Ein Vergleich von Wolfgang Hildesheimers "Das Ende der Fiktionen" und "Marbot". Ein Widerspruch?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

19 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


1
1. Einleitung
Wolfgang Hildesheimer ist einerseits bekannt für seine absurden Stücke, andererseits
kennt man ihn auch als eine Art Untergangspropheten, der das Ende der Fiktionen
angekündigt hat. Wann dieses Szenario eintreten soll, konnte er nicht genau
vorhersagen, man kann somit nur mutmaßen, wann die Welt der Fiktionen untergehen
wird. Es wird wohl spätestens dann der Fall sein, wenn die Menschheit untergeht.
Lange vor solchen Weltuntergangstheorien hat sich ein junger Adliger namens Andrew
Marbot einen Namen gemacht mit seinen Vorstellungen von Kunst und einer langen
Liste an berühmten Persönlichkeiten, wie etwa Goethe, die er persönlich getroffen hat.
Er hatte von diesen Untergangsszenarien noch nichts geahnt und konnte so unbeschwert
durch Europa reisen und sich bilden und die verschiedensten Gemälde beurteilen. Einen
Kunstkritiker wie ihn wird es wohl nie wieder geben, weniger wegen seinen
Fähigkeiten, sondern weil es ihn nie gegeben hat. Bei Grabow-Ax heißt es über ihn:
,,Eine fiktive Figur, die so geschickt in die reale Kunst- und Kulturgeschichte
eingeschrieben wurde, hatte es zuvor nie gegeben
"
1
. Und genau dieser Sir Andrew
Marbot wurde von dem gleichen Mann erfunden, der Jahre vorher das Ende der
Fiktionen prophezeit hat.
Wie das genau sein kann, darum soll es in dieser Arbeit gehen. Hierfür wird erst ein
Blick auf Das Ende der Fiktionen geworfen werden, um herauszufinden, weshalb die
Zeit für die Fiktionen abgelaufen ist, denn Hildesheimer führt dafür verschiedene
Gründe an, die er auch wirklich ernst meint und nicht ironisch sein sollen.
Danach soll Marbot etwas genauer betrachtet werden. Dabei soll zuerst untersucht
werden, wie Hildesheimer es eigentlich schafft, dieses Werk so wirken zu lassen, dass
es Leser dazu verführt hat zu glauben, dass Andrew Marbot wirklich gelebt hat.
Hernach muss sich die Frage gestellt werden, ob Marbot eine Fiktion ist oder doch
irgendetwas anderes, was sich mit den üblichen literaturwissenschaftlichen
Begrifflichkeiten nicht bezeichnen lässt.
Abschließend soll die Frage geklärt werden, wie Hildesheimer, obwohl er das Ende der
Fiktionen vorausgesagt hat, ein solches Werk schreiben konnte, welches seinen Thesen
vom Ende eigentlich widerspricht. Aber vielleicht untermauert es diese sogar.
1
Grabow-Ax, Dorit: Geschichte schreiben: Geschichtsvermittlung in fiktiven (Auto-) Biografien.;
Marburg: Tectum Verlag, 2007, S. 204

2
2. Das Ende der Fiktionen
Die Vorlesung
,,THE END OF FICTION von 1975, in dem sich Hildesheimers düstere
Prognose für die Zukunft der Menschheit und die daraus resultierende Sinnlosigkeit
eines literarischen Engagements bereits andeutet
"
2
, beinhaltet unterschiedliche Gründe,
die erklären sollen, weshalb es in naher Zukunft keine Fiktionen mehr geben wird.
Dabei geht es vor alle um
,,die Fragwürdigkeit der literarischen Fiktion, der literarischen
Erfindung
"
3
.
Einen Grund liefert Hildesheimer dabei mit seinen Werken. Auch wenn diese nur sehr
selten ohne Fiktionen auskommen, so ist es trotzdem so,
,,in Hildesheimers absurden
Stücken ist also eine verläßliche Wirklichkeit so weit ausgeschaltet, daß Phantastik als
Konzept in ihr keinen Platz mehr haben kann
"
4
. Hildesheimer beobachtet also an seinen
eigenen Werken, dass Fiktionen immer unbrauchbarer werden für die literarische
Arbeit, weshalb es ihm immer schwieriger fällt etwas zu schreiben. Dies erklärt auch
seine Rückzüge aus der Welt der Literatur. Fiktionen können ihm nicht mehr das geben,
was sie früher geben konnten. Somit schließt er im Endeffekt von sich auf die ganze
literarische Produktion. Wenn für ihn Fiktionen kein Potenzial mehr haben, dürften
auch andere gute Autoren nicht mehr wirklich viel Sinn in Fiktionen erkennen. Mit der
Zeit würde diese Erkenntnis sich immer weiter verbreiten, wodurch am Ende keiner
mehr schreibt und die Fiktionen hätten somit ausgedient.
Im Zitat wird ein weiterer, sehr wichtiger Punkt erwähnt und zwar die Realität, die auch
dafür verantwortlich ist, dass es bald keine Fiktionen mehr geben wird. In der Realität
kommt es zu immer stärkeren Spezialisierungen, wodurch alles,
,,der Raum, die Welt
und deren Zersplitterung in hochspezialisierte Kleinbereiche
"
5
, derart kompliziert wird,
dass immer nur ein spezieller Teil
,,jeweils nur von einem Fachmann überblickbar"
6
ist.
Und gerade diesen Punkt kann ein Autor nur selten erfüllen, außer er ist einer dieser
Fachmänner, wobei er selbst dann nur über seinen Fachbereich schreiben kann. Somit
2
Hirsch, Wolfgang: Zwischen Wirklichkeit und erfundener Biographie. Zum Künstlerbild bei Wolfgang
Hildesheimer.
; Hamburg: LIT, 1997, S. 261
3
Zimmermann, Hans Dieter: Das Ende der Literatur und das Ende der Welt. Zu Wolfgang Hildesheimers
Absage an die Literatur. In: Schlosser, Horst Dieter / Zimmermann, Hans Dieter (Hrsg.): Poetik. Essays
über Ingeborg Bachmann · Peter Bichsel · Heinrich Böll · Hans Magnus Enzensberger · Wolfgang
Hildesheimer · Ernst Jandl · Uwe Johnson · Marie Luise Kaschnitz · Hermann Lenz · Paul Nizon · Peter
Rühmkorf · Martin Walser · Christa Wolf und andere Beiträge zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen;
Frankfurt am Main: Athenäum, 1988, S. 68
4
Reher, Stephan: Leuchtende Finsternis. Erzählen in Callots Manier.; Köln: Böhlau, 1997, S. 154
5
Jehle, Volker: Wolfgang Hildesheimer Werkgeschichte.; Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch
Verlag, 1990, S. 132
6
Jehle, S. 132

3
ist es so,
,,Fiktion kann jetzt nur noch von gewissen Partial-Realitäten her definiert
werden
"
7
. Mit dem Verschwinden einer einheitlichen Realität fängt auch die Fiktion an
zu verschwinden. Denn durch die Verkomplizierung der Welt tritt das ein, was
Hildesheimer selbst sagt:
,,Fiktionen können unserer Situation nicht gerecht werden"
8
.
Hinzu kommt noch ein weiterer wichtiger Punkt, den Hildesheimer anführt:
,,Denn wir
wissen immer weniger, was wir eigentlich unter Realität zu verstehen haben.
"
9
Anstatt
einer einheitlichen Realität gibt es also verschiedenste Realitäten, die vielleicht
Gemeinsamkeiten haben, aber genau so grundverschieden sein können. Dem Autor
fiktionaler Werke wird damit die Möglichkeit genommen über die Realität an sich zu
schreiben, er kann immer nur eine bestimmte Teilrealität in seinem Werk verarbeiten,
wodurch er am Ende nur ein Teilpublikum erreicht, weil sich Personen, die anderen
Teilrealitäten angehören, davon nicht angesprochen fühlen, da ihnen der Bezug zu ihrer
Realität fehlt. Wie Hildesheimer gesagt hat:
,,Gewiß, es ist völlig natürlich, daß sie
keine Geschichten mehr zum Erzählen finden.
"
10
Entweder es wurde schon erzählt oder
es ist nicht mehr erzählbar,
,,eine objektive Erschöpfung der Erzählliteratur"
11
wird
deutlich.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb die Realität das Schreiben von
Fiktionen immer mehr erschwert. Im immer stärkeren Maße
,,wird die Unterscheidung
zwischen Realität und Fiktion aufgehoben
"
12
und dabei wird
,,die Realität selber
fiktionalisiert
"
13
. Das zeigt sich auch beim Werk Hildesheimers, da
,,für ihn die
Grenzen zwischen Wirklichkeitsaussage und Fiktion offenbar nicht mehr erkennbar
oder zumindest nicht mehr relevant waren
"
14
, weshalb er sich auch nicht mehr an die
ehemaligen Begrenzungen gehalten hat. Dadurch lässt sich ihm natürlich unterstellen,
dass er, anstatt wieder scharfe Trennlinien zu ziehen zwischen Fiktion und Realität, das
Ende der Fiktionen mit seinen Werken teilweise sogar noch vorangetrieben hat. Jedoch
7
Neumann, Peter Horst: Hildesheimers Ziel und Ende. Über ,,Marbot" und die Folgerichtigkeit des
Gesamtwerks. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft) 89/90.;
Wolfgang Hildesheimer. München: edition text + kritik, 1986, S. 25
8
Hildesheimer, Wolfgang: Gesammelte Werke.
­ Band 7. Vermischte Schriften.; Frankfurt am Main:
Suhrkamp Verlag, 1991, S. 148
9
Hildesheimer, S. 149-150
10
Hildesheimer, S. 151
11
Hildesheimer, Wolfgang / Kesting, Hanjo: ,,Mozart" und ,,Marbot" ­ Spiegelbücher? Ein Gespräch. In:
Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft) 89/90.; Wolfgang
Hildesheimer. München: edition text + kritik, 1986, S. 89
12
Lüdke, Martin: Der Rest ist Schweigen. Wolfgang Hild
esheimer und ,,Das Ende der Fiktionen. In:
Bullivant, Keith / Spies, Bernhard (Hrsg.): Literarisches Krisenbewußtsein: ein Perzeptions- und
Produktionsmuster im 20. Jahrhundert.
; München: Iudicium, 2001, S. 181
13
Lüdke, S. 181
14
Hirsch, S. 237

4
konnte er so bemerken, dass die Grenzen immer mehr verschwimmen und somit in
seinem Vortrag darauf hinweisen und dies als einen Grund anführen für das Ende.
Nach Hildesheimer ist eine Aufgabe der Literatur
,,die Fiktion zur Wahrheit"
15
zu
machen, es soll also so sein,
,,daß die Kunst der Erfindung der Wahrheit diene, daher
eine erfundene, aber mögliche Realität Bestandteil der Wirklichkeit sei
"
16
. Das
erschwert der Fiktion jedoch auf Dauer das Überleben, da die Grenzen von Fiktion und
Realität dadurch noch mehr verschwimmen. Da Hildesheimer es als eine Funktion der
Literatur ansieht, Fiktion in Wahrheit zu verwandeln, wirkt es so als wäre das Ende der
Fiktionen schon von Anfang an vorherbestimmt gewesen. Es ist somit so,
,,das Fiktive
könne keinen Anspruch mehr auf Wahrheit erheben, Wahrheit ließe sich nicht mehr
erfinden, wenn die Wirklichkeit in ihrer Absurdität unüberbietbar geworden ist
"
17
.
Während also einerseits
,,eine zunehmende Entfiktionalisierung"
18
auf der Seite der
Literatur deutlich wird,
,,wird die ,,Wahrheit" zur Fiktion"
19
. Am Ende nimmt die
Wirklichkeit der Literatur die Fiktion und somit kann diese nicht mehr für Werke
fruchtbar gemacht werden. Die sich auflösenden Grenzen von Fiktion und Realität
führen mit der Zeit also unweigerlich zum Ende aller Fiktionen.
Auch die Zeit ist ein wichtiger Faktor, die das Überleben der Fiktionen bedroht. Denn
wir leben
,,in einer Zeit, in der sich jene Umwälzungen, die früher Jahrhunderte oder
Jahrzehnte gebraucht haben, in wenigen Jahren vollziehen
"
20
. Die Zeiten werden immer
schnelllebiger, wodurch teilweise schon Nichtautoren dieser schnellen Zeit nicht
hinterherkommen. Was heute wichtig ist, kann morgen schon wieder unwichtig sein.
Ein relativ neues Beispiel wäre hierfür Fukushima. Innerhalb kürzester Zeit nach dem
Unglück wurde der Atomausstieg in Gang gebracht und sollte so schnell wie möglich zu
Ende gebracht werden, wenige Zeit später wurde das Tempo schon wieder gedrosselt
und das Thema Atomausstieg verlor rapide an Interesse. Das macht es einem Autor
sichtlich schwierig das passende Thema zu finden, da die meisten Themen oftmals nur
eine sehr geringe Halbwertszeit haben. Hildesheimer sagt selbst:
,,Doch die
Verarbeitung unserer Zeit in Fiktionen ist verzögerte Aktion
"
21
. Aufgrund der hohen
Geschwindigkeit des Lebens ist es einem Autor kaum noch möglich ein Geschehen in
15
Lüdke, S. 181
16
Hirsch, S. 231
17
Hildesheimer / Kesting, S. 89
18
Hirsch, S. 8
19
Lüdke, S. 181
20
Jehle, S. 132
21
Hildesheimer, S. 152

5
einer Fiktion zu verarbeiten, denn aufgrund der Zeitspanne, die es braucht, bis das Buch
fertig und vermarktet ist, hat das im Werk angesprochene Thema längst seine Relevanz
ganz oder teilweise verloren. Das hohe Tempo erschwert ihm auch die Themenfindung
ungemein, wodurch er am Ende vielleicht sogar ganz darauf verzichtet seine Idee
umzusetzen.
Weiter oben sind kurz gewisse Aufgaben von Literatur erwähnt, auch hierbei zeigt sich
ein Punkt, weshalb die Fiktionen an ihr Ende geraten, denn sie können, wie sich schon
gezeigt hat, nicht mehr das leisten, was ihnen früher möglich war. Hildesheimer sagt
beispielsweise über die Fiktionen von Autoren:
,,Aber ich bezweifle, daß seine
Fiktionen noch das Gewicht erlangen können, einer großen humanen Sache zu
dienen.
"
22
Das lässt sich
,,aufgrund der starken Entfremdung und der begrenzten
Möglichkeit der Literatur, Anklage erheben zu können
"
23
erklären. So tauchen mögliche
Anklagepunkte schnell auf, aber werden genauso schnell wieder uninteressant und
unverwertbar und durch die zersplitterten Realitäten kann die Anklage auch nur eine
begrenzte Personenmenge erreichen. Die Fiktion hat ihre ursprüngliche Kraft verloren,
es zeigt sich,
,,dass mit den Mitteln von Phantasie und Fiktion der
naturwissenschaftlich-technisch geprägten und dadurch als apokalyptisch empfundenen
Welt nicht mehr beizukommen sei
"
24
. Literatur kann also nicht mehr so beruhigen oder
warnen wie früher, wodurch diese nur noch schwer gegen jene apokalyptischen Gefühle
vorgehen kann. Somit ist es so, dass
,,eine naive Erzählung die Ungeheuerlichkeit
unserer Welt und den Bewußtseinszustand unserer Zeit nicht mehr zu erfassen
vermag
"
25
. Die Fiktion hat, durch die verschwimmenden Grenzen, außerdem die
Funktion verloren,
,,ein Kriterium für die Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit
zu sein
"
26
. Durch ihre ganzen Funktionsverluste wird
,,die Kunst endgültig
überflüssig
"
27
, da sie keinen Nutzen mehr hat.
Die Autoren wurden schon mehrmals erwähnt, diese tragen, nach Hildesheimer, eine
Mitschuld am Ende der Fiktionen. Dazu sagt er:
,,Die Zeiten der ,,großen Romanciers"
22
Hildesheimer, S. 146
23
Grabow-Ax, S. 196
24
Bogner, Ralf Georg: Hildesheimer, Wolfgang (1916
­ 1991). In: Schmitz-Emans, Monika /
Lindemann, Uwe / Schmeling, Manfred (Hrsg.): Poetiken: Autoren - Texte
­ Begriffe.; Berlin: de Gruyter,
2009, S. 184
­ 185, S. 185
25
Zimmermann, S. 75
26
Neumann, S. 25
27
Lüdke, S. 181
Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Ein Vergleich von Wolfgang Hildesheimers "Das Ende der Fiktionen" und "Marbot". Ein Widerspruch?
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Poetiken des 20. Jahrhunderts
Note
2,1
Autor
Jahr
2012
Seiten
19
Katalognummer
V376230
ISBN (eBook)
9783668532458
ISBN (Buch)
9783668532465
Dateigröße
554 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hildesheimer, Marbot, Das Ende der Fiktionen
Arbeit zitieren
Hannes Höbald (Autor:in), 2012, Ein Vergleich von Wolfgang Hildesheimers "Das Ende der Fiktionen" und "Marbot". Ein Widerspruch?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/376230

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