Emile Durkheim und die Religion in der Moderne: Der Kult des Individuums und der Staat


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

27 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Der Kult des Individuums und die Theorie des Staates
2.1. Charakteristika der Religion der Moderne bei Durkheim
2.2. Die Verbindung von Säkularisierung und Individualisierung
2.3. Merkmale des Kults des Individuums
2.4. Die Theorie des Staates bei Durkheim
2.5. Das Verhältnis von Staat und Kult in der Moderne
2.6. Menschenrechte und die Rechte des Staates im historischen Vergleich
2.7. Die Bedeutung des Staates für den Kult

3. Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als die Soziologie im 19. Jahrhundert begründet wurde und sich etablierte, entwickelte sie sich vor dem Hintergrund großer wirtschaftlicher, politischer und sozialer Umbrüche. Dabei ging die Soziologie mit den traditionellen Religionen – bis zu einem bestimmten Grad natürlich auch dem wissenschaftlichen Zeitgeist folgend – wenig zimperlich um. Man kann sie heute daher durchaus als eine säkulare, wenn nicht atheistische Disziplin beschreiben. Trotz dieser Tatsachen kann man gleichzeitig aber auch feststellen, dass Emil Durkheim als einer ihrer Gründungsväter ebenso wie auch Max Weber oder Karl Marx sich sehr intensiv mit dem Themenbereich der Religion auseinandersetzte. Mit seinem Buch „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ schuf er nicht nur eine umfassende Zusammenstellung seines religionssoziologischen Werks. Damit begründete er auch eine neue soziologische Teildisziplin in Frankreich und seine Untersuchungen zur Religionssoziologie sind darüber hinaus für die gesamte Soziologie von großer Bedeutung.

Durkheim sah die Gesellschaft seiner Zeit in einem Zustand der Anomie und des moralischen Verfalls begriffen. Er strich in diesem Zusammenhang sehr deutlich die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft heraus, vor allem als gesellschaftliche Moralsystem. Somit kann Religion in der Moderne auch nicht einfach verschwinden, ihre Funktion muss weiter erfüllt und eine kollektive moralische Autorität für das Individuum gewährleistet werden. Deshalb entwickelte Durkheim im Laufe seines Schaffens ein wenn auch bruchstückhaftes Konzept der Religion der Moderne. In dessen Mittelpunkt stellte er das Individuum: den Kult des Individuum. Dieser soll im folgenden Gegenstand der Untersuchung, wobei die Beziehung des Individuums zum Kollektiv, insbesondere zum Staat als oberste Autorität der Gesellschaft, besondere Beachtung findet. Gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung der Menschenrechte und der gleichzeitigen Expansion der Autorität des Staates erhält eine nähere Betrachtung der Beziehung des Kults des Individuums auf der einen und der Rolle des Staates auf der anderen Seite in diesem Zusammenhang durchaus an theoretischer wie empirischer Relevanz.

In einem ersten Schritt werden im folgenden die Charakteristika und theoretischen Implikationen des Durkheimschen Konzeptes näher beleuchtet. Dabei werden auch die Unschärfen und Inkonsistenzen deutlich zum Vorschein treten und es soll die Frage geklärt werden, inwieweit der theoretisch beschrieben Kult auch wirklich als eine säkulare Religion beschrieben werden kann. Anschließend wird die Beziehung des Staates zum Kult näher dargestellt, wir werden dabei sehen, dass der Staat im Rahmen der theoretischen Konzeption eine weit wichtigere Rolle spielt als das häufig zugestanden wird. Mit dieser Verbindung der Konzepte der Religion und des Staates werden zwei Bereiche der Durkheimschen Soziologie in Beziehung gesetzt, die äußerst fruchtbar aufeinander einwirken können. Erst durch die Betrachtung dieser beiden Teilgebiete lässt sich die Beziehung des Individuums zum Kollektiv erklären.

Abschließend soll auch ein Blick über den theoretischen Tellerrand auf die empirische Ebene geworfen werden und somit der sozialwissenschaftlich intensiv diskutierte Themenbereich der Menschenrechte angeschnitten werden. In diesem Rahmen ist es nicht möglich dieses Thema erschöpfend zu behandeln. Es wird aber deutlich, dass die historische Entwicklung Durkheim an vielen Stellen Recht gibt. Die Verschränkung von Staat und Individuum kann heute oftmals deutlich nachgezeichnet werden und ist in einer globalisierten Welt vor dem Hintergrund eines immer exzessiveren Individualismus, aber auch staatlich wie religiösem Autoritarismus und Fundamentalismus äußerst wichtig.

2. Der Kult des Individuums und die Theorie des Staate

2.1. Charakteristika der Religion der Moderne bei Durkheim

Um den Kult des Individuums näher betrachten und vor allem bewerten zu können, ist es nötig, sich zunächst generell Durkheims Aussagen zu einer Religion der Moderne vor Augen zu führen. Es steht für ihn Außerfrage, dass Religion in welcher Form auch immer in einer zunehmend säkularen und sich von den traditionellen Religionen abwendenden Welt bestehen bleiben wird. „Es gibt keine unsterblichen Evangelien; aber nichts rechtfertigt den Glauben, dass die Menschheit unfähig wäre, in der Zukunft neuen zu erschaffen“ (Durkheim 1994, S.572).

Als Wissenschaftler versuchte er sich allerdings, davon zu distanzieren, die Zukunft vorauszusagen. Eines seiner wichtigsten Ziele war es, die Soziologie als eigenständige Disziplin zu etablieren. Voraussagen, die leicht zu widerlegen sind, sind zum Erreichen dieses Ziels nicht unbedingt förderlich. Somit hielt er es auf der einen Seite für sinnlos, die Religion der Zukunft in ihrer besonderen Art und Weise zu beschreiben.

„[...] on voudrait se représenter un peu en quoi pourra consister une religion de l’avenir, c’est à dire une religion plus consciente de ses origines sociales. Certes, on ne saurait s’exprimer sur ce point avec trop de réserve. Il est tout à fait vain de chercher à deviner sous quelle forme précise une telle religion arrivera à s’exprimer. Mais ce qu’on peut entrevoir, ce sont les forces sociales qui l’engendreront.“ (Durkheim 1969, S.76)

Auf der anderen Seite ließ er in verschiedenen Schriften diese Vorsicht außen vor und nannte verschieden Kennzeichen der zukünftigen Religion. So ist die Religion der Zukunft eine rationale. Bereits hier kann man sehen, wie eng Durkheim in seiner Konzeption die Beziehung von Religion und Wissenschaft definiert. Die Wissenschaft ist die Grundlage des sozialen Lebens und damit auch der Religion (Pickering 1984, S.477).

Auch in seiner Untersuchung zum Selbstmord äußerte sich Durkheim zu diesem Thema. Gedankenfreiheit, das Recht zur Kritik und eine größere individuelle Freiheit werden hier als Kennzeichen genannt (Durkheim 1973, S.444-446). Das Individuum und seine Rechte lassen sich hier deutlich herauslesen und man kann die ersten Grundzüge des Kults des Individuums erkennen. Von besonderer Bedeutung sind allerdings die sozialen Charakteristika, die Durkheim in verschiedenen Werken nennt. Ausgehend davon, dass Religion in welcher Form auch immer in jeder Gesellschaft existieren muss, ist es für die Gesellschaft unabdingbar, dass die Funktion der Religion stets erfüllt wird. Es muss die Einheit der Gesellschaft gewahrt und ihre heiligen Werte zum Ausdruck gebracht werden (Pickering 1984, S.477). Gleichzeitig muss die Religion das Individuum moralisch in die Gesellschaft integrieren. Hier wird die Rolle des Katholizismus in Frankreich von Durkheim universalisiert und auf alle Gesellschaften übertragen (Firsching 1995, S.175). Durkheim zeigte generell trotz seiner jüdischen Herkunft eine gewisse Affinität und eine Faszination für den Katholizismus, während ihm andererseits auch vorgeworfen wird, er habe den Protestantismus nicht verstanden (Isambert 1992, S.458) Er war allerdings nie religiös und in diesem Punkt durchaus mit Max Weber vergleichbar, der sich als „religiös unmusikalisch“ bezeichnete.

Die funktionale Definition des Religionsbegriffs bei Durkheim zeigt sich hier deutlich. In der Regel werden vier Funktionen genannt. Religion übernimmt die Vergesellschaftungsfunktion, indem sie das Individuum in das Kollektiv aufnimmt, und die Integrationsfunktion in einer Gesellschaft. Darüber hinaus stellt Religion die Normen und Werte zur Verfügung, die den Individuen in einer Gesellschaft gemein sind und erfüllt somit eine normative Funktion. Letztlich wird auch eine psychologisch-kognitive Funktion erfüllt, die in engem Zusammenhang mit Durkheims Kollektivbewusstsein steht. Die Religion „strukturiert das Denken des Einzelnen und leitet seine Gefühle und Empfindungen“ (Knoblauch 1999, S.68). Über Anzahl und Bezeichnung der von Durkheim intendierten Funktionen herrscht allerdings in der Literatur Uneinigkeit (Pickering 1984, S.301/311-313). Unstrittig bleibt allerdings der moralisch integrierende Charakter der Religion, der auch in der häufig gebrauchten Formel Gott gleich Gesellschaft zum Ausdruck kommt.

In seinem religionssoziologischen Hauptwerk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ weist Durkheim auf weitere Kennzeichen der Religion der Zukunft hin und zwar auf ihre Riten und die Nähe zur Wissenschaft. In regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen bekräftigen die Individuen mittels festgelegter Riten die Werte der Gesellschaft, wie es sich in auch in allen traditionellen Religionen feststellen lässt (Durkheim 1994, S.571). Der Glaube und die theoretische Grundlage der neuen Religion bildet die Wissenschaft. Sie stellt objektives Wissen über die alltägliche soziale und persönliche Lebenswelt der Individuen zur Verfügung und wird zur zentralen Instanz bei der Entwicklung der Religion in der Zukunft (ebd. 573-574). Schließlich hebt Durkheim auf eine sehr stark ethisch besetzte Ebene ab und macht auch die Gerechtigkeit zum Gegenstand. „Nous aspirons à une justice plus haute qu’aucune des formules existantes n’exprime de manière à nous satisfaire.“ (Durkheim 1969, S.77)

Durkheim zog die Zuversicht, dass eine neue Religion überhaupt entstehen könnte, vor allem aus den Entwicklungen der Französischen Religion.

„Unter dem Einfluss der allgemeinen Begeisterung, wurden seinerzeit rein profane Dinge durch die öffentliche Meinung vergöttlicht: das Vaterland, die Freiheit, die Vernunft. Sogar eine Religion wurde geschaffen, die ihre Dogmen, ihre Symbole, ihre Altäre, und ihre Feste hatte. Diesen spontanen Drang versuchte der Kult der Vernunft und des höchsten Wesens offiziell zu befriedigen. Natürlich war diese religiöse Erneuerung nur von kurzer Dauer. Das lag daran, dass die patriotische Begeisterung, die zuerst die Massen bewegt hatte, selbst immer schwächer wurde.“ (Durkheim 1994, S294/295)

Auch wenn die durch Französische Revolution geschaffene Religion nicht der entsprach, die Durkheim vorschwebte, so sind doch gewisse Parallelen vorhanden. Der Einfluss der Französischen Revolution, der Besonderheiten der französischen Gesellschaft wie auch die Erklärung der Menschenrechte, wie wir später noch sehen werden, spiegelt sich in Durkheims Religion der Zukunft wider.

In der konkreten Ausformung dieser Religion bediente sich Durkheim einem durchaus gängigen Denkmuster seiner Zeit, das sehr unterschiedlich als Religion der Humanität, Individualismus oder Kult des Individuums bezeichnet wurde. All diese Begriffe beziehen sich letztlich auf das gleiche Phänomen, eine Religion, in der der Mensch Gott von seinem Thron stürzt und sich selbst an seine Stelle setzt. Diese Religion „ist eine Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“ (Durkheim 1986, S.57). Diese Idee der Aufklärung wurde von Kant in seinem Werk „Die Kritik der reinen Vernunft“ im 18.Jahrhundert formuliert. Doch gerade in Frankreich viel sie auf äußerst fruchtbaren Boden unterstützt vor allem durch die Gedanken Rousseaus (Pickering 1984, S.481).

2.2. Die Verbindung von Säkularisierung und Individualisierung

Doch wie entsteht nun nach Durkheim der Kult des Individuums? Wie bereits dargelegt lehnte Durkheim die während der Französischen Revolution entstandenen Bewegungen ab. Er koppelt vielmehr die Entwicklung des Kults sehr stark an die Säkularisierung der Welt. Diese Beziehung ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Durkheimsche Soziologie (Müller 1988, S.146). Durkheim unterscheidet in seiner Betrachtung der Säkularisierung zwei unterschiedliche Dimensionen. Zum einen sieht er eine Tendenz der Säkularisierung, die mit dem Beginn der Menschheitsgeschichte einsetzt.

„Wenn es eine Wahrheit gibt, die die Geschichte über jeden Zweifel erhoben hat, dann die, dass die Religion einen immer kleineren Anteil des sozialen Lebens umfasst. Am Anfang erstreckte sie sich auf alles; alles, was sozial ist, ist religiös; die beiden Wörter sind Synonyme. Nach und nach lösen sich die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Funktionen von der religiösen Funktion, richten sich gesondert ein und nehmen einen immer weltlicheren Charakter an. Gott, der zuerst, wenn man so sagen darf, in allen menschlichen Beziehungen gegenwärtig war, zieht sich fortschreitend zurück. Er überlässt die Welt den Menschen und ihren Streitigkeiten. Wenn er sie noch beherrscht, so aus der Höhe und von ferne, und die Wirkung, die er ausübt, wir immer allgemeiner und immer unbestimmter und überlässt dem Spiel der menschlichen Kräfte einen immer größeren Raum.“ (Durkheim 1988, S.224)

Die Religion ist zunächst in allen sozialen Beziehungen gegenwärtig[1], das Individuum findet erst im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung seinen Freiraum. Von besonderer Bedeutung ist dabei die aktuelle Phase der Säkularisierung. Nach Durkheim läuft diese nämlich nicht gleichmäßig ab, zwar stetig aber in verschiedenen Evolutionsschritten. Für die Moderne sieht er eine Säkularisierung, die mit der Reformation ihren Beginn genommen hat und dem Individuum eine viel größere Rolle zuspricht. Der Protestantismus verlagert das Zentrum der religiösen Autorität aus dem öffentlichen Raum in den privaten. Die religiösen Institutionen verlieren an Macht und das Individuum wird zum Zentrum religiöser Interpretation. Die Religion verliert somit an Einfluss in der Gesellschaft und vor allem die Kontrolle üb der das gesellschaftliche Handeln. Die parallele Entwicklung der modernen Wissenschaft ist in diesem Zusammenhang ebenfalls sehr wichtig. Pickering spricht hier sogar davon, dass sie bei Durkheim die wahre Ursache der Säkularisierung sei (Pickering 1984, S.457). Die Grenze zwischen profanen und heiligen Dingen wird immer durchlässiger und somit können die traditionellen Religionen ihren eigenen heiligen Bereich kaum noch vor der Wissenschaft schützen. Diese dringt in die heiligen Bereiche ein, unterwirft diese objektiv-wissenschaftlichen Gesichtspunkten und raubt ihnen den Heiligenschein (Durkheim 1988, S.346). Eine religiöse Gesellschaft zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass ein Sakrileg schwer bestraft wird und die beschriebene Profanisierung von heiligen Dingen im Grunde unmöglich gemacht wird. „Eine Religion, die Sakrilegien toleriert, gibt jede Herrschaft über das Gewissen auf.“ (Durkheim 1986, S.65)

[...]


[1] Dieser Gedanke ist in der Soziologie desöfteren aufgegriffen worden. An dieser Stelle sei nur an Habermas Konzept der Versprachlichung des Sakralen verwiesen, das als Ausgangspunkt seiner Modernisierungstheorie dient.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Emile Durkheim und die Religion in der Moderne: Der Kult des Individuums und der Staat
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Veranstaltung
Ausgewählte Probleme: Religion und Gesellschaft
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
27
Katalognummer
V54664
ISBN (eBook)
9783638498135
ISBN (Buch)
9783638663427
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Emile, Durkheim, Religion, Moderne, Kult, Individuums, Staat, Ausgewählte, Probleme, Religion, Gesellschaft
Arbeit zitieren
Markus Ziegler (Autor:in), 2005, Emile Durkheim und die Religion in der Moderne: Der Kult des Individuums und der Staat, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54664

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