichen Faktoren. Hierbei soll verdeutlicht werden, dass es in den allermeisten Fällen nicht zu einer einfachen Ursachenzuweisung kommen kann, sondern eine intensive Wechselwirkung der Bereiche herrscht. Nur eine Kumulation an Ursachen (individuell wie sozial/ strukturell) kann in die Obdachlosigkeit führen (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 11; Watzenig 2013, S. 28; Röh 2013, S. 86).

Die Entstehung von Obdachlosigkeit muss demzufolge als komplexer Prozess begriffen werden, bei dem gesellschaftlich-soziale Verhältnisse und individuelle Verhaltensweisen ineinandergreifen, die eine Reaktion auf persönliche, materielle und soziale Lebenslagen darstellt (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 14).

In diesem Zusammenhang wird auch auf genderspezifische Gründe, auf das seit Jahren beobachtbare Phänomen immer jünger werdender Obdachloser und auf Obdachlose mit Migrations- sowie Fluchthintergrund eingegangen.

2.4.1 Individuelle Faktoren

Historisch gesehen wurde der Fokus verstärkt (in vielen Epochen fast ausschließlich) auf personenzentrierte Deutungsmodelle gerichtet, was implizierte, dass Betroffene ausschließlich selbst für ihre prekäre Lage verantwortlich zeichnen (vgl. 2.2). Diese aus heutiger Expertensicht eindimensionale und falsche Sichtweise schloss aus, dass auch soziale und wirtschaftliche Faktoren auf diese Problemlagen maßgeblichen Einfluss nehmen. Doch trotz einer scheinbar aufgeklärten und wissenden Gesellschaft ist weiterhin in vielen Teilen der Bevölkerung die Meinung vertreten, dass Obdachlose ihr Schicksal selbst verschuldet hätten und eigenverantwortlich für ihr Scheitern seien (vgl. Watzenig 2013, S. 21). Dieses soziale Vorurteil, das als Stigmatisierung verstanden werden muss, schreibt von Obdachlosigkeit Betroffenen negative Merkmale zu, die von der Gesellschaftsnorm abweichen (vgl. Malyssek et al. 2009, S. 131 ff.). Diese Sichtweise kann m. E. als ein Produkt fehlenden Wissens und/ oder einer (un)bewussten Angst, selbst einmal in diese Lage zu geraten, verstanden werden.

Nach heutigem Kenntnisstand weiß man, dass Obdachlosigkeit gekennzeichnet ist durch komplexe Problemlagen und mannigfaltige Ursachen. Unter den individuellen Faktoren können belastende Lebensereignisse[5] eines Menschen subsumiert werden: Beziehungsschwierigkeiten, Scheidung, Trennung, physische und psychische Krankheiten, Verlust von nahen Angehörigen und Verlust des Arbeitsplatzes ebenso wie mangelnde soziale Kompetenzen, Gewaltbereitschaft, Suchtproblematiken, Verschuldung oder geringe Bewältigungskompetenzen (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 6ff.; Watzenig 2013, S. 25 ff.; Geiger 2008, S. 385 f.). Ebenso können Entlassungen aus Haftanstalten oder Kliniken dazu führen, dass kein Wohnraum mehr zur Verfügung steht und dass das soziale Netz, das diese Situation kompensieren könnte, nicht (mehr) vorhanden ist. Dies kann kurz- oder mittelfristig dazu führen, dass Betroffene obdachlos werden (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 74 ff.; Röh 2013, S. 86).

Auslöser können zudem Katastrophen wie Hochwasser, Brände, Kriege o. ä. sein, die den vorhandenen Wohnraum der Menschen zerstören und sie aufgrund dessen obdachlos werden (vgl. Lutz et al. 2012, S. 92).

Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Resilienz und das soziale Umfeld der Betroffenen. Ist eine Person in der Lage, diese Situation adäquat bewältigen zu können und ist das soziale Netz stabil genug, wird sie diese Situation nicht zwangsläufig aus der Bahn werfen. Im Umkehrschluss kann dies wiederum bedeuten, dass der Lebensweg von Personen, die nicht über ausreichende Bewältigungskompetenz und nicht über ein stabiles soziales Umfeld verfügen, in die Obdachlosigkeit führen kann. Auch hier sei wieder erwähnt, dass in den meisten Fällen eine Bündelung von Problematiken und nicht ein einzelner Faktor in die Obdachlosigkeit führt (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 6; Geiger 2008, S. 385 f.).

Hinzu kommen Faktoren, die aus Genderperspektive betrachtet werden müssen. Die in diesem Abschnitt bisher aufgeführten Ursachen können sowohl auf männliche wie auch weibliche Obdachlose zutreffend sein. Da wie bereits geschildert die Szene der Obdachlosen zwar zu ca. 70 % aus Männern besteht[6], dürfen dennoch die Ursachen, die spezifisch auf weibliche Obdachlose zutreffen, nicht außer Acht gelassen werden. Hierzu zählen in erster Linie beziehungsorientierte Gründe wie Scheitern einer Partnerschaft oder Scheidung, Ausbruch aus gewaltgeprägten Lebenszusammen-hängen oder aus durch tradierter Rollenverteilung erzeugte bzw. erzwungene Abhängigkeit in einem Familienverbund (vgl. Ratzka 2012, S. 1230).

Analysiert man die Faktoren aus dem Blickwinkel der Geschlechter kann man feststellen, dass sich oftmals bei den Ursachen und Gründen „noch immer die unterschiedlichen männlichen, eher von Arbeit und Öffentlichkeit, und die weiblichen, eher von Privatheit und Beziehung geprägten Lebensverhältnisse […]. (Lutz et al. 2012, S. 161) durchsetzen.

Eine weitere Untergruppe stellt seit einigen Jahren die ansteigende Gruppe der „jungen Wilden“ dar. Es ist eine Tendenz zu beobachten, dass immer mehr junge Heranwachsende sich bereits zu Beginn ihres Lebens am gesellschaftlichen Rand befinden, ohne jemals wirklich ein Teil dieser Gesellschaft gewesen zu sein (vgl. Malyssek et al. 2009, S. 23, Watzenig 2013, S. 29). Auch hier sind die Ursachen vielschichtig: schwerwiegende Belastungen durch Familie, wenig/ keine Unterstützung, Vernachlässigung, Liebesentzug, Missbrauch oder Gewalt. Aber auch Orientierungslosigkeit der Eltern in punkto Erziehung, die ökonomische und soziale Lage innerhalb der Familie, der Auszug aus der elterlichen Wohnung, Abbruch von Berufsausbildung oder der Status des Stief- oder Pflegekindes können zu einer Entscheidung führen, die Jugendliche oder junge Heranwachsende dazu verleitet, den Weg in die Obdachlosigkeit zu wählen. Dies können Auslöser sein für den direkten Weg von der Familie in die Obdachlosigkeit. Es besteht aber weiterhin auch noch die Möglichkeit eines Zwischenschrittes. Hierbei ist der Weg aus einer Jugendhilfe-einrichtung oder -maßnahme gemeint. Einige Jugendliche sind mit den Rahmenbedingungen und Regularien einer Einrichtung überfordert; das Setting, das diese mit z. T. schlimmen Erfahrungen vorbelasteten Jugendlichen benötigen, gibt das KJH- System qualitativ wie quantitativ kaum bis gar nicht her. Aus diesem Grund fliehen Jugendliche auf die Straße und eine (Wieder)Eingliederung wird mit jedem Tag, den sie auf der Straße bzw. in der Obdachlosigkeit verbringen, schwieriger zu realisieren (gilt im Übrigen nicht nur für Jugendliche, sondern für alle Betroffene) (vgl. Staehler 2011, S. 354 ff; Nakamura et al. 2013, S. 66 ff.; Lutz et al. 2012, S. 102). Jugendliche, die den Weg in die Obdachlosigkeit freiwillig finden (intrinsische Motivation), da sie entweder das Abenteuer suchen, einen Freiheitsdrang verspüren, sich einer Peergroup anschließen oder sich damit bewusst gegen das Establishment entscheiden, sind zwar eindeutig in der Minderheit, sollten aber nicht unerwähnt bleiben (vgl. von Balluseck 2001, S. 4464 f.). Hierbei spielen jedoch auch die bereits benannten Faktoren eine z.T. entscheidende Rolle, aber die intrinsische Motivation kann auch (kurz- bis mittelfristig) als eine bewusste Entscheidung angesehen und sollte m. E. nicht außer Acht gelassen werden.

2.4.2 Soziale und gesellschaftliche Faktoren

Um die sozialen und gesellschaftlichen Faktoren, die Obdachlosigkeit bedingen (können), differenziert betrachten zu können, sollen in diesem Abschnitt die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen genauer beleuchtet werden. Armut kann in diesem Zusammenhang als ein Faktor begriffen werden, der das Risiko, obdachlos zu werden, zwar nicht zwangsläufig hervorruft, jedoch wird die mögliche Gefährdung durch ein geringes Einkommen und kaum/ keine vorhandenen Vermögenswerte und Sicherheiten gravierend erhöht (vgl. Watzenig 2013, S. 23).

Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen und existiert seit Anbeginn der Menschheit. Um eine Unterscheidung zwischen Armen und Nicht-Armen vornehmen zu können, ist eine Festlegung von Armutsgrenzen und einer gleichzeitigen Definition eines Existenzminimums notwendig. Wenn eine Person dieses Existenzminimum unterschreitet, gilt sie als arm. Verfügt ein Mensch nicht über das Notwendige, dass das Überleben gewährleistet, spricht man von einer absoluten Armut. Hiermit sind die physiologischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, gesundheitliche Betreuung, Kleidung und Obdach gemeint (vgl. Hauser 2011, S. 58). Dies macht deutlich, dass zwischen (absoluter) Armut und Obdachlosigkeit ein direkter Zusammenhang besteht.

Weiterhin können den Aspekten Wohnraummangel (insbesondere im Bereich kleiner, preiswerter Wohnungen) und Abbau des sozialen Wohnungsbaus durchaus entscheidende Rollen für eine Verschärfung der Obdachlosigkeit zugeschrieben werden. Die ansteigende Entwicklung zu Ein-Personen-Haushalten führt dazu, dass Alleinstehende, Studierende oder verwitwete ältere Menschen oftmals um denselben kostspieligen Wohnraum konkurrieren. Dadurch wird die Ausgangslage für Personen, die sich in einer Krisensituation (persönlich, wirtschaftlich) befinden und deshalb eine kleinere Wohnung suchen, erschwert (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 2 f.)

Als weiterer Grund kann genannt werden, dass gezahlte Hilfeleistungen (z.B. Hartz IV, Grundsicherung im Alter) sich immer noch nicht an den üblichen Mietpreisen orientieren und somit nicht in der Lage sind, die Kosten für verfügbaren Wohnraum zu decken. Auch Arbeitslosigkeit und die veränderten Arbeitsbedingungen (atypische Beschäftigungsformen, Anforderungen, Mobilität) können Entstehungsbedingungen sein, da der Arbeitsplatz die wirtschaftliche Grundlage für eine Wohnung darstellt. Einen erheblichen Risikofaktor bei der Entstehung von Obdachlosigkeit stellt zum einen die wirtschaftliche Ausgangssituation dar, zum anderen die erschwerten Zugänge zum Bildungssystem und schlechte Startchancen in das Berufsleben. Wie bei den individuellen Faktoren kann zunehmende Individualisierung und der dadurch verminderte soziale Halt ebenfalls ein Grund dafür sein, dass Menschen in Krisensituationen keine Unterstützung erhalten und so der Weg in die Obdachlosigkeit führen kann, wenn sie nicht über ausreichende Resilienzfaktoren verfügen (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 2 f: Geiger 2008, S. 385 f.; Stark 2009, S. 197).

Der Anstieg von obdachlosen Migranten ist dadurch zu erklären, dass mit dem Beitritt der Balkanländer zur EU viele Menschen aus diesen Ländern in die BRD einwandern, um hier Arbeit zu finden. Aufgrund fehlender Arbeitsplätze, Sprachbarrieren und der Illegalität, in der sich diese Menschen befinden, ist Integration schwer möglich. Viele Personen verfügen oftmals nicht einmal über eine Unterkunft. Da sie teilweise keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, dürfen sie nicht in Notunterkünften untergebracht werden und letztlich bleibt ihnen dann nur der Weg auf die Straße (vgl. Watzenig 2013, S. 35; Malyssek et al. 2009, S. 30 f.). Dies ist m. E. aktuell z. T. auch auf Menschen zutreffend, die aufgrund der Situation (Krieg) in ihren Heimatländern die Flucht nach Europa und in die BRD angetreten sind. Auch wenn diesen Flüchtlingen ein Platz in einer Flüchtlingsunterkunft gestellt wird, werden sicherlich einige aufgrund von Konflikten o. a. auch den Weg in die Obdachlosigkeit wählen.

2.5 Folgen der Obdachlosigkeit

„Obdachlos, das ist, wie wenn man die Welt von unten sieht. Du hast keine Privatsphäre, kein zu Hause, wo du dich zurückziehen kannst, wo du sein kannst. Dein ganzes Leben spielt sich in der Öffentlichkeit ab. Du schläfst im Freien, wenn du so wie ich in keine Übernachtung gehst, du lebst im Freien. Immer auf der Hut, lauernde Gefahren abzuwehren. Was ist das für ein Leben?“ (Obdachloser Mann, In: Gillich 2003, S. 112)

Dieses Zitat verdeutlicht, dass ein Leben auf der Straße gleichzusetzen ist mit einem Leben in der Öffentlichkeit. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten, keine Privatsphäre und keinen sicheren Ort, der Betroffene vor diskriminierenden Blicken, Äußerungen und körperlichen Übergriffen bewahrt und schützt. Obdachlose sind von massiver Unterversorgung und Ausgrenzung in allen Lebensbereichen betroffen. Sie entbehren elementarste Lebensgrundlagen wie Wohnen, Arbeit, soziale Beziehung. Sie erhalten kaum Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Gesundheitswesen, soziale Sicherungssysteme, Bildung, etc. und sind faktisch ausgeschlossen von politischer Meinungsbildung und Interessenvertretung (vgl. Gillich 2012, S. 271 f). Übertragen auf Betroffene, die nicht auf der Straße, wohl aber in anderen Unterbringungsformen leben, die nicht mit einer eigenen Obdach/ Wohnung gleichzusetzen sind[7], gelten diese Ausführungen ebenso – wenn auch in anderer Intensität und Ausdifferenzierung.

Was es bedeutet, ohne Obdach zu sein, kann daran bemessen werden, dass Wohnen mehr als nur ein existentielles Bedürfnis des Menschen darstellt. Die gesamte Komplexität der gesellschaftlichen Bedingungen des Wohnens zeigt sich erst, wenn die Wohnung fehlt oder gefährdet ist. Ohne Wohnung zu sein heißt, dass Menschen in extrem(st)er Weise aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Obdachlos zu sein stellt somit die äußerste Form sozialer Ausgrenzung dar (vgl. Paegelow 2012, S. 8). Der Verlust der Wohnung bedeutet, dass einem die elementare Grundlage für ein gesichertes, menschenwürdiges Leben entzogen wird. Die Wohnung stellt nicht nur die materielle Basis dar für Wärme, Schutz und Geborgenheit, sondern ist auch unabdingbare Voraussetzung für Familie, Privatleben, Arbeit, Hygiene, Gesundheit, Kommunikation und sozialer Anerkennung. (vgl . Geißler 2008, S. 212).

Das Leben, das ein Obdachloser führt, vollzieht sich permanent in der Öffentlichkeit: essen, trinken, schlafen, kommunizieren. Privatsphäre ist nicht existent, alles ist öffentlich. Eine physische und psychische Entspannung ist aufgrund fehlender und adäquater Rückzugsmöglichkeiten und nicht vorhandener Privatsphäre unmöglich (vgl. Gillich 2012, S. 270).

Obdachlosen (und armen) Menschen fehlen nicht nur Einkommen und Anerkennung, sondern auch die Verwirklichung ihrer Grundrechte ist in großer Gefahr (vgl. Gillich et al. 2012, S. 16). Angewandt auf den Zustand der Obdachlosigkeit in Bezug zu den Grundgesetzen der Bundesrepublik Deutschland wird deutlich, dass die Folgen der Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit sogar den Grundrechten widersprechen. Dies wird sichtbar an Artikel 1 Abs. 1 GG, denn m. E. wird durch den Zustand der Obdachlosig-keit die Würde des Menschen antastbar bzw. ist bereits angetastet worden. In Art. 2 Abs. 2 GG ist die Rede von körperlicher Unversehrtheit und Freiheit des Menschen, die bei vielen Betroffenen nichtzutreffend sein kann, da Obdachlosigkeit in vielfältiger Sicht die körperliche Unversehrtheit bedroht (vgl. Schade 2012; o.S.; 2.5.1) und die Freiheit massiv eingeschränkt wird (vgl. ebd.; 2.5.1; 2.5.2). Obdachlose sind in der Praxis „nicht gleich“ und werden entgegen Art. 3 Abs. 1 und 3 GG oftmals sozial stigmatisiert (vgl. ebd.). Obdachlose stehen am Rande der Gesellschaft und das wirkt sich sowohl auf die physische wie auch die psychische Befindlichkeit und Persönlich-keit aus, denn sie werden auf vielfältige Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Durch bewusste Ächtung (Beschimpfung, Stigmatisierung, keine/ wenig Chancen auf ein Beschäftigungsverhältnis), aktive Gewaltausübung und sexuelle Übergriffe einschließlich Raub, Diebstahl, Vergewaltigung und Mord gegenüber Betroffenen (hier sind in erster Linie die auf der Straße lebenden Obdachlosen gemeint) wird diese Exklusion besonders sichtbar (vgl. Watzenig 2013, S. 37 ff.; Franke 2015, S. 33).

Obdachlosigkeit verschärft Prozesse der sozialen Ausschließung und Ausgrenzung, denn ohne ein richtiges Zuhause sind die Möglichkeiten, einer geregelten Beschäftigung nachgehen zu können, die Gesundheit zu wahren oder den Alltag in gesellschaftskonformer Weise zu gestalten, schwer zu realisieren. Die meisten Obdachlosen sind nicht erwerbstätig, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Großteil der Betroffenen auf Sozial- und Transferleistungen, Gelegenheitstätigkeiten, Verkauf von Straßenzeitungen, Betteln, Kriminalität oder Prostitution angewiesen ist. Besonders Jugendliche und Flüchtlinge, denen keine Sozialleistungen zustehen, begeben sich in die Gefahr, die letztgenannten „Einkommensmöglichkeiten“ nutzen zu müssen (vgl. Geiger 2008, S. 386; Nakamura et al. 2013, S. 70).

Eine gravierende Folge der Obdachlosigkeit ist oftmals der damit einhergehende Alkohol- und Drogenkonsum und die daraus resultierende Sucht. Drogen- und Alkoholmissbrauch kann einer der Gründe für Obdachlosigkeit sein. Größtenteils jedoch beginnt oder verstärkt sich dieser Konsum erst, wenn eine Person obdachlos geworden ist. Alkohol und Drogen fungieren in diesem Zusammenhang als Trost-spender, bauen Spannungen, Ängste und Hemmschwellen ab (besonders beim Betteln oder Prostitution), verdrängen für eine gewisse Zeit die Probleme, sind Medizin, Beruhigungsmittel, illusionärer Wärmespender und das Bindeglied zwischen den Betroffenen (vgl. Nakamura et al. 2013, S. 47 f.). Dies soll deutlich machen, mit welch extremen Folgen Betroffene tagtäglich zu kämpfen haben – oftmals für einen sehr langen Zeitraum und mitunter sogar bis an ihr Lebensende.

2.6 Zahlen

Obwohl das Problem der Wohnungslosigkeit seit den 1970er-Jahren im öffentlichen Diskurs bekannt ist, gibt es bis heute kein bundeseinheitliches Datenmaterial zu diesem Phänomen. Lediglich zwei Bundesländer führen jährlich Stichtagserhebungen durch, die aber auch nur Teilgruppen der gesamten Wohnungslosenpopulation abbilden, da beispielsweise dauerhaft auf der Straße oder in verdeckter Wohnungslosigkeit lebende Personen gar nicht erfasst werden (vgl. Ratzka 2012, S. 1227 f; Gillich et al. 2000, S. 89 ff). Laut BAG W betrug die Zahl der Obdachlosen 2014 ca. 335.000 Menschen. Obwohl das Problem seit langer Zeit existent ist und eigentlich in der BRD und EU für alles Statistiken erhoben werden, ist in diesem Feld immer noch kein offizielles Datenmaterial vorhanden. Es handelt sich hierbei nur um Schätzungen; die Dunkelziffer wird höher liegen. Bis in das Jahr 2018 wird aufgrund einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungsmarktpolitik und Armutsbekämpfung ein Anstieg auf 536.000 Personen prognostiziert (vgl. IntQ 3; Paegelow 2012, S. 47).

3 Soziale Arbeit

3.1 Definition Sozialer Arbeit

Soziale Arbeit[8] ist ein komplexer und unübersichtlicher Gegenstand, dessen Schwierigkeiten bereits bei der Begrifflichkeit selbst beginnen. Für die Arbeit im Sozialen Bereich werden unterschiedliche Termini verwendet: hierzu zählen Sozialpädagogik, Sozialarbeit oder Soziale Arbeit ebenso wie ältere (z. B. Wohlfahrtspflege) und neue (Soziales Dienstleistungssystem) Begrifflichkeiten. Soziale Arbeit soll in diesem Kontext als Vereinheitlichung der Termini bzw. Bereiche der Sozialpädagogik und Sozialarbeit begriffen werden (vgl. Thole 2012, S. 19 ff.). Er gilt sozusagen als Oberbegriff des sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Handelns, dessen Aufgabe es ist, im System der sozialen Sicherung der BRD sozial zu integrieren und soziale Teilhabe zu befördern bzw. zu ermöglichen. Hierbei geht es nicht um einfache Anpassung oder soziale Beruhigung, sondern um Hilfe zur Selbsthilfe (vgl. Kreft et al. 2008, S. 776; Kreft 2008, S. 411).

Im Gegensatz zu anderen Berufen kann SA auf eine recht junge Berufsgeschichte zurückblicken, „die als verrechtlichtes und institutionalisiertes Handlungssystem sozialer Unterstützung und Hilfe ein Kind des 20. Jahrhunderts ist […]. (Galuske et al. 2012, S. 588) und als Teil des sozialstaatlichen Systems den klar definierten Auftrag hat, einen Beitrag zur Menschenwürde und sozialen Gerechtigkeit zu leisten. Dieser Auftrag ergibt sich aus § 1 des SGB (vgl. Heiner 2010, S. 65).

Soziale Arbeit leistet professionelle Unterstützung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie eine formal geregelte und institutionalisierte Hilfe im Rahmen von Organisationen erbringt und nicht auf privater, informeller Ebene vollzogen wird. Im Rahmen sozialstaatlicher Programme, deren Ziel es ist, die Handlungsfähigkeit der Menschen auf unterschiedlichen Märkten (Arbeits-, Ausbildungs-, Freizeit-, Wohnungsmarkt) zu sichern und deren Bereitschaft zu fördern, wird SA folgende Funktion zugeschrieben: sie soll die Teilnahmebereitschaft und -möglichkeit ihrer Klientel am gesellschaftlichen Leben verbessern (vgl. Heiner 2010, S. 53/61).

SA ist ein sehr facettenreicher Beruf. Man arbeitet mit unterschiedlichsten Menschen (Kindern, Erwachsenen, alten Menschen) und die Aufgaben sind sehr vielschichtig. Indem sie Kräftefelder schafft oder beeinflusst, trägt sie zur Veränderung von Lebensweisen und Lebenslagen bei (vgl. Heiner 2010, S. 34). „Sie zielt dabei als Beruf auf die Beeinflussung gesellschaftlicher und politischer Konstellationen, die zu Belastungen und Gefährdungen beitragen.“ (Heiner 2010, S. 34)

Die Wurzeln der Sozialen Arbeit liegen in den humanitären und demokratischen Idealen (vgl. Schneider 2001, S. 33). Intention und Ziel der Sozialen Arbeit war und ist es, der Not der Menschen zu begegnen und auf die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten und Ressourcen einzuwirken (vgl. Schneider 2001, S. 33).

Als häufig titulierte Menschenrechtsprofession muss „Soziale Arbeit heutzutage ihre Aufgabe nicht nur unter den nationalen, sozialstaatlichen Rand- und Gesetzesbedingungen, sondern auch unter den transnationalen menschenrechtlichen Rahmenbedingungen der UNO-Charta, im besonderen des Artikels 28 der UNO-Menschenrechtserklärung […] (Staub-Bernasconi 2007; S. 27) erfüllen.

Folgende Definition des ISWF (International Federation of Social Workers) bzw. DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.) ist m. E. eine der treffendsten und fasst gut zusammen, was Soziale Arbeit eigentlich bedeutet:

„Soziale Arbeit ist eine praxisorientierte Profession und eine wissenschaftliche Disziplin, deren Ziel die Förderung des sozialen Wandels, der sozialen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts sowie die Stärkung und Befreiung der Menschen ist. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlagen der Sozialen Arbeit. Gestützt auf Theorien zur Sozialen Arbeit, auf Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und indigenem Wissen, werden bei der Sozialen Arbeit Menschen und Strukturen eingebunden, um existenzielle Herausforderungen zu bewältigen und das Wohlergehen zu verbessern.“ (vgl. IntQ 5)

Soziale Arbeit zielt mit professionellen Mitteln ab auf spezifische Mangel- und Problemlagen von Menschen, die weder durch die existierenden Möglichkeiten des Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmarktes noch durch familiäre oder andere private Formen ausgeglichen werden können (vgl. Erler 2012, S. 14).

Der Aspekt, dass Soziale Arbeit als wohlfahrtsstaatliche Profession sehr stark von den jeweiligen Rahmenbedingungen der Sozialpolitik bestimmt und abhängig ist, spielt für den Bereich und die darin tätigen Professionellen eine große Rolle. Sie sind einerseits in gewissem Maße abhängig von diesen Bedingungen, könn(t)en diese aber durch ihre Tätigkeit und Einflussnahme durchaus beeinflussen (vgl. Heiner 2010, S. 45).

3.2 Aufgaben und Ziele der Sozialen Arbeit

Wie in 3.1 bereits aufgeführt, verfolgt Soziale Arbeit die Ziele, Klienten so zu unterstützen und handlungsfähig zu machen, dass sie in der Gesellschaft integriert sind und ein akzeptables, menschenwürdiges Leben führen können (vgl. Heiner 2010, S. 53). SA ist gezwungen, interessengeleitet zu handeln. Das bedeutet zum einen, dass sie die Gruppe ihrer Klientel im Blick haben muss, um die vorhandenen Ressourcen zu erkennen, hervorzurufen und zu organisieren, die für eine Verbesserung der jeweiligen Lebenssituation notwendig sind. Zum anderen sieht sie sich mit den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Rahmenbedingungen konfrontiert, die diese Entwicklungschancen der betroffenen Menschen, aber auch der Profession, behindern (vgl. Kusche et al. 2001, S. 15). Soziale Arbeit muss demnach einer doppelten Aufgabenstellung gerecht werden: einerseits der Arbeit mit dem Klientensystem, andererseits der Arbeit mit dem Leistungssystem. Diese Doppelfunktion, die SA zu erfüllen hat, umfasst die Funktionen der Hilfe und Kontrolle, wobei Hilfe auf die Klientel bezogen und Kontrolle dem Leistungssystem zuzuordnen ist (vgl. Heiner 2010, S. 52 ff.). Man spricht hier von dem Doppelten Mandat der SA (vgl. Staub-Bernasconi 2007, S. 36), welches in 3.5.1 dieser Ausarbeitung ausführlicher beschrieben wird.

Um diese abstrakten und sehr allgemeinen Ausführungen etwas mit Leben zu füllen, sollen die Aufgaben hier etwas differenzierter dargestellt werden[9]:

- Vermittlung von sozialen und kulturellen Normen.
- Sie soll durch Anregung und Befähigung zu einer Persönlichkeitsentwicklung und (Nach)Sozialisation beitragen.
- Kompetenzvermittlung zum Eintritt, Verbleib und Erfolg im Arbeitsleben.
- Sie soll beitragen zur Förderung und Unterstützung von Ehe, Partnerschaft, Familie, Einkommens- und Wohnungssicherung und Kindererziehung.
- Wiederherstellung körperlicher und geistiger Gesundheit und Leistungsfähigkeit.
- Betreuung und Pflege.
- Wiedereingliederung bei Verhaltensauffälligkeiten und nach Straffälligkeit.
- Vertretung der Ansprüche Hilfebedürftiger.
- Betreuung und Begleitung von hilfebedürftigen Menschen während bestimmter Lebensphasen.
- Klientel Zuwendung und Hilfe geben und Kontrolle zu ihrem Schutz ausüben.
- Die defizitären Notlagen entdecken, sie publik machen und Vorschläge zur Beseitigung dieser unterbreiten.
- Einflussnahme auf Entscheidungsgremien in Planung, Organisation und Administration, um bedürfnisgerechte Dienstleistungen zu entwickeln und die Lebensbedingungen zu verbessern.
- Information über negative Faktoren, die sich auf Lebensbedingungen auswirken, an zuständige Instanzen (Sozial-, Kommunal- und Gesellschaftspolitik) weitergeben.

(vgl. Heiner 2010, S. 91; Erler 2012, S. 15 f.)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass SA kompensatorische Ersatzleistungen für Menschen in Problem- oder Notlagen leistet, die sie eigenständig nicht bewältigen und die nicht an Austauschmöglichkeiten des Arbeits- und Gütermarktes (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Unfall, etc.) teilnehmen können (vgl. Erler 2012, S. 16 f.).

3.3 Formen der Sozialen Arbeit

In diesem Abschnitt sollen die Formen der Sozialen Arbeit anhand der verschiedenen Berufsfelder skizziert werden. Da es sich um eine unübersichtliche und weit gefächerte Berufslandschaft handelt, kann hier keine vollständige, sondern nur eine grobe Auflistung vorgenommen werden (vgl. Erler 2012, S. 23).

Es muss unterschieden werden zwischen den Berufs-, den Arbeits- und den Tätigkeitsfeldern: Das Berufsfeld umfasst immer mehrere Arbeitsfelder und ein Arbeitsfeld wiederum mehrere Tätigkeitsfelder. Genauer gesagt ist das Berufsfeld (als Bsp. Jugendhilfe SGB VIII) der Oberbau, aus dem sich das Arbeitsfeld (demzufolge Erzieherische Hilfen§ 27-35 KJHG) gestaltet und differenziert und in denen die Tätigkeitsfelder (ambulant, teilstationär und stationär) angesiedelt sind, die das Arbeitsfeld bearbeiten (vgl. Heiner 2010, S. 97).

Als ein immer institutionalisiertes Angebot zwischen dem Staat als gesellschaftliches Gesamtsubjekt und den einzelnen Subjekten, den Klienten, (vgl. Thole 2012, S. 24 f.) ist Soziale Arbeit tätig in den Bereichen

- Bildung und Erziehung (z. B Kindergarten, Hort, Schulsozialarbeit, Jugendarbeit, Jugendbildung, Erwachsenen- und Altenbildung etc.)
- Beratung und Hilfe (Familien, Kindern, Jugendlichen, Behinderten, Alten, Kranken)
- Beratung und Hilfe für Angehörige spezieller Gruppen (Obdachlose, Suchtkranke, Migranten, Straffällige),
- medizinischer und sozialer Rehabilitation (Krankenhäuser, Psychiatrie),
- Berufs- und Bildungsberatung (Arbeitsämter, Verbände, Weiter- und Fortbildung) und
- Sozial-, Jugend- und Gesundheitsämtern (Inobhutnahme, Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung, Scheidung, Personensorge, Therapieergänzung etc.)

(vgl. Erler 2012, S. 23 f.)

Anhand dieser Auflistung wird deutlich, wie facettenreich und groß der Bereich ist, in dem Soziale Arbeit praktiziert wird. Welche Methoden hierfür zur Verfügung stehen, soll im nächsten Abschnitt erörtert werden.

[...]


[1] Der Autor führte Interviews mit Betroffenen und sammelte Erfahrungen in Form eines Selbstversuches als „Obdachloser auf Zeit“ (zwei Tage und Nächte in Hamburg „Platte gemacht“).

[2] Wobei es sich in erster Linie nicht um betroffene Kinder, sondern zumeist um Jugendliche handelt.

[3] Ergänzung d. Verfassers

[4] dieser Begriff fand bis in die 1990er Jahre Verwendung und ist heutzutage sogar ab und an noch gebräuchlich.

[5] In der Soziologie als „stressful life-events“ bezeichnet (vgl . Nakamura et al. 2013, S. 6).

[6] Diese Zahl ist nur als Schätzung zu verstehen. Es gibt keine genauen Zahlen und je nach Autor/in und Zeitpunkt der Veröffentlichung variieren die Zahlen.

[7] Hier ist der Zustand gemeint, in dem Obdachlose fremdbestimmt leben, d.h. in einer Notunterkunft, bei Verwandten oder Freunden und sich somit in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden und demzufolge ebenfalls faktisch in der Öffentlichkeit leben (müssen).

[8] Im Laufe des Textes auch mit SA abgekürzt.

[9] Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Lebensort Straße. Die Chancen der Sozialen Arbeit, Obdachlosigkeit im Kontext des Tripelmandates zu verringern
Hochschule
Fachhochschule Münster
Note
2,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
53
Katalognummer
V354831
ISBN (eBook)
9783668409392
ISBN (Buch)
9783668409408
Dateigröße
744 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Obdachlosigkeit, Tripelmandat, Soziale Arbeit
Arbeit zitieren
Markus Fromm (Autor:in), 2016, Lebensort Straße. Die Chancen der Sozialen Arbeit, Obdachlosigkeit im Kontext des Tripelmandates zu verringern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354831

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Lebensort Straße. Die Chancen der Sozialen Arbeit, Obdachlosigkeit im Kontext des Tripelmandates zu verringern



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden