Das Mädchen- und Frauenbild in der Mädchenliteratur der letzten 150 Jahre

Fortschreibung und Wandel


Examensarbeit, 2005

144 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2 Einleitung
2.1. Eingrenzung des Analysegegenstands
2.2. Erläuterung der Vorgehensweise

Erster Teil
3. Definition: Mädchenliteratur
3.1. Allgemeine Definition
3.2. Die Geschichte der Mädchenliteratur
3.3. Kritik am Mädchenbuch
4. Das „typische” Mädchenbuch
4.1. Zielgruppe
4.2. Themen
4.3. Funktion
4.4. Erzählstrukturen
4.5. Mädchenbild
5 Das Frauenbild in der Gesellschaft
6. Rollenspezifische Sozialisation
6.1 Erziehung
6.2. Bildung
6.3 Abweichen von traditioneller Geschlechtersozialisation
6.4. Aktuelle Veränderungen

Zweiter Teil
7 Analyse
7.1 Clementine Helm: Backfischchens Freuden und Leiden
7.2 Else Ury: Nesthäkchen - Serie
7.3 Emma Gündel: Elke der Schlingel
7.4 Enid Blyton: Hanni und Nanni
7.5 Dagmar Chidolue: Aber ich werde alles anders machen
7.6 Christian Bienik: Knutschen erlaubt
8 Fazit und Schlussbemerkung
9. Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

1. Vorwort

Noch heute lesen viele Mädchen phasenweise gerne Mädchenbücher - und das unabhängig von sozialer Herkunft und Schulbildung. So habe auch ich in meiner Kindheit und Jugend Bücher wie „Der Trotzkopf” und Serien à la „Hanni & Nanni” gerne gelesen, wenn ich sie nun auch mit kritischer Distanz betrachte. Da Mädchenbücher einen nicht unerheblichen Anteil an der weiblichen Sozialisation haben, lohnt es sich allemal, sich näher mit dieser Gattung zu befassen.

Bevor ich jedoch die näheren Gründe erläutere, die mich dazu bewogen haben, mich mit dem Thema Mädchenbild in der Mädchenliteratur zu beschäftigen, werde ich zunächst einige Passagen aus Christine de Pizans: Das Buch von der Stadt der Frauen wiedergeben.

Bei meiner Literaturrecherche war ich sehr erstaunt, einen solch progressiven und in seinen Aussagen und Forderungen klar formulierten Text zum Verhältnis der Geschlechter und zum Frauenbild zu finden, der nicht etwa den Emanzipationsbewegungen der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts entspringt, sondern ein Zeugnis des Spätmittelalters aus dem Jahr 1405 ist!

Christine de Pizan beabsichtigte, das „durch die Kirche verfestigte Zerrbild von der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts zu widerlegen und den Neuentwurf eines Frauen-und Menschenbildes vorzustellen”[1]. Dabei sollte die Fremdbestimmung durch den Mann, die zugleich Ausschluss von Bildung, Qualifizierung und Subjektwerdung bedeutete[2], durch individuelle Selbstbestimmung ersetzt werden.

Im fiktiven Dialog zwischen Frau Vernunft und Christine wird diese über das verbreitete Trugbild von der Frau als (geistig) minderwertiges Wesen und dessen Ursachen aufgeklärt:

„Weißt du denn, warum Frauen weniger wissen? [...] Ganz offensichtlich ist dies darauf zurückzuführen, dass Frauen sich nicht mit so vielen Dingen beschäftigen können, sondern sich in ihren Häusern aufhalten und sich damit begnügen, ihren Haushalt zu versehen. [...] Das hängt mit der Struktur der Gesellschaft zusammen, die es nicht erfordert, dass Frauen sich um das kümmern, was [...] den Männern aufgetragen wurde.

[...] Und so schließt man vom bloßen Augenschein, von der Beobachtung darauf, Frauen wüssten generell weniger als Männer und verfügten über eine geringere Intelligenz.”[3]

Christine de Pizan glaubte, dass die Gesellschaft Schuld an dem diesem Frauenbild ist, da Frauen und Männern keine gleiche Erziehung und Bildung zuteil wurde:

„[...] Wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluss daran, genau wie die Söhne die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene.”[4]

Die Autorin übt an denjenigen Männern Kritik, die ihren Töchtern und Ehefrauen Bildung verweigern. Sie schreibt, dass diese Männer Unrecht haben und dass sie die Meinung - Bildung sei für die Moral der Frauen abträglich - nur deswegen verbreiten,”[...] weil es ihnen missfiele, wenn Frauen ihnen an Wissen überlegen wären.”[5]

Diese Aussagen spiegeln die bis in das 21. Jahrhundert reichenden Vorurteile gegenüber dem „weiblichen Geschlecht” wieder. Zugleich findet man eine solch offene Kritik an der polaren Geschlechterphilosophie in späteren Epochen nicht oft. Stattdessen wurde das im 18. Jahrhundert von den Philanthropen propagierte Idealbild der Frau als Hausfrau, Mutter und Gattin zunehmend verinnerlicht, ohne sich der in ihm liegenden Widersprüche bewusst zu werden. Diese Widersprüche bestanden darin, dass der Frau aufgrund ihrer allgemeinen Bestimmung als Mensch zunächst dieselben (Menschen-) Rechte zugestanden werden mussten wie dem Mann. Diese Rechte wurden der Frau faktisch jedoch wieder abgesprochen, da sie zugunsten der Gesellschaft auf ihre eigenen Bedürfnisse verzichten und ihrer, bereits genannten, dreifachen Bestimmung als Frau nachkommen musste[6]. Die Festschreibung auf den häuslichen Tätigkeitsbereich erfolgte aufgrund des angeblich weiblichen Geschlechtscharakters, der der Frau Eigenschaften wie Emotionalität, Passivität und körperliche Schwäche zuschrieb – Eigenschaften, die als nicht geeignet erschienen, um (wie der Mann) ins außerhäusliche (Erwerbs-)[7] Leben zu treten.

Im Rahmen der Zwischenprüfung für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen habe ich mich bereits mit dem Frauen-und Männerbild in der Literatur auseinandergesetzt, dabei jedoch die phantastische Kinder-und Jugendliteratur Astrid Lindgrens fokussiert. Das Frauenbild in der spezifischen Mädchenliteratur ist somit mehr oder weniger Neuland für mich, das ich im Rahmen dieser Arbeit erkunden möchte.

Inwiefern sich bei dem überlieferten Rollenbild im Laufe der Zeit etwas verändert hat, Frauen und Männer als gleichwertig und emanzipiert dargestellt werden oder ob auch in aktuellen Mädchenbüchern alte Muster von der Geschlechtspolarität lediglich im neuen Gewand vermittelt werden; welche Rolle das Mädchenbuch bei der geschlechtsspezifischen Sozialisation spielt und wie die gesellschaftliche Realität früher und heute aussah – dieses sind alles Fragen, die ich im Laufe der Arbeit zu beantworten suche.

Diese Arbeit beschränkt sich dabei jedoch nicht auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen, sondern behandelt auch soziologische, pädagogische und geschichtswissenschaftliche Aspekte.

2 Einleitung

2.1. Eingrenzung des Analysegegenstands

Unter dem Begriff Literatur als „Buchstabenlehre“ oder „Kunst des Lesens und Schreibens” versteht man im weiteren Sinn alle Schriftwerke (vgl. Literaturlexikon). Obwohl Mädchenliteratur als ein Teilbereich der Kinder- und Jugendliteratur diesen Begriff bereits eingrenzt, gibt es auch hier eine riesige Spannbreite.

Aufgrund der Weite des Begriffs „Mädchenliteratur“ und der Möglichkeiten im Rahmen der Schriftlichen Hausarbeit, sehe ich es somit als notwendig an, den Untersuchungsgegenstand einzuschränken.

Wenn Mädchenliteratur all die Schriftstücke meint, die Mädchen als Adressaten haben, so umfasst diese ein weites Feld von Büchern (Fiktive Erzählungen, Sachbücher, Serielle Literatur, Comics), Zeitschriften und anderen auf Schriftsprache basierenden Medien wie PC und Internet.

Dazu tritt noch das Problem der Altersstufen hinzu: Gibt es überhaupt klar voneinander abgrenzbare Altersstufen? Ist es möglich, Altersstufen abhängig bestimmte Literatur zu intendieren und ist dieses auch notwendig? Welche Literatur ist für welches Alter geeignet?

Ich werde in dieser Arbeit fiktionale Texte in Buchform untersuchen, es sind allesamt Erzählungen mit einer Ich-Erzählerin, oder einem auktorialen bzw. personalen Erzähler. Lediglich Hedi Wyss' Das rosarote Mädchenbuch findet als Sachbuch Eingang in diese Arbeit, da es meiner Meinung nach ein Buch ist, dass als Vertreter der emanzipatorischen Mädchenliteratur einen großen Beitrag zur Hinterfragung der Geschlechterrollen leistet und Mädchen zu „einem neuen Bewusstsein [ermutigt]”[8].

Die erzählende Literatur bildet qualitativ und quantitativ den Schwerpunkt spezifischer Mädchenliteratur.

Die Texte entstammen der realistischen Literatur. Generell halte ich jedoch phantastische Literatur für sehr geeignet, traditionelle Rollenverteilung zu hinterfragen und veraltete Normen zu brechen, da es hier leichter fällt, eine weibliche Heldin mit „typisch männlichen” Attributen zu zeigen. Jedoch ist das Gros der phantastischen Literatur zugleich für Mädchen und Jungen geschrieben – auch wenn es eine weibliche Hauptperson wie z.B. 'Pippi Langstrumpf' gibt - und sie ist daher Bestandteil der Kinder-und Jugendliteratur und nicht speziell der Mädchenliteratur.

Der von mir untersuchte Zeitraum umfasst die Entwicklung des Mädchenbuchs innerhalb der letzten 150 Jahre von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende.

Auch wenn ich mit Backfischchens Freuden und Leiden von Clementine Helm ein Buch für die Analyse gewählt habe, das noch zur Zeit der Restauration geschrieben wurde, werde ich in dem Kapitel über das Frauenbild in der Gesellschaft nicht näher auf diese Epoche eingehen. Nach der Märzrevolution und der Paulskirchenversammlung von 1848 befand sich auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches Vieles im gesellschaftlichen und politischen Umbruch. Deutschland war in mehr als 50 Territorialstaaten mit eigenen Landesfürsten gesplittet, so dass eine Untersuchung in dieser Arbeit aufgrund der divergierenden Einstellungen und unterschiedlichen Voraussetzungen im damaligen deutschsprachigen Gebiet im Rahmen dieser Arbeit zu umfangreich und umfassend sein würde. Da es mir außerdem primär um das Mädchenbild in der Mädchenliteratur geht, halte ich diese Eingrenzung nicht nur für vertretbar, sondern auch für absolut notwendig, um den Fokus auf andere Schwerpunkte richten zu können.

Die von mir gewählten Titel behandeln allesamt das Leben der weiblichen Protagonistin im Elternhaus, in der Schule oder im Internat, an der Universität oder Ausbildungsstätte. Freundschaft und Liebe spielen eine große Rolle, ebenso wie Probleme im Rahmen der eigenen pubertären Entwicklung und Konflikte mit anderen Personen.

Ich untersuche sowohl Bücher, deren empfohlenes Lesealter einmal für „jüngere” Mädchen in etwa bis zum zwölften Lebensalter reicht (Hanni & Nanni) als auch Bücher für die „jugendliche Leserin”. Den umfangreichen Bereich der (seriellen) Pferdegeschichten möchte ich dabei jedoch ausklammern.

Ich habe die Titel so ausgewählt, dass ich aus fast jeder Epoche ein Buch analysiere, lediglich aus der Zeit des Nationalsozialismus habe ich kein spezielles Mädchenbuch herangezogen – da diese Epoche sich so stark von den anderen abhebt, dass eine eigene Untersuchung nötig wäre.

Den Schwerpunkt bei der Betrachtung der Mädchenbücher lege ich auf das in ihnen dargestellte Mädchenbild. Dieses umfasst sowohl Mädchen, die dem damaligen Idealbild entsprechen, als auch wie Gegentypen von Mädchen, die einerseits als Konstrastfigur der Protagonistin im Sinne einer Warngeschichte fungiert. Andererseits bringt die Gegenfigur dem lesenden Mädchen Lesegenuss und wirkt kompensatorisch, da das Mädchen sich durch diese Figur lesend gesellschaftlichen Pflichten und Schranken widersetzen kann.

2.2. Erläuterung der Vorgehensweise

Die Arbeit ist in zwei etwa gleich starke Teile gegliedert:

Der erste Teil bildet die theoretische Basis für die im zweiten Teil folgende Analyse, bei der ich insgesamt sechs Mädchenbüchern aus einem Zeitraum von 150 Jahren untersuchen werde.

Im ersten Teil dieser Arbeit werde ich als Grundlage für die weiteren Kapitel den Begriff Mädchenliteratur definieren (3. Kapitel), dabei frage ich zunächst nach allgemeinen Merkmalen, die das Mädchenbuch ausmachen. Darauf folgt ein geschichtlicher Abriss über die Entwicklung dieses Genres vom 19. Jahrhundert bis in die Moderne sowie ein Exkurs über die Kritik am Mädchenbuch, die es ebenso lange gibt, wie das Mädchenbuch selbst. Im vierten Kapitel werde ich dann detailliert die charakteristischen Merkmale des (bis heute) die Mädchenliteratur dominierenden „typischen” Mädchenbuchs – d.h.: Wandlungsgeschichte eines unangepassten, „wilden” Mädchens hin zur rollenkonformen jungen Dame nach Muster des Trotzkopf – herausstellen. Dazu gehören neben den Themen auch Zielgruppe, Funktionen und Erzählstrukturen sowie das im Buch dargestellte Mädchen- und Frauenbild.

Das darauf folgende Kapitel reflektiert das Frauenbild in der Gesellschaft (Kapitel 5). Dieser Blick auf die gesellschaftliche Realität ist insofern wichtig, als das Mädchenbuch immer auch ein Produkt der Gesellschaft, seiner Werte und Rollenzuweisungen ist. Wie bereits angeführt, werde ich den Zeitraum von der Kaiserzeit bis zur Moderne betrachten.

Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass es sich hier nicht um eine geschichtswissenschaftliche Abhandlung handelt, sondern lediglich um eine historische Grundlage des zu untersuchenden Themas. Alles Weitere darüber hinaus würde den knapp bemessenen Rahmen meiner Arbeit sprengen.

Das sechste Kapitel beinhaltet sowohl sozialwissenschaftliche als auch pädagogische Aspekte, wenn es um rollenspezifische Sozialisation in den verschiedenen Institutionen wie Familie oder Schule geht. Bis heute scheint dies ein wunder Punkt in unserer Gesellschaft zu sein; Untersuchungen belegen, dass bereits Säuglinge eine geschlechtsspezifische Erziehung erfahren, da die Eltern unterschiedliche Wahrnehmungen und Erwartungen bei weiblichen und männlichen Kindern haben[9], was sich in Kindergarten und Schule weiter fortsetzt und in Meinungen ausdrückt: Mädchen seien angepasster, ruhiger, häuslicher und leichter zu führen als die rauflustigen und aktiven Jungen, denen mehr Freiräume zugestanden werden als ihren Altersgenossinnen. Diese Unterschiede wurden und werden oft als biologisch bedingt angesehen - dass jedoch die Erziehung nach gesellschaftlichen Normen eine (weitaus) wichtigere Ursache ist, wird vielerorts ausgeklammert.

Das Abweichen von traditioneller Geschlechtersozialisation ist neben den aktuellen Veränderungen im Frauenbild unserer mehr oder minder fortschrittlichen Gesellschaft ebenso Thema dieses Kapitels, da auch im Mädchenbuch das Motiv des Aufbrechens alter Rollenklischees und das Aufzeigen alternativer Lebensentwürfe Themen sind.

Im zweiten Teil der Arbeit greife ich die Ergebnisse vertiefend auf und analysiere sechs Mädchenbücher hinsichtlich des Frauen- und Mädchenbildes (7. Kapitel). Die Auswahl der Bücher zeichnet eine historische Entwicklung nach, wenn auch Veränderungen der Gesellschaft und des Frauenbildes erst mit einiger Verspätung im Mädchenbuch thematisiert werden. Ich beginne mit einer Inhaltsangabe der einzelnen Titel, auf die eine nähere Betrachtung der weiblichen Protagonistin und der weiblichen Nebencharaktere in den Bereichen Familie, Freundschaft, Partnerschaftliche Beziehung, Sexualität, Schule und Beruf und deren gesellschaftliche Stellung folgt (Kapitel 6).

Das Fazit (8. Kapitel) geht schließlich explizit der Frage nach, ob und inwiefern sich das Mädchen-und Frauenbild in der Mädchenliteratur der letzten 150 Jahren verändert hat oder ob es noch immer in tradierten Ansichten verhaftet ist. Zudem werde ich die wichtigsten Ergebnisse aus dem ersten und zweiten Teil kurz zusammenfassen.

Erster Teil

3. Definition: Mädchenliteratur

3.1. Allgemeine Definition

Unter Mädchenliteratur versteht man im Allgemeinen Literatur, die speziell für Mädchen geschrieben wurde. Es ist eine intentionale Literatur, die nicht auf ein bestimmtes Mädchenbild, eine Textsorte oder eine bestimmte Erzählstruktur festgelegt ist, da diese Faktoren einem gesellschaftlich -historischen Wandel unterworfen sind.[10][11] Entscheidendes Kriterium ist einzig und allein, dass das Mädchenbuch extra für Mädchen verfasst wurde.

Damit grenzt sich der Begriff des Mädchenbuchs oder auch der weiter gefasste Begriff der Mädchenliteratur von dem der Mädchenlektüre ab. Dieser meint nämlich die gesamte, von Mädchen rezipierte Literatur.[12] Mädchenlektüre kann daher sowohl den Bereich der Erwachsenenliteratur als auch die allgemeine Kinder-und Jugendliteratur oder das, in Opposition zum Mädchenbuch stehende, Jungenbuch umfassen.

Da diese Literatur jedoch ursprünglich an andere Zielgruppen adressiert wurde, kann sie nicht als Mädchenliteratur bezeichnet werden.

Auch wenn mit der Mädchenliteratur als pädagogisierende Literatur im Laufe der Zeit teils sehr unterschiedliche Ziele (Einfügen in Rollennormen, Erlernen von Sitte und Anstand, Emanzipation, Ermutigung zu mehr Selbstbewusstsein) verbunden werden, ist die Absicht der Literatur für ihre Definition letztlich gleichgültig[13], da als oberstes Kriterium die Adressierung an das Mädchen gilt.

Als Mädchenbuch bezeichnet Dahrendorf, der von der gegenseitigen Beeinflussung von rollenspezifischer Sozialisation und der Produktion von Mädchenliteratur aus marktwirtschaftlichen Interessen ausgeht, alle literarischen Produkte, „die als Instrumente zur Sozialisation des Mädchens zum 'Mädchen' interpretierbar sind“[14]. Im Gegenzug sind es aber auch die Produkte, die dem Mädchen helfen wollen, sich seiner Situation bewusst zu werden, um ihm die Chance zur Emanzipation zu geben.

Die Mädchenliteratur ist nicht nur zielgruppenorientiert, sondern lässt sich auch altersspezifisch untergliedern; als Hauptgruppe bezeichnet Dagmar Grenz Leserinnen im Alter von 12-18 Jahren. Daneben führt sie aber auch Literatur für „kleine” oder „jüngere” Mädchen an, der in Wilkendings Textsammlung Mädchenliteratur: Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg ein eigenes Kapitel gewidmet wird.[15] Dahrendorf unterscheidet Mädchenliteratur für die Phase der Vorpubertät, in der das Mädchen sich noch jungenhaft gebärden darf, und für die etwas älteren Mädchen: die Pubertätserzählung. Von dieser gibt es zwei Varianten: die „Erziehung zur gesitteten Dame“ und in der modernen Literatur häufig anzutreffende „Pubertätskrise“, in der der Hang zur Geselligkeit und stereotype Fröhlichkeit dem Hang zum Alleinsein und ebenso stereotyper Schwermut und Reizbarkeit weicht.[16]

Kenntlich gemacht wird die o.a. Adressierung von Verlag und Autor durch eine Reihe von äußeren Kennzeichen wie Titel, Cover, Binnenzeichnungen, Reihenzugehörigkeit und das für viele Titel/Serien auf dem Buchrücken obligatorische M für Mädchen. Zudem finden sich auf der Titelseite im Buchinneren des Öfteren Untertitel wie Eine Erzählung für junge Mädchen[17] oder Eine Jungmädchengeschichte[18].

Bereits das Cover ist adressatenspezifisch gestaltet: Nach Dahrendorf zeigen Bücher für jüngere Mädchen auf dem Titelbild oft Mädchengruppen, wobei meist ein Mädchen (die „Heldin“) hervorgehoben wird.

„Bücher für die Älteren bevorzugen Kopf oder Halbfigur eines einzigen, dem Alter der intendierten Leserinnen entsprechenden Mädchens.“[19]

Die Aufmachung der Titelbilder lässt vermuten, dass es sich hier um Werbestrategien handelt, „die über das Angebot von Identifikationsfiguren das Mädchen zur Annahme seiner Rolle konditionieren.“[20]

Der Titel enthält häufig einen Mädchennamen - bei den Neuerscheinungen im Jahr 1967 sind es knapp 50 % - oder weist auf „weibliche“ Interessen hin. Lediglich 14,7% der Mädchenbücher sind im Titel neutral gehalten.[21]

Charakteristisches Merkmal des Mädchenbuches ist es, dass Mädchen verschiedenen Alters und gelegentlich auch Frauen die Hauptfiguren sind. Diese drücken weibliches Empfinden aus, was die Mädchen geschlechtsspezifisch in dem anspricht, was sie von den Jungen unterscheidet.[22] Die Bücher sind von vornherein auf weibliche Bedürfnisse hin ausgerichtet, woraus man schließen kann, dass das Mädchenbuch nur deswegen existiert, weil in unserer Gesellschaft eine nach Geschlechtern getrennte Rollenzuschreibung erfolgt.

Mädchenliteratur ist nicht auf bestimmte Gattungen festgelegt:

Sie „umfasst nichtfiktionale und fiktionale Texte: religiöses Schrifttum, moralisch-belehrende und sachlich-belehrende Schriften, Lesebücher, Almanache, Jahrbücher und Zeitschriften; Beispielgeschichten, Erzählungen und Romane; Lieder, Gedichte, Lyrikanthologien,Schauspiele. Für das kleine Mädchen gibt es außerdem Bilderbücher, Märchen und speziell die Puppengeschichte“.[23]

Die subjektive oder personale Schreibweise dominiert bis ins 20. Jahrhundert hinein die Erzählungen in Form von Briefen. Das ermöglichte den AutorInnen nicht nur die Mitteilung äußerer Ereignisse, sondern auch Ausdruck von Gefühlen und Denkprozessen. Auch Erzählungen in Tagebuchform erlauben die Darstellung des „Inneren“. Daneben gibt es Mischformen (teils mit eingestreuter Lyrik) sowie Formen biographischen und autobiographischen Schreibens.[24] Vorherrschend ist also das personale Erzählen.

3.2. Die Geschichte der Mädchenliteratur

Die Mädchenliteratur als Teilbereich der Kinder- und Jugendliteratur bildet sich Ende des 18. Jahrhunderts heraus. Es ist ein Prozess, an dem literatur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Faktoren beteiligt sind.[25]

Bei der Mädchenliteratur handelte es sich primär um moralisch-belehrende, nicht-fiktionale Literatur, die das bürgerliche und z.T. auch das adlige Mädchen auf ihren zukünftigen Status als Ehefrau und die von ihr abverlangten Pflichten und Tugenden vorbereiten wollte: „Schon das junge Mädchen sollte dazu angehalten werden, seine zukünftige Rolle als Hausfrau, Gattin und Mutter möglichst vollkommen zu erlernen.”[26]

Dazu zählt auch Joachim Heinrich Campes' Väterlicher Rath für meine Tochter, der, 1788 erstmals publiziert, die Diskussion über die Erziehung und Bildung der Frau nachhaltig beeinflusste.[27] Es ist zudem „der rezeptionsgeschichtlich bedeutsamste mädchenliterarische Text des späten 18. Jahrhunderts (...)“[28].

Das in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in die Literatur aufgenommene Paradigma vom weiblichen Geschlechtscharakter ist verbunden mit der Bestimmung der Frau als Hausfrau, Gattin und Mutter. Die unterschiedliche Bestimmung und das Wesen der Frau in Opposition zum Mann spielt für die endgültige Festigung des Mädchenbuchs in der Kinder-und Jugendliteratur eine entscheidende Rolle. Man glaubte zu der damaligen Zeit, dass sich nicht nur die Inhalte, sondern auch die Form der Vermittlung an die weibliche Natur anzupassen habe.[29]

Die Existenz des Mädchenbuchs wird mit „bestimmten Auslegungen der Geschlechtscharaktere und damit verbundener gegensätzlicher biologischer und sozialer Bestimmungen von Mann und Frau“[30] begründet.

Für Gisela Wilkending ist Mädchenliteratur daher „ein besonderer Diskurs über die weibliche Bestimmung [...]. Der Diskurs ist eingebunden in die Sozial- und Erziehungsgeschichte von Mädchen und Frauen.”[31]

Das Backfischbuch als neue und bald darauf wichtigste mädchenspezifische Gattung entwickelt sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der moralischen Erzählung heraus, welche sich zur Zeit der Restauration durch romanhafte Motive und komplexere Handlungsstrukturen zur volkstümlichen Erzählung ausweitete.

Im Gegenzug übernimmt das Backfischbuch von den moralischen Erzählungen das Erzählmuster der Umkehr-oder Wandlungsgeschichte[32].

Die im 18 Jahrhundert noch dominante moralisierende Tendenz hat es dabei durch eine psychologische Motivierung der Erzählhandlung oder auch durch eine bloß (ent-)spannende Handlung verdrängt.[33]

Mädchenliteratur ist eine Art Pubertätsliteratur, die aufgrund der gesellschaft- lichen Widersprüche zum „Medium der Kanalisierung und Ventilierung oder [zu] eine Art Kühlapparatur“ wird.[34]

Dafür war es allerdings notwendig, dem Mädchen auf der Schwelle zum Frau-Sein einen eigenen Entwicklungsraum zuzugestehen;

„Grundlage für die Entstehung der Backfischliteratur ist (...) ein neues Verständnis der Mädchenzeit, nämlich die Akzeptanz einer weiblichen Pubertät.”[35]

In dieser entwicklungspsychologisch bedingten Phase der weiblichen Entwicklung muss „das kindlich unreife Mädchen (...) zwar lernen, erwachsen zu werden; zugleich wird ihm aber ein gewisser Schonraum zugestanden”.[36]

Neben der zuvor genannten Moralisierung und Psychologisierung tritt die Erotisierung der Erzählung, die sich allerdings nicht in ausgelebter Sexualität der Hauptfigur zeigt – Sexualität gilt als das universelle Tabu der Mädchenliteratur bis in die Moderne hinein. Begehrenswert wird die Protagonistin für das männliche Geschlecht erst durch die Verschmelzung von „kindlichen-verspielten“ Eigenschaften wie Trotz und Impulsivität. Dies gilt meines Erachtens sowohl für den Vater, der sein „kleines Mädchen“ innig liebt und es nachsichtig gewähren lässt, als auch für den potentiellen Ehemann (vgl. Der Trotzkopf[37]).

In der Backfischliteratur wird das „Trotzmotiv“ lustvoller und häufiger ausgemalt als noch in der moralisierenden und pädagogisierenden Ratgeberliteratur des 18. Jahrhundert; es herrscht zudem größere Nachsicht gegenüber der Protagonistin, die nun trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Widerspenstigkeit sympathisch und liebenswert erscheint.

Im Backfischbuch werden unterschiedliche Lebens- und Entwicklungsräume dargestellt: An erster Stelle steht der Binnenraum Familie, der sich punktuell zur Gesellschaft hin öffnen kann (Schule, Freizeit, Freundschaft, gesellschaftliche Veranstaltungen). Entwicklungsraum kann aber auch der Lebensraum einer befreundeten oder verwandten Familie oder Person sein, wie z.B. in Backfischchens Freuden und Leiden. In dieser Erzählung sollen die beiden Mädchen Margarete und Eugenie von ihrer in Berlin lebenden Tante Ulrike in die Gepflogenheiten der Gesellschaft eingeführt werden.

Auch die Pensionatsgeschichte oder die Internatsgeschichte kann man zur prototypischen Mädchen-Entwicklungsliteratur zählen.

Die Reise sowie der Krieg im historischen Mädchenbuch sind als Entwicklungsmomente ebenfalls denkbar, wobei gerade diese auch von der AutorIn dazu genutzt werden können, der Heldin mehr Spielraum als gewöhnlich zu geben:

„Unter der Bedingung der exotischen Verfremdung der Gegenwartssituation oder der extremen Zuspitzung einer gesellschaftlichen Krisensituation kann die Leitfigur auch ein besonders aktives Mädchen sein.“[38]

Das Mädchenbuch war zunächst vor allem für höhere Tochter aus Bürgertum oder Adel gedacht; nur vereinzelt finden sich Buchtitel, die für Mädchen aus der Unterschicht verfasst wurden.

Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die traditionelle Mädchenliteratur für ein erweitertes weibliches Lesepublikum entdeckt. Es entsteht die so genannte Heftchen- Literatur, die Backfischgeschichten zu einem günstigen Erwerbspreis vertreibt. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickeln sich aus dem Backfischbuch die Mädchenbuchserien (z.B. die Nesthäkchen -Serie), welche ebenfalls ein breiteres Lesepublikum ansprechen.[39]

Damit geht auch die Tendenz zu zunehmend einfacher strukturierten und hauptsächlich einsträngigen Geschichten einher; dazu zählt die Auflösung des erzählenden Schreibstils. Stattdessen herrschen Mädchenbücher mit

„häufig anspruchslosen Dialogreihen [vor], in denen das Geschehen zu kurzer Gegenwart zusammengeschrumpft wird. Diese Tendenz entspricht vermutlich dem Leseverhalten und Leseinteresse eines breiter werdenden Lesepublikums, das keinen Anschluss mehr an eine bildungsbürgerliche Tradition hat. Zugleich folgt sie einem Zug in der Geschichte der Literatur insgesamt.”[40]

Zur Zeit der Reichsgründung bildet sich eine patriotische Literatur heraus, in der „der weibliche Geschlechtscharakter mit starken nationalistischen und militaristischen Tendenzen verbunden wird.“[41] Zu Beginn des Ersten Weltkriegs entsteht sogar eine zeitgeschichtliche Kriegsliteratur für Mädchen[42], wobei auch in dieser Literatur das Problem der Übergangszeit zum Erwachsenwerden im Zentrum steht. Der Krieg gilt dabei einerseits als Garant „künftiger größerer Selbstständigkeit der Frau“[43], andererseits muss das Mädchen nach wie vor an die weibliche Rolle herangeführt werden. Das neue Thema 'Krieg' wird somit mit den klassischen Themen des Backfischromans wie Wandlung, Liebe und Freundschaft verknüpft.[44] Mädchen und Frauen werden in der Kriegsliteratur häufig als Kriegskrankenschwester dargestellt, da sich in dieser Figur weibliche Eigenschaften wie Mütterlichkeit, Fürsorglichkeit und Aufopferung mit patriotischen und nationalistischen Inhalten verknüpfen lässt.[45] Die Mädchen-Kriegsliteratur des Ersten Weltkriegs fungiert somit auch als Element einer umfassenden Kriegspropaganda.[46]

Das Mädchen-Ideal ist schon in der Kaiserzeit einem deutlichen Wandel unterworfen. Als erstrebenswert gilt nicht mehr das Ideal der „Dame“ und des „Hausmütterchens“. Vorherrschend ist nun das Bild des „natürlichen deutschen Mädchens“, das gesund, kraftvoll und zugleich weiblich sein soll.[47]

In der nationalsozialistischen Mädchenliteratur wird dieses Mädchenideal aufgegriffen und erweitert. Während jedoch zuvor das Mädchen oft als emotional und impulsiv gezeichnet wird, ist es nun sachlich und pragmatisch.[48] Neben die Bestimmung der Frau als Ehefrau und vor allem Mutter vieler Kinder tritt das Bild von der Kameradin, die ihrem Mann zur Seite steht, aktiv ist und die nationalsozialistische Ideologie verinnerlicht hat. Je nach wirtschaftlichen und politischen Erfordernissen im NS-Staat wird die natürliche Bestimmung der Frau variiert; entweder wird es auf mütterliche Eigenschaften wie Aufopferung und Entsagung reduziert oder mit männlichen Eigenschaften wie „zäher Arbeitseinsatz“ und „kämpferischer Aktivität“ verbunden.[49] Auffallend ist die Definition der Ehe als Arbeitsgemeinschaft und das betont sachliche Bild der Frau, aus dem Erotik und Sinnlichkeit ausgeklammert werden. Zudem steht das in der NS-Mädchenliteratur vermittelte Frauenbild „im Spagat zwischen 'neuem' Frauenbild und tradierter Rolle“[50].

Erklärtes Ziel des Nationalsozialismus ist es, eine neue Art von nun nationalsozialistischem Mädchenbuch zu schaffen, in dem die neuen Lebensformen sowie die Vorstellungen vom idealen Mädchentypus – das Mädchen zeichnet sich durch physische und psychische Stärke aus[51] und steht aktiv und bewusst im Leben – wiedergegeben werden.

Dabei geht es jedoch weniger um eine dokumentarische Schilderung im nationalsozialistischen Alltag als um die Vermittlung des Erlebnisgefühls und der nationalsozialistischen Grundhaltung. So wird z.B. der Arbeitsdienst keineswegs als Zwang dargestellt; er soll vielmehr wie ein Privileg wirken, dass der Generation der jungen Frauen die Möglichkeit einer eigenen Lebensform bietet. In Abgrenzung zum typischen Mädchenbuch der Kaiserzeit und Weimarer Republik wird in der, von den Nationalsozialisten o.a. favorisierten Mädchenliteratur ein Anspruch auf künstlerische Gestaltung in Form und Sprache formuliert. Das Backfischbuch wird hingegen von den Nationalsozialisten aufgrund des sentimentalen und passiven Mädchenbildes, der trivialen Gestaltung und der „zweck-entbundenen“ Unterhaltungs-funktion scharf kritisiert und abgelehnt[52]. Das gilt auch für die so genannten Konjunkturschriften, die im Zuge der Vermarktung nationalsozialistischer Ideologie massenhaft erscheinen und die das altbewährte Muster des Backfischbuchs übernehmen und sich lediglich thematisch und in der Figurengestaltung an die NS-Ideologie anpassen.[53] Kritisiert wird hier die angeblich verzerrte Darstellung der Wirklichkeit und der Missbrauch von Symbolen und Werten des Nationalsozialismus zum Zwecke der Geschäftemacherei.

Das Mädchenbild betreffend kann man nicht von einem emanzipatorischen Anspruch der NS-Mädchenliteratur sprechen. Die Mädchenfiguren sind trotz des Zuwachses an 'typisch männlichen' Eigenschaften wie Stärke, Selbstständigkeit, Tat- und Willenskraft und der Erweiterung der Lebensformen noch immer männlicher Vorherrschaft untergeordnet. Dazu kommt noch die Unterwerfung unter staatliche Ansprüche.[54][55]

In der Nachkriegszeit, von 1945 bis zu den 70er Jahren, hat sich an der Mädchenliteratur grundsätzlich nur wenig verändert. Der typische Mädchenliebesroman existiert weiterhin. Zahlreiche Mädchenbücher, die aus dem 19. Jahrhundert stammen oder die während der 30er Jahre im Ausland oder auch im faschistischen Deutschland erschienen sind, werden neu herausgegeben, sofern sie politisch nicht verdächtig sind[56]. Dazu zählen die Pucki- Bände von Magda Trott, die bis heute im Handel erhältlich sind. Es werden zudem neue Bücher geschrieben; einige von ihnen befassen sich mit den zeitgeschichtlichen Erlebnissen und Problemen der Kriegs-und Nachkriegszeit (wie Flucht und Vertreibung):

„Die meisten dieser [...] Bücher kann man der Mädchenliteratur zuordnen, empfohlen werden sie für Mädchen nicht unter 10 Jahren.“[57]

Allerdings machen diese Bücher nur einen geringen Anteil der Mädchenliteratur aus; in den meisten Mädchenbüchern werden die Themen Krieg und Not weitgehend ausgespart – wahrscheinlich hat dies damit zu tun, dass die Mädchenliteratur gerade in der direkten Nachkriegszeit eine besondere kompensatorische Funkion zu erfüllen hat.

Es ist bei einem Großteil der Bücher weiterhin Realitätsferne zu verzeichnen. Statt gesellschaftliche Wirklichkeit zu spiegeln, präsentieren sie „mustergültige Lebensläufe von Mädchen, die in weitgehender Harmonie mit ihren Eltern und ihren Freundinnen leben und die feste Rollen- und Verhaltensmuster internalisiert haben, bzw. diese zu internalisieren lernen”[58].

In den 50er und 60er Jahren etablieren sich für jüngere Leserinnen zudem Bücher, die sich auf „die Darstellung des fröhlichen Backfischtreibens, auf Mädchenfreundschaften und lustige Streiche“[59] beschränken. Die bekanntesten Vertreter dieser Literatur sind die Hanni und Nanni - und die Dolly -Serie von Enid Blyton. Immer noch richtet die Mädchenfigur ihr Leben auf andere Personen aus und bezieht ihr Glück daraus, andere glücklich zu machen.

Im Gegensatz zur früheren Literatur bevorzugt das Mädchenbuch der Nachkriegszeit einen anderen Weg, um das Mädchen zur Aufgabe ihrer Individualität zu bringen und sie in die weibliche Rolle einzuweisen:

„Das Mädchen braucht zumeist nicht mehr unter Druck gesetzt zu werden, um die Aufgabe anzunehmen, sondern geht den Weg aus eigenem Antrieb. Es opfert sein Selbstsein gern und willig, weil es weiß, dass es sich damit mit dem Naturgewollten in Einklang setzt.“[60]

Es herrscht noch immer eine starke Mittelschichtsorientierung sowohl im Hinblick auf die Leserschicht als auch in Bezug auf die vermittelten Normen bzw. als Normeninstanz vor. Auch hat sich der Mädchentyp nicht eklatant verändert; es werden lebenslustige und von vornherein selbstsichere Typen, wie z.B. die Reporterin Bettina in der gleichnamigen Buchserie von Seuberlich, bevorzugt. Außerdem wird das Stereotyp des rein emotional gesteuerten Mädchens von dem des stärker rational handelnden Mädchens abgelöst.[61] Diese Tendenz zeigte sich, wie ich weiter oben angeführt habe, in besonders ausgeprägter Form bereits in der NS-Mädchenliteratur.

Die Familie ist weiterhin eines der wichtigsten Bezugsfelder und auch das Tabu der Sexualität bleibt bestehen.

Veränderungen zeigen sich in Bezug auf die Ausweitung des Lebensraumes. Beispielsweise gibt es vermehrt Bücher, die das Mädchen fernab ihrer gewohnten Umwelt zeigen: Durch größere Mobilität speziell in den 60er Jahren kann das Mädchen Reisen in fremde Länder unternehmen und sich so mit fremden Kulturen auseinandersetzen.[62] Darüber hinaus ist in der Mädchenliteratur der Nachkriegszeit eine stärkere Berufsorientierung zu vermerken. Die Sozialberufe stehen an erster Stelle, gefolgt von künstlerischen Berufen und der Tätigkeit im Haushalt. Auch 'Traumberufe' wie die der Stewardess oder der Reporterin werden nun dargestellt.

Allerdings ist das Mädchenbuch noch immer weit von einer realistischen Schilderung der Arbeitswelt entfernt und die Hauptfigur bleibt nach wie vor weitestgehend aus dem politisch-öffentlichen Raum ausgegrenzt.[63]

Die ausländische Mädchenliteratur aus den USA, Schweden oder dem slawischen Raum ist dagegen etwas moderner: Es werden weitgehend selbstbewusst handelnde Mädchen und Frauen in neu eroberten Lebensräumen dargestellt - die Fixierung auf Heirat und Mutterschaft verliert immer mehr an Relevanz und es findet eine Entwicklung zum stärkeren Gegenwartsbezug statt.[64]

Ein tiefgreifender Wandel erfolgt erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Seit den 70er Jahren hat sich neben der Fortschreibung einer Mädchenliteratur in der Tradition des Backfischbuchs eine 'neue' oder 'moderne' Mädchenliteratur entwickelt. Diese wird u.a. als 'emanzipatorisches' Mädchenbuch, 'psychologischer' Mädchenroman oder als weiblicher Adoleszenzroman bezeichnet.[65]

Die Veränderungen in der Mädchenliteratur der Moderne lassen sich in zwei Phasen unterteilen:

In der ersten Phase, die von der Frauenbewegung und der 68er Studentengeneration entscheidend geprägt wurde, stehen die Forderungen nach Gleichberechtigung mit dem Mann in „Schulbildung, Ausbildung und Beruf und das selbstverständliche Recht auch des Mädchens auf Sexualität“[66] im Vordergrund. Die AutorInnen befassen sich nun stärker mit familiären und gesellschaftlichen Strukturen, so werden die Probleme von heranwachsenden Mädchen mit ihren Eltern bzw. mit deren Rollenverständnis und ihrer Autorität thematisiert (vgl. Aber ich werde alles anders machen[67]).

Auch ändert sich das Verhältnis zur Mutter maßgeblich:

„Das Tabu der unhinterfragten Mutter-Tochter-Liebe wird in Frage gestellt, ebenso das Tabu der Mutter als positiver Identifikationsfigur.“[68]

Die von der Mutter vertretene Orientierung auf die dreifache Bestimmung der Frau, d.h. auf ein Dasein als Hausfrau, Ehefrau und Mutter, wird von der Tochterfigur häufig abgelehnt. Gelegentlich kommt es zu einer parallelen Emanzipation von Mutter und Tochter oder aber das Mädchen bricht aus den Familienverhältnissen aus bzw. wird sozial auffällig.[69]

Es handelt sich bei der Mädchenliteratur wie auch bei der allgemeinen Kinder- und Jugendliteratur somit um eine problemorientierte Literatur, die entgegen der zuvor im Mädchen-, Kinder- und Jugendbuch präsentierten 'heilen Welt' einem sozialen Realismus verpflichtet ist.[70] Begründet wird dies durch ein neu entstandenes Verständnis von Kindheit, welches die Gemeinsamkeiten von Kindern und Erwachsenen in den Vordergrund stellt:

„Für Kinder sollen keine anderen Rechte gelten als für Erwachsene; deshalb darf es für sie auch keine Tabus mehr geben.“[71]

Dies impliziert auch die vermehrte Schilderung von jugendlichen Mädchen in extremen Lagen, z.B. bei einer ungewollten Schwangerschaft.[72] Sexualität wird nicht länger tabuisiert und dies ist „wohl die einschneidendste thematische Veränderung der neuen Mädchenliteratur“[73]. Damit verbunden ist auch die Ablösung von dem Motiv der Liebesehe; Sexualität und Liebe können in der Mädchenliteratur der 70er Jahre erfahren werden, ohne dass sie an eine Ehe gekoppelt sind.

Eine Tatsache hat sich jedoch kaum verändert: Auch in der Mädchenliteratur der 70er Jahre ist noch immer eine starke Mittelschichtorientierung zu verzeichnen. Nur gelegentlich gibt es Mädchenfiguren aus der Unterschicht und eine realistische Darstellung der Arbeitswelt mitsamt seiner Probleme.[74]

„Gegen-Mädchenbücher“ schreiben gegen die bisher wichtigste Funktion des Mädchenbuchs an: die Vermittlung des weiblichen Geschlechtscharakters.[75] Herausragend ist hier Hedi Wyss' Das rosarote Mädchenbuch. Ermutigung zu einem neuen Bewusstsein (1973), das gesellschaftliche Fragen, Fragen der Geschlechterrollen und der Sozialisation kritisch hinterfragt. Wyss klärt die Leserin über die gesellschaftlichen Missstände auf und veranlasst sie diese kritisch zu reflektieren. Dabei fügt sie in die Kapitel 'frauenfeindliche' Zitate ein, die zwar nicht kommentiert werden, aber unweigerlich dazu führen, dass der Leserin 'ein Licht aufgeht'. Auch die Kapitelüberschriften („Gleichberechtigung oder Schwarz zu sein ist schlimm, eine Frau zu sein ist schlimmer“; „Puppen oder Hübsche Beine lindern männliche Langeweile“[76] ) regen zum Nachdenken an.

Die zweite Phase der modernen Mädchenliteratur beginnt ab Mitte der 80er Jahre mit der Annäherung einiger Mädchenbücher an den Adoleszenzroman der Erwachsenenliteratur: Es geht in diesen Büchern „um die Suche nach Selbstfindung oder Selbstverwirklichung bzw. um das Scheitern im sozial-gesellschaftlichen Kontext“[77]. Darüber hinaus treten verstärkt Erzähltechniken wie erlebte Rede, innerer Monolog, Bewusstseinsstrom sowie das Erzählen auf verschiedenen Zeitebenen auf, die die Darstellung der psychischen Innenwelt ermöglichen. Die äußere Handlung tritt zugunsten der inneren Handlung, d.h. den Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen und Träumen der Protagonistin, zurück. In der Literaturwissenschaft bezeichnet man diese Form des Mädchenbuchs als psychologisch orientiertes Mädchenbuch oder 'Psychologischer Mädchenroman', welches neben die emanzipatorische Mädchenliteratur tritt. Ziel des psychologischen Mädchenromans ist weniger die Gleichberechtigung als die Herausbildung einer weiblichen Geschlechtsidentität, die „weder in der Übernahme 'männlicher' Eigenschaften noch einer polaren Entgegensetzung zu ihnen aufgeht, sondern 'anders' ist“[78]. Die wichtigen Themen des emanzipatorischen Mädchenbuchs wie Sexualität, erste Liebeserfahrungen und Probleme mit den Eltern werden auch im psychologischen Mädchenbuch aufgegriffen – jedoch mit anderer Akzentsetzung; das Mädchen wird vor allem mitsamt seiner widersprüchlichen Gefühle dargestellt.[79] Auch finden die mit der Postmoderne verbundenen Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen ihren Ausdruck in der psychologisch orientierten Mädchenliteratur. So werden statt der vollständigen Kernfamilie (Mutter, Vater, Kind/Kinder) mit ihrer traditionellen Rollenverteilung nun häufiger Teilfamilien thematisiert.

In den 90er Jahren verstärkt sich die Tendenz postmoderne Lebenswelten darzustellen erheblich. Dabei verliert jedoch die psychologische Komponente an Bedeutung und an deren Stelle treten Witz, Komik und Ironie sowie eine „gewisse Leichtigkeit dem Leben gegenüber“[80]. Besonders deutlich wird dies bei der Gestalt der Rebekka in Knutschen erlaubt[81], die ihre Umwelt sehr genau durchschaut und ihre Beobachtungen der Leserin mit viel Witz und Ironie mitteilt. Dabei legt sie eine gewisse Lässigkeit an den Tag, ohne jedoch gefühlsarm zu wirken.

Auch finden die Medien- und Konsumgewohnheiten der Jugendlichen Eingang in die Mädchenbücher[82] ; in Mieke rappt los[83] sind es die 'Baggy-Pants' und Rap-Musik, die in dem Leben der Protagonistin eine wichtige Rolle spielen. In anderen Buchtiteln werden von Jugendlichen favorisierte Musikgruppen (z.B. Boy Groups), Musiksender (wie MTV), Fernsehsendungen ('Daily Soaps' u.a.) oder Markenbekleidung thematisiert. Dass es sich dabei manchmal nur um eine platte Aneinanderreihung zeitgenössischer Themen handelt, möchte ich hier nur anmerken.

Insgesamt deutet sich an, dass das stereotype Frauenbild mit der (positiven) Hervorhebung von weiblichen Eigenschaften in der modernen Literatur am Ende des 20 Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt wird. Anstatt wie im Backfischbuch am Ende in einer Liebesheirat zu gipfeln, erfolgt im modernen Mädchenbuch nun häufiger die Loslösung und Trennung vom Mann und dafür „die stärkere Hinwendung der weiblichen Hauptfigur auf sich selbst [...] verbunden oftmals mit dem Entschluss zur Weiterbildung oder einem Berufswechsel.“[84]

Allerdings zeigt sich in vielen Büchern auch, dass sich unter der Oberfläche scheinbar positiver Fortentwicklung noch immer die alten Rollenmuster verbergen. Als wichtig in diesem Zusammenhang erachte ich die Aussage von Verena Mayr-Kleffel. Sie schreibt nämlich, dass Mädchenliteratur mit emanzipatorischen Inhalten aus marktwirtschaftlicher Sicht nicht so rentabel ist wie die klassische Mädchenliteratur und dass es deswegen wohl immer wieder zur Produktion von Mädchenliteratur nach bewährtem Muster kommen wird:

„Um Realismus bemühte Mädchenliteratur kann sich [...] historisch überleben, während triviale Mädchenbücher zeitlos aktuell sich auf dem Markt behaupten können.“[85]

3.3. Kritik am Mädchenbuch

Malte Dahrendorf betrachtet Mädchenliteratur als ein das Mädchen beschränkendes Mittel der Sozialisation. Gisela Wilkending widerspricht dem und konstatiert, dass Mädchenliteratur beim näheren Hinsehen ein breites Feld umfasst, bei dem die gesellschaftlichen Widersprüche nicht einfach wie im Trotzkopf negiert, verdrängt oder im Versprechen auf eine Liebesheirat kompensiert werden.

„Ein Teil der Literatur, [...], greift Widersprüche auf, um freilich typisch bürgerliche Lösungsmöglichkeiten zu zeigen. Dabei geht es auch ernsthaft um die Stärkung des Selbstbewusstseins der Mädchen, um Befreiung von dem Gefühl, als Mädchen nur Belastung für Familie und Umfeld zu sein. [...]. Häufig wird auch vom Eintritt in das Berufsleben erzählt (...).“[86]

Es werden durchaus traditionelle Rollenmuster in Frage gestellt und den Leserinnen Spielraum zur Selbstreflexion und - definition eröffnet.

Meiner Meinung nach ist das Gros der Mädchenliteratur jedoch einer Sozialisation nach dem geschlechtsspezifischen Paradigma verbunden – zumindest, wenn man es aus heutiger Sicht betrachtet. Jedoch gibt es, wie Wilkending anführt, auch Ausnahmen, wie z.B. Else Urys Wie einst im Mai, in dem zwei junge Frauen Medizin studieren und die eine der beiden die Karriere einer Ehe vorzieht und dieses von ihrem Freund akzeptiert wird. Die Hauptfigur der Erzählung bricht allerdings ihr Studium zugunsten einer Liebesheirat ab und wird insgesamt als weiblicher und auch positiver beschrieben. Es wird der Leserin suggeriert, die Ausrichtung auf den Mann sei der bessere Weg. Damit wären wir wieder bei Dahrendorfs These angelangt, die Mädchenliteratur fungiere als Sozialisationsinstrument, auch wenn partiell andere Lebensformen dargestellt werden.

Nach Dahrendorf passt sich das Mädchenbuch in seinem Weltbild an überholte Sozialstrukturen an und je rückständiger dieses Welt- und Frauenbild sei, desto eher könne man vom Mädchenbuch sprechen. Dies nutzen die Verlage aus Dahrendorfs Sicht aus, sie verlegen schon für Kinder spezifische Literatur, um das Weltbild im (Unter-)Bewusstsein zu fixieren und so eine treue Leserschaft für die Mädchen -und Frauenliteratur zu erziehen.[87]

Dahrendorf steht mit seiner kritischen Sichtweise bezüglich des Mädchenbuchs in einer langen Tradition: Die Kritik an der angeblich minderwertigen Mädchenliteratur[88] reichte von den literatur- und kunstästhetischen Argumenten eines Heinrich Wolgast bis zu der These, Mädchenliteratur sei moralisch verwerflich, da sie als „erotische Unterhaltungslektüre“[89] das Mädchen verführen würde. Weiterhin sei sie als Erziehungsmedium ungeeignet, da in ihr falsche, sogar gefährliche Bilder der Weiblichkeit und des Frauenlebens transportiert würden.[90] Zudem sei die „Lesewut“ der Mädchen Symptom „weiblicher Hysterie“[91]. Auch die bürgerliche Frauenbewegung, allen voran, ihre bis heute wohl bekannteste Vertreterin Gertrud Bäumer (1873-1954), lehnt das Mädchenbuch und die Mädchenlektüre nach anfänglicher liberaler Einstellung ab. Wilkending glaubt, dass Mädchenliteratur deswegen so heftig bekämpft und umstritten ist, weil es im Mädchenbuch um die Sozialisation und gesellschaftliche Zwänge geht und damit immer ein Stück weit die eigene Entwicklung angesprochen wird:

„Dies widersprüchliche und verwirrende Bild verweist darauf, dass das Thema [...] nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen einen neuralgischen Punkt trifft, geht es doch bei diesem Thema immer um Konfrontation mit der eigenen Entwicklungsgeschichte.“[92]

Aus emanzipatorischer Sicht schließlich transportieren die traditionellen Mädchenbücher alte Rollenklischees und fördern somit die Unterordnung der Frau unter den Mann.

Obwohl Mädchenliteratur von der eigentlichen Zielgruppe, den Mädchen, immer gern „konsumiert“ wurde, ist die Bezeichnung des Mädchenbuchs als „Stiefkind der Kinder-und Jugendliteratur“[93] aufgrund der Geringschätzung des Mädchenbuches in Literaturkriktik und Literaturpädagogik meiner Ansicht nach treffend.

4. Das „typische” Mädchenbuch

Unter einem typischen Mädchenbuch versteht man ein Buch, dass nach dem Muster des Backfischbuchs mit seinen genretypischen Grundkonstanten verfasst wurde.

Das Backfischbuch entwickelte sich wie bereits angeführt im 19. und 20. Jahrhundert zur dominantesten Textgattung. Daneben gab es noch moralische (Thekla von Gumpert: Töchter-Album) und volkstümliche Erzählungen wie das bis heute bekannte und durch die Medien in seinem Bekanntheitsgrad noch gesteigerte Heidis Lehr-und Wanderjahre von Johanna Spyri.

Der Grund für den großen Erfolg des Backfischbuchs liegt für Dagmar Grenz darin, dass „der offen moralische Gestus der älteren Backfischliteratur [,wie er z.B. noch in Clementine Helms Backfischchens Freuden und Leiden vorhanden ist,] über Bord geworfen [...] wurde”[94].

Der Trotzkopf ist nicht nur das bis heute rezeptionsgeschichtlich bedeutendste Backfischbuch, sondern auch der Prototyp der Backfischliteratur. Aufgrund seines nahezu unverändert großen Wirkungskreises werde ich das von Emmy von Rhoden 1885 veröffentlichte Buch als Grundlage für dieses Kapitel verwenden und einige meiner Aussagen durch Textstellen belegen.

Das Erfolgsmuster des Trotzkopf und anderer Mädchenbücher zeichnet sich aus durch:

„klischeehafte Personengestaltung, idyllisierte Darstellung der textimmanenten Welt, pseudorealistische Erzählweise, mit der die vorgegebenen Normen unterschwellig vermittelt werden, Glücksversprechen durch eine Liebesheirat und episodischer Handlungsablauf, der auf entspannte Lektüre abzielt.“[95]

4.1. Zielgruppe

Mädchen im Alter von 9-11[96] Jahren lesen Mädchenbücher, die eine unbeschwerte Mädchenzeit darstellen, in der die Hauptfigur noch jungenhaft verspielt und aktiv sein darf und (harmlose) Streiche verübt. Dazu gehören Internatsgeschichten, in denen die Mädchenfreundschaften in größeren Gruppen einen immens wichtigen Aspekt ausmachen, genauso wie die ebenso sehr beliebten Pferdebücher.

Kommt das Mädchen mit ca. 12 Jahren in die Pubertät, so wendet sie sich eher Büchern zu, in denen sich eine Hauptfigur (meist ein wenig älter als die Leserin selbst) nach einer anfänglichen Phase der Rebellion in die weibliche Rolle einfügt. Viele Bücher wurden nach diesem Muster des klassischen Backfischbuchs verfasst und stehen damit in der Tradition des Trotzkopf.

Während im ausgehenden 19. Jahrhundert die Leserin auch im Alter von 17 bis 18 Jahren noch typische Mädchenbücher gelesen hat, ist laut Dahrendorf heute eine Zeitverschiebung zum jüngeren Lesealter zu konstatieren und somit müssen Altersstandards generell in Frage gestellt werden.[97] Die für diese Arbeit verwendete Ausgabe des Trotzkopf wird dessen ungeachtet für das Lesealter 11-16 empfohlen.

Da Mädchenbücher jedoch freiwillig von den Mädchen gelesen werden und vielen eine Rückzugsmöglichkeit aus dem Alltag bieten, darf die Bedeutung des Mädchenbuchs aufgrund der suggestiven Kraft von literarischen Leitbildern für die Identitätsfindungsprozesse vor und in der Pubertät nicht unterschätzt werden.[98]

4.2. Themen

Die Erzählung im „typischen“ Mädchenbuch ist immer eine Einfügungs- und Wandlungsgeschichte sowie auch eine Liebesgeschichte. Unter Einfügungs- oder Wandlungsgeschichte versteht man das Motiv des unangepassten und trotzigen Mädchens mit männlich-aktiven Zügen, welches seinen Trotz zumindest partiell überwinden muss, um am Ende der Erzählung als junge Frau hervorzugehen, die ein der weiblichen Rolle angemessenes Verhalten an den Tag legt und damit als Mitglied der Gesellschaft ihren Platz einnimmt.

Interessant ist meines Erachtens, dass die Mädchen im Trotzkopf eine Schulaufführung gestalten, die das o.a. Motiv der Wandlungsgeschichte thematisiert: „Es handelt sich [...] um die Besserung eines widerspenstigen Mädchens“ (S. 249). Die Hauptfigur in diesem Theaterstück spielt – wie könnte es anders sein - die Protagonistin des Buches, Ilse Macket.

Die Liebe zwischen Vater und Tochter erhält im Mädchenbuch einen immens hohen Stellenwert, was in der emotionalen Aufladung der Eltern-Kind-Beziehung in der bürgerlichen Kleinfamilie seinen Ursprung hat.

[...]


[1] Kleinau, Elke/ Mayer, Christine (Hrsg.): Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts. Eine kommentierte Quellensammlung zur Bildungs- und Berufsbildungsgeschichte von Mädchen und Frauen. Band 1. Deutscher Studien Verlag, Weinheim, 1996. S. 18

[2] Vgl. a.a.O., S. 19

[3] Kleinau/ Mayer, S. 20

[4] Kleinau/ Mayer, a.a.O., S. 20

[5] Kleinau/ Mayer, a.a.O., S. 22

[6] Vgl. Jonach, Michaela: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Joachim Heinrich Campe und Jean-Jacques Rousseau. Peter Lang, Frankfurt am Main, 1997. Seite 87

[7] Vgl. Grenz, Dagmar: Mädchenliteratur. In: Günter Lange (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Band 1. Schneider-Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler, 2000 (2. Auflage). Seite 335

[8] Untertitel von: Wyss, Hedi: Das rosarote Mädchenbuch. Ermutigung zu einem neuen Bewusstsein. Hallwag Verlag. Bern und Stuttgart, 1973

[9] Vgl. Hagemann–White; Carol: Sozialisation: Weiblich – männlich? Leske & Budrich, Opladen, 1984. Seite 50

[10] Anmerkung der Verfasserin: Ich werde hier Mädchenliteratur definieren, um einen Überblick über das Genre mitsamt der geschichtlichen Entwicklung zu geben. Dabei erhebe ich jedoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, das es hier nur um einen generellen Überblick geht.

[11] Vgl. Grenz, Dagmar: Zeitgenössische Mädchenliteratur – Tradition oder Neubeginn? In: Grenz, Dagmar/ Wilkending, Gisela: Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. S. 260

[12] Vgl. Grenz, Dagmar: Mädchenliteratur. In: Günter Lange: Taschenbuch der Kinder-und Jugendliteratur. S. 332

[13] Vgl. Grenz, Dagmar: Beschränkte Abenteuer – Mädchenliteratur. In: Gisela Wilkending: Kinder- und Jugendbuch. S. 166

[14] Dahrendorf, Malte: Mädchenliteratur. In: Gerhard Haas (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Handbuch. S. 111

[15] Anmerkung der Verfasserin: Meiner Meinung nach ist diese Zusammenfassung des Lesealters noch zu grob und müsste noch einmal unterteilt werden; zum einen gibt es in der Mädchenliteratur Geschichten von unbeschwertem Mädchenleben voller Streiche und Cliquenbildung, die in etwa für die Altersspanne 9/10 bis 12 gedacht ist und zum anderen im Anschluss daran die zunehmend psychologisierenden Pubertätsgeschichten, die Mädchen vom in etwa 13. bis zum 16.Lebensjahr lesen. Im 19 Jahrhundert und zu Beginn des 20. mag das Lesealter von Mädchenliteratur noch höher gelegen haben.

[16] Vgl. Dahrendorf: Mädchenliteratur. S. 122

[17] Berbig, Johannes: Gissis Fahrt nach Apfelstädt. Boje, 1949

[18] Ury, Else: Nesthäkchens Backfischzeit. Hoch-Verlag, Düsseldorf, 1984

[19] Dahrendorf: Das Mädchenbuch und seine Leserin. S. 18

[20] Ebd.

[21] Vgl. Dahrendorf: Das Mädchenbuch und seine Leserin. S. 19

[22] Vgl. Dahrendorf, a.a.O., S. 17

[23] Vgl. Grenz: Mädchenliteratur. S. 332 f.

[24] Vgl. Wilkending, Gisela (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Mädchenliteratur. Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. S. 282 f.

[25] Vgl. Dahrendorf: Das Mädchenbuch und seine Leserin. S. 22

[26] Eicke, Dagmar-Renate: „Teenager” zu Kaisers Zeiten. Die „höhere” Tochter in Gesellschaft, Anstands- und Mädchenbüchern zwischen 1860 und 1900. S. 185

[27] Vgl. Jonach, S. 5

[28] Grenz: Mädchenliteratur. S. 334

[29] Vgl. Grenz, a.a.O., S. 336

[30] Wilkending: Kinder- und Jugendbuch. S. 164

[31] Wilkending, Gisela (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Mädchenliteratur. Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. S. 44

[32] Vgl. Grenz: Mädchenliteratur. S. 337

[33] Vgl. Wilkending: Kinder- und Jugendliteratur. Mädchenliteratur... . S. 282

[34] Wilkending, Gisela: Mädchenliteratur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. S. 220

[35] Grenz: Mädchenliteratur. S. 337

[36] Ebd.

[37] Von Rhoden, Emmy: Der Trotzkopf. Neuer Jugendschriften Verlag, Berlin, Jahr (ohne Angabe)

[38] Wilkending: Mädchenliteratur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. S. 221

[39] Vgl. Wilkending (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Mädchenliteratur... . S. 45 f.

[40] Wilkending, a.a.O., S. 283

[41] Grenz,: Mädchenliteratur. S. 340

[42] Vgl. Wilkending, Gisela: Mädchen-Kriegsromane im Ersten Weltkrieg. In: Grenz, Dagmar/ Wilkending, Gisela (Hrsg.): Geschichte der Mädchenliteratur. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frau. S. 151

[43] Wilkending: Mädchenliteratur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. S. 249

[44] Vgl. Wilkending: Mädchen-Kriegsromane im Ersten Weltkrieg. S. 152

[45] Vgl. Wilkending: Mädchenliteratur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. S. 248 f.

[46] Vgl. Wilkending: Mädchen-Kriegsromane im Ersten Weltkrieg. S. 152

[47] Vgl. Wilkending: Mädchen-Kriegsromane im Ersten Weltkrieg. S. 153

[48] Vgl. Häusler, Regine: Weiblichkeitsentwürfe in der Mädchenliteratur des Nationalsozialismus. Ein Vergleich zwischen favorisierten Mädchenbüchern und „Konjunkturschriften". In: Lehnert, Gertrud (Hrsg.): Inszenierungen von Weiblichkeit. Weibliche Kindheit und Adoleszenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts. S. 221

[49] Vgl. Grenz: Mädchenliteratur. S. 340

[50] Häusler, S. 221

[51] Vgl. Häusler, S. 227

[52] Vgl. Häusler, S. 216

[53] Vgl. Brunken, Otto: Kinder-und Jugendliteratur von den Anfängen bis 1945. In: Lange, Günter (Hrsg.) Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Band 1. S. 82

[54] Vgl. Häusler: S. 215 ff.

[55] Anmerkung der Verfasserin: Zur weiterführenden Literatur empfehle ich die Aufsätze von Regine Häusler und Dagmar Grenz: Kämpfen und arbeiten wie ein Mann - sich aufopfern wie eine Frau., da hier speziell die Ambivalenz des Mädchenbildes in der NS-Literatur herausgearbeitet wurde. Darüber hinaus verweise ich für einen generellen Überbick der NS-Kinder-und Jugendliteratur auf Otto Brunkens Beitrag im Taschenbuch der Kinder-und Jugendliteratur.

[56] Vgl. Steinz, Jörg/ Weinmann, Andrea: Kinder- und Jugendliteratur der Bundesrepublik nach 1945. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Band 1. S. 99

[57] Steinz,/ Weinmann , S. 100

[58] Steinz/ Weinmann, S. 110

[59] Grenz: Mädchenliteratur, S. 340

[60] Dahrendorf: Das Mädchenbuch und seine Leserin. S. 129

[61] Vgl. Steinz/ Weinmann, S. 116

[62] Vgl. Ebd.

[63] Vgl. Grenz: Mädchenliteratur. S. 341

[64] Vgl. Steinz/ Weinmann, S. 111

[65] Vgl. Grenz: Mädchenliteratur. S. 333

[66] Grenz, a.a.O., S. 342

[67] Chidolue, Dagmar: Aber ich werde alles anders machen. Beltz & Gelberg, Weinheim und Basel, 1994

[68] Grenz: Mädchenliteratur. S. 343

[69] Vgl. ebd.

[70] Vgl. Steinz/ Weinmann, S. 121

[71] Steinz/ Weinmann, S. 121

[72] Vgl. Steinz/ Weinmann, S. 115

[73] Grenz: Mädchenliteratur. S. 342

[74] Vgl. Grenz, a.a.O., S. 343

[75] Vgl. Grenz, a.a.O., S. 342

[76] Wyss, Hedi: Das rosarote Mädchenbuch. Ermutigung zu einem neuen Bewusstsein. Seite 3

[77] Grenz: Mädchenliteratur. S. 344

[78] Ebd.

[79] Vgl. Grenz, a.a.O., S. 346

[80] Grenz, a.a.O., S. 347

[81] Bieniek, Christian: Knutschen erlaubt. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2004

[82] Vgl. Grenz: Mädchenliteratur. S. 348

[83] Schindler, Nina: Mieke rappt los. Gerstenberg, Hildesheim, 1998

[84] Grenz, Dagmar: Zeitgenössische Mädchenliteratur – Tradition oder Neubeginn? In: Grenz, Dagmar/ Wilkending, Gisela (Hrsg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Stellung der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. S. 241

[85] Mayr-Kleffel, Verena: Mädchenbücher: Leitbilder der Wirklichkeit. Leske und Budrich, Opladen, 1984. S. 28

[86] Wilkending: Mädchenliteratur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. S. 221

[87] Vgl. Dahrendorf: Das Mädchenbuch und seine Leserin. S. 20

[88] Vgl. Wulf, Carmen: Mädchenliteratur und weibliche Sozialisation: Erzählungen und Romane für Mädchen und junge Frauen von 1918 bis zum Ende der 50er Jahre – eine motivgeschichtliche Untersuchung. S. 8

[89] Ludwig Göhring; zitiert von: Wilkending, Gisela: Mädchenlektüre und Mädchenliteratur. „Backfischliteratur“ im Widerstreit von Aufklärungspädagogik, Kunsterziehungs- und Frauenbewegung. In: Grenz, Dagmar/ Wilkending, Gisela (Hrsg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen. S. 182

[90] Vgl. Wilkending: Mädchenlektüre und Mädchenliteratur... . S. 174

[91] Vgl. Wilkending, a.a.O., S. 182

[92] Wilkending, a.a.O., S 175

[93] Mayr-Kleffel, S. 9

[94] Grenz: Mädchenliteratur. S. 338

[95] Häusler, S. 215

[96] Vgl. Dahrendorf: Mädchenliteratur. S. 121

[97] Vgl. Dahrendorf, a.a.O., S. 111

[98] Vgl. Mayr-Kleffel, S. 10

Ende der Leseprobe aus 144 Seiten

Details

Titel
Das Mädchen- und Frauenbild in der Mädchenliteratur der letzten 150 Jahre
Untertitel
Fortschreibung und Wandel
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
144
Katalognummer
V71602
ISBN (eBook)
9783638621090
Dateigröße
1067 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Grundlagenarbeit, die einen guten Überblick über die Entwicklung der Mädchenliteratur gibt, angefangen von der sogenannten Backfischliteratur bis zu aktuellen Titeln. Nach einem umfassenden Theoretieteil, der u.a. geschichtliche Aspekte sowie die Stellung der Frau berücksichtigt, erfolgt eine Analyse ausgewählter Mädchenbücher. Die Arbeit wurde von beiden Prüfern mit Sehr gut (1,0) bewertet.
Schlagworte
Fortschreibung, Wandel, Mädchen-, Frauenbildes, Mädchenliteratur, Jahre
Arbeit zitieren
Veronica Schneppat (Autor:in), 2005, Das Mädchen- und Frauenbild in der Mädchenliteratur der letzten 150 Jahre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71602

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Titel: Das Mädchen- und Frauenbild in der Mädchenliteratur der letzten 150 Jahre



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