Der Symbolbegriff in der Lyrik des Symbolismus. Interpretation der Gedichte "Weltgeheimnis" von Hugo von Hofmannsthal und "Das Wort" von Stefan George


Hausarbeit, 1966

28 Seiten, Note: Verbale Beurteilung


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A) Äußerungen Georges und Hofmannsthals über ihr Verständnis von Dichtung und Symbol

B) Darlegung des Symbolbegriffs an zwei Gedichtinterpretationen
I. Hugo von Hofmannsthal: „Weltgeheimnis“
I.1) Gegenstand und Wirkung des Gedichts
I.2) Traum und tiefer Brunnen als symbolische Offenbarung des Weltgeheimnisses
I.3) Die Kraft des Wortes im Gegensatz von „Einst“ und „Jetzt“
I.4) Die Überwindung dieses Gegensatzes im Lied des Dichters, in der Entrückung des Kindes und der Liebe der Frau
I.5) Das Gedicht „Weltgeheimnis“ als Lied
II. Stefan George: "Das Wort"
II.1) Die bewusste Situation des lyrischen Ichs bei George
II.2) Versinnlichung von Wunder und Traum durch das Wort
II.3) Die Begegnung mit dem Wort, als es ausbleibt
II.4) Der erlernte Verzicht als das gewonnene Verhältnis zur Sprache und als Begründung des Herrschaftsanspruchs des Dichters

C) Der Symbolbegriff bei Hofmannsthal und George im Gegensatz zum Symbol bei Goethe

D) Literaturverzeichnis

Der Symbolbegriff in der Lyrik des Symbolismus

Vorwort

Die Arbeit wurde von der Autorin in ihrem zweiten Studiensemester an der Universität zu Köln als Hausarbeit für ein Proseminar verfasst; sie wurde nicht benotet, stattdessen aber mit einer Beurteilung versehen:

Die Arbeit wird der Problematik des Symbols und der ästhetischen Leistung der Sprache bei Hofmannsthal und George in einer klaren und durchdachten Argumentation gerecht. Die zunächst theoretisch angedeuteten Fragezusammenhänge werden durch schlüssige und differenzierte Interpretationen von Hofmannsthals „Weltgeheimnis“ und Georges „Das Wort“ veranschaulicht. Indem die Verfasserin die Gedichte durch Parallelstellen aus dem Gesamtwerk der Dichter erhellt, beweist sie nicht nur Sach- und Textkenntnis, sondern führt auch methodisch vorbildlich von der Textauslegung an allgemeine Probleme der symbolistischen Poetik heran.

Als Studienrätin für das Fach Deutsch hat die Autorin diese Arbeit später mehrfach im Deutschunterricht der Oberstufe dazu eingesetzt, sie ihren Schülern in Auszügen als Muster und als Anregung für Referate und Facharbeiten vorzulegen.

Aufgrund der schlichten Diktion der noch jungen Verfasserin erwies sich die Arbeit als geeignet zum Unterrichtsmaterial und ist in dieser Funktion auch zur Veröffentlichung gedacht.

Gertraud Pippow

Der Symbolbegriff bei Hugo von Hofmannsthal und Stefan George

Interpretation der Gedichte „Weltgeheimnis“ von Hugo von Hofmannsthal und „Das Wort“ von Stefan George

A) Äußerungen Georges und Hofmannsthals über ihr Verständnis von Dichtung und Symbol

An den Anfang der Untersuchung seien zwei Prosastellen gesetzt, in denen die Dichter selbst über ihr Verständnis von Dichtung und Symbol sprechen.

In einer Vorrede zu den „Blättern für die Kunst“ sagt Stefan George:

„Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa weisheit gelahrtheit sondern die form d.h. durchaus nichts äußerliches: sondern jenes tief erregende in maass und klang wodurch zu allen zeiten die Ursprünglichen die Meister sich von den nachfahren den künstlern zweiter ordnung unterschieden haben.“[1]

Und Hugo von Hofmannsthal lässt Gabriel in dem „Gespräch über Gedichte“ sagen:

„Darum ist Symbol das Element der Poesie, und darum setzt die Poesie niemals eine Sache für eine andere: sie spricht Worte aus um der Worte willen, das ist ihre Zauberei. Um der magischen Kraft willen, welche die Worte haben, unseren Leib zu rühren, uns unaufhörlich zu verwandeln.“

Und etwas später heißt es:

„Wir lösen uns auf in den Symbolen … soweit sie die Kraft haben, uns zu bezaubern. Woher kommt ihnen diese Kraft? … Davon, dass wir und die Welt nichts Verschiedenes sind.“[2]

Beide Dichter lösen sich von der inhaltlichen Bestimmtheit des Wortes, die jede Aussage auf einen vom Sprachgebrauch geprägten Sinngehalt beschränkt. Bei George wird die Form zum eigentlichen Bedeutungsträger, nicht indem sie den Wortinhalt ergänzt und untermalt, sondern indem sie zum Maß, d.h. Maßstab wird, der erst den Sinn bewirkt. Maß und Form sollen verhindern, dass die Gestaltung eines persönlichen Erlebnisses des Dichters ausschweift ins Individuelle. Sie sind Mittel zur Distanzierung, die erst die Freiheit gibt, ein subjektives geistiges Erlebnis als objektives Kunstgebilde zu gestalten. Die Spannung zwischen subjektivem Erleben und objektiver Form bewirkt „jenes tief erregende“, das den Leser anrührt und ein Nacherleben ermöglicht. Die Form wird damit zum Symbol, zur sinnlich wirkenden Gestalt eines Geistigen.

Was für George „jenes tief erregende in maass und klang“, ist für Hofmannsthal die magische Kraft der Worte, um derentwillen allein sie als Gedicht sprechen dürfen. Die Leistung dieser Kraft ist es, uns zu verwandeln, uns aufzulösen, so dass wir mit den symbolkräftigen Worten identisch werden. So wie bei der Opferung eines Tieres für einen Augenblick tatsächlich unser Blut vergossen wird, so wie sich das Sterben des Tieres in einem mystischen Vorgang an uns selbst vollzieht, so lösen wir uns auch beim Lesen eines Gedichts auf in den Dingen, im Leben, von dem wir durch den Vorgang der Individuation, des begrifflichen Denkens und Sprechens getrennt sind.

Zwei Dinge sind Voraussetzung für diesen Vorgang: Die Symbole sind nicht Bilder und Metaphern, die für eine Wirklichkeit stehen, sondern sie sind die Wirklichkeit, sind das Leben selbst. Und wir, die wir der Welt denkend gegenüberstehen, sind im Grunde eins mit ihr.

B) Darlegung des Symbolbegriffs an zwei Gedichtinterpretationen

Die beiden Gedichte „Das Weltgeheimnis“ und „Das Wort sind nicht nur unmittelbares Beispiel für das hier kurz umrissene Verhältnis der Dichter zur Sprache, sondern in beiden ist darüber hinaus das Sprachproblem zum Gegenstand des Dichtens geworden. George spricht dies bereits in der Überschrift aus, bei Hofmannsthal erfahren wir davon erst, wenn er vom Weltgeheimnis sagt: In unseren Worten liegt es drin.“

Dies lässt bereits darauf schließen, dass es George viel primärer um das Wort geht als Hofmannsthal, der erst bei der Frage nach dem Weltgeheimnis darauf stößt.

I. Hugo von Hofmannsthal: „Weltgeheimnis“

Der tiefe Brunnen weiß es wohl, [3]

Einst waren alle tief und stumm,

Und alle wussten drum.

Wie Zauberworte, nachgelallt

Und nicht begriffen in den Grund,

So geht es jetzt von Mund zu Mund.

Der tiefe Brunnen weiß es wohl;

In den gebückt, begriff‘s ein Mann,

Begriff es und verlor es dann.

Und redet irr‘ und sang ein Lied –

Auf dessen dunklen Spiegel bückt

Sich einst ein Kind und wird entrückt.

Und wächst und weiß nichts von sich selbst

Und wird ein Weib, das einer liebt

Und – wunderbar wie Liebe gibt!

Wie Liebe tiefe Kunde gibt! –

Da wird an Dinge, dumpf geahnt,

In ihren Küssen tief gemahnt …

In unsern Worten liegt es drin,

So tritt des Bettlers Fuß den Kies,

Der eines Edelsteins Verlies.

Der tiefe Brunnen weiß es wohl.

Einst aber wussten alle drum,

Nun zuckt im Kreis ein Traum herum.

I.1) Gegenstand und Wirkung des Gedichts

Indem Hugo von Hofmannsthal das Wort „Weltgeheimnis“ seinem Gedicht als Überschrift voransetzt, erhebt er damit das umfassendste und Allgemeinste zum Thema und entzieht es gleichzeitig, indem er es als Geheimnis ankündigt. Diese Wirkung des Entziehens und Verschleierns eines scheinbar greifbar Nahen geht von dem gesamten Gedicht aus. Der Grund dafür sind vor allem die plastischen Bilder, die durch Schönheit des Klanges oder des Vorstellungsinhalts den Leser wie „magische Worte“ anrühren, aber dennoch den Zugang zum Gedicht eher zu versperren als zu öffnen scheinen. Von ähnlicher Wirkung ist die Anordnung des Reims, der, stets betont endend, besonders eindringlich hervortritt. Acht Terzinen als die bevorzugte Strophenform Hofmannsthals beginnen jeweils mit einer Waise, auf die zwei im Paarreim stehende Zeilen folgen. Dieser ständig von einer Waise durchbrochene Paarreim wirkt eindringlich und zurückhaltend, vertraut und befremdlich zugleich, so als spräche das ganze Gedicht in nachgelallten, geheimnisvollen Zauberworten.

Dadurch wird beim ersten Lesen der überlegte Aufbau des Gedichts verdeckt, dessen Teile Karl Pestalozzi[4] als Aufgesang, Mittelteil und Abgesang bezeichnet. Auf- und Abgesang, jeweils die beiden ersten und letzten Strophen des Gedichts umfassend, sind beherrscht von der Antithetik des Einst und Jetzt. Der distanzierten, nachdenklichen Haltung des Erzählers entsprechen der ruhige, ausgewogene Rhythmus und das in der Helligkeit der Vokale ausgewogene Klangbild.

Im Mittelteil dagegen gibt der Dichter die über das Weltgeheimnis nachdenkende Haltung auf und lässt sich hinreißen von der Erinnerung an Besonderes. Sprachinhalt und Rhythmus steigern sich, bis sie in drei Punkten gipfeln und sich gleichsam im Schweigen fangen.

Entsprechend zeigt auch das Klangbild der Vokale eine Steigerung von den dunklen und mittleren u,a,e,ei-Lauten bis zum Vorherrschen des hellen i in der letzten Strophe des Mittelteils.

Im Aufbau des Gedichts wie auch bereits in der Strophenform kündigt sich die Bedeutung der Dreizahl für das Schaffen Hofmannsthals an.

Das Verhältnis des Individuums zum Leben ist bei ihm, wie noch zu zeigen sein wird, immer einem Dreitakt unterworfen. Auch die Frage nach dem Weltgeheimnis erweist sich als dreiteilig: Die Bilder, die eine Beziehung zu dem „es“, diesem umfassendsten und zugleich leersten aller Begriffe herstellen sollen, sind immer in einen Bereich des Einst oder Jetzt gestellt. Aber das Wissen des tiefen Brunnens scheint die Überwindung des Gegensatzes von Einst und Jetzt anzudeuten. Dreimal erklingt auch das Brunnenmotiv im Gedicht, so als wäre mit diesem Leitmotiv der im Kreis herumzuckende Traum gemeint.

I.2) Traum und tiefer Brunnen als symbolische Offenbarung des Weltgeheimnisses

Brunnen und Traum umschließen das Gedicht. Beide Bilder begegnen oft in

Hofmannsthals Werk.

Es gilt daher, die spezielle Bedeutung zu erschließen, in die sie der Dichter

gestellt hat. Vom Traum sagt Hofmannsthal in den „Drei kleinen

Betrachtungen“: „ Denn wir haben unsere Träume nur zum Schein vergessen. Von jedem einzelnen von ihnen, auch von denen, die wir beim Erwachen schon verloren hatten, bleibt ein Etwas in uns.“[5] Und dieses Etwas wird später bezeichnet als der „dunkle Wurzelgrund des Lebens, er, die Region, wo das Individuum aufhört, Individuum zu sein, er, den so selten ein Wort erreicht, kaum das Wort des Gebets oder das Gestammel der Liebe, er lebt mit. Von ihm aber geht das geheimste und tiefste aller Lebensgefühle aus: die Ahnung der Unzerstörbarkeit, der Glaube an die Notwendigkeit und die Verachtung des bloß Wirklichen, das nur zufällig da ist.“[6]

Im Traum klingt damit die Thematik des ganzen Gedichts an. Im Traum als der Region des Unbewussten werden wir unmittelbar an den Wurzelgrund des Lebens gestellt, von dem wir durch unser Bewusstsein, durch die Individuation getrennt sind. Als Individuen sind wir aus der unendlichen Einheit herausgefallen ins Einzelne, Vergängliche. Nur der Traum gibt uns noch die Ahnung der Unzerstörbarkeit, die den Dichter dazu berechtigt und ermutigt, die ursprüngliche Einheit von Ich und Welt im Wort wieder herzustellen. Denn dem Wort wird zugesprochen, dass es, wenn auch selten, diesen Wurzelgrund erreichen kann. Ein solches Wort darf jedoch nicht vom trennenden Verstand geprägt sein, sondern muss dem Gebet oder dem Gestammel der Liebe gleichen, d.h. mit einer unbewussten inneren Kraft beladen sein, die zum unmittelbaren Ausdruck drängt.

Im Traum offenbart sich also das Weltgeheimnis als eine geheimnisvolle, weil mit der Ratio nicht fassbare Einheit von Ich und Weltgrund. Das Weltgeheimnis wird im Traum nicht preisgegeben, sondern bewahrt als ständig gegenwärtiges Geheimnis.

Dieselbe Funktion des Bewahrens übt der tiefe Brunnen aus. Er wird im „ Ad me ipsum[7] als das eigene Ich bezeichnet. Mit dem Brunnen verbindet sich zugleich die Vorstellung des Wassers, das in seiner ewigen Bewegung und doch ewigen Gleichheit zutiefst verwandt ist mit dem Leben und seit Thales von den Philosophen immer wieder als Urelement des Lebens bezeichnet wird. Das Ich „gründet“ also nach dem Bild des Brunnens im Leben, es ist im tiefsten Grunde eins mit ihm.

Vom tiefen Brunnen heißt es weiter, dass er „ es “, das Weltgeheimnis, „ weiß “. Wissen aber bedeutet bei Hofmannsthal nicht verstandesmäßiges Erkennen, denn der Verstand arbeitet mit Hilfe der Reflexion, die Abstand voraussetzt. Wissen ist hier die unmittelbare Präsenz des Weltgeheimnisses. In demselben Sinne, in dem es im „ Ad me ipsum “ von der Präexistenz, jenem Jugendzustand der Allverbundenheit heißt, dass sie sich durch frühe Weisheit auszeichnet, so ist auch hier Wissen verstanden als die vom Verstand noch unzerstörte Einheit mit dem Weltgeheimnis.

Der Dichter, der von seinem eigenen Ich wie von einem fremden Gegenstand sprechen kann, bekundet damit dessen Spaltung. Nur die Gewissheit, dass der tiefe Brunnen „es“ weiß, gibt die Hoffnung, dieses „es“ wiederzufinden und ist damit der Anlass zum Gedicht.

I.3) Die Kraft des Wortes im Gegensatz von „Einst“ und „Jetzt“

Der tiefe Brunnen, der im „Jetzt“ den Zustand des „Einst“ bewahrt, deutet die Möglichkeit der Überwindung des Gegensatzes von „Einst“ und „Jetzt“ an. Zunächst jedoch gilt es, diesen Gegensatz deutlicher zu erkennen, und zwar vor allem im Hinblick auf die Sprache.

Im Gedicht heißt es vom „Einst“: „Einst waren alle tief und stumm, / und alle wussten drum.“

Tiefe, Stummheit und Wissen also kennzeichnen den Zustand des „Einst“. Dass einst alle an diesem Zustand teilhatten, bedeutet wohl nicht nur „alle Menschen“, die Menschheit in ihrer Frühzeit, sondern betrifft auch das „Einst“ des Dichters: Alle Teile seines Ichs waren früher tief, stumm und wissend. Früher, d.h. vor der Spaltung seines Ichs durch den Verstand, in der Kindheit also.

Kindheit aber bedeutet für Hofmannsthal jenen Zustand der Präexistenz, dessen Qualität eben jenes frühe Wissen ist, ursprüngliche Einheit mit der Welt und dem Leben. In diesem Sinne von Ursprünglichkeit ist auch Tiefe zu verstehen. Je tiefer der Brunnen im Leben gründet, desto ursprünglicher ist er eins mit ihm. Was aber bedeutet in diesem Zusammenhang von Wissen als unmittelbarem Gegenwärtighaben des Lebens der Ausdruck „Stummheit“? Stummheit ist immer verbunden mit Unmittelbarkeit. Auch von den Träumen wird gesagt, dass sie stumm seien.[8] Stummheit meint hier jedoch nicht einfach Sprachlosigkeit, sondern, wie die nächste Strophe zeigt, „ Zauberworte“, eine magische Sprache, die wir heute nicht mehr „ in den Grund“ verstehen und daher nur noch „nachlallen“ können. Die Zauberworte sind also nur insofern stumm, als sie etwas anderes sind als unsere alltägliche Sprache, das Werkzeug der Gesellschaft“. Magisch sind solche Worte, in denen wir uns auflösen, mit denen wir identisch sind, d.h. Worte, die noch nicht vom Bewusstsein erfasst, noch nicht auf ein Werkzeug der Gesellschaft reduziert sind. Im Schrei des Tieres oder dem ersten Gestammel des Kindes wird das Tier oder das Kind und mit ihm das Leben unmittelbar laut. Die Laute des Kindes sind noch nicht beschränkt von der allgemeinen Bedeutung, die der Sprachgebrauch ihnen gegeben hat, sondern gewinnen in seinem Mund eine einmalige Bedeutung, die unlösbar verbunden ist mit dem augenblicklichen Seelenzustand des Kindes und diesen vollständig zum Ausdruck bringt. Der Erwachsene dagegen bedient sich der Worte, die von einer allgemein verständlichen Bedeutung geprägt sind. Verständigung aber erfordert immer Verzicht auf Einmaliges zugunsten einer allgemeinen Konvention. Die vom Sprachgebrauch geprägten Worte können daher nie der Einmaligkeit eines Seelenzustandes gerecht werden. Der Mensch kann sich in ihnen nicht aussprechen, sich nicht in ihnen auflösen, d.h. die Worte verlieren ihre magische, verwandelnde Zauberkraft. Sie können „von Mund zu Mund“ gehen, übertragen werden, ohne in ihrer vollen Bedeutungskraft erfahren zu sein.

Doch die eigentliche Kraft des Wortes ist damit nicht verloren, sondern nur unzugänglich. Dies bestätigt später die 7. Strophe: „In unseren Worten liegt es drin, / So tritt des Bettlers Fuß den Kies, / Der eines Edelsteins Verlies.“

Unsere Worte sind Edelsteine, weil sie das Weltgeheimnis enthalten, wir aber sind Bettler, weil uns der Reichtum des Wortes unerreichbar ist.

Die 7. Strophe steht jedoch bereits unter dem Einfluss des Mittelteils, in dem deutlich wird, dass es Aufgabe des Dichters ist, diesen Reichtum zu heben.

I.4) Die Überwindung dieses Gegensatzes im Lied des Dichters, in der Entrückung des Kindes und der Liebe der Frau

Der Mittelteil, der davon berichtet, wie der Gegensatz von „Einst“ und „Jetzt“ zu überwinden sei, hebt noch einmal an mit dem Leitmotiv: „Der tiefe Brunnen weiß es wohl“, so als sollte die Gewissheit dieses Wissens noch einmal zurückgerufen und bestätigt werden. Die Ahnung, dass sich das Weltgeheimnis in unserem Ich bewahrt hat, ist ja überhaupt erst der Grund, weshalb wir versuchen, es immer wieder zu fassen. Auch im Gedicht kommen Mann, Kind und Frau nur über den tiefen Brunnen dem Weltgeheimnis nahe.

Vom Mann heißt es, dass er sich in den Brunnen „bückt“ und es dann „begreift“, begreifen hier im wörtlichen Sinne, er greift, schöpft das Weltgeheimnis aus sich selbst. Indem er sich aber in sich selbst bücken kann, bleiben er und sein Ich etwas Verschiedenes. In einem Akt der „Reflexion“ macht er sich zum Objekt seiner selbst.

Die Spaltung ist nicht aufgehoben, die dauernde Einswerdung von Ich und Welt nicht erreicht. Dem zweimal wiederholten „Begreifen“ steht darum das „Verlieren“ umso gegensätzlicher gegenüber.

[...]


[1] Stefan George, (Erstdruck): Blätter für die Kunst, Folge 2, Bd. 4 , Oktober 1894, S. 122 und http//www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1894_george.html (Kleinschreibung bei George üblich; Großschreibung nur bei Nomen von besonderer Bedeutung)

[2] Hugo von Hofmannsthal: „Gespräch über Gedichte““ in: „Die neue Rundschau“ 1904, Bd. I, S. 135 und Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 2, Fischer Verlag, Fft. Main 1966, S. 373

[3] Hugo von Hofmannsthal. Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, Gedichte und Dramen, Fischer Verlag, Fft. Main 1966, S. 19

[4] Karl Pestalozzi, „Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal, Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte, Atlantis Verlag, Zürich 1968, S.29

[5] „Der Ersatz für die Träume“, in: Drei kleine Betrachtungen“, in: Prosa Bd. IV, Fischer Verlag, 1955, S. 49 und http://www.navigare.de/hofmannsthal/ersatz.html, Erstdruck: Osterbeilage der „Prager Presse 1921

[6] H.v.Hofmannsthal, ibd.

[7] H.v. Hofmannsthal, „Ad me ipsum“,“ Eine Interpretation“, in:“ Aufzeichnungen“ S. 213 ff. Jetzt: Fischer TB, „Reden und Aufsätze“ Bd. III, 1980 und Sämtliche Werke XXXVIII; Fischer Verlag Fft. Main 2015, S. 117-158)

[8] H.v. Hofmannsthal, „Der Ersatz für die Träume in: „Drei kleine Betrachtungen“, Prosa Bd. IV, 1955, S. 45

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Der Symbolbegriff in der Lyrik des Symbolismus. Interpretation der Gedichte "Weltgeheimnis" von Hugo von Hofmannsthal und "Das Wort" von Stefan George
Hochschule
Universität zu Köln
Veranstaltung
Proseminar
Note
Verbale Beurteilung
Autor
Jahr
1966
Seiten
28
Katalognummer
V382789
ISBN (eBook)
9783668581593
ISBN (Buch)
9783668581609
Dateigröße
928 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Traum und Wirklichkeit, Unbestimmtheit lyrischer Bilder, Bedeutung der Sprachform, Funktion von Rhythmus Reim und Klangbild, Individuation und Reflexion, der Wurzelgrund des Lebens, Einheit von Ich und Welt, Formstrenge als Herrschaft über die Gestaltlosigkeit des Lebens
Arbeit zitieren
Oberstudienrätin i.R. Gertraud Pippow (Autor:in), 1966, Der Symbolbegriff in der Lyrik des Symbolismus. Interpretation der Gedichte "Weltgeheimnis" von Hugo von Hofmannsthal und "Das Wort" von Stefan George, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/382789

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