Das Modell der "Wiedergeburt" in ausgewählten Erzähltexten der fantastischen Literatur der Frühen Moderne


Magisterarbeit, 2006

141 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in erzählender Literatur 1890 – 1930: Ein Überblick

3. Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921) als Prototyp für das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“
3.1. Die „Wiedergeburt“ als Element der Gesamtserie
3.2. Das Leben des Titelhelden auf metaphorischer Ebene
3.3. Der Eingang in das jenseitige Leben
3.4. Die Lokalisierung zentraler fantastischer Merkmale des Modells
3.5. Die „Läuterung“ der Seele als zentraler Gedanke

4. Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in Hermann Wiedmers Die Verwandlungen des Walter von Tillo (1930)
4.1. „Leben 1“: Der Komplex der „Wiedergeburt“ im biologischen Sinne
4.1.1. Der lange Weg einer Seelenwanderung
4.1.2. Die zwei Typen von biologischen „Nicht-Leben“
4.1.3. Die variantenreiche Manifestation als Folge der „Wiedergeburt“
4.1.4. Die unterschiedliche Darstellung der Größe „Tod“
4.2. „Leben 2“: Die diesseitige metaphorische Variante von „Leben“ innerhalb des Komplexes der Seelenwanderung
4.2.1. Die „neutralen“ Ausgangszustände
4.2.2. Die verschiedenen „gesteigerten“ Leben mit ihren Varianten und Verknüpfungen
4.2.2.1. Typ A: Die erotisch-partnerbezogenen Varianten
4.2.2.2. Typ B: Die asketisch-altruistischen Varianten
4.2.2.3. Typ C: Die mystisch-narzisstischen Varianten
4.2.3. Die Abstufungen in „Nicht-Leben“
4.3. „Leben 2“: Die diesseitige metaphorische Variante von „Leben“ in der absolut letzten Existenz als „Dita“
4.3.1. Der besondere Typus eines „gesteigerten“ Lebens
4.3.2. Die totale Autarkie als anzustrebender Wert
4.3.3. Die erlangte Rolle des „Lehrers“
4.4. „Leben 2“: Helfer – und Gegnerfiguren auf dem Weg zum Ziel
4.4.1. Der Weg zum Ziel durch Helferfiguren
4.4.2. Das Abkommen vom Ziel durch Gegnerfiguren
4.5. „Leben 3“: Die jenseitige metaphorische Variante von „Leben“
4.5.1. Die Erringung des „höchsten eigentlichen Lebens“
4.5.2. Die Lokalisierung einer potentiellen Helferrolle
4.5.3. Der Zustand des „Nicht-Erotikers“
4.5.4. Die Reinkarnation als Rechtfertigung für das „Leid in der Welt“
4.6. Die Lokalisierung zentraler fantastischer Merkmale des Modells
4.6.1. Die metaphysische Instanz als hierarchisch höchste Entität
4.6.2. Die Konservierung und die Wiederbelebung
4.6.3. Die Reinkarnation und der Lebenswechsel
4.6.4. Die Bewusstseinsspaltung und der Doppelgänger
4.7. ZWISCHENFAZIT I

5. Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in Franz Spundas Das Ägyptische Totenbuch (1924)
5.1. „Leben 1“: Die Bedeutung des „Lebens“ im biologischen Sinne
5.1.1. Eine Teilserie mit okkultistischer Erfahrung von Realität
5.1.2. Die „Wiedergeburt“ im Kontext der Erzählung
5.1.3. Die Rekonstruierung einer potentiellen ägyptischen Seelenwanderung
5.1.4. Der Zustand eines biologischen „Nicht-Lebens“ “
5.2. „Leben 2“: Die diesseitige metaphorische Variante von „Leben“
5.2.1. Der „neutrale“ Ausgangszustand
5.2.2. Die verschiedenen „gesteigerten“ Leben mit ihren Varianten und Verknüpfungen
5.2.2.1. Typ A: Die erotisch-partnerbezogenen Varianten
5.2.2.2. Typ B: Die asketisch-altruistischen Varianten
5.2.2.3. Typ C: Die mystisch-narzisstische Variante
5.2.3. Die Abstufungen in „Nicht-Leben“
5.3. „Leben 2“: Helfer – und Gegnerfiguren auf dem Weg zum Ziel
5.3.1. Der Weg zum Ziel durch Helferfiguren
5.3.2. Das Abkommen vom Ziel durch Gegnerfiguren
5.4. Die Nicht-Existenz eines jenseitigen „Lebens 3“
5.4.1. Der Zustand des „Erotikers“ im Diesseits
5.4.2. Der Roman als Rechtfertigung für das „Leid in der Welt“
5.5. Die Lokalisierung zentraler fantastischer Merkmale des Modells
5.5.1. Der Komplex der okkulten Wesenheiten
5.5.2. Die Mumie als zentrale Größe
5.5.3. Der externe okkulte Zugriff
5.6. ZWISCHENFAZIT II

6. ENDFAZIT

7. Literaturverzeichnis
7.1. Literarische Texte
7.2. Wissenschaftliche Texte
7.3. Theoretische Texte
7.4. Lexika
7.5. Graphiken

ANHANG (Abbildungsverzeichnis)

„Aber durch die häufige Wiederholung und immer schärfer werdende Bildhaftigkeit der Geschichte wurde mir bereits im Knabenalter bewusst, dass sie nichts anderes als Spiegelbilder von Schicksalen seien, die meine Seele in einem anderen Leibe erlitten hatte, und zwar vor der Geburt meines jetzigen Körpers …“

(Paul BUSSON, 1921)

„… Der Tod ist für die Liebe nur das, was der Schlaf für den Körper ist: zu neuem Dasein erwacht, treibt es uns wieder zum Weib, das wir vor Jahrtausenden schon in einem anderen Körper geliebt. Immer ist es dieselbe Frau, doch immer neu durch andere Gestaltung der Sinne. Aber durch den Körper hindurch schimmert die uns längst vertraute, seit ewig geliebte Seele.“

(Franz SPUNDA, 1924)

„… Und ich erkannte: Gott ist kein Richter – er ‚belohnt’ nicht und ‚straft’ nicht – Gut und Böse vergehen vor ihm wie wesenlose Schemen … Nur: Er führt uns durch alle Kammern und Gänge des Seins – durch Rosengärten und dornige Wüsten – Und zuletzt kehren wir alle zu Ihm zurück, wenn unsere Seelen alle Lebens – und Leidensformen erlebt und erlitten haben, dass wir sagen können: ‚Nichts bleibt mehr, das wir nicht verkörpert hätten! […] Der Ring ist geschlossen …“

(Hermann WIEDMER, 1930)

1. Einleitung

Die Seelenwanderung, auch als Reinkarnation oder Metempsychose bezeichnet, ist die religiöse Vorstellung vom Übergang der Seele beim Tod in eine andere Daseinsform.“, so lautet die Definition in zahlreichen Sachbüchern und Lexika. Der vor allem in östlichen Religionen wie dem Buddhismus und dem Hinduismus beheimatete Reinkarnationsglaube beinhaltet in der Regel eine lange Abfolge von Metempsychosen, also Kreisläufe von Geburt, Tod und Wiedergeburt, während derer sich die Seele in unterschiedlichsten menschlichen, göttlichen, tierischen oder sogar pflanzlichen Körpern wieder finden kann. Je nach persönlicher Bewährung im Vorleben, der so genannten „Läuterung“, erfolgt der Übergang in höhere oder niedere Existenzformen, bis in manchen Vorstellungswelten schließlich der Weg in eine Art Paradies oder aber in ein Höllenreich vollzogen wird. Der Reinkarnationsglaube geht dabei zeitlich sehr weit zurück. Die alten Ägypter glaubten ebenfalls an eine Seelenwanderung. Ihre Toten wurden einbalsamiert, um den Körper zu erhalten, so dass dessen Seele in einer jenseitigen Welt weiterleben konnte. Ebenfalls war bei den alten Griechen die Idee der Seelenwanderung sehr weit verbreitet. Nach der Lehre des Pythagoras überlebt die Seele den Tod des Körpers, da sie unsterblich und im Körper gefangen ist. Nach einer Reihe von Wiedergeburten, die alle auf eine Zeit der Reinigung in der Unterwelt folgen, befreit sich die Seele von dem Kreislauf der Reinkarnationen. Laut Platon war die Seele eine ewige und spirituelle Größe. Nach dem Eintritt in den Körper kann sie durch die Berührung mit den körperlichen Begierden unrein werden; dabei kann sie sich jedoch an ihre früheren Existenzen erinnern. Die Befreiung aus dem Körper ist jedoch erst möglich, nachdem die Seele eine Reihe von Seelenwanderungen durchlaufen hat. Sofern sie in ihren verschiedenen Existenzen einen guten Charakter ausbildet, kehrt sie in den Zustand reinsten Daseins zurück. Sollte sich ihr Wesen aber in den Seelenwanderungen verschlechtern, endet sie am Ort ewiger Verdammnis[1].

Jenes Gedankengut der Reinkarnation hat auch die deutsche Literatur für ihre Zwecke umfunktionalisiert. So glaubte beispielsweise Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) bereits an die Wiedergeburt des Menschen. In seinem Werk Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) macht er dies besonders deutlich, indem er schreibt: „§ 94: Warum könnte jeder einzelne Mensche auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden sein? […] § 98: Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin?[2] Auch dem deutschen Autor Heinrich Heine (1797 – 1856) war der Gedanke der Reinkarnation nicht fremd; so erwähnt er ihn beispielsweise in bestimmten Kontexten seiner Literatur: „… die Metempsychose ist oft der Gegenstand meines Nachdenkens. […] Wer kann wissen, in welchem Schneider jetzt die Seele eines Platons, und in welchem Schulmeister die Seele eines Cäsars wohnt![3] Aber weder Lessing noch Heine machten die Wiedergeburt zum Sujet eines ihrer Werke.

Erst die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890 – 1930) hat den Komplex der Metempsychose ausführlicher thematisiert. Diese entwirft eine Welt, die im Grundsatz mit dem jeweiligen kulturellen Realitätsbegriff kompatibel ist. Jedoch tauchen hier Phänomene auf, die mit dieser festgelegten Wirklichkeit nicht vereinbar sind, weil sie zumindest eine seiner – logischen, physikalischen, biologischen oder theologischen – Basisannahmen verletzen, die fixieren, was das jeweilige System für mögliche oder unmögliche Welten hält[4]. Diese Phänomene, beispielsweise Konzeptionen von nicht-realen und nicht-menschlichen Räumen, Wesenheiten oder Ereignissen, werden in der dargestellten Welt gleichwohl als real gesetzt, das heißt, sie dürfen von einem wahrnehmenden Subjekt nicht als vorgetäuscht oder von diesem nur als eingebildet (Traum, Halluzinationen etc.) gedeutet werden. Da die dargestellte Welt eine real mögliche ist, die Phänomene aber als unmöglich gelten, sind sie hochrangig erklärungsbedürftig. Zu diesen Erscheinungen zählt ebenfalls die Metempsychose. Insbesondere die theosophische These der buddhistischen und hinduistischen Reinkarnationslehre wird als Seelenwanderungsglaube teilweise profanisiert in die fantastische Literatur der Frühen Moderne integriert[5]. Dies macht die Hauptfigur in Hermann Wiedmers Die Verwandlungen des Walter von Tillo (1930)[6] in einem Gespräch beispielsweise besonders deutlich: „… Zahlreich sind unsere vergangenen Geburten. Wie der Mensch die altgewordenen Kleider ablegt und neue anzieht, so legt der Geist die abgenutzten Leiber ab und geht in immer andere neue ein. Denn das Geborene muss sterben und Gestorbenes geboren werden …“[7]. Dennoch geht aus der fantastischen Literatur der Frühen Moderne ein nur sehr kleines Korpus an Erzähltexten hervor, die die Reinkarnation als zentralen Gedanken darlegen. In der Mehrheit der Texte wird sie lediglich gesprächsweise in ideologisch relevanten Kontexten angedeutet[8]. Erwähnenswert sind hier Autoren wie Gustav Meyrink (1868 – 1932) oder Franz Spunda (1889 – 1963). Unter den fantastischen Romanen der Frühen Moderne stellen nur Paul Bussons (1873 – 1924) Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921) und Hermann Wiedmers (1882 – 1952) Die Verwandlungen des Walter von Tillo (1930) jeweils die Reinkarnation als Sujet des Werkes dar. Bei Paul Busson wird aus der Perspektive des Reinkarnierten der Gegenwart sein früheres Leben als der deutsche Adlige Melchior Dronte des 18. Jahrhunderts, der unter der Guillotine starb, erzählt und berichtet, wie er im neuen Leben zum Bewusstsein seiner früheren Existenz und zur Erinnerung an sie kam. Während des ersten Weltkrieges verschwindet er und transformiert sich in eine außerzeitliche Existenzform. In Hermann Wiedmers Walter von Tillo leidet der ebenfalls in der Gegenwart lebende Titelheld an seiner Abnormität, da er mit vollständigem sexuellem Hermaphroditismus geboren ist. Im Verlaufe seines gegenwärtigen Lebens wird ihm eine Serie früherer Daseinsformen, bis über Jahrtausende zurück in die Vorzeit, allmählich bewusst.

Aus diesen fantastischen Erzähltexten kristallisiert sich ein epochenadäquates Modell heraus, in welchem die Selbstfindungsgeschichte, eine für die Epoche sehr typische Erscheinung[9], eng mit dem Komplex der Reinkarnation kombiniert wird. Dabei spielt der Terminus „Leben“ eine besonders signifikante Rolle. Mit dieser Komplexität hat sich die Neugermanistin Frau Prof. Dr. Marianne Wünsch von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel beschäftigt. Sie hat ein Modell entwickelt, welches sich mit der Kombination der Wiedergeburt und dem Lebensbegriff der Welt auseinandersetzt[10]. Dieses Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in erzählender Literatur 1890 – 1930 schreibt dem Begriff „Leben“ – ein in der Epoche ebenfalls sehr zentraler – anhand einer Drei-Ebenen-Struktur eine bestimmte Bedeutung zu. Dabei wird der Lebensbegriff – im Gegensatz zur Goethezeit – in diesem „Leben – Tod – (Wieder–)Geburt – Neues Leben“ – Modell andersartig semantisiert. Die Idee einer Seelenwanderung, also die einer wörtlichen, physischen Wiedergeburt, war zwar in der Goethezeit vorhanden, jedoch stand hier primär der Gedanke an verschiedene Zustände innerhalb eines biologischen Lebens, Goethes so genanntes „neues Leben“, im Vordergrund. Erst in der Frühen Moderne taucht das Konzept der Reinkarnation häufiger und expliziter[11] auf.

Das Modell der „Wiedergeburt“, welches in den fantastischen Texten der Frühen Moderne erkennbar wird, ist in dieser Arbeit von ausgewählten Erzähltexten der Zeit zu abstrahieren. Im Rahmen einer Lehrveranstaltung im Sommersemester 2005[12] wurde bereits eine eigene Analyse von Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921)[13] unter dem Aspekt der Wiedergeburt angefertigt. Da sich das epochenspezifische Modell en detail von diesem Erzähltext der Frühen Moderne ableiten lässt, kann ihm eine prototypische Struktur zugeschrieben werden. Die Ergebnisse werden daher zu Beginn der Arbeit kurz zusammengefasst. Im darauf folgenden Teil, in dem immer wieder auf den Roman Paul Bussons Bezug genommen wird, soll herausgearbeitet werden, inwieweit sich das umfängliche System der Metempsychose in weiteren fantastischen Erzähltexten der Frühen Moderne manifestiert. Dabei soll zunächst auf die Übertragung der Drei-Ebenen-Struktur, sowohl im biologischen als auch im metaphorischen Sinne, eingegangen werden. Anschließend erfolgt die Lokalisierung zentraler fantastischer Merkmale des Modells, welcher sich die jeweiligen Erzähltexte mehr oder weniger umfangreich bedienen. Während der Analyse von Paul Bussons Melchior Dronte kristallisierte sich neben der fantastischen Modellstruktur zugleich eine eindeutige Intention der Wiedergeburt in den fantastischen Erzähltexten heraus. Gerade diese Funktionalisierung räumt der Reinkarnation in der Epoche einen hohen Stellenwert ein. Inwiefern sie aber auch von den ausgewählten Romanen abstrahiert werden kann, wird ebenfalls in den folgenden Auslegungen herausgearbeitet und geprüft. Da nur sehr wenige deutsche Texte aus der Epoche hervorgehen, die eine Reinkarnation postulieren, kann das Korpus der zur Auswahl stehenden Texte sehr stark eingegrenzt werden. Die Wahl fällt dabei auf den schon erwähnten Roman Hermann Wiedmers Die Verwandlungen des Walter von Tillo (1930), welcher sich analog zu Paul Busson einer Reinkarnation widmet. Ebenfalls wird Franz Spundas nekromantischer Roman Das Ägyptische Totenbuch (1924)[14] herangezogen, in dem sich zwar keine vordergründige Wiedergeburt des Helden vollzieht, wobei der Gedanke an eine Reinkarnation aber in bestimmten Kontexten der Erzählung erwähnt wird. Spundas Protagonist sucht in diesem Werk eine merkwürdige mythische Größe auf, damit diese ihm seine von einem Magier getötete Geliebte wiederbelebe. Sein schließlicher Verzicht auf diesen Versuch wird ihm am Ende des Romans als Verdienst angerechnet und die tote Geliebte wird mit anderen magischen Mitteln wiederbelebt. Trotz der Absenz einer Reinkarnation liefert dieser fantastische Roman eine eindeutige modellartige Struktur, welche sich sehr eng an den Richtlinien des Modells der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ orientiert.

Anhand der folgenden Interpretationen sind Graphiken entstanden, welche im Anhang der Arbeit einzusehen sind[15]. Diese sollen der Veranschaulichung dienen, wobei Verweise auf diese Schemata mit Seitenzahl in den Textfluss der Arbeit integriert sind.

2. Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in erzählender Literatur 1890 – 1930: Ein Überblick

Der Komplex des „Leben – Tod – (Wieder–)Geburt – Neues Leben“ – Modells der Frühen Moderne steht in bestimmten semantischen und systematischen Kontexten, welche von der Goethezeit signifikant abweichen. Erstens ist der Lebensbegriff neu semantisiert[16], „Leben“ trägt hier eine andere Bedeutung als in der Goethezeit, und zweitens gehören die metaphorischen und wörtlichen Verwendungen des Modells einem Teilsystem an, dem nichts in der Goethezeit entspricht. Drei Ebenen lassen sich im Zeitraum der Frühen Moderne unterscheiden:

Die Ebene 1 des Modells der „Wiedergeburt“ beinhaltet die wörtliche Bedeutung eines „Lebens“. In dieser werden die rein biologischen Elemente illustriert, die innerhalb des Lebenskomplexes erscheinen können, wobei zwei Varianten auftreten[17]. In der kulturell als normal geltenden Erfahrung von Realität werden lediglich die Elemente „Geburt 1 – Leben 1 – Tod 1“ angeführt, nicht aber die Reinkarnation oder ein „Neues Leben“, es sei denn als Vergleich oder als Metapher. Die okkultistische Variante hingegen postuliert eine Gesamtserie biologischer Glieder, welche den Komplex der Metempsychose integriert: „Leben 1 – Tod 1 – Wiedergeburt 1 – Neues Leben 1“. Dabei befindet sich die Figur im Prozess der Reinkarnation ganz wörtlich in einem Zustand des „Nicht-Lebens 1“, in welchem sich die Seele in keine der jenseitigen Ordnungssysteme integriert fühlt.

Die Ebene 2, die dem Terminus „Leben“ eine diesseitige metaphorische Bedeutung zuschreibt, wird auf Zustände angewandt, die nur einen Zeitabschnitt aus dem biologischen „Leben 1“ umfassen. In diesem Sinne können also mehrere „Leben“ innerhalb eines „Lebens 1“ in den Texten unterschieden werden[18]. Nicht alle diese Lebensvarianten gelten aber als gleichwertig. Nur die positiv bewerteten Formen werden nach dem Modell als „Leben 2“, die negativ bewerteten hingegen als „Nicht-Leben 2“ bezeichnet. Rhetorisch betrachtet ist das „Leben 2“ eine emphatische Verwendung[19] von „Leben“: Das „Leben 2“ ist ein „gesteigertes“ Leben[20]. Dabei setzt das „Leben 2“ ein biologisches „Leben 1“ voraus, aber nicht jedes „Leben 1“ ist auch ein „Leben 2“. Es ist die Negation einerseits der Lebensformen, andererseits der Einstellungen, die das durchschnittlich-alltägliche Leben, für den Helden in der Regel ein „bürgerliches“ Leben, charakterisieren. Jene Lebensvariante, die den Ansprüchen der Gesellschaft und denen des Ich genügt, ist dabei in den Texten der Frühen Moderne ein zunächst „Neutrales Leben“, das noch nicht nach „Leben 2“ oder „Nicht-Leben 2“ klassifiziert ist. Die zweite Ebene des Modells ist mit seinen verschiedenen metaphorischen Abstufungen stets mit einem Typus der Selbstfindung des Helden verknüpft[21]. Dabei ist jener jedoch zahlreichen Krisensituationen ausgesetzt. Ex negativo lässt sich folgern und selbst nur metaphorisch umschreiben, was demnach als Merkmal eines emphatischen „Lebens 2“ gilt: Beispielsweise das nicht nur rationale Engagement des Subjekts für die Objekte seiner Erfahrung (Merkmal a), eine Zufriedenheit mit derselben (Merkmal c) oder die endgültige Selbstfindung als Selbstverwirklichung (Merkmal e + f)[22]. Dieses „gesteigerte“ Leben wird im Umgang mit einer spezifischen Objektklasse erfahren und bleibt an sie gebunden. Dabei ragen drei solcher Varianten besonders heraus: die A. e rotisch-partnerbezogene, die B. asketisch-altruistische und die C. mystisch-narzisstische.

In der Ebene 3 wird das diesseitige Leben mit einem jenseitigen „Leben 3“ konfrontiert, welches nicht nur als das „höchste“, sondern auch als „eigentliches“ Leben angesehen wird. Das wichtigste Merkmal dieses Lebens ist, dass es als ein ewiges weder einen „Tod 1“ noch eine „Wiedergeburt 1“ mehr zulässt. Es wird in einem „Leben 2“ des Typs C angestrebt und kann in diesem verdient werden.

Die Fälle der Reinkarnation und des Lebenswechsels, in denen wörtlich (Ebene 1) oder metaphorisch (Ebene 2) ein „Tod“ und eine „Wiedergeburt“ stattfinden, bilden in der Epoche der Frühen Moderne kein abgeschlossenes System. Es handelt sich lediglich um Glieder eines umfänglichen und differenzierten Systems irrealer Variationen, die Sachverhalte thematisieren, welche „realistisch“ nicht umsetzbar sind[23]. Beispielsweise die Wiederkehr dessen, was als definitiv verloren gelten müsste oder die Spaltung bzw. Verdoppelung, wo generell eine Unteilbarkeit zu erwarten ist. Diese Fälle erweisen sich als untereinander korreliert durch ein begrenztes Korpus modellinterner fantastischer Merkmale, die sie verknüpfen bzw. unterscheiden.

Die Strukturen des fantastischen Modells der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ mit seinen relevanten Faktoren können in folgender Graphik festgehalten werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

© RM

3. Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte (1921) als Prototyp für das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“

Paul Bussons (1873 – 1924) Die Wiedergeburt des Melchior Dronte stellt einen der wenigen Texte der Frühen Moderne dar, welcher sich sowohl der wörtlichen, als auch der metaphorischen Lebensvariante des Modells bemächtigt. Dabei bedient sich der Autor eines ziemlich umfangreichen und vielschichtigen Systems einer Wiedergeburt. Dass nicht nur die bloße Illustrierung eines Reinkarnationspostulats, also wie sie sich vollzieht und welche Indikatoren in ihrem System verankert sind, eine zentrale Rolle spielt, lässt sich aus der Intention des Modells erkennen. Anhand dieser Faktoren lässt sich für den fantastischen Erzähltext von Paul Busson eine prototypische Variante des Modells der „Wiedergeburt“ herausinterpretieren, da sich die elementaren Strukturen des Systems en detail in dem Text lokalisieren lassen. Eine umfangreiche Analyse des fantastischen Romans wurde bereits vorgenommen, welche hier im Folgenden kurz zusammengefasst wird (vgl. S. 134: Abbildung 1). Im Kontext der weiteren Interpretationen soll immer wieder auf diesen Prototyp Bezug genommen werden.

3.1. Die „Wiedergeburt“ als Element der Gesamtserie

Auf der ersten Ebene, der wörtlichen Bedeutung des „Lebens“, erfährt der Held seine Realität durch okkultistische Indikatoren und Ereignisse. In dieser Gesamtserie des Modells wird ein „Leben 1“ als Melchior Dronte zu Zeiten der französischen Revolution durch einen „Tod 1“ abgelöst. Jene Größe lässt sich zweierlei interpretieren: (A) Tod durch den Fall der Guillotine oder (B) ein „Entschlafen“, welches durch den Krankheitszustand des Helden bedingt ist. Beide Formen sind eng mit dem Verlassen der diesseitigen Welt korreliert. Bevor sich eine Reinkarnation vollziehen kann, befindet sich das Ich in einem Zustand des „Nicht-Lebens 1“, eine Nicht-Integrierung in eine jenseitige Ordnung. Durch die anschließende bewusste „Wiedergeburt 1“ gelangt die Seele in ein „Neues Leben 1“ zu Zeiten des ersten Weltkrieges und nennt sich Sennon Vorauf. Neben einer menschlichen Manifestation kann die Seele ebenfalls in eine „niedere“ Existenzform reinkarnieren: Paul Busson zeigt dies am Beispiel des Papageis „Apollonius“, welchem der Held während seines „Lebens 1“ begegnet. Jene Verwandlung fungiert als Strafe für Vergehen aus früheren Leben. Als Gegenstück wird eine jenseitige Existenz angenommen: Sennon Vorauf transformiert sich innerhalb seines „Neuen Lebens 1“ zum „Ewli“, eine jenseitige Wesenheit, welcher es aber möglich ist, im Diesseits in einer anthropomorphen Gestalt als Helfer zu fungieren. Jene Komponente ist eng mit der dritten metaphorischen Ebene des Modells der „Wiedergeburt“ verknüpft.

3.2. Das Leben des Titelhelden auf metaphorischer Ebene

Die zweite Ebene des Modells, die metaphorische Bedeutung von „Leben“ im Diesseits, stellt sich im Erzähltext als wesentlich komplexer heraus. Zu Beginn von „Leben 1“ erfährt das Ich ein „Neutrales Leben“. Durch die Eliminierung seiner Cousine Aglaja manövriert sich Melchior Dronte in ein „Nicht-Leben 2“. Erst die Begegnung mit dem „Ewli“ (Kapitel 9), ein Prozess der Selbstfindung wird ausgelöst, transformiert die Ausgangsphase in ein „Leben 2“. Dieses Leben im emphatischen Sinne lässt alle drei Varianten des Modells zu. Es dominiert ein „Leben 2“ des Typs C (im Sinne der Merkmale a bis f), in welchem Melchior Dronte die Rolle des Schülers übernimmt und von einer okkulten Objektklasse („Ewli“) lernt. Dieses mystisch-narzisstische Leben ist mit der eindringenden Erotik nicht kompatibel: durch die Eliminierung des erotischen Objekts (erst Aglaja, dann Zephyrine) wird der beiderseitige Konflikt gelöst. Durch die doppelte Scheiterung des Typs A ergibt sich modellgetreu die Variante B. Melchior Dronte wird als Helfer umfunktionalisiert. Er rettet die „Soldaten-Katharine“ (Kapitel 17) und das Dienstmädchen Bärbel (Kapitel 32). Die Sinnfrage (Merkmal f) des Melchior Dronte erfährt bereits in Kapitel 35 eine partielle Lösung, indem das Ich versteht: Man muss „vom Bösen lassen[24], erst die vollständige „Läuterung[25] garantiert ein „Aufgehen in Gott[26]. Im „Neuen Leben 1“ als Sennon Vorauf gilt die Sinnfrage endgültig als beantwortet.

Die Interpretation hat herausgestellt, dass das „Leben 2“ des Melchior Dronte nicht immer als rein positiv gesehen wird. Abstufungen in mehrere „Nicht-Leben 2“ vollziehen sich. Exemplarisch ist der Tod seiner Familie (Zephyrine und beide Kinder) heranzuziehen. Ebenfalls lokalisieren sich im „Leben 1“ mehrere „Schein-Leben 2“ des Typs A. Krank vor Leid lässt sich das Ich auf einen erotischen Kontakt mit einer Hure (Kapitel 8) ein. Bekanntschaften zu der „Soldaten-Katharine“ (Kapitel 17) und „Laurette“ (Kapitel 26 und 38) lassen sich ebenfalls als „Schein-Leben 2“ ansehen. Ein „Leben 2“ stellt einen instabilen Zustand dar, da es einerseits von der Frau behindert, vom Mann jedoch gefördert wird. Nur so lässt sich die Eliminierung der erotisch weiblichen Komponenten aus dem Diesseits erklären, um dadurch eine störungsfreie Selbstfindung des Helden zu gewährleisten.

3.3. Der Eingang in das jenseitige Leben

Jene zweite metaphorische Bedeutung von „Leben“ – die dritte Modellebene – lässt sich ebenfalls in Bussons Erzähltext ausfindig machen. Im „Leben 1“ tritt Melchior Dronte als Schüler okkulter Größen auf. Daraus resultiert ein „Leben 2“ des Typs C. Nur in diesem Typus kann das „höchste“ Leben erlangt werden. Als „Geschenk“ für sein Engagement erhält der Titelheld das „Leben 3“, in welchem sich die Sinnfrage endgültig neutralisiert. Um in dieses zu wechseln, transformiert er sich „bei lebendigem Leibe[27] in die außerzeitliche Wesenheit des „Ewli“. Das Ich wandelt sich von der Rolle des Schülers in die des Lehrers. Durch diesen Rollentausch fungiert der Typ B eines „Lebens 2“ mit der nun erlangten Helferfunktion ebenfalls im Diesseits.

3.4. Die Lokalisierung zentraler fantastischer Merkmale des Modells

Das Modell der Seelenwanderung in ein „neues Leben“ enthält ein breites Korpus an Merkmalen. Diese machen besonders deutlich, dass bei einer wörtlichen (Ebene 1) oder metaphorischen (Ebene 2 bzw. Ebene 3) Lebensvariante immer Sachverhalte thematisiert werden, welche nicht realitätskompatibel sind. Auch in Paul Bussons Erzähltext lassen sich zahlreiche dieser fantastischen Merkmale des Modells lokalisieren, welche sehr eng verknüpft sind (vgl. S. 135: Abbildung 2).

So sieht Paul Busson die absolute metaphysische Instanz (Merkmal 1) als die höchste mystische Größe an, welche gute und auch böse Wesenheiten in sich vereinigt und zugleich als religions – und konfessionsübergreifende Größe fungiert. So können die auftauchenden mystischen Wesenheiten „Ewli“ und „Fangerle“ als Manifestationen (Merkmal 3) oder Emanationen dieser einen göttlichen Instanz gelten, welche in Intervallen (Merkmal 4) erscheinen (Merkmal 7) und dem „auserwählten“ Subjekt sichtbar werden können. Dabei ist es solchen Figuren möglich, die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits zu übertreten (Merkmal 6), um so in der diesseitigen Welt okkulte Macht auszuüben. In diesem halbseitigen Status tendieren sie sehr stark dazu, die Rolle eines Helfers zu übernehmen. Ebenso kann eine Seele, welche den Körper bereits verlassen hat, auch ihren diesseitigen Status beibehalten, indem sie im Prozess einer Wiederbelebung (Merkmal 9) in den Körper zurückgeholt wird. Bei Paul Busson lässt sich diesbezüglich eine metaphorische Variante jenes Typen festmachen. So können in der fantastischen Welt des Romans ebenfalls unbelebte, nicht menschenähnliche Objekte, wie die „Ewli-Figur“, belebt werden (Merkmal 11), fremde Seelen können von Körpern Besitz ergreifen (Merkmal 12) und die Seele kann sich in verschiedene Körper und in andere epochale Zeitabschnitte reinkarnieren (Merkmal 13 + 14). Zentral ist bei Busson ebenfalls das fantastische Motiv der Bewusstseinsspaltung (Merkmal 15) und das des Doppelgängers (Merkmal 16), in welchen die Größen „Ewli“ und „Fangerle“ lediglich als Projektionen von Teilen der Person nach außen angesehen werden können, die ihre Macht einzig und allein aus der Psyche des Subjekts beziehen, die sie projiziert hat. Am Ende der zahlreichen Wiedergeburten kehrt die Seele schließlich zu ihrem Ursprung zurück und geht in der absoluten metaphysischen Instanz auf (Merkmal 5).

3.5. Die „Läuterung“ der Seele als zentraler Gedanke

Die „Läuterung“ der Seele stellt sich in Bussons Melchior Dronte als zentraler Gedanke heraus. Im „Leben 1“ erfolgt diese beim Titelhelden, bedingt durch die Selbstfindung, noch partiell, durch die Transformation zum „Ewli“ vollzieht sie sich total. Auf diesem Wege zur endgültigen „Läuterung“ muss das Subjekt einerseits das eigene Leid erdulden (Tod der beiden Geliebten). Andererseits führt er das Leid anderer herbei (beispielsweise durch Mord); das elitäre Subjekt „darf“ diese „positiven“ Verstöße – seien sie noch so schwer – vollziehen; sie dienen schließlich der endgültigen „Heilung“ der Seele: „Alles diente deiner Läuterung.[28] Daraus resultiert, dass das Modell der Reinkarnation argumentativ funktional die Théodicée unterstützt. Der Autor führt das Leid in der Welt ein, um die eigentliche Selbstfindung des Ichs zu fördern. In dieser Konzeption tendiert die Rechtfertigung des Bösen zu einer endgültigen Neutralisierung des Kontrasts von „Gut“ und „Böse“ in einem jenseitigen „Leben 3“. Erst nachdem die Seele vollkommen gereinigt ist, kann sie zu ihrem Ursprung zurückkehren und in die absolute Instanz entschwinden.

4. Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ in Hermann Wiedmers Die Verwandlungen des Walter von Tillo (1930)

Hermann Wiedmers (1882 – 1952) fantastischer Roman Die Verwandlungen des Walter von Tillo, welcher knapp ein Jahrzehnt nach Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte entstanden ist, weist ein sehr umfangreiches und komplexes System einer Wiedergeburt auf. Während Paul Busson lediglich einen kleinen Ausschnitt aus der Seelenwanderung des Titelhelden illustriert[29], lässt Wiedmer seine Hauptfigur eine Vielzahl an Existenzen durchlaufen, die sogar über Jahrtausende in die Vorzeit zurückführen. Im Vordergrund seines Romans skizziert er das Leben des Adligen Walter von Tillo, welcher mit vollständigem sexuellem Hermaphroditismus geboren ist, dem im Laufe seiner letzten Existenz die vorherigen Leben langsam bewusst werden, bis er schließlich in die Gottheit zurückkehrt. Dabei tritt er in der ersten Lebenshälfte sozial als Mann auf und wird als dominant männlich beschrieben, bis schließlich ein Moment des vollständigen sexuellen Gleichgewichts erreicht ist, in dem er sich selbst befruchtet, wonach er in der zweiten Lebenshälfte sozial als Frau auftritt und als dominant weiblich beschrieben wird. Das Subjekt muss schließlich erkennen, dass die Abnormität, unter der er in der ersten Lebensphase litt, bis er sie in der zweiten akzeptierte, nicht ein ungerechtes Leiden, sondern die Erfüllung eines Wunsches ist, den seine Seele selbst zu Beginn ihrer Seelenwanderung und in zwei darauf folgenden Existenzen an die höchste Gottheit gerichtet hat[30].

Von Wiedmers Walter von Tillo lässt sich das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ analog zu Paul Busson sehr detailgetreu abstrahieren. Während sich im Melchior Dronte noch eine sehr übersichtliche Ebenenstruktur des Modells herauskristallisiert, weist Hermann Wiedmer eine viel umfangreichere und komplexere Struktur der drei Ebenen des Modells auf. Bevor nämlich Walter von Tillo sein Endziel erreichen und damit den Sinn des eigenen Daseins verstehen kann, muss er einen langen und verworrenen Weg einer Seelenwanderung passieren. Dies wird dem Titelhelden von seinem Vater besonders deutlich gemacht: „Erst am Ziel verstehen wir den mühevollen, verschlungenen Weg.“[31] Diese Verworrenheit des Weges lässt sich besonders anhand der ersten Ebene („Leben 1“) und der zweiten („Leben 2“) des Modells nachweisen. Auch die dritte Modellebene („Leben 3“) lässt sich lokalisieren, in welcher die eindeutige Funktion des Modells der „Wiedergeburt“ hervortritt. Während Walters Selbstfindungssuche tritt ein großes Korpus an helfenden Entitäten an ihn heran. Dabei lassen sich sowohl menschliche als auch mystische Wesenheiten ausfindig machen, wobei die okkulten Figuren sich lediglich auf die Erscheinungen der Götter beschränken. Zwar spielt der Autor mit weiteren fantastischen Größen, indem er sie in relevanten Kontexten des Romans erwähnt oder voraussetzt, in Erscheinung treten diese jedoch nie. Folglich lassen sich viele signifikante Charakteristika des Modells im Werk Wiedmers lokalisieren, dabei ist aber nicht immer eindeutig entscheidbar, ob diesen Phänomenen und Erscheinungen, insbesondere der Figur „Dita“, eine reale Präsenz zugeschrieben werden kann. Diese Komplexität des Modells der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ soll nun in Hermann Wiedmers Die Verwandlungen des Walter von Tillo anhand einzelner Kapitel analysiert und nachgewiesen werden.

4.1. „Leben 1“: Der Komplex der „Wiedergeburt“ im biologischen Sinne

In Hermann Wiedmers Walter von Tillo liegt eine komplexe biologische Ebene des Modells zugrunde, welche Abstufungen in die zweite und dritte metaphorische Ebene erlaubt. Dabei illustriert der Autor einen ziemlich langen Pfad einer Seelenwanderung, in der zwei unterschiedliche Zustände eines „Nicht-Lebens 1“ eruiert werden können. Zudem macht er von einer sehr variantenreichen Manifestation als Resultat der Reinkarnation Gebrauch. In gleichem Maße lässt sich eine differenzierte Darstellung der Größe „Tod“ lokalisieren.

4.1.1. Der lange Weg einer Seelenwanderung

Der ersten Modellebene liegt bei Hermann Wiedmer die okkultistische Erfahrung von Realität zugrunde. In diese wird das Phänomen der Reinkarnation eingeführt, die alle Glieder der Begriffsserie der ersten Ebene umfasst. Eine Seele wird aus der heimatlichen Gottheit heraustransportiert, wünscht sich so wie ihr eigener Schöpfer zu sein und beginnt eine Reise der Seelenwanderung. Dabei manifestiert sie sich zunächst in „niedere“ Existenzen (Zellenwesen, Tiere) und gelangt anschließend in verschiedene menschliche Körper mit wechselndem Geschlecht, wobei auch die Verkörperung in ein geschlechtsloses und in ein hermaphroditisches Wesen realisierbar ist. Nach einem Akt der Selbstbefruchtung in der letzten Existenz als Hermaphrodit tritt die Seele als Frau auf und entschwindet nach dieser Manifestation wieder in die Gottheit. De facto durchläuft die Seele die Gesamtserie „Leben 1 – Tod 1 – Zustand Nicht-Leben 1 – Wiedergeburt 1 – Neues Leben 1“, wobei diese aufgrund der Komplexität der langen Seelenreise erweitert werden muss. Diese Struktur soll hier nun expliziter betrachtet werden (vgl. S. 136: Abbildung 3).

Zu Beginn der Seelenwanderung befindet sich die Seele in einem jenseitigen externen Raum, ein für sie biologisches „Nicht-Leben 1.0“, welcher innerhalb der höchsten Gottheit zu lokalisieren ist. Dieser Status weicht jedoch von der Norm des Modells der „Wiedergeburt“ ab, da sich die Seele in einer jenseitigen göttlichen Ordnung noch vollkommen integriert fühlt (hierzu mehr in 4.1.2.). Um nun die lange Seelenreise antreten zu können, muss sie ihren Platz im Absoluten verlassen: „Aus dem Schoße Gottes löste sich eine Seele …“[32]. Genau in dieser Situation lässt sich ein markantes Charakteristikum des „Nicht-Lebens 1.0“ feststellen, da Wiedmer seinem Gott die Fähigkeit zuschreibt, Wünsche zu erfüllen[33]. So äußert auch die Seele nach Visualisierung der Gottheit ihr Verlangen: „Und am Glanz des Ewigen entzündete sich der erste Wunsch: »Werden wie Er – sein, was der Ewige ist« …“[34]. Möglicherweise gewährt dieser Gott jeder seiner Seelen, die eine Seelenwanderung antreten und in ihm integriert sind, einen „einzigen“ Wunsch. Da sich diese Seelen noch in einem biologischen „Nicht-Leben“ befinden, handelt es sich möglicherweise immer um Wünsche, die die folgenden Manifestationen betreffen. Nach Äußerung ihres Verlangens verlässt die Seele letztendlich diesen „Ausgangszustand“.

Es folgt die Größe „Wiedergeburt 1.0“, in welcher der Seele ihre ersten Körper zugeschrieben werden. Durch diese erste Reinkarnation gelangt sie in ein biologisches „Leben 1.0“. In dieses sind alle Typen von „niederen“ Existenzformen, wie Zellenwesen oder Tiere, zu kategorisieren: „Wie durch einen dunklen Schacht jagte sie – von Dasein zu Dasein – unendlich langsam emporsteigend von der Urzelle zu immer höheren Lebensformen …“[35]. Auch in diesem Lebenskomplex erleidet die Seele Varianten von „Tod 1 – Zustand Nicht-Leben 1 – Wiedergeburt 1“, welches der Text deutlich suggeriert: „In unzähligen Geburten starb sie herkunftsblind ins Körperliche – unzählige Tode gebaren sie neu ihrem geistigen Sein –“[36].

Nach Durchlauf nicht-menschlicher Körper ist die Seele auf der „Sprossenleiter“ so weit aufgestiegen, dass sie nach einem biologischen „Tod 1.0“ ihre „Neuen Leben 1“ erreicht und sich somit in anthropomorphe Körper reinkarnieren kann. In diesen sieben Verkörperungen passiert die Seele nun alle potentiellen Geschlechter und Rangformen, die denkbar sind und welche sich über Jahrtausende erstrecken. Beispielsweise transformiert sie sich in ihrem „Neuen Leben 1.1“ in einen weiblichen Urmenschen, im „Neuen Leben 1.4“ in einen männlichen Krieger, im „Neuen Leben 1.6“ in eine asexuelle Wesenheit zu Zeiten der Kreuzigung Jesu Christi und im „Neuen Leben 1.7“ in einen Hermaphroditen der aktuellen Gegenwart. Diese, die absolut letzte Existenz der Seele, unterteilt sich nochmals in zwei Lebensformen: in der ersten Phase dominiert eher das Männliche, sie wird abgeschlossen durch einen Moment des absoluten Gleichgewichts, in dem die Figur zeugend sich selbst befruchtet und schließlich gebärt, in der zweiten Phase dominiert das Weibliche. An dieser letzten Manifestation des „Neuen Lebens 1.7“ wird deutlich illustriert, wie sich der Urwunsch der Seele, welchen sie in ihrem „Nicht-Leben 1.0“ geäußert hat, schließlich erfüllt: Sie wollte sein wie Gott, der sowohl die männliche als auch die weibliche Seite als hermaphroditisches Prinzip in sich vereinigt, und sich aus sich selbst erschaffen, welches ihr durch den Akt der Selbstbefruchtung geglückt ist.

Am Ende vom „Neuen Leben 1.7“ droht die Größe „Tod 1.7“, das vorletzte Glied der langen Begriffsreihe der ersten Modellebene: „» Wenn ich einst sterbe, so preist mich glücklich, denn es ist mein letzter Tod! Helfet mir, die Pforte ins Jenseits aufzustoßen und sie jauchzend zu durchschreiten.“[37] Jenes Element wird im Rahmen der Erzählung jedoch nicht beschrieben, es kann nur vorausgesetzt werden. Auf den letzten Seiten von Wiedmers Walter von Tillo überschreitet der „tote“ Schulfreund des Titelhelden die Grenze zum Jenseits. Hier trifft er auf die weibliche Existenz aus dem „Neuen Leben 1.7“, welche ihm den langen Weg ihrer Seelenwanderung skizziert. Also muss die weibliche Entität schon vor Ableben des Freundes den „Tod 1.7“ erlitten haben – nur so lässt sich ihre Präsenz im Jenseits erklären. Abschließend wechselt die Seele wieder in den „Ausgangszustand“ eines „Nicht-Lebens 1.0“, kehrt in den „Schoß Gottes[38], aus welchem sie gekommen war, zurück und „Der Ring [der Wiedergeburten] ist [an dieser Stelle endgültig] geschlossen[39].

Anhand dieser langen und vielschichtigen Seelenwanderung lässt sich eine eindeutige Gemeinsamkeit, aber primär signifikante Unterschiede zu Paul Bussons Werk Die Wiedergeburt des Melchior Dronte interpretieren. Gemeinsam ist beiden Autoren, dass sie auf die buddhistische Reinkarnationslehre zurückgegriffen haben, um sie für ihre literarischen Zwecke einzusetzen. So durchstreift die Seele bei Busson ebenso wie bei Wiedmer einen „Kreis“ oder ein „Rad der Wiedergeburten“, aus dem sich die Seele befreien kann[40]. Somit kann davon ausgegangen werden, dass auch die Seele bei Paul Busson mehrere Existenzen durchlebt hat, welche der Autor jedoch nicht beschreibt, sie möglicherweise voraussetzt, und darum eine Handlung anhand zweier Existenzen („Leben 1“: Melchior Dronte und „Neues Leben 1“: Sennon Vorauf) konstruiert. Bei ihm steht hierbei die „Läuterung“ der Seele im Vordergrund. Laut Busson wiederholt sich die Wiedergeburt jedes Menschen „so oft, bis die Seele geläutert ist[41] – dann kehrt sie zu ihrem Ursprung zurück und geht in Gott auf. Dieses Konzept gilt nicht für Wiedmer: Bei ihm kommt die Seelenwanderung einem Aufstieg gleich, wobei sich die Seele wie auf einer „Sprossenleiter“ in immer höhere Existenzen transformiert und sich diese mühsam erkämpfen muss. Erst nachdem die Seele alle potentiellen Lebensformen, die in der Welt denkbar sind, passiert und erlebt hat, kann sie sich wieder in die absolute metaphysische Instanz integrieren: „Nichts bleibt mehr, das wir nicht verkörpert hätten![42]

Zudem ist die Reinkarnation bei Wiedmer mit einem markanten Merkmal ausgestattet: Im Prozess der Wiedergeburt wird die Erinnerung der Seele an vorherige Existenzen und sogar an die Herkunft suspendiert: „Doch mit der Geburt ins Irdische erlosch die Erinnerung an die früheren Leben und an die Herkunft von Gott …“[43]. Hier liegt eine entscheidende Abweichung zu Busson vor, da dieser seinem Helden gestattet, eine bewusste Reinkarnation zu erleben, in welcher er die Erinnerung an das vorherige Leben behält. Wiedmer geht in seinem Werk einen Umweg, indem sein Titelheld unbewusste Typen von Wiedergeburten erleidet, wobei ihm die Erinnerung im „Neuen Leben 1.7“ anhand zahlreicher Visionen schubweise zurückgegeben wird. Erst durch die Visualisierung der Gottheit in einem biologischen Zustand von „Nicht-Leben“, welche sich kurz vor der Selbstbefruchtung innerhalb des „Neuen Lebens 1.7“ vollzieht, erhält das Subjekt seine Erinnerung und das Wissen über Gott endgültig zurück, indem es die Seelenwanderung en detail geschildert bekommt.

4.1.2. Die zwei Typen von biologischen „Nicht-Leben“

Das Modell der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“ besagt, dass sich das Subjekt, welches in einen biologischen Zustand von „Nicht-Leben“ wechselt, in keine der jenseitigen Ordnungen integriert fühlt[44]. Dabei ist ein Bild von einer nicht-integrierbaren jenseitigen Ordnung ziemlich schwer zu vermitteln oder bildhaft darzustellen. Der Hinduismus-Forscher Othmar Gächter liefert in diesem Zusammenhang eine verwendbare Definition von „Nichts“ während der zahlreichen Wiedergeburten. Er meint: Auch für den in den Kosmos eingebundenen Menschen gibt es kein unmittelbares und absehbares Ende. Der Mensch steht in der polaren Spannung zwischen dem endlich Manifesten und dem Absoluten, dem unendlich Nicht-Manifesten. Dieser Weg des Menschen von Sterblichkeit zur Unsterblichkeit ist der Kreislauf der wiederholten Geburten und Tode, und er bedeutet nichts anderes als in den Manifestationsprozess des Absoluten involviert zu sein[45]. So hat auch Paul Busson in seinem fantastischen Erzähltext versucht, ein „Nicht-Leben 1“ als Folge eines „Tod 1“ zu skizzieren: „Ich befand mich außerhalb meines Körpers. […] Ich erhob mich und schwebte über die vielen Köpfe fort, glitt mühelos und ohne Widerstand zu finden durch Häusermauern und Fensterscheiben, von einer Kraft getrieben.“[46] Zudem bemüht er sich, das Bild von einer Seele zu vermitteln, welche sich in diesem biologischen „Nicht-Leben 1“ befindet. So beschreibt das Ich selbst sein äußeres Erscheinungsbild, wenn man von einer realen Manifestation hier überhaupt sprechen kann: „Ich war etwa so von Gestalt […] wie jene glasartig-durchsichtigen Körper […] Dennoch war ich kein Körper. Ich war auch kein Nichts. Ich war eine Seele, wie deren viele im Weltraum schwebten.“[47] Analog zu Busson hat auch Hermann Wiedmer diesen jenseitigen Zustand thematisiert. Dabei ist er einen Schritt weiter gegangen, indem er neben dem regulären „Nicht-Leben 1“ versucht, einen jenseitigen Zustand innerhalb der höchsten Gottheit zu skizzieren.

So befindet sich die Seele zu Beginn ihrer Seelenwanderung innerhalb der absoluten Instanz, in welche sie am Ende wieder zurückkehren muss. Dieses biologische „Nicht-Leben 1.0“ ist jedoch in zwei Untertypen zu kategorisieren. Die Variante I ist derjenige Zustand, in welchem sich die Seele löst, um einen Pfad der Wiedergeburten zu bestreiten: „Aus dem Schoße Gottes löste sich eine Seele …“[48]. Jedoch befindet sie sich hier noch in einem Status, in welchem sie in die göttliche Ordnung integriert ist. Folglich kann davon ausgegangen werden, dass den unzähligen Seelen innerhalb der absoluten Instanz ein bestimmter Platz zugeordnet wird, welchen sie für ihre Wanderung verlassen können. Diese erste Variante von „Nicht-Leben 1.0“ weist zudem ein entscheidendes Merkmal auf: Das äußere Erscheinungsbild Gottes, ein hermaphroditischer Charakter, nimmt die Seele in diesem Zustand „erstmalig“ wahr, so suggeriert es jedenfalls der Text: „Und sie gewahrte in erster Freude den Glanz des Ewigen, aus sich selbst Erschaffenden, Einen …“[49]. Dabei ist sie von dieser Erscheinung so sehr beeindruckt, dass die Seele den Wunsch äußert, genauso zu sein wie die visualisierte Gottheit. Nach Äußerung ihres Begehrens wird die Seele von der visualisierten Gottheit getrennt und verlässt somit die Variante I von „Nicht-Leben 1.0“. Dies zahlt sie jedoch mit dem Preis, ihre jenseitige Integrität zu verlieren: „Da sank die Seele in lichtlose Tiefe, und im Sinken empfand sie als ersten heißen Schmerz die Trennung vom Ewigen …“[50]. Darüber hinaus wird ihr Wissen über Gott und über ihre Herkunft in den folgenden Prozessen der Wiedergeburt durch ein reguläres „Nicht-Leben 1“ aus ihrem Gedächtnis suspendiert.

Nachdem die Seele ihre lange Seelenwanderung passiert hat, kehrt sie nach der Größe „Tod 1.7“ wieder in die absolute Instanz zurück: „Die Erde fiel zurück wie ein welkes BlattSternenmeere sanken an den Saum blauer UnendlichkeitDita verschwand …“[51]. In diesem Kontext manifestiert sich die Variante II des biologischen „Nicht-Lebens 1.0“. Zwar entschwindet die Seele wieder in eine jenseitige Welt, in welche sie vollkommen integriert ist, sie kehrt an ihren alten Platz zurück, welchen sie zu Beginn verlassen hat, dennoch ist diese Rückkehr strikt von der Variante I zu trennen. Die Seele begreift in der letzten Manifestation als Walter von Tillo ihre lange Seelenwanderung. Bevor sich der Akt der Selbstbefruchtung in Walter vollziehen kann, wird die Seele von ihrem Schöpfer aus dem Diesseits heraustransportiert, sie befindet sich also ebenfalls in einem Zustand von „Nicht-Leben“ (vgl. hierzu auch 4.1.4.). In diesem wird der Seele ihr Schöpfer wieder bewusst gemacht und sie erhält die verloren gegangene Erinnerung zurück. Während sie im „Nicht-Leben 1.0“ die Instanz „Gott“erstmalig visualisiert, ist sie sich am Ende der Seelenwanderung ihrem Schöpfer vollkommen bewusst und vermag so, in das für sie nun transformierte „vertraute“ jenseitige Ordnungssystem zu entschwinden. Dieser „Ausgangszustand“ verwandelt sich zudem in das „höchste eigentliche Leben“, das metaphorische „Leben 3“, welches eng mit der dritten Ebene des Modells korreliert ist. Biologisch gesehen befindet sich die Seele erneut wieder in einem Zustand von „Nicht-Leben“, welcher außerhalb der diesseitigen Welt angesiedelt werden kann.

Abzugrenzen von Variante I und Variante II des „Nicht-Lebens 1.0“ sind die vielen biologischen „Nicht-Leben 1“, welche zwischen den Größen „Tod 1“ und „Wiedergeburt 1“ anzusiedeln sind. Diese richten sich streng nach den Regeln des Modells der „Wiedergeburt“, indem sich die Seele in einem externen Raum befindet, in welchen sie sich nicht integriert fühlt. Diesen jenseitigen Status vermag auch Wiedmer, analog zu Paul Busson, zu skizzieren: „Und mit dem irdischen Tode ward ihre Seele aufs neue dem Jenseits geborenUnd zwischen Körpertod und neuer Körpergeburt ruhte die Seele in der greifenden Allkraft Gottes …“[52]. Dieser Zustand wird in der Diachronie der Geschichte immer auf dieselbe Art und Weise beschrieben. Um sich aus der Nicht-Integrierung zu lösen, manifestiert sich die Seele in ihre variantenreichen Existenzen: „… und suchte doch wieder einen Leib, der Frucht trug, die zu beseelen ihr bestimmt war …“[53].

Aufgrund der geschilderten Komplexität von biologischen „Nicht-Leben“ soll hier summa summarum festgehalten werden (vgl. S. 136: Abbildung 3): Wiedmer präsentiert verschiedene Varianten von jenseitigen „Nicht-Leben“. Während er sich homolog zum Modell der „Wiedergeburt“ externen und nicht-integrierbaren Räumen bemächtigt, welche sein Titelheld während der vielen „Tode 1“ und „Wiedergeburten 1“ passiert, skizziert er ein biologisches „Nicht-Leben 1.0“. In diesem ist die Seele in das göttliche Ordnungssystem vollkommen integriert. Dabei sind zwei Varianten des „Nicht-Lebens 1.0“ zu unterscheiden. Im ersten Typus wird die Seele erstmalig mit der höchsten Gottheit konfrontiert. Demgegenüber steht die zweite Variante, in welche die Seele am Ende der langen Wanderung entschwindet, wobei ihr die Instanz „Gott“ in diesem „Leben 3“ vollkommen vertraut ist. Da die Seele in Paul Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte ebenfalls am Ende der Seelenwanderung in das Absolute übergeht (nachdem die Seele vollkommen „geläutert“ ist), kann bei ihm ebenfalls ein „Nicht-Leben 1.0“ vorausgesetzt werden. Gegenüber Wiedmer verzichtet er jedoch auf jegliche Veranschaulichungen, indem er nur von einem nicht-integrierbaren „Nicht-Leben 1“ der ersten Modellebene Gebrauch macht.

4.1.3. Die variantenreiche Manifestation als Folge der „Wiedergeburt“

Wie schon in 4.1.1. angedeutet, durchstreift die Seele auf ihrem Weg der Seelenwanderung zahlreiche verschiedene Existenzen. Die endgültige Manifestation in einen Körper als Folge der jeweiligen Metempsychose kann sich laut Wiedmer sehr variantenreich vollziehen. Im „Leben 1.0“, in welchem alle möglichen Typen von niederen Wesenheiten angesiedelt sind, lassen sich bei Wiedmer sowohl „Zellenwesen“ als auch „Tiere“ lokalisieren. In den ersten Phasen der Wiedergeburt manifestiert sich die Seele in Körper, die sich in der Hierarchie der realisierbaren Wesenheiten ganz unten befinden. In diesem Kontext bietet Wiedmer die Manifestation als „Urzelle“ an: „… unendlich langsam von der Urzelle zu immer höheren Lebensformen …“[54]. Später sind auch Existenzen als Tiere realisierbar, worauf im Text jedoch nur kurz eingegangen wird. Im Alter von 15 Jahren stößt der junge Walter von Tillo auf eine Eidechse, in welcher er eine vorherige Reinkarnation vermutet: „Blitzartig, schreckhaft tauchte plötzlich ein Gedanke in ihm auf: war er nicht irgendwann und irgendwo auch so ein grünes Eidechslein gewesen – hatte so in der Sonne gelegen – den Körper gebreitet und die köstliche Wärme mit allen Poren eingesogen?[55] Ob diese Manifestation wirklich stattgefunden hat, wird vom Text jedoch nicht mehr beantwortet. Da sich Walter von Tillo aber in seinem „Neuen Leben 1.7“ an vorherige Leben langsam zurückerinnert, kann davon ausgegangen werden, dass die Wiedergeburten in Tiere wirklich realisiert wurden. Folglich fungiert die Konfrontation mit der Eidechse bereits als erste Bewusstwerdung. Auch in der Diachronie der Handlung trifft das Subjekt auf eine weitere „niedere“ Existenz, der Papagei seiner Geliebten Anneliese: „Das war Annelieses grauer Königspapagei, den die lauten Worte des Präsidenten aus seinem Dröseln aufgeschreckt hatten.“[56] In diesem Kontext lässt sich erneut eine enge Korrelation zu Paul Busson konstatieren. Er spielt ebenfalls mit der Figur eines Papageis, in welche eine Seele eingefahren ist, um Buße abzuleisten: „Vielleicht bist du eine von Gott verdammte Seele und musst nun in Tiergestalt Buße tun![57] Wo eine Tierverwandlung vorliegt, da fungiert diese niedere Existenz als Strafe für Vergehen in einem früheren Leben[58]. Diese Tierfigur bietet folglich ein eindeutiges Indiz dafür, wie Busson den Gedanken der buddhistischen „Läuterung“ für sein Werk zweckentfremdet hat. Hermann Wiedmer hingegen weicht von dieser Idee ab: „Gott ist kein Richter – er ‚belohnt’ nicht und ‚straft’ nicht …“[59]. Bei ihm geht es um viel mehr, indem er seine Seele in alle möglichen Lebensformen manifestieren lässt, welche das Leben bereitstellt und wozu ein einziges „Leben“ nicht ausreicht[60] (vgl. auch Kapitel 4.1.1.). Demnach kann der Papagei in Wiedmers Text lediglich als eine mögliche „niedere“ Manifestation fungieren, welche eine Seele auf ihrer Reise passieren kann. Dass in dem Vogel eine aktuelle Seele hausen könnte, welche ebenfalls einen Pfad der Seelenwanderung beschreitet, lässt sich aus dem Kontext der Erzählung (wenn auch nur rein spekulativ) vermuten: „Deutlicher kann kein Mensch sprechen als Ihr Jocko![61]

Nach den unzähligen Reinkarnationen in nicht-menschliche Wesen, manifestiert sich das Ich letztendlich in mehrere menschliche Körper. In der Regel wird eine menschliche Wiedergeburt angenommen, bei der normalerweise auch das Geschlecht konstant bleibt[62]. In Bussons Die Wiedergeburt des Melchior Dronte behält der Titelheld sowohl im „Leben 1“ als auch im „Neuen Leben 1“ als Sennon Vorauf den Sexus des Mannes bei. Hermann Wiedmer hingegen weicht in hohem Maße von dieser Regel des Modells der „Wiedergeburt“ ab, indem er seinen Helden in männliche, weibliche, geschlechtslose oder hermaphroditische Körper reinkarnieren lässt. An Wiedmers variantenreichen Manifestationen wird nochmals deutlich illustriert, wie die Seele des Helden alle potentiellen Formen von Existenzen durchlaufen kann, welche in einem einzigen biologischen Leben nicht realisierbar wären. Erst nachdem alle Varianten passiert worden sind, kann eine Rückkehr zu Gott und damit eine Befreiung aus dem „Rad der Wiedergeburten“ gewährleistet werden: „Nichts bleibt mehr, das wir nicht verkörpert hätten […] Der Ring ist geschlossen …“[63]. Diese Realisierung aller Potentiale wird durch die Wiedergeburt garantiert.

4.1.4. Die unterschiedliche Darstellung der Größe „Tod“

In Wiedmers Die Verwandlungen des Walter von Tillo vollzieht sich die biologische Größe „Tod 1“ der ersten Modellebene auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Zum einen lässt sich eine Illustrierung von „Tod 1“ im Werk lokalisieren, welche sich streng an die Regeln der okkultistischen Begriffsreihe der ersten Ebene orientiert. Der Protagonist erleidet innerhalb seiner Seelenwanderung unzählige Tode, wobei sich anschließend immer eine neue Wiedergeburt mit Lebenswechsel vollzieht. Die biologische Größe „Tod 1“ ist in diesem Prozess auch zwingend notwendig, denn ohne sie kann sich keine Reinkarnation vollziehen: „Und mit dem irdischen Tode ward seine Seele aufs neue dem Jenseits geboren …“[64]. Dabei stirbt der Titelheld entweder durch selbstverschuldetes Handeln, als „Gibo“ springt das Ich in einen Höhlenschacht und muss dort verhungern, oder durch Fremdeinwirkung: „Ein Schlag traf ihren Rücken so stark, dass sie den Atem verlor und niederfiel …“[65].

Neben der Größe „Tod“ innerhalb der gesamten Seelenwanderung macht Wiedmer von einer zweiten Darstellung des Sterbens Gebrauch, wobei sich diese nur im „Neuen Leben 1.7“ als Walter von Tillo vollzieht. Dieser wird von zahlreichen Visionen heimgesucht, in denen er in eine Art von „Dämmerungszustand“ verfällt: „Leichenfahl lehnte er in der Mauernische – die Züge verzerrt – bewusstlos und von unheimlichen Träumen gefoltert – Die weißen Lippen flüsterten …“[66]. Jene Todeszustände innerhalb des „Neuen Lebens 1.7“ dienen lediglich dem Zweck, die Erinnerung an die zahlreichen Vorexistenzen zurück zu erlangen, welche im Übergang von „Nicht-Leben“ und „Wiedergeburt“ suspendiert wurde. Dabei geht Wiedmer noch einen Schritt weiter: Am Ende der männlichen Lebensepisode verfällt das Subjekt ebenfalls in eine „Starrheit“, in welcher die Seele jedoch das biologische Leben vorübergehend verlässt und einen jenseitigen Raum, wohl am ehesten ein „Nicht-Leben 1“, betritt. In diesem wird der Seele ihre Identität endgültig bewusst. Anschließend kehrt sie wieder in das aktuelle „Neue Leben 1.7“ zurück: „Da lag eine Gestalt, die ihm glich – leblos und starr […] Und plötzlich fühlte er sich mit schmerzhafter Gewalt in den leblosen Körper zurückgezwungen …“[67]. In diesem Kontext lässt sich erneut eine Gemeinsamkeit zu Paul Bussons Erzähltext herstellen. Auch dieser Autor führt zwei Varianten des Sterbens vor, wobei der Titelheld zum einen „entschläft“, dabei ebenfalls in einen Zustand von „Nicht-Leben“ wechselt und so das aktuelle „Leben 1“ vorübergehend verlässt, und zum anderen einen biologischen Tod durch die Hinrichtung an der Guillotine erleidet[68].

4.2. „Leben 2“: Die diesseitige metaphorische Variante von „Leben“ innerhalb des Komplexes der Seelenwanderung

Während Paul Busson in seinem Roman lediglich das „Leben 1“ des Titelhelden darstellt, welches graduelle Abstufungen in emphatische Lebensvarianten („Neutrale Leben“, „Leben 2“ und „Nicht-Leben 2“) zulässt, bietet der fantastische Erzähltext Wiedmers aufgrund der langen Seelenwanderung des Protagonisten wesentlich mehr von diesen. So lässt sich ein „Leben 2“ nicht nur auf die Rahmenhandlung des Romans, also auf die Existenz des Walter von Tillo, sondern auch auf die vielen Vorexistenzen des Helden projizieren. In diesem Kapitel sollen zunächst die „neutralen“ Formen lokalisiert, in einem speziellen Unterkapitel die engen Verknüpfungen der drei modellinternen „gesteigerten“ Lebensvarianten (A, B und C) analysiert und abschließend typische emphatische „Nicht-Leben 2“ ausfindig gemacht und kurz skizziert werden (vgl. S. 138: Abbildung 5).

4.2.1. Die „neutralen“ Ausgangszustände

Modellgetreu befindet sich das Subjekt zu Beginn des jeweiligen biologischen Lebens der ersten Modellebene in einem Status, welcher metaphorisch noch als „neutral“ kategorisiert werden kann. Das in der Regel männliche Subjekt lebt in jener Lebensvariante in einer Welt, die mit dem kulturellen Realitätsbegriff kompatibel und die noch nicht nach einem „Leben 2“ oder „Nicht-Leben 2“ klassifiziert ist[69].

Währenddessen Paul Busson und auch Franz Spunda (wie später noch zu zeigen sein wird) sich streng an diese Form eines Ausgangszustands halten, führt Hermann Wiedmer aufgrund der zahlreichen Manifestationen seines Titelhelden gleich mehrere dieser „neutralen“ Leben an. Diese Stadien können jedoch von der Norm des festgelegten Geschlechts abweichen. Zwar fühlt sich das Subjekt in diesen ebenfalls mehr oder weniger gut in seine Welt integriert, dennoch handelt es sich nicht nur um rein männliche Existenzen. Das Subjekt kann in seiner Ausgangsphase sowohl männlich, weiblich, geschlechtslos, aber auch hermaphroditisch sein. Dennoch ist allen „neutralen“ Leben gemeinsam, dass sie bereits sehr stark zu einem „Leben 2“ der Typen A und (oder) C tendieren. Abweichungen stellen diejenigen „Nicht-Leben 2“ dar, in welche die Seele nach ihrer Metempsychose hineinmanövriert werden kann (hierzu mehr in Kapitel 4.2.3.). Im Folgenden seien drei repräsentative Beispiele aus den sechs Vorexistenzen des Subjekts herangezogen, um anschließend das „neutrale“ Leben des Walter von Tillo zu skizzieren.

So gelangt das Subjekt beispielsweise durch eine Wiedergeburt in ein „Neues Leben 1.2“ und manifestiert sich in die männliche Entität „Gibo“. Der metaphorische Ausgangszustand dieser Wesenheit ist eindeutig als „neutral“ zu kategorisieren. Aufgrund der intakten Familienverhältnisse wird er als rein positiv empfunden, so dass auch keine Indizien für ein „Nicht-Leben 2“ lokalisiert werden können. Dementsprechend macht „Gibo“ auch den Anschein, sein momentanes Lebensumfeld zu akzeptieren: „Er kroch vor der Höhle herum, spielte mit den Faustkeilen und Tierknochen […] und nur Gaga […] blieb bei Gibo und passte auf, dass er nicht zu weit weglief und sich verirrte. …“[70]. Dasselbe Muster gilt auch für das „Neue Leben 1.5“ als ägyptische Königstochter, welches ebenfalls als „neutral“ zu bewerten ist. Die Seele wächst als „Mernta“ auf, welche in einem absoluten Wohlstand lebt, und der es an nichts mangelt: „Die kleine Mernta wuchs heran, vom König verwöhnt, von der Königin Nofert’ari vergöttert. Das feinste Spielzeug fand sie auf ihrem Teppich: Puppen aus Gold und Elfenbein mit beweglichen Gliedern …“[71]. Zudem stellt sie ein kluges und wissbegieriges Mädchen dar, welches alle möglichen Formen von Unterstützungen erhält, um an ihr verlangtes Wissen zu gelangen: „Sets neue Fragen hatte sie für Horê, immer weiter suchte sie in die geheimen Lehren einzudringen.“[72] Wie im „Neuen Leben 1.2“ überwiegen hier die positiven Attribute der neutralen Lebensvariante, so dass ebenfalls kein „Nicht-Leben 2“ empfunden wird. Im Kontext der Neutralität innerhalb der sechs Vorexistenzen sei hier noch exemplarisch das „Neue Leben 1.6“ herangezogen. Dieses schwankt zu Beginn zwischen einem emphatischen „Leben 2“ und einem „Nicht-Leben 2“. Die Seele manifestiert sich in eine asexuelle Wesenheit, welche wohlbehütet bei seiner Adoptivmutter aufwächst: „Er [das Wesen erhält zu Beginn einen männlichen Namen] wuchs einsam auf, behütet und umhegt von Mahawalli, der armen Witwe eines Jägers.“ Ergo fühlt sich das asexuelle Subjekt mehr oder weniger gut in die diesseitige Ordnung integriert. Dennoch, wie an der aktuellen familiären Situation ersichtlich, überwiegen die negativen Attribute eines „Nicht-Lebens 2“. Aufgrund ihrer geschlechtslosen Missbildung wurde die asexuelle Existenz von ihren wahren Eltern ausgesetzt. Diese Behauptung lässt sich aus dem Kontext vermuten: „Deine Eltern hatten dich ausgesetzt, weil – – « Sie schwieg verlegen –[73]. Zudem wird das zwölfjährige Wesen aufgrund seiner Abnormität von seinen Artgenossen gemieden und verlacht: „… so spotteten sie über seine helle Haut und nannten ihn »Bambara«, »Honigbiene«. […] Je älter er wurde, umso schärfer schied er sich von der Jugend des Stammes.[74] Darüber hinaus ist es der Wesenheit wegen seiner Asexualität nicht möglich, wahre Liebe zu erfahren und sie in der Praxis auszuüben: „… und die Mädchen wichen scheu aus, wenn er zum Spielen kam.[75]

Analog zum „Neuen Leben 1.6“ manövriert sich die Seele durch eine Reinkarnation in ein „Neues Leben 1.7“ als hermaphroditische Wesenheit Walter von Tillo, in welchem der neutrale Ausgangsstatus ebenfalls zwischen einem „Leben 2“ und einem „Nicht-Leben 2“ schwankt. Indizien für ein „Leben 2“ sind Walter von Tillo schon bei seiner Geburt angeheftet. Er wird in einer Walpurgisnacht geboren[76], so dass er, wenn auch nur metaphorisch, in ein Leben tritt, in dem okkulte Phänomene auf ihn einwirken werden[77]. So befindet er sich bereits in einem „Leben 2“ des Typs C. Zudem bekommt er die Rolle einer auserwählten Größe zugewiesen: „» – – – Unserer Art entsprießt im Meie ein Rîs, Hêrre und Meit, das steiget leitlich im Meistergewand uf Unserer Lieben Frouwen Bau …“[78]. Dennoch befindet sich das Subjekt zugleich in dem Status eines „Nicht-Lebens 2“, da es aufgrund seiner hermaphroditischen Abnormität von der eigenen Mutter abgelehnt wird: „Doch brennende Scham peitschte Frau Ursula, dass sie das Kind zur Welt gebracht […] so fremd wie ein drohendes Geheimnis! Als wollte sie es verleugnen, schob sie es von sich […] So gezeichnet, trat das Kind ins Leben.[79]

Auch in der weiteren Diachronie der Erzählung ist noch nicht entscheidbar, ob sich das nun im pubertären Alter befindende Subjekt in einer positiven oder negativen Lebensvariante befindet. Es wächst als Adliger Walter von Tillo auf, ein entscheidendes Merkmal der fantastischen Literatur[80], dem es vom sozialen Status her an nichts mangelt. Zudem ist es von schöner Gestalt, gebildet, musikalisch und bei den Mädchen sehr beliebt: „Etwas in Walters Wesen zog die Menschen mit geheimnisvoller Macht an. Die Mädchen schienen ganz verrückt […] Auch bei Professoren und Lehrern galt er alles und regierte als Primus die Klasse wie ein kleiner König.[81] In diesem Zustand wirken bereits, wenn auch nur andeutende, abnorme Merkwürdigkeiten auf ihn ein. So glaubt der fünfzehnjährige Walter von Tillo, in einer Eidechse eine frühere Existenz zu vermuten. Zudem peinigen ihn unerklärliche Schmerzen, welche ebenfalls auf eine damalige Manifestation hindeuten: „Und wenn ich ein Bild der Kreuzigung sehe, so dünkt mich, ich hätte sie miterlebt – ja – ich fühle die Schmerzen des Gekreuzigten, als hinge ich selbst am Marterkreuz –!«[82] Dieses hervortretende „Leben 2“ der dritten Variante ist dabei bereits sehr eng mit der asketisch-altruistischen Variante verknüpft. Da sein bester Freund „Kiesel“ von einem Turm in die Tiefe zu stürzen droht, fungiert Walter von Tillo als Helfer, indem er ihn vor dem Tod bewahrt und errettet[83].

Auf der anderen Seite lassen sich jedoch auch zahlreiche Indizien dahingehend lokalisieren, dass dieses emphatische „Leben 2“ als nicht rein positiv geschätzt wird. Walter zeigt sich sehr ablehnend zur Erotik, indem er sich von seinen weiblichen Mitmenschen distanziert: „Wie schön hätte man ein Stelldichein verabreden können – im Burgwäldchen – am Seeweg – oder gar hier in der Burg, wo es so verschwiegene Winkel gab […] Aber kraftlos prallten ihre heißen Wünsche an Walters freundlichem Gleichmut ab –[84]. Anhand dieser sexuellen Abstinenz wird ersichtlich, dass Walter schon erste Vorahnungen hegt, etwas könne mit ihm nicht stimmen. Zudem scheint er mit der aktuellen Weltstruktur, in welcher er sich befindet, unzufrieden zu sein. Jenes wird durch seine heidnischen Ansichten bekräftigt: „»Lernen wir nicht Dinge, die unsere Religionen zur Lüge machen? […] Siehst du – nun zweifle ich an allem, was die Bibel erzählt.[85] Das „Nicht-Leben 2“ wird zudem dadurch forciert, dass die Mutter ihr Kind immer noch vollkommen ablehnt. Eine absolute Nicht-Liebe der Mutter offenbart sich: „… wie rissen Schmerz und ohnmächtige Enttäuschung sie aus allen Himmeln junger Mutterseligkeit –! Dennoch – es wuchs auf – Freunde und Nachbarn, Lehrer und Mitschüler sangen sein Lob, liebten und hätschelten es – indes sie mit starren Augen dabei saß und ein hartes Lächeln auf den dünnen Lippen ließ …[86]. Aufgrund der Tatsache, dass die Mutter ihr Kind zurückweist, aber dennoch pausenlos kontrollieren muss[87], registriert der junge Walter, dass sein Körper der Katalysator für dieses „Nicht-Leben 2“ zu sein scheint. Sein Körper deutet sich ihm als eine vollkommen unbekannte Hülle, welche zu entlarven gilt: „Seltsam unwirklich dünkte ihn alles, als sei er in seinem eigenen Körper fremd.[88]

[...]


[1] Exemplarisch wurde herangezogen: BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE in vierundzwanzig Bänden. 19., völlig neu bearbeitete Auflage, Mannheim : Brockhaus, 1994, Band 20, S. 37.

[2] LESSING, G. E.: Die Erziehung des Menschengeschlechts, Stuttgart : Reclam, 1965, S. 30f. Vgl. auch BADEWIEN, Jan: Reinkarnation – Treppe zum Göttlichen?, Konstanz : Bahn, S. 118.

[3] HEINE, Heinrich, aus: Reisebilder, Zweiter Teil: Die Nordsee, Dritte Abteilung, in: HEINE, Heinrich: Werke in vier Bänden, zweiter Band (Die Bibliothek deutscher Klassiker), München 1982, S. 226f. Vgl. hierzu auch BADEWIEN 1994, S. 119.

[4] WÜNSCH, Marianne: Phantastik in der Literatur der frühen Moderne. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. v. York-Gothart MIX. München, Wien (= Hansers Sozialgeschichte der dtsch. Lit. vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 7) 2000, S. 175.

[5] KARBACH, Walter: Phantastik des Obskuren. In: Phantastik in Literatur und Kunst. Hg. v. Christian W. THOMSEN und Jens Malte FISCHER, Darmstadt, 1980, S. 294.

[6] WIEDMER, Hermann: Die Verwandlungen des Walter von Tillo. München : Müller, 1930. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.

[7] WIEDMER 1930, S. 396.

[8] WÜNSCH, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890 – 1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. München : Fink, 2. unveränderte Auflage 1998, S. 201.

[9] WÜNSCH, Marianne: Phantastik. In: Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Hg. v. Horst BRUNNER und Rainer MORITZ, Berlin : Schmidt, 1997, S. 263.

[10] WÜNSCH, Marianne: Das Modell der «Wiedergeburt» zu «neuem Leben» in erzählender Literatur 1890 – 1930. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess (Walter MÜLLER-SEIDEL zum 65. Geburtstag). Hg. v. Karl RICHTER und Jörg SCHÖNERT, Stuttgart, 1983, S. 379 – 408.

[11] WÜNSCH 1983, S. 380/381.

[12] WÜNSCH, Marianne: „Die fantastische Welt im Romanwerk Gustav Meyrinks“ (050220), Sommersemester 2005: Institut für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medien, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Die Analyse erfolgte im Rahmen einer Hausarbeit.

[13] BUSSON, Paul: Die Wiedergeburt des Melchior Dronte. Wien/Hamburg : Zsolnay, 1980. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.

[14] SPUNDA, Franz: Das Ägyptische Totenbuch. Ein nekromantischer Roman. Gerhard Hess, unveränderte Neuauflage 2004. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.

[15] Ausgenommen hiervon ist die Graphik des Modells der „Wiedergeburt“ zu „neuem Leben“, welche in den Textfluss der Arbeit eingebettet ist (vgl. Kapitel 2, S. 12). Alle weiteren Schemata lassen sich im Anhang der Arbeit wieder finden (vgl. S. 133f.).

[16] Der „Lebensbegriff“ ist in der Epoche der Frühen Moderne generell zentral. Vgl. hierzu: RASCH, Wolfdietrich: Aspekte der deutschen Literatur um 1900. In: RASCH, Wolfdietrich: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Stuttgart : Metzler, 1967, S. 17f.

[17] WÜNSCH 1983, S. 382.

[18] Ebd. S. 384.

[19] Vgl. hierzu auch RASCH 1967, S. 19.

[20] WÜNSCH 1983, S. 384. Vgl. hierzu auch RASCH 1967, S. 22.

[21] WÜNSCH 1983, S. 385. Vgl. auch WÜNSCH 1998, S. 228/229.

[22] WÜNSCH 1983, S. 385.

[23] Ebd. S. 389. Eine detaillierte Ausführung der Merkmale findet sich auf S. 389 – 400.

[24] BUSSON 1921, S. 138.

[25] Ebd. S. 139.

[26] Ebd.

[27] BUSSON 1921, S. 208.

[28] BUSSON 1921, S. 136. Das Thema der „Läuterung“ ist generell signifikant: Vgl. BOLTE, Johannes: Das Geheimnis der Re-inkarnation. Karlsruhe-Durlach : Selbstverlag, 1968, S. 35/36.

[29] Paul Busson skizziert lediglich die Transformation eines „Lebens 1“ als Melchior Dronte in ein „Neues Leben 1“ als Sennon Vorauf. Weitere Existenzen, welche der Held bereits vor seinem „Leben 1“ durchlaufen haben könnte, können nur vermutet oder vorausgesetzt werden.

[30] WÜNSCH 1998, S. 202.

[31] WIEDMER 1930, S. 205.

[32] WIEDMER 1930, S. 295.

[33] Diese Fähigkeit „Gottes“ kann nur bei Hermann Wiedmer lokalisiert werden. In der Regel tritt „Gott“ nie handelnd auf; er erfüllt demnach auch keine Wünsche (vgl. WÜNSCH 1998, S. 195). So auch bei Paul Busson: Die Seele manifestiert sich in die von der göttlichen Instanz vorgegebenen Körper; Wünsche kann die Seele gegenüber dieser höchsten Macht nicht äußern.

[34] WIEDMER 1930, S. 295.

[35] Ebd. S. 295/296.

[36] WIEDMER 1930, S. 296.

[37] Ebd. S. 460.

[38] WIEDMER 1930, S. 476.

[39] Ebd. S. 478.

[40] WESOŁOWSKI, Zbigniew: Reinkarnation im Buddhismus. In: Reinkarnation oder Auferstehung?: Konsequenzen für das Leben. Hg. v. Hermann KOCHANEK, Freiburg im Breisgau; Basel; Wien : Herder, 1992, S. 33.

[41] BUSSON 1921, S. 139. Mehr zum Komplex der „Läuterung“ in BOLTE 1968, S. 35/36.

[42] WIEDMER 1930, S. 478.

[43] Ebd. S. 306.

[44] WÜNSCH 1983, S. 382.

[45] GÄCHTER, Othmar: Wiedergeburt im Hinduismus. In: Reinkarnation oder Auferstehung?: Konsequenzen für das Leben. Hg. v. Hermann KOCHANEK, Freiburg im Breisgau; Basel; Wien : Herder, 1992, S. 17/18.

[46] BUSSON 1921, S. 190.

[47] Ebd.

[48] WIEDMER 1930, S. 295. Der Terminus „Nicht-Leben“ scheint das einzige biologische Element zu sein, welches für einen Zustand der Seele „innerhalb des Absoluten“ als anwendbar erscheint.

[49] WIEDMER 1930, S. 295.

[50] Ebd.

[51] Ebd. S. 479.

[52] WIEDMER 1930, S. 299 und passim.

[53] Ebd. und passim.

[54] WIEDMER 1930, S. 296.

[55] Ebd. S. 18.

[56] WIEDMER 1930, S. 170.

[57] BUSSON 1921, S. 84.

[58] WÜNSCH 1983, S. 382. Vgl. hierzu auch TORWESTEN, Hans: Sind wir nur einmal auf Erden? Die Idee der Reinkarnation angesichts des Auferstehungsglaubens. Freiburg im Breisgau; Basel; Wien : Herder, 1983, S. 129.

[59] WIEDMER 1930, S. 478.

[60] Diese Manifestation in mehrere potentielle Existenzformen, über Pflanze und Tier zum Menschen (oder – noch weiter gespannt – von der Amöbe bis hin zum vollkommenen Gottmenschen) wird auch bei TORWESTEN 1983 (S. 128f.) diskutiert.

[61] WIEDMER 1930, S. 172.

[62] WÜNSCH 1983, S. 382.

[63] WIEDMER 1930, S. 478.

[64] Ebd. S. 306.

[65] Ebd. S. 327.

[66] Ebd. S. 158/160.

[67] WIEDMER 1930, S. 430.

[68] Vgl. BUSSON 1921, S. 133 („Entschlafen“) und S. 190 (Tod an der Guillotine).

[69] Vgl. WÜNSCH 1983, S. 384 und WÜNSCH 1998, S. 231.

[70] WIEDMER 1930, S. 300.

[71] Ebd. S. 354.

[72] Ebd. S. 355.

[73] WIEDMER 1930, S. 389.

[74] Ebd. S. 388.

[75] Ebd. S. 390.

[76] Vgl. WIEDMER 1930, S. 9.

[77] Die „Walpurgisnacht“ ist die Nacht zum 01. Mai, in welcher sich angeblich Hexen zum Tanze treffen. Zwar treten bei Wiedmer keine Hexen oder ähnliche okkulte Größen auf, dennoch liegt hier schon ein Indiz dafür vor, dass in der Handlung abnorme Geschehnisse auftreten werden.

[78] WIEDMER 1930, S. 10.

[79] WIEDMER 1930, S. 11.

[80] In der fantastischen Literatur der Frühen Moderne ist es dem elitären privilegierten Subjekt vorbehalten, eine „auserwählte“ Größe darzustellen, welches sich auf die Suche nach einem bestimmten Ziel macht. Dies lässt sich auch bei Paul Busson (Held: „Freiherr Melchior von Dronte“) oder auch bei Franz Spunda (Held: „Lord William Collins“) belegen.

[81] WIEDMER 1930, S. 20.

[82] Ebd. S. 35.

[83] Vgl. Ebd. S. 22/23.

[84] WIEDMER 1930, S. 28.

[85] Ebd. S. 35.

[86] Ebd. S. 40/41.

[87] Die Mutter bangt darum, dass die „Regel“ ihres zweigeschlechtlichen Kindes einsetzen und es so die Merkwürdigkeiten um sich herum bereits entlarven könnte (vgl. WIEDMER 1930, S. 41).

[88] WIEDMER 1930, S. 43.

Ende der Leseprobe aus 141 Seiten

Details

Titel
Das Modell der "Wiedergeburt" in ausgewählten Erzähltexten der fantastischen Literatur der Frühen Moderne
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Neuere Deutsche Literatur - und Medienwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
141
Katalognummer
V75957
ISBN (eBook)
9783638722261
ISBN (Buch)
9783638725842
Dateigröße
1674 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Seelenwanderung ist die religiöse Vorstellung vom Übergang der Seele beim Tod in eine andere Daseinsform. Auch fantastische Erzähltexte der Frühen Moderne haben die biologische Reinkarnation thematisiert. Aus diesen Romanen geht ein epochenadäquates Modell hervor, in welchem die Selbstfindungsgeschichte, eine für die Epoche sehr typische Erscheinung, eng mit dem Komplex der Reinkarnation kombiniert wird. Wie sich dieses Modell in der fantastischen Literatur der Frühen Moderne manifestiert, wird in dieser Magisterarbeit anhand ausgewählter Erzähltexte veranschaulicht und nachgewiesen.
Schlagworte
Modell, Wiedergeburt, Erzähltexten, Literatur, Frühen, Moderne
Arbeit zitieren
Ralph Marko (Autor:in), 2006, Das Modell der "Wiedergeburt" in ausgewählten Erzähltexten der fantastischen Literatur der Frühen Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75957

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