Fortbestand und Wandel der NATO. Wie lässt sich erklären, dass die NATO das Ende des Ost-West-Konflikts überdauerte und auch nach 1990 bestehen blieb?


Bachelorarbeit, 2016

66 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Rahmen
2.1 Der Realismus
2.2 Der Institutionalismus

3 Prüfung der Hypothese zum Realismus
3.1 Das strategische Konzept von 1991 und 1999
3.2 „Out of area“-Einsätze
3.2.1 Die NATO und das Völkerrecht

4 Prüfung der Hypothesen zum Institutionalismus
4.1 Das strategische Konzept von 1991 und 1999
4.2 Die Partnerschaftsprogramme der NATO
4.3 Die Osterweiterung
4.3.1 Das Für und Wider der Osterweiterung
4.3.2 Russland und die Osterweiterung

5 Schlussbetrachtung

6 Literaturverzeichnis

7 Exposé,

1 Einleitung

Die North Atlantic Treaty Organization (NATO) ist eines der dauerhaftesten und erfolgreichsten Militärbündnisse und existiert seit 1949.

Der Nordatlantikpakt wurde als Militärbündnis und als Organisation kollektiver Selbstverteidigung gegründet, um Schutz vor der Übermacht der Sowjetunion zu finden. Darüber hinaus bestand ihr Zweck in der Stabilisierung von Frieden und in der Kooperation unter den Mitgliedern. In erster Linie hatte die NATO während des Kalten Krieges die zentrale Aufgabe der Gewährleistung der Sicherheit ihrer Mitglieder vor einer übermächtig erscheinenden Bedrohung zu erfüllen. Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay formulierte die Aufgabe der NATO wie folgt: ,,to keep the Soviets out, the Americans in, and the Germans down“.[1] Diese Aufgaben wurden im Jahr 1995 auch offiziell formuliert: die NATO habe drei Zielen gedient, der Eindämmung der Sowjetunion, der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland sowie der Institutionalisierung der amerikanischen Rolle im europäischen Sicherheitsmanagement.[2] Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Überwindung des Ost-West-Konflikts Anfang der 1990er Jahre entstand in Europa eine vollkommen neue Ordnung und brachte für die NATO gravierende Veränderungen. Die Zeit nach dem Ost-West-Konflikt war für die NATO eine Zeit des Umbruchs und sie sah sich neuen Gefährdungen und Unsicherheiten, aber gleichzeitig auch neuen Chancen des Einsatzes für den Frieden und der Stabilisierung der europäischen Sicherheit gegenüber. Durch die Entwicklungen wurde die NATO ihrer eigentlichen Aufgabe, die Abwehr eines Angriffes des Warschauer Pakts und damit ihrer ursprünglichen Existenzberechtigung beraubt, geriet durch Legitimationsprobleme in eine Sinn- und Existenzkrise und es schien fraglich, ob die Allianz ohne Feindbild überdauern könnte.

Nach dem Epochenwechsel prognostizierte man der NATO ein jähes Ende.[3] Doch auch 25 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist das transatlantische Bündnis nach wie vor die für die transatlantische Sicherheit entscheidende internationale Organisation. „Seit dem Ende des Ost-West Konflikts haben sich die sicherheitspolitischen Bedingungen grundlegend gewandelt. Die NATO hat diesen Wandel zwar überdauert, aber ihre Form und ihre sicherheits- politischen Aktivitäten deutlich verändert.“[4] Um die europäische Sicherheit zu stabilisieren dienten der Europäischen Union (EU) und der NATO die Erweiterungsprozesse und man konzentrierte sich auf die militärische Handlungsfähigkeit und um eine ausgewogenere euro­atlantische Partnerschaft.[5] Es entstand nach Beendigung des Kalten Krieges ein so zusagender Institutionalisierungsschub, da man versuchte durch eine Vielzahl von Institutionen und Organisationen das größer gewordene Deutschland einzubinden und nach dem Zerfall der Sowjetunion Europa zu ordnen.[6] Die NATO wurde vom reagierenden Bündnis, mit ihrer bisherigen Funktion als reines Verteidigungsbündnis, zu einer agierenden Allianz mit neuen Aufgaben und Kooperationsstrukturen. Die NATO ist damit die einzige glaubwürdige Sicherheitsorganisation in Europa und kann durch ihre Strukturen, ihrer operationellen Fähigkeiten und der Mitgliedschaft der USA, die Sicherheit und Stabilität für den euro- atlantischen Raum garantieren.

In meiner Bachelorarbeit gehe ich der Frage nach: Wie lässt sich erklären, dass die NATO das Ende des Ost-West-Konflikts, dem sie ihre Gründung verdankt, überdauerte und auch nach 1990 bestehen blieb? Es geht also darum, den Fortbestand und den Wandel der NATO zu beschreiben und theoriegeleitet zu erklären. Mit den Theorien der internationalen Politik lässt sich die Entstehung und der Wandel von militärischen Bündnissen und ihr Design mit unterschiedlichen Faktoren erklären. Um meine Fragestellung zu beantworten werde ich in dieser Arbeit den Realismus und den Institutionalismus anwenden.

Der Realismus und der Institutionalismus sind Großtheorien der internationalen Beziehungen, die ebenso wie der Konstruktivismus versuchen Phänomene der internationalen Beziehungen und der internationalen Politik mit Berücksichtigung der handelnden Akteure, der bestehenden Konfliktlinien und der Zukunftsperspektiven zu erklären.[7] Nach dem Realismus sind Staaten zweckrationale, egoistische und nach Macht strebende Akteure, die immer diejenige Handlungsoption wählen, die um den gegebenen Umständen den höchsten Nutzen abwirft. Es geht ihnen dabei nur um die Maximierung des eigenen Nutzen. Der Nutzen anderer Akteure interessiert sie nur, wenn sich dadurch ihr eigener Nutzen erhöht. Bei auftretender Bedrohung, wie zum Beispiel das Anwachsen eines großen Machtpotentials anderer Staaten, ist ein Staat gewissermaßen dazu gezwungen eine Gegenmacht zu bilden.[8] Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts haben in Mittel- und Osteuropa tiefgreifende Veränderungen stattgefunden, auf die die NATO reagieren musste. Die Hauptbedrohung der Allianz in den ersten vierzig Jahren ihres Bestehens ist nicht mehr vorhanden und an deren Stelle tritt ein hohes Maß an Unsicherheit und Risiken, die die Sicherheit des Bündnisses gefährden. Diese Risiken ergeben sich aus der Konsequenz der Instabilitäten, die aus den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten und ebenso aus Gebietsstreitigkeiten und ethnischer Rivalitäten entstehen können. Diese können zu Krisen und bewaffneten Konflikten ausarten und damit die Stabilität Europas und die Sicherheit der Bündnispartner bedrohen.[9] Krisen wie der Golfkrieg, an dem die NATO durch Verlegung ihrer Allied Mobile Force in die Osttürkei indirekt beteiligt war, machte deutlich, dass der Allianz neue Gefahren aus dem Nahen und Mittleren Osten drohten.[10] Außerdem wurde aus den Problematiken, der nicht auszuschließenden Gefahren, dass Russland einen nuklearen Erpressungsversuch wagt oder eine wohl mögliche russische Expansion bevorsteht, die gemeinsame Verteidigung eine Rückversicherung.[11]

Meine Hypothese zum Realismus lautet daher:

An derNATO 'wurde von ihren Mitgliedernfestgehalten, 'weil sie, entsprechend den Verhaltenserwartungen der realistischen Theorie, sich damitfür künftig nicht auszuschließende Bedrohungen gewappnet sahen.

Nach dem Institutionalismus handeln Staaten egoistisch und zweckrational und deren Ziele und Verhaltensweisen hängen von dem strukturellen Spielräumen ihres internationalen Handlungskontextes ab. Anders als beim Realismus sieht der Institutionalismus einen größeren Handlungsspielraum für die Akteure, da durch andere strukturelle Bedingungen die existenzielle Unsicherheit verringert wird. Die Staaten müssen nicht nach Macht streben, können es aber.

Sie sind eigennützige Staaten, die auch andere Ziele, als Macht, verfolgen können. Aus institutionalistischer Sicht entschärft sich das Sicherheitsdilemma deutlich, wenn Institutionen die zwischenstaatliche Transparenz fördern.[12] Durch besseres gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zwischen allen europäischen Staaten können Krisen, die die Sicherheit der Mitglieder bedroht, bewältigt werden und zusätzlich Partnerschaften geschlossen werden, die zur Behandlung gemeinsamer Sicherheitsprobleme beitragen.[13] Damit lautet meine Hypothese zum Institutionalismus:

An derNATO wurde von ihren Mitgliedernfestgehalten, um, entsprechend den Verhaltenserwartungen der institutionalistischen Theorie, unter den neuen Rahmenbedingungen eine sicherheitspolitische Funktion zu übernehmen und dabei Konfliktmanagement mitNicht-NATO-Mitgliedern und Sozialisation mit beitrittswilligen Staaten zu führen.

Um meine beiden genannten Hypothesen zu belegen oder zu widerlegen werden im zweiten Kapitel der Bachelorarbeit die beiden angewendeten Theorien dargestellt und die oben genannten Hypothesen hergeleitet.

Daraufhin folgt der empirisch-analytische Hauptteil meiner Arbeit.

Hier wird der Fortbestand und der Wandel der NATO behandelt. Um die realistische Hypothese zu überprüfen, untersuche ich die derzeitige Bedrohungslage und neue Bedrohungsformen, die nach dem Wegfall des Ost­West-Konflikts entstanden sind. Dazu analysiere ich zunächst die Strategischen Konzepte der NATO von 1991 und 1999 und überprüfe deren Inhalt auf die neuen Unsicherheiten und Gefährdungen. Darauf folgt die Analyse der Kampfeinsätze der Nordatlantischen Allianz und eine Analyse des Völkerrechts. Um die institutionalistische Hypothese zu überprüfen, untersuche ich im vierten Kapitel die Partnerschaftsprogramme und die Osterweiterung der NATO. Hier werden die Strategischen Konzepte von 1991 und 1999 nach den neuen Kooperationsstrukturen analysiert. Bei der Schlussfolgerung fasse ich die wichtigsten Punkte der Arbeit zusammen, werte diese aus und prüfe in diesem Kapitel ob die genannten Hypothesen bestätigt werden können.

2 Theoretischer Rahmen

Im Forschungsbereich der internationalen Politik gehören der Realismus und der Institutionalismus zu den einflussreichsten Denkschulen, die trotz starker Konkurrenz wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Dazu gehört die Grundannahme von weitgehend rational handelnden Staaten als den wichtigsten Akteuren in der internationalen Politik, die die Basis beider Theorien darstellt und ebenso das Bemessen der Qualität einer Theorie durch die Erklärungs- und Vorhersagefähigkeit ihrer Hypothesen. Beim Realismus ist das System macht- und konkurrenzorientiert und dessen Struktur anarchisch. Somit ist der Erhalt der Macht zur Sicherung der staatlichen Existenz, das zentrale Interesse aller Akteure. Beim Institutionalismus ist die anarchische Struktur des internationalen Systems die Folge des staatlichen Handelns und nicht deren Ursache, da eine stetige Unsicherheit über das Verhalten anderer Akteure herrscht. Es bietet sich daher die Möglichkeit zur Kooperation durch Erhöhung der Verhaltenssicherheit, die von Institutionen durch gegenseitige Transparenz und komplexe Regelwerke geboten wird. Dahingegen haben Institutionen beim Realismus nur einen instrumentellen Charakter und werden von den führenden Mitglieder nur zur Erhaltung von Macht genutzt.[14]

2.1 Der Realismus

Die Theorieschule des Realismus dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg die Analyse internationaler Beziehungen und war bis in die 1970er Jahre die Leittheorie der internationalen Politik. Sie beruht insbesondere auf dem deutsch-amerikanischen Politologen Hans J. Morgenthau, der 1948 das Hauptwerk des klassischen Realismus „Politics Among Nation. The Struggle for Power and Peace“ veröffentlichte. Morgenthau geht von einer anarchischen Struktur des internationalen Systems aus, in dem die einzig wichtigen Akteure die Nationalstaaten sind, die egoistisch-zweckrational handeln und unter den Bedingungen der Anarchie und durch Sorge um ihre Existenz nach (militärischer) Macht und Sicherheit streben. Die zentrale Wirkung des Realismus ist die existenzielle Unsicherheit der Staaten, die von der Machtverteilung und der verfügbaren Technologie abhängig ist.

Bei auftretender Bedrohung, wie zum Beispiel das Anwachsen eines großen Machtpotentials anderer Staaten, ist ein Staat gewissermaßen dazu gezwungen eine Gegenmacht zu bilden. Der Realismus wurde vor allem in den USA entwickelt und auch weiterentwickelt. Dabei stellt der Neorealismus die wichtigste Weiterentwicklung des klassischen Realismus dar. Mit seinem Buch „Theory oflnternational Politics“ von 1979 gilt Kenneth N. Waltz als Begründer des Neorealismus.[15] Waltz interessierte sich für die Gründe des möglichen Verlustes der amerikanischen Vormachtstellung während des Kalten Krieges, die durch die wirtschaftliche Schwächung der USA durch die steigenden Erdölpreise und durch den Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan gefährdet war und entwickelte so den Neorealismus.[16] Waltz unterscheidet die Ordnung, die Arbeitsteilung und die Machtverteilung der Staaten als die drei relevanten Strukturen des internationalen Systems.

In seiner Theorie ist die Ordnung, durch das Fehlen einer übergeordneten sanktionsfähigen Autorität, anarchisch und es herrscht keine Arbeitsteilung unter den Staaten, da diese ohne sanktionsfähige Autorität eine Abhängigkeit mit sich bringen würde, die eine nationale Sicherheitsgefahr darstellt.[17]

Im internationalen System sind die anarchische Ordnung und die fehlende Arbeitsteilung der Staaten konstant. Dies bedeutet, dass die Staaten gleichrangig und gleichartig sind und dass es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt. Die Folge ist, dass dadurchjeder Staat von existenzieller Unsicherheit bedroht ist. Dadurch sind andere Interessen und Ziele im Inneren und in der Außenpolitik der Staaten den sicherheitspolitischen Zielen untergeordnet, dajeder Staat selbst für seine Sicherheit sorgen muss.

Aus diesem Grund ist für den Realismus die militärische Macht die wichtigste Machtressource um die eigene Sicherheit zu gewährleisten.[18] Im unipolaren internationalen System, dass von einer Großmacht bestimmt wird, ist die Gefahr von Kriegen und Konflikten erhöht, da die anderen Staaten dies als Bedrohung ansehen und stets versuchen eine Gegenmacht zu bilden. Dies führt dann zu militärischen Reaktionen seitens der Großmacht, um die Gegenmachtbildung zu verhindern. Das bipolare internationale System, dass von zwei Großmächten bestimmt wird, ist nach Waltz die stabilste Ordnungsform, in der durch fehlende militärische Interdependenzen, die sicherheitspolitischen Fehleinschätzungen gering sind. Im multipolaren internationalen System, dass von mehr als zwei Großmächten bestimmt wird, herrscht ein hohes Unsicherheitsgefühl aufgrund instabiler und unklarer Verhältnisse. Hier ist die Wahrscheinlichkeit von Konflikten erhöht und es gilt den Machtvorteil anderer zu verhindern.[19] Durch das Machtstreben des einzelnen wird das Sicherheitsbedürfnis der anderen gefährdet und ein Sicherheitsdilemma entsteht, da einNachbarnjetzt oder zukünftig eine feindselige Haltung einnehmen und ein Staat daher nie von Sicherheit ausgehen kann. Somit versuchtjeder staatliche Akteur seine unabhängige Existenz durch Machtansammlung zu sichern, die von anderen Staaten als Bedrohung wahrgenommen wird. Somit wird von allen Staaten der Nachbar als potentiell bedrohlich eingeschätzt und zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit und auf der Basis des „self-help“ nach Machtansammlung gestrebt. Im Realismus bzw. im Neorealismus spricht man bei dieser Ausbalancierung von Machtpotentialen von einer „balance of power“ und von einer „balance of threat“ bei einem Ausgleich von konkreten Bedrohungspotentialen.

Auch wenn die nationale Existenz mehrere Staaten vom selben Gegner bedroht wird, sind die Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Staaten durch „relative gains“ eingeschränkt, da der relative Machtzuwachs des Partners zur Gefahr werden kann. Daher würde ein Staat auf die Kooperation verzichten, um nicht einem jetzigen Verbündeten und vielleicht zukünftigen Gegner einen relativen Gewinn zu ermöglichen. Jedoch wird durch die nicht vollständig auszuschließende Möglichkeit eines Angriffes und die Unmöglichkeit, vollständige Informationen über die Intentionen seiner Nachbarn zu erhalten, den Staaten ein Anreiz zur Kooperation geliefert. Daher wird durch diese Kooperationsanreize, durch das Sicherheitsdilemma und durch die Unsicherheit der staatlichen Existenz die Ausbildung militärischer Machtgleichgewichte durch Bündnisse mit anderen Nationen gefördert.[20] Wenn ein Staat bedroht wird, so kann er sich der Bedrohung anschließen oder sich mit dem Gegner verbünden und eine Gegenmacht bilden. Bündnisse sind für den Realismus also Instrumente der Gleichgewichtspolitik, bei der ein Staat sich einen Bündnispartner sucht, wenn er die überlegenden Machtressourcen eines anderen Staates nicht aus eigener Kraft ausgleichen kann.[21] Zwar stellt die Verpflichtung zur gegenseitigen kollektiven Verteidigung für die Mitglieder einer Allianz eine Möglichkeit der Machtakkumulation dar, ist aber gleichzeitig ein massiver Eingriff in die nationale Autonomie und daher nur unter den Bedingungen einer existenziellen Bedrohung zu rechtfertigen. Da Allianzen nicht Bestandteil der Struktur des internationalen Systems sind, sondern nur Instrumente nationaler Sicherheitspolitik, kann das Sicherheitsdilemma zwischen den Verbündeten lediglich abgeschwächt und nicht aufgelöst werden. Aus diesem Grund sind Allianzen und deren sicherheitspolitischer Nutzen von zeitlich begrenzter Dauer. Eine Bündnis-Mitgliedschaft bedeutet für einen Staat eine freiwillig eingegangene Abhängigkeit und es besteht das Risiko von einem Bündnispartner, in wesentlichen Momenten, im Stich gelassen zu werden (abandonment) und ebenso von einem anderen Mitglied in einen Konflikt verwickelt zu werden, der ohne eine Partnerschaft hätte vermieden werden können (entrapment). Nach dem Realismus bzw. dem Neorealismus wird daher ein Staat nur Bündnisverpflichtungen eingehen und damit ein Verlust an nationaler Autonomie hinnehmen, wenn er in einer spezifischen Bedrohungssituation nicht alleine die nationale Sicherheit gewährleisten kann. Die von außen kommende Bedrohung ist also das das zentrale Element des Bündniszusammenhaltes, das bei einer nachlassenden Bedrohungssituation dem Wunsch der Staaten nach Autonomie weicht und schließlich zur Auflösung des Bündnisses, auch durch die divergierenden nationalen Interessen seiner Mitglieder, führt. Um die Fortsetzung der engen militärischen Kooperation der NATO zu rechtfertigen, muss daher eine neue existentielle Bedrohung für die Bündnismitglieder, die alte Gefahr zur Zeit des Kalten Krieges ersetzt haben.[22]

2.2 Der Institutionalismus

Durch die Ölkrise im Jahre 1973 und durch den Zusammenbruch des Wechselkurssystems, kamen Fragen nach Wohlstandssicherung und Ressourcen auf. Diese konnte der Realismus nur schwer beantworten und der Institutionalismus wurde dominanter. In den 1970er und 1980er Jahren blieb der Institutionalismus dicht an den realistischen Annahmen, behauptete aber, dass sich die Machtkonkurrenz und die Unsicherheit durch Interdependenz und internationale Regime deutlich verkleinert. Des Weiteren behauptet er, dass auch in Abwesenheit von Hegemonie eine stabile internationale Ordnung dadurch hervorgebracht werden kann. „Power and Interdependence: World Politics in Transition“ von Robert O. Keohane und Joseph S. Nye und „After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy“ von Robert O. Keohane sind mittlerweile die klassischen Texte des Institutionalismus. Bei dem Institutionalismus treten Interdependenz, also die wechselseitige Abhängigkeit der Staaten voneinander, und Regime, also Regelwerke, zur internationalen Anarchie als Strukturmerkmale des internationalen System hinzu. Durch die Interdependenz wird der Nutzen militärischer Gewalt und damit die Bedrohung der Staaten gemindert.

Des Weiteren wird der Bedarf an internationaler Kooperation erhöht. Dieser Kooperationsbedarf wird durch das internationale Regime und die mit ihnen verbundenen Organisationen ermöglicht. Sie legen Regeln fest, überwachen die Regeleinhaltung der Staaten und bestrafen Regelverletzungen.

Beim Institutionalismus streben die egoistisch-zweckrationalen Staaten also nicht nach Macht, sondern nach Gewinnen und sind dabei stark an internationaler Kooperation und an einem friedlichen Miteinander interessiert. Bündnisse werden beim Institutionalismus bei gemeinsamer Unsicherheit gegründet, um effizienzfördernde Kooperation zu kräftigen.

Die Kooperationswilligkeit der Staaten wird durch internationale Institutionen erhöht, da diese die Betrugsmöglichkeiten verringern und die Wahrscheinlichkeit von vertiefter internationaler Kooperation und Frieden ist umso höher, je stärker zwischenstaatlichen Beziehungen interdependent und institutionalisiert sind. Dabei folgt die Form der Institution seiner Funktion und verändert sich, wenn sich die Probleme verändern.[23] Nach dieser Theorieschule ist die NATO nicht nur ein militärisches Bündnis für die kollektive Verteidigung, sondern vielmehr eine Sicherheitsinstitution, dessen zwei zentrale Aufgaben die Entwicklung problemspezifischer Antworten auf die internationalen sicherheitspolitischen Herausforderungen im Interesse ihrer Mitglieder und das Lösen der Kollaborations- und Koordinationsprobleme, um die dauerhafte Kooperation ihrer Mitglieder zu gewährleisten, sind.

Somit muss das Bündnis die Probleme des kollektiven Handels lösen, die sich in Situationen ergeben, in denen das Ergebnis einer Handlung nicht nur vom handelnden Akteur, also dem Staat abhängt, sondern ebenfalls durch die Handlungen anderer Akteure. Die NATO muss also Erwartungssicherheit und Verhaltensregeln schaffen, damit ihre Mitglieder in derartigen Situationen ihre Ziele optimal verwirklichen können, welches ihnen ohne implizite oder explizite Koordination des Handelns nicht ermöglicht wird. Auch hier kommt es wie beim Realismus darauf an, dass die Allianz die Mitgliedsstaaten vor einem einseitigen Bruch der Vereinbarung schützt (abandonment) und dafür sorgt, dass kein Bündnismitglied ohne weiteres die Möglichkeit hat seine Bündnispartner in einen Konflikt zu verwickeln, der nicht der Bündnisvereinbarung entspricht (entrapment). Darüber hinaus muss eine Allianz dafür sorgen, dassjedes Bündnismitglied seinen gerechten Anteil an den notwendigen Lasten trägt und nicht nur von den Leistungen der Allianz profitiert (free riding).[24] Bei der Vielzahl an unterschiedlichen Sicherheitsinstitutionen muss die nordatlantischen Allianz jedoch als Sonderfall behandelt werden, da sie das Versprechen gegenseitiger militärischer Hilfestellung beinhaltet und für dessen Realisierung besondere Verfahren und Regeln entwickelt hat, mit denen das Handeln der Mitgliedstaaten im Rahmen der Beistandsverpflichtung gegen eine externe Bedrohung koordiniert wird. Des Weiteren wurde sie als eine klassische, exklusiv strukturierte Verteidigungsallianz mit einem geringen Institutionalisierungsgrad gegründet und entwickelte sich zu einen umfangreichen Apparat von Regeln und Mechanismen, die nicht nur für den Zweck der kollektiven Verteidigung anwendbar waren und übernahm zusätzliche Aufgaben, die nur im Ursprung dem Ziel einer möglichst effektiven Verteidigung gegen einen übermächtig erscheinenden Gegner dienen sollten. Während des Kalten Krieges entwickelte die nordatlantische Allianz unter dem Druck der Konkurrenz der beiden hochgerüsteten Machtblöcke, Mechanismen zur Abstimmung von Politikbereichen und Handlungen, die über den eigentlichen militärischen Zweck des Bündnisses hinausgingen und wandelte sich dadurch und durch die Aufnahme der ehemaligen Gegner vieler anderer Mitgliedstaaten, Italiens und Deutschlands, zu einer im Institutionalismus genannten „hybriden Institution“. Die NATO hat somit einen Wandel von einer exklusiv organisierten Institution zu einer zunehmend inklusiv orientierten Institution mit hohem Institutionalisierungsgrad vollzogen. Durch eine außergewöhnlich hohen Institutionalisierung kann sich das Bündnis leichter an veränderte internationale Rahmenbedingungen anpassen, indem sich ihre Funktionen einfacher auf andere Aufgabenbereiche ausdehnen und übertragen lassen. Somit hängt die Überlebensfähigkeit der Sicherheitsinstitution davon ab, ob sie auch unter neuen Rahmenbedingungen wichtige nationale Interessen ihrer Mitglieder bedienen, mit Erschließung neuer Aufgaben ihren institutionellen Handlungsrahmen umwandeln und somit die Fortsetzung der sicherheitspolitischen Kooperation sicherstellen kann.[25]

3 Prüfung der Hypothese zum Realismus

3.1 Das Strategische Konzept von 1991 und 1999

40 Jahre lang hatte die NATO ein stabiles Konzept entwickelt, um allen beteiligten Staaten eine Sicherheit zu garantieren. Durch Verhaltensregeln, Verfahrensregeln und allgemeinen Normen, die umgesetzt worden sind, konnten alle Staaten Genugtuung erreichen und waren so entlastet. Seit 1989 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts haben in Mittel- uns Osteuropa tiefgreifende Veränderungen stattgefunden, auf die die NATO reagieren musste.[26] Durch diese Veränderungen wurde die Aufteilung einzelner Aufgabenfelder relativiert, indem neue Anforderungen durch neue Aufgaben geschaffen worden sind.[27] Die Auflösung der Sowjetunion und der Beginn der Demokratie in diesem „neuen“ Zeitalter, forderten nach neuen Optionen und Lösungswegen der Allianz.[28] Die Staats- und Regierungschefs der NATO waren sich auf der Gipfelkonferenz in London am 06. Juli 1990 über die Notwendigkeit der Existenz und der Umgestaltung der Allianz einig, die Phase der Reformulierung der Aufgaben, der Daseinsberechtigung und der Strategien wurde eingeläutet und der Beschluss gefasst, eine neue Militärstrategie auszuarbeiten und die NATO politisch, sowie strategisch an die neuen Bedingungen in Europa anzupassen. Die Hauptbedrohung der Allianz in den ersten Vierzig Jahren ihres Bestehens war nicht mehr vorhanden und an deren Stelle trat ein hohes Maß an Unsicherheiten und Risiken, die die Sicherheit des Bündnisses gefährdeten. Die neuen Sicherheitsrisiken der NATO waren vielschichtig, schwer einzuschätzen und kamen aus vielen Richtungen. Um die Sicherheit der Mitglieder und die Stabilität in Europa zu bewahren, musste die NATO in der Lage sein auf diese unterschiedlichen Risiken zu reagieren. Diese Risiken ergaben sich aus der Konsequenz der Instabilitäten, die aus sozialen, politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten und ebenso aus Gebietsstreitigkeiten und ethnischer Rivalitäten entstehen können.

Diese können zu Krisen und bewaffneten Konflikten ausarten und damit die Stabilität Europas und die Sicherheit der Bündnispartner bedrohen.

Des Weiteren waren die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Terror- und Sabotageakte und die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen Risiken, die die Bündnismitglieder bedrohen können.

Auch stellten das sowjetische Militärpotential, zusammen mit seiner nuklearen Dimension, weiterhin eine Bedrohung dar, obwohl die Sowjetunion nicht mehr als Feind angesehen wurde. Durch die ansteigende Unsicherheit der Mitglieder hatte die Allianz keine andere Wahl, als ihre Politik zu ändern. Aufgrund der Geschehnisse am persischen Golf und dem beginnenden Krieg auf dem Balkan, mussten die Angehörigen des Kollektivs beruhigt werden.[29] Daraufhin wurden unterschiedliche Stäbe mit den Grundsatzfragen des „Neuen Strategischen Konzepts“ betraut und die Aufgabe der Bedrohungsabwehr wurde dabei von der Aufgabe der Risikovorsorge abgelöst. Somit erlaubt es der NATO, statt eine frühere starre Fixierung der Bedrohung der Sowjetunion, ihre Existenzberechtigung und mögliche Aktionen viel abstrakter und flexibler zu rechtfertigen.[30] Auf der darauffolgenden Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs in Rom im Jahr 1991 wurde die „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ verabschiedet und auch dem „Neuen Strategischen Konzept“ zugestimmt. Dabei trat zu den beiden klassischen Elementen Verteidigung und Dialog das Element der Kooperation zur Bündnisstrategie hinzu und zahlreiche Kooperationsvorhaben mit den mittel­und osteuropäischen Ländern, Russland, Ukraine und mit asiatischen und südamerikanischen weiteren Ländern angestrebt. Das Grundprinzip der Militärstrategie, durch Kombination konventioneller und nuklearer Mittel abzuschrecken blieb im „Neuen Strategischen Konzept“ unverändert.

Bereits auf der Londoner Gipfelkonferenz 1990 wurde entschieden, dass auch in Zukunft Nuklearwaffen für die unvorhersehbare Zeit eine wichtige Rolle behalten sollten. Die Allianz war weiterhin rein defensiv ausgerichtet und Waffen sollten nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden.

[...]


[1] Zit. nach Theiler, Olaf: Die 'neue NATO' - Eine Allianz im Wandel, in: Gareis, Sven B.; Klein, Paul (Hrsg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 215.

[2] Vgl. Schneider, Heinrich: Europäische Sicherheitsarchitektur. Konzeptionen und Realitäten, Rechts- und Sozialwissenschaftliche Reihe, Band 15, Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 1996, S. 78.

[3] Vgl. Zumach, Andreas: Die Sieger der Geschichte. Zur neuen Strategie der NATO, in: Reinecke, Stefan (Hrsg.): Die neue NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Interventionsmacht?, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt2000, S. 45.

[4] Schimmelfennig, Frank: Internationale Politik, 3. aktualisierte Auflage, Paderborn: Verlag Schöningh Gmbh & Co. KG 2013, Seite 227.

[5] Vgl. Hochleitner, Erich P.: Das europäische Sicherheitssystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Wien Köln Weimar: Böhlau Verlag 2000, S. 7.

[6] Vgl. Karádi, Matthias Z.: Die Reform der Atlantischen Allianz. Bündnispolitik als Beitrag zur kooperativen Sicherheit in Europa?, Forschungsberichte Internationale Politik, Münster, Hamburg: Lit.-Verlag 1994, S. 12.

[7] Vgl. Krell, Gert: Weltbilder und Weltordnungen: Einführung in die Theorie der internationalen Beziehungen, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2000, S. 25.

[8] Vgl. Schimmelfennig: a. a. O., S. 68.

[9] Vgl. Theiler, Olaf: Die Nato im Umbruch: Bündnisreform im Spannungsfeld konkurrierenderNationalinteressen. Baden-Baden: Nomos Verlagesgesellschaft2003, S. 179.

[10] Vgl. Krüger, Dieter: Am Abgrund? Das Zeitalter der Bündnisse: Nordatlantische Allianz und Warschauer Pakt 1947 bis 1991, Fulda: Parzellers Buchverlag 2013, S. 202.

[11] Vgl. Theiler:2004.a. a,O., S.,218.

[12] Vgl. Schimmelfennig: a. a. O., S. 91f.

[13] Vgl. Weisser, Ulrich: Sicherheit für ganz Europa. Die Atlantische Allianz in der Bewährung, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 80.

[14] Vgl. Theiler 2003: a.a O.,S.16f

[15] Vgl. Schimmelfennig: a. a. O., S. 66ff

[16] Vgl. Menzel, Ulrich: Zwischen Idealismus und Realismus: Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001, S. 162.

[17] Vgl. Waltz, Kenneth: Theory oflnternational Politics, New York 1979, S. 78ff.

[18] Vgl. Schimmelfennig: a. a. O., S. 66ff.

[19] Vgl. Waltz: a. a. O., S. 129ff.

[20] Vgl. Theiler 2003: a. a. O., S. 17 ff.

[21] Vgl. Schimmelfennig: a. a. O., S. 234

[22] Vgl. Theiler 2003: a.a O.,S.20ff

[23] Vgl. Schimmelfennig: a. a. O., S. 89ff

[24] Vgl. Theiler 2003: a. a. O., S. 35 ff.

[25] Vgl. Theiler 2003: a. a. O., S. 32 ff.

[26] Vgl. ebd., S. 179.

[27] Vgl. Theiler 2004: a. a. O., S. 218.

[28] Vgl. Varwick, Johannes; Woyke, Wichard: Die Zukunft derNATO. Transatlantische Sicherheit im Wandel. 2. Auflage, Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 91f.

[29] Vgl. Theiler 2003: a. a. O.,S. 179.

[30] Vgl. Böge, Volker: WVO-AuflösungundNATO-Modernisierung: Neue Militärordnung für Europa, in: Birckenbach, Hanne-Margret, Jäger Uli; Wellenmann, Christian (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1992. Konflikte Abrüstung-Friedensarbeit, München: C.H. Beck 1993, S. 142.

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Details

Titel
Fortbestand und Wandel der NATO. Wie lässt sich erklären, dass die NATO das Ende des Ost-West-Konflikts überdauerte und auch nach 1990 bestehen blieb?
Hochschule
FernUniversität Hagen
Veranstaltung
Konflikt und Kooperation in den internationalen Beziehungen
Note
2,0
Jahr
2016
Seiten
66
Katalognummer
V365977
ISBN (eBook)
9783668448933
ISBN (Buch)
9783668448940
Dateigröße
598 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
fortbestand, wandel, nato, ende, ost-west-konflikts
Arbeit zitieren
Anonym, 2016, Fortbestand und Wandel der NATO. Wie lässt sich erklären, dass die NATO das Ende des Ost-West-Konflikts überdauerte und auch nach 1990 bestehen blieb?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/365977

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