Modellbildung in der Massenpsychologie


Diplomarbeit, 2007

142 Seiten, Note: 1.00


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Acknowledgements

Abstract

Einleitung

1. Grundlagen der Massenpsychologie
1.1 Determinanten/Faktoren der psychologischen Masse
1.2 Modelle gegenseitiger Ansteckung
1.3 Entstehung massenpsychologischer Phänomene

2. Massenpsychologische Kettenreaktionen
2.1 Umfeld und Rahmenbedingungen
2.2 Gesetzmäßigkeiten der psychologischen Massendynamik
2.3 Schwellenwerte - die kritische Masse

3. Überlegungen zur Modellierung massenpsychologischer Phänomene
3.1 Bionik – Die Natur als Vorbild
3.2 Die zyklische Abfolge massenpsychologischer Phänomene
3.3 Modell des Entwicklungsprozesses einer massenpsychologischen Kettenreaktion

4. Naturwissenschaftliche Überlegungen
4.1 Chemische Kettenreaktionen
4.2 Neutroneninduzierte Kettenreaktion
4.3 Quantentheoretische Überlegungen für psychologische Massen

5. Mathematische Beschreibung der Phänomene in psychologischen Massenbewegungen
5.1 Mathematisches Modell der gegenseitigen Ansteckung
5.3 Die Entstehung der „initial seed“
5.4 Terminationsprozess

6 Schlussfolgerung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Acknowledgements

Ich möchte diese Arbeit meinen Eltern, die mich in allen Lebenslagen unterstützt haben und mich in der Verfolgung meiner Ziele bekräftigt haben, widmen und Ihnen auf diese Art und Weise meinen unendlichen Dank aussprechen, insbesondere meiner viel zu früh verstorbenen Mutter, deren großer Wunsch es war, die Sponsion ihres Sohnes mitzuerleben. Das Verständnis meines Vaters für den Abbruch meines Physik-Studiums und die bedingungslose Unterstützung meiner weiteren darauf folgenden Pläne waren eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß dieses Werk entstehen konnte.

Großer Dank gilt Frau Prof. Dr. Linda Pelzmann, die eine wichtige Stütze für mich war und mich mit ihrem Feedback zu immer neuen Gedanken inspirierte sowie kritisches Denken und Zweifeln anregte. Außerdem danke ich Herrn Dr. Constantin Malik für seine kreativen Anregungen im Bezug auf einige der hier bearbeiteten Thematiken.

Abstract

Problemstellung und Theorie

Psychologische Massenreaktionen stellen einen der treibenden Motoren in der Wirtschaft dar. Aber auch politische und gesellschaftliche Probleme werden von massenpsychologischen Phänomenen getrieben. Die Massenpsychologie wurde lange Zeit von den Sozialwissenschaften vernachlässigt und sie wird nach wie vor nur von einigen wenigen Experten richtig verstanden. Frau Prof. Dr. Linda Pelzmann leistete hier wichtige Grundlagenforschung in „Wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu“ (2005) und „Triumph der Massenpsychologie“ (2002), indem Sie die Rahmenbedingungen beschrieben hat, unter denen sich massenpsychologische Kettenreaktionen ausbilden, sowie die Regeln aufstellte, welche die Dynamik dieses Prozesses steuern. Grundsätzlich läßt sich jeder Entwicklungsprozess von Massenbewegungen durch drei Phasen charakterisieren. Am Beginn steht die Initiationsphase, in welcher der oder die initialen Erreger von den ersten Akteuren aufgegriffen werden, gefolgt von der Propagation, bei der es durch psychologische Ansteckung und Suggestion nach dem Überschreiten der kritischen Anzahl von angesteckten Agenten zu einer sich selbst erhaltenden Kettenreaktion kommt, die dann in der Terminationsphase ausläuft, sich erschöpft durch die herbeigeführten Veränderungen im Umfeld oder dem Aufbrauchen der zur Verfügung stehender Energien.

Die Wirtschaft und auch viele wissenschaftliche Disziplinen sind noch immer zu sehr damit beschäftigt, den idealen Erreger zu generieren, bei dem sie mit Garantie einen Triumph im Sinne der Massenpsychologie voraussagen können. Neueste experimentelle Ergebnisse von Salganik, Dodds und Watts (2006) zeigen jedoch, dass nicht die qualitativen Kriterien des initialen Erregers über Erfolg oder Flop entscheiden, sondern das Feedback von den anderen Menschen. In Situationen der Unsicherheit und fehlender Erfahrung, verbunden mit euphorischer Erregung, werden auf Fundamentaldaten basierende rationale Entscheidungen der Individuen verdrängt durch Reaktionen auf das Verhalten der anderen. Durch die bei den anderen beobachtbaren Handlungskonsequenzen kann das eigene Risiko evaluiert werden. Eine zentrale Rolle spielen damit die Feedback-Schleifen im System, über welche die Verhaltensweisen der Akteure an die anderen Agenten rückgemeldet werden und aus denen sich die Teilnehmer in solchen Situationen ihre Informationen holen.

Angewandte Methoden

Von einem wirtschaftspsychologischen Standpunkt ausgehend, basierend auf einer breiten wissenschaftlichen Orientierung über mehrere Disziplinen hinweg, erarbeite ich in meiner Arbeit aus den bereits existierenden Modellen zur psychologischen und sozialen Ansteckung sowie aus den von Pelzmann (2002, 2005) beschriebenen Rahmenbedingungen und Regeln massenpsychologischer Phänomene ein ganzheitliches Modell des Entwicklungsprozesses massenpsychologischer Kettenreaktionen. Dieses entsteht schrittweise durch analytisches Studieren und Übertragen von Konzepten aus der Bionik, den Abläufen bei chemischen sowie neutroneninduzierten Kettenreaktion, den Ansteckungsmechanismen sowie Erkenntnissen über den Beobachtungsprozess aus der modernen Quantenphysik. Von zentraler Bedeutung bei der Entwicklung des Modells ist es, dass nicht nur eine isolierte psychologische Massenreaktion damit beschrieben werden soll, sondern die Gesamtheit des Systems rund um die Entstehung massenpsychologischer Kettenreaktionen erfasst wird, zu der beispielsweise auch das Umfeld und die nicht partizipierenden Personen der betrachteten Population gehören.

Durch Sekundäranalyse von Experimenten und anhand konstruierter Gedankenexperimente sowie explorativer Fallanalysen beobachtbarer massenpsychologischer Phänomene in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft wird gezeigt, welche Funktionsweisen und Prinzipien die einzelnen Modellkomponenten und Modellteile erfüllen. Anhand eines evaluierenden Vergleichs mit bestehenden Modellen zur psychologischen Ansteckung sowie solchen zur Entwicklung massenpsychologischer Kettenreaktionen soll die Gültigkeit des abstrahierten Modells geprüft werden.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen und Modellen zur psychologischen und sozialen Ansteckung, mit denen sich die Dynamik der Prozesse beschreiben lässt, sobald man die Entwicklung in Richtung der kritischen Masse erkannt hat. Die Modelle liefern jedoch mangels ausreichender Beschreibung der Rahmenbedingungen und Varietät der individuellen Verhaltensweisen vor allem in der Initiationsphase keine verlässlichen Vorhersagen, welcher Erreger zu einer massenpsychologischen Kettenreaktion führen wird. Daher sollte die aktuelle Forschung ihren Schwerpunkt auf die Dynamik des Initiationsprozesses konzentrieren, um die ungeklärten Fragen rund um die Entstehung der „initial seed“ zu klären. Vor allem die Menschen sind eine unberechenbare Komponente im System, denn es wird immer wieder darauf vergessen, dass sie letztendlich einen freien Willen haben und ihr Verhalten daher in jedem Modell nur wahrscheinlichkeitsdeterminiert beschrieben werden kann.

Erst durch den ganzheitlichen Ansatz, den ich mit meinem Modell verfolge, wird klar, dass in jeder Phase des Entwicklungsprozesses immer andere Akteure beteiligt sind, und dass die entstehende Massenbewegung gleichzeitig mit dem übergeordneten System in Verbindung steht, also dem Umfeld, in dem sie eingebettet ist, zu welchem auch die aktuell gerade nicht angesteckten oder anfälligen Personen gehören. So ergibt sich eine zyklische Abfolge von Massenreaktionen.

Obwohl alle massenpsychologischen Reaktionen eine gemeinsame Grundstruktur besitzen, muss klar sein, dass es erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ein detailliertes, universelles Modell für den Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen zu generieren, da es in jeder durch gegenseitige Ansteckung entstandenen Massenbewegung eine Vielzahl von für diese entsprechende Situation charakteristischen und kontextgebundenen Komponenten gibt, die kaum auf eine verallgemeinerbare Ebene transformiert werden können. Genauso ergibt sich etwa in der Regelungstechnik je nach Charakteristik der Regelstrecke bei gegebener Reglerstruktur ein bestimmter Satz an Reglerkenngrößen, der ein optimales Verhalten liefern wird. In der Massenpsychologie lassen sich die entsprechenden psychologischen Waffen und einzusetzenden Hebel, mit denen das Grundmodell für die gegebene Situation bestückt werden muss, durch Analyse der jeweiligen initialen Erreger und des Umfelds bestimmen.

Damit muss die Frage danach, ob ein bestimmter initialer Erreger zu einer psychologischen Massenreaktion führt oder nicht, vorerst einmal unbeantwortet bleiben, denn um eine derartige Aussage mit hinrechend großer Präzision treffen zu können, müssen sowohl die kontextbezogenen psychologischen Hebel und Waffen sowie die für die psychologische Ansteckung in Frage kommende Gesamtpopulation inklusive der Infrastruktur der Akteure bekannt und die Dynamik des Initiationsprozesses detailliert beschrieben sein, damit diese für den speziellen Auslöser in das gemeinsame Grundgerüst des Modells implementiert werden können.

Das hier entwickelte Modell trägt einerseits zu einem besseren Verständnis des Entwicklungsprozesses massenpsychologischer Kettenreaktionen bei und zeigt andererseits gleichzeitig die Defizite in der aktuellen Forschung der Massenpsychologie auf.

Einleitung

Um die Diskrepanz zwischen vorhandenen Phänomenen und nicht ausreichenden wissenschaftlichen Theorien zu stopfen, bemüht man nur zu oft die Philosophie, die diese Probleme dem Menschen transparent darlegen soll. Man sieht hier schon die Problematik des gesamten Systems: Philosophen liefern brauchbare Erklärungen und Wahrheiten, auf die sie sich im Gruppenprozess nach Austausch der Meinungen und unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der Wissenschaften geeinigt haben, sodass die scheinbar ungelösten Probleme den Menschen zugänglich und verstehbar gemacht werden. Es gibt also keine allgemein gültigen und wahren Antworten, sondern vielmehr ist das wahr, auf was sich die Menschen im Einigungsprozess festgelegt haben. Hier ist bereits ein sehr interessanter Ansatzpunkt für massenpsychologische Phänomene, den ich später noch näher erläutern werde. Naturwissenschaftler hingegen stellen Gesetzmäßigkeiten zur Verfügung, die allerdings von Zeit zu Zeit revidiert, erneuert und erweitert werden müssen, da immer neue Aspekte erforscht werden. Keine naturwissenschaftliche Theorie ist demzufolge unbrauchbar oder gar falsch, nein, sie haben alle bloß beschränkte Gültigkeit und es gibt immer wieder neuere, brauchbarere theoretische Konzepte und Erklärungen, die das alte, bereits bekannte beinhalten und neue, zusätzliche Erweiterungen und Verallgemeinerungen darstellen.

Mein Forschungsvorhaben ist, aus verschiedensten naturwissenschaftlichen Modellen zu lernen, um massenpsychologische Phänomene im Kontext ihres Umfelds, ihrer Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten besser verstehen zu können und erklärbarer zu machen. Thomas C. Schelling zeigt in seinem Werk „Micromotives and Macrobehavior“ mehrmals auf, dass solche Übertragungen von Modellen aus anderen Wissenschaftsbereichen auf die Ökonomie durchaus sinnvoll sind. Beispielsweise schreibt er im Bezug auf das Ansiedelungsverhalten von Menschen in Nachbarschaften (1978/2006, S. 147 ff.): „We can at least persuade ourselves that certain mechanisms could work, and that observable aggregate phenomena could be compatible with types of ‘molecular movement’ that do not closely resemble the aggregate outcomes that they determine.“ In ähnlicher Weise dazu wurde die Brown’sche Molekularbewegung von Teilchen in Flüssigkeiten dazu verwendet, um das Ausbreitungsverhalten von Epidemien zu modellieren und zu beschreiben.

Als einen neueren und meines Erachtens wesentlich mehr Erfolg versprechenden Ansatz als jenen der Bemühung der Philosophie zur Füllung der Lücke zwischen momentanem Wissensstand der Naturwissenschaft und den zahlreichen noch ungeklärten und unverstandenen Phänomenen im Mikro- und Makrokosmos sehe ich die Bionik, eine Querschnittstechnologie, die Biologie und Technik kombiniert. Aus den vielseitigen und vielschichtigen Parallelitäten zwischen der Natur und den komplexen ungelösten Problemen, die sich in der heutigen Wissenschaft stellen, lassen sich mit Hilfe von bionischen Innovationsstrategien entsprechende Lösungsansätze ableiten. Schelling (1978/2006, S. 90) schreibt beispielsweise im Bezug auf die in den Sozialwissenschaften angewandten, weit verbreiteten Familien von Modellen: „Many of those have counterparts in animal ecology, epidemiology, or the physical sciences. They are not whole theories, just models of recurrent behavior patterns that are best recognized and compared with each other by the help of familiar models. A shared model is help in communicating, especially if the model has a name.“ Die Bionik arbeitet mit Regeln und Naturgesetze, die einerseits beschreiben wie Objekte sind, und andererseits wie sich diese verhalten. Beachtlich ist jedoch, dass sich diese Regeln Hand in Hand mit den Objekten, wobei unter diesem Begriff belebte und unbelebte Materie zusammengefasst werden kann, entwickeln. Als Illustration für diese bemerkenswerte Feststellung führt Gerd Binning in Faszination Bionik (2006, S. 46) die Logik an, denn es ist ja keineswegs so, dass der Mensch erst zu denken begann, nachdem die Regeln der Logik niedergeschrieben wurden. Binning (2006, S. 46) stellt weiter fest, dass dieses Prinzip vollkommen missachtet wird: „Man nimmt an, es habe erst die Naturgesetze gegeben und anschließend habe sich die Welt, ausgehend vom Urknall (oder irgendeiner anderen initialen Zündung; Anm. d. Verf.), nach diesen Naturgesetzen entwickelt. Niemand vermag allerdings zu sagen, woher die Naturgesetze stammen sollen. … Aus physikalischer Sicht ist die Annahme, Materie und Naturgesetze hätten sich gemeinsam entwickelt, heute reine Spekulation. Ehe nicht mehr (und präzisere) Erkenntnisse vorliegen, werden wir nichts Verlässliches zu diesen Fragen sagen können.“

Gerade weil wir uns hier im Bereich der Wirtschaftspsychologie bewegen erscheint mir als ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang, auch insbesondere im Bezug auf den Erfolg meines Vorhabens, die Forderung nach einer breiten wissenschaftlichen Orientierung notwendig, die nicht nur in der Bionik vorausgesetzt wird, sondern bereits viel früher von bedeutenden Wissenschaftlern erkannt wurde. Beispielsweise hat schon Thomas C. Schelling 1978 in seinem Werk “Micromotives and Macrobehavior” (1978/2006, S. 90 f.) geschrieben, dass sich die Sozialwissenschaften mit der Anwendung von Modellen auch außerhalb des eigenen Wissenschaftsfeldes befassen sollten: „Recognition of the wide applicability of a model, or of a family of models, helps in recognizing that one is dealing with a very general or basic phenomenon, not something specialized or idiosyncratic or unique.” Als weiteres Beispiel sei das vom österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter verfolgte Konzept der „Sozialökonomik“ angeführt, das er von Max Weber übernommen und weiterentwickelt hat und in seinem lebenslangen Ringen mit Gegenstand und Methode der Ökonomie verfolgte. Eberhard K. Seifert schreibt in Schumpeter (2005, S.13 f.), dass diese Sozialökonomik vier „fundamentals“ umfasst, nämlich Wirtschaftsgeschichte, Statistik, Theorie und Wirtschaftssoziologie. Die Begründung für so ein Konzept lieferte Schumpeter dahingehend, dass erstens die ökonomischen Phänomene nur auf Basis der zu Grunde liegenden historischen Tatsachen verstanden werden können, dass weiters der geschichtliche Überblick notwendig sei, um das Verständnis dafür zu erlangen, wie wirtschaftliche und nicht-wirtschaftliche Faktoren und Daten beziehungsweise verschiedene Sozialwissenschaften ineinander greifen, und dass drittens das Ganze in einem weiteren Sinne nur als sich überschneidende und unkoordinierte Sozialwissenschaften verstanden werden kann.

Bezogen auf die Thematik in der Wirtschaftspsychologie glaube ich, dass noch ein weiterer Schritt notwendig ist und zu den „fundamentals“ ein weiteres, nämlich die „Natur“, hinzugenommen werden muss. Bewusst verwende ich hier den allgemeineren Begriff der Natur, denn im Sinne einer offenen und breiten Sichtweise sollte dabei keine Beschränkung auf eine oder einige spezielle Naturwissenschaften eintreten. Nur wenn die Forschung ihre Augen über viele Bereiche der Biologie, Physik, Chemie und so weiter offen hält, werden im Kontext der Parallelität zur Natur viele Phänomene und Prozesse, die sonst nur schwer erklärbar sind, verständlicher werden. Die Plausibilität dieses Schrittes scheint mir durch die neuesten Entwicklungen in der bionischen Forschung gerechtfertigt. Matthias Nöllke hat beispielsweise in Faszination Bionik (2006, S. 246) die unübersehbaren Parallelen zwischen Natur und Ökonomie in vier Hauptbereichen herausgestrichen. Erstens kommt er zum Schluss, dass auf keinem Markt so harter Wettbewerb herrscht wie in der Natur, wo im Konkurrenzkampf um Futterplätze, Jagdreviere, Ruheräume und Fortpflanzungspartner alle erdenklichen Mittel erlaubt sind. Ein zentrales Erfolgsprinzip der Natur benennt er mit der Organisation. Verschiedenste Tiergattungen schließen für sie selbst ganz spezifische Organisationsformen, die von sehr lockeren Assoziationen über variable Teams und Schwärme bis hin zu streng hierarchisch geführten Rudeln und Herden reichen. Drittens müssen die Tiere und Pflanzen, um im Kampf um einen Fortpflanzungspartner erfolgreich zu sein, werben, genau so wie das die meisten Unternehmen machen müssen, um eine bestimmte Kundengruppe anzusprechen. Die Natur hat dafür bemerkenswerte Strategien, wie man eine attraktive, höchst wählerische Zielgruppe erfolgreich anspricht und an sich bindet. Als vierten Bereich beschreibt Nöllke das Ressourcenmanagement, denn nirgendwo sonst wird so ökonomisch gedacht wie in Tier- und Pflanzenwelt. Jeder Aufwand an Ressourcen, sei es die Beutejagd oder Futtersuche, die Balz, der Nestbau oder der Erwerb zusätzlicher Fähigkeiten, muss sich am Ende des Tages bezahlt machen. „Dabei sind spielerische Offenheit und höchste Konzentration auf ein Ziel von entscheidender Bedeutung. Ebenso Flexibilität im Denken und geistige Mobilität. In der Natur wimmelt es von vermeintlich sinnloser Vielfalt, Verspieltheit, einem unerhörten Drauflos-Erfinden und scheinbar törichter Technologien – aber genau dieses ständige Werden und Vergehen, dieses sintflutartige Brodeln unzähliger Innovationen macht den größten aller Global Player (die Natur; Anm. d. Verf.) seit Jahrmilliarden so erfolgreich.“ (Kurt G. Blüchel in Faszination Bionik 2006, S.19)

Auch Duncan J. Watts streicht in „a twenty-first century science“ (2007, S. 489) die Querverbindungen über viele Teilbereiche der Wissenschaften hinweg heraus und stellt dabei die sozialen und ökonomischen Komponenten in den Mittelpunkt: „Few would deny that many of the major problems currently facing humanity are social and economic in nature. From the apparent wave of religious fundamentalism sweeping the Islamic world (and parts of the Western world), to collective economic security, global warming and the great epidemics of our times, powerful yet mysterious social forces come into play.” Damit spricht er aber auch die Omnipräsenz massenpsychologischer Phänomene in unserer gesamten Gesellschaft an.

Die Natur als solche besteht aus vielen komplexen und vielschichtigen Prozessen und Phänomenen, die im Mikro- und Makrokosmos ablaufen und die sich nicht einfach in einzelne Teilbereiche synthetisieren lassen, sondern es geht bei ihnen um das harmonische Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Komponenten, wie biologische Vorgänge, chemische Reaktionen, physikalische Gesetze und so weiter, sodass eine wissenschaftliche Forschung in streng voneinander abgegrenzten Disziplinen, die dann zwangsläufig ihre Untersuchungen nur entlang jeweils einer dieser Komponenten durchführen, keine befriedigenden Antworten auf die zu lösenden Fragen liefern kann und deshalb eine interdisziplinäre Forschung über die Grenzen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen hinweg notwendig ist. Die Schwierigkeiten der interdisziplinären Forschung, wie sie sich auch bei einer breiten wissenschaftlichen Orientierung über viele Teilbereiche der Natur hinweg ergeben, hat Jan Tinbergen in „An Economists Introduction“ (Pelzmann 2006, S. VI) am Beispiel der Wirtschaftspsychologie, bei der sich unterschiedliche Sichtweisen von Psychologen und Ökonomen kreuzen, zusammengefasst:

„ (1) problems in which psychology introduces variables not usually considered by economists;
(2) problems where both sciences consider the same variables, but disagree on their role in the solution to the problem;
(3) problems where both sciences consider the same variables, and agree on their role in the solution to the problem; and finally,
(4) problems not considered by psychologists, but relevant to the problem area (but usually dealt with by economists; Anm. d. Verf.).”

In der Diplomarbeit habe ich es mir zum Ziel gesetzt, ausgehend von einer breiten wissenschaftlichen Orientierung ein Modell über den Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen zu entwerfen, das relevante Teile einiger bisher bekannter Modelle implementiert und durch Hinzunehmen neuer Aspekte und Sichtweisen die Dynamik der dabei ablaufenden Prozesse in ihrer Gesamtheit erfasst und beschreibt.

1. Grundlagen der Massenpsychologie

„Die Wirtschaftswissenschaften haben gar nicht die Wirtschaft zum Gegenstand, sondern nur gewisse Aspekte der Wirtschaft. In Wahrheit reden und forschen sie nicht über die Wirtschaft, sondern nur über das, was sie an der Wirtschaft als ökonomische Aspekte für wichtig halten. Die Wirtschaft ist aber viel mehr. Vor allem umfasst sie eben auch den ganzen Menschen und nicht eine akademische Abstraktion, genannt Homo Oeconomicus. Und sie ist in eine Gesellschaft eingebettet, mit der sie untrennbar verbunden ist.“ (Malik in Faszination Bionik 2006, S. 83 f.) An dieser Fehlentwicklung lässt sich die besondere Bedeutung der Wirtschaftspsychologie erkennen, deren Entwicklung eng mit dem lange unterdrückten Interesse an der für lange Zeit in das Reich des Teufels verwiesenen Massenpsychologie verknüpft ist, die sich genau um diese Schnittstelle zwischen individuellen, gesellschaftlichen oder kulturellen Gegebenheiten und der „reinen“ Ökonomie annimmt. „Aufgabe der Wirtschaftspsychologie ist es, mit psychologischen Methoden und den Ergebnissen psychologischer Forschung auch die Rationalisierung industrieller und kaufmännischer Arbeits-, Anlern- und Absatzverfahren zu durchleuchten. Der praktische Betriebsleiter hat es im Arbeitssaal immer mit Massen von Menschen zu tun, ja mitunter muss er sich Gruppen von Arbeitern zusammenstellen, von denen er bestes und schnelles Zusammenspiel erhofft. Der Reklamefachmann wendet sich mitunter an Massen von Interessenten, wenn er die breite Öffentlichkeit beeinflussen will und seine Werbemittel im Strom des Verkehrslebens wirken lässt. Beide Praktiker des Wirtschaftslebens haben schon einen mehr oder weniger gesicherten Bestand von Erfahrungen, dessen Systematisierung, Sicherstellung und Bereicherung sich die praktische Wirtschaftspsychologie angelegen lassen sein sollte.“ (Moede 1920, S. IV) Aufgrund der allgegenwärtigen Präsenz von massenpsychologischen Phänomenen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hat sich die Wirtschaftspsychologie um diese Forschungsthema angenommen und versucht die Bedeutung der Rahmenbedingungen und Regeln, unter denen psychologische Massenreaktionen entstehen und ablaufen, für die drei genannten Bereiche näher zu beleuchten.

Die kontextuelle Verknüpfung zwischen Wirtschaftspsychologie und massenpsychologischen Phänomenen lässt sich sehr schön anhand einer Geschichte von Warren E. Buffet (geb. 30. August 1930), dem amerikanischen Investor und zweitreichsten Mann der Welt, illustrieren, die sich um gegenseitige Ansteckung mit Gewinn-Erwartungen unter Investoren dreht: „Ölquellen in der Hölle entdeckt! – Ein Öl-Developer hat das Zeitliche gesegnet, er klopft beim Himmelstor an und begehrt beim Heiligen Petrus Einlaß. Der sagt ihm‚ Du hast Dir einen Platz im Himmel wohl verdient, aber zur Zeit ist kein Platz frei in der Abteilung für Öl-Developer. Wir sind überbelegt, daher kann ich Dich vorläufig nicht einlas­sen, so leid mir das tut.’ Der Ölsucher denkt kurz nach und fragt den Heiligen Petrus dann: ‚Ich würde gern meinen Kollegen da drinnen vier Worte zurufen. Erlaubst Du das, Hl. Petrus?’ – Vier Worte, das klingt harmlos, denkt sich Petrus und erlaubt es ihm. Der Ölsucher formt die Hände zum Trichter und ruft hinein: ‚Ölquellen in der Hölle entdeckt!’ Augenblicklich kommt Bewe­gung in die Truppe. Die ersten marschieren schon beim Him­melstor hinaus und die anderen folgen auf dem Fuß. Ein langer Konvoi zieht an ihnen vorbei in Richtung Hölle. Staunend schaut der Hl. Petrus dem Auszug aus dem Himmel zu und sagt dann zu seinem wartenden Ölsucher: ‚So, jetzt kannst Du eintreten in den Himmel, jetzt ist Platz.’ Der schlaue Ölsucher überlegt sich’s und meint dann: ‚Ich schließe mich doch lieber meinen Kollegen an; wenn sie alle in die Hölle marschieren – wer weiß, vielleicht ist was dran an dem Gerücht?’“ (Pelzmann 2006, S. XXVI)

1.1 Determinanten/Faktoren der psychologischen Masse

Im Vergleich zu der unter der normalen Bedeutung des Wortes „Masse“ verstandenen Vereinigung irgendwelcher Individuen mit unterschiedlichsten Charakteristiken, wie Geschlecht, soziale und kulturelle Herkunft, und so weiter zu einem beliebigen Anlass, unterscheidet sich die unter ganz bestimmten Umständen entstandene psychologische Massenbewegung ganz wesentlich dadurch, dass diese Akkumulation von Menschen unter eben genannten Umständen ganz andere Eigenschaften zeigt, als jene der Individuen, die diese Ansammlung repräsentieren. „Die bewußte Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. … Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. (…) Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden.“ (Le Bon 1982, S. 10 ff.) Wie also zu erkennen ist, stellt die Gesamtheit der psychologischen Masse mehr als nur die bloße Summe ihrer Teile dar, woraus unmittelbar gefolgert werden kann, dass aus den Verhaltensweisen der isolierten Individuen nicht auf deren Handlungen im Kollektiv geschlossen werden kann. „Alle Gedanken und Gefühle (der Akteure in der psychologischen Masse; Anm. d. Verf.) sind nach der gleichen Richtung orientiert. Suggestion und Ansteckung sind die Ursachen der Vereinheitlichung.“ (Moede 1920, S. 13) Thomas C. Schelling (1978/2006, S. 14) schreibt im Kontext von sozialen Interaktionen in Kollektiven, in denen Menschen auf das Verhalten der anderen oder auf ihr Umfeld, zu dem die anderen gehören, reagieren: „These situations, in which people’s behavior or people’s choices depend on the behavior or the choices of other people, are the ones that usually don’t permit any simple summation or extrapolation to the aggregates.“ In Verbindung damit legt er auch die Verwendung von Modellen nahe (1978/2006, S. 182 ff.), durch deren Zuhilfenahme es erst möglich wird, die Gesamtheit sozialer Phänomene zu erfassen und zu analysieren, denn wie er mehrmals in seinem Werk anhand von Beispielen zeigt, führt die alleinige Auseinandersetzung mit den individuell begründeten Verhaltensweisen nicht zu angemessenen Erklärungen und Vorhersagen der interessierenden Prozesse im Kollektiv. Gleichzeitig betont Schelling aber auch, dass die Erklärung kollektiven Verhaltens nicht nur durch vereinfachte Modelle und deren Simulation für die verschiedensten Situationen zu finden sein wird, sondern sowohl diese modellorientierte als auch die separate kontextspezifische Auseinandersetzung mit jedem einzelnen dieser sozialen Phänomene im Detail notwendig sein wird, um diese in unterschiedlichsten Situationen sich manifestierenden Prozesse zu verstehen. „ … the success of analysis eventually depends as much on identifying what is peculiar to one of them as on the insight developed by studying what is common to them.“ (Schelling 1978/2006, S. 184)

Elias Canetti versucht in seinem 1959 erschienenen Werk „Masse und Macht“ (1959/2006, S. 14 ff.) die Massen bezüglich mehrer Kategorien einzuordnen, wobei er sie in einem ersten Schritt hinsichtlich Offenheit – offen vs. geschlossen –, Rhythmus – rhythmisch vs. stockend – sowie Geschwindigkeit – langsam vs. schnell – und Sichtbarkeit – sichtbar vs. unsichtbar – charakterisiert, während er sie in einem weiteren Schritt (1959/2006, S. 53 ff.) nach dem die Masse tragenden Affekt einzuteilen versucht, nämlich Hetzmassen, Fluchtmassen, Verbotsmassen, Umkehrungsmassen und Festmassen.

Einer der Begründer der Massenpsychologie, der französische Arzt Gustave Le Bon trifft im Vergleich dazu 1899 in „Psychologie der Massen“ (1899/1982, S. 114 ff.) eine wesentlich weniger stark differenzierende Unterteilung, der er im Unterschied zu den allen Massenbewegungen gemeinsamen allgemeinen Eigenschaften die speziellen Merkmale der Massen zu Grunde legt. Demzufolge ergibt sich eine Unterscheidung in ungleichartige, heterogene und gleichartige, homogene Massen, wobei er die ersteren in namenlose, beispielsweise Straßenansammlungen, und nicht namenlose, wie etwa Geschworenengerichte und Parlamente, unterteilt und zur zweiten Kategorie politische, religiöse und andere Sekten, Kasten, wie zum Beispiel militärische Priester- und Arbeiterkasten, und Klassen, namentlich Bürger, Bauern, Adelige und so weiter, zählt.

Auch in Sigmund Freuds 1921 verfassten Beitrag „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ zu diesem hochbrisanten Teilgebiet der Psychologie, in dem er sich hauptsächlich auf Le Bon als Quelle stützt, sich aber dann relativ rasch wieder in einem psychoanalytischen Standpunkt verliert, finden sich interessante Beiträge zur Morphologie der Massen. „Es gibt sehr flüchtige Massen und höchst dauerhafte; homogene, die aus gleichartigen Personen bestehen und nicht homogene; natürliche Massen und künstliche, die zu ihrem Zusammenhalt auch einen äußeren Zwang erfordern; primitive Massen und gegliederte, hochorganisierte.“ (Freud 1921/2005, S. 56) Besonderen Wert legt er aber auf die Unterscheidung in führerlose Massen und solche mit Anführer.

Obwohl es also eine Vielzahl an Konzepten zur Kategorisierung von Massenbewegungen gibt, ist eine entsprechende Zuordnung nicht immer einfach, weil es stark davon abhängt, welche Aspekte der Massenphänomene man beleuchten will. Intuitiv lässt sich jedoch aus den bisherigen Vorarbeiten ableiten, dass je nachdem wie Suggestion und Ansteckung in der Masse verankert sind und zu Gleichschaltung führen, diese entweder durch einen Anführer herbeigeführt werden kann, was häufig bei politischen und gesellschaftlichen Massenbewegungen der Fall ist, oder dass diese durch eine Initialzündung im Verlauf der Entstehung der Masse selbst generiert wird, sodass, wie es bei Massenbewegungen im wirtschaftlichen Kontext oft der Fall ist, eine führerlose Masse vorliegt. Auch Schelling (1978/2006, S. 27) schreibt, dass es sich bei ökonomischen Phänomenen viel mehr um einen großen und wichtigen Spezialfall handelt, als um ein generelles Modell für alle sozialen Phänomene im Bezug auf die hier stattfindenden Interaktionen zwischen den Individuen. Er stellt weiter fest (1978/2006, S. 36 ff.), dass es zwar einerseits kein universelles Modell gibt, das dem kollektiven Verhalten zu Grunde gelegt werden kann, was er anhand zahlreicher anschaulicher Beispiele, wie etwa der räumlichen Verteilung von Massen, der Adaption neuer Termini in die Sprache, der Ausbreitung von Informationen in Kommunikationsnetzwerken und so weiter, illustriert, dass es aber andererseits einige Mechanismen in Massenbewegungen gibt, wie etwa die kritische Masse, das Beschleunigungsprinzip, sich selbst erfüllende Erwartungen und andere, die über weite Bereiche der Massenphänomene hinweg immer wieder auftreten.

Eine weitere sich für mein späteres Vorhaben als sehr interessant erweisende Unterteilung von Massenphänomenen schlägt Constantin Malik vor, nämlich in „first and second order crowd phenomena, or, in more simple words, basic and advanced crowd phenomena“ (2006, S. 68), also eine Unterscheidung in offensichtlich wahrnehmbare Massenbewegungen wie politische Umstürze, Massenhysterien, Spekulationsblasen an Finanzmärkten und dergleichen, und in subtile, schleichende, nicht offensichtlich wahrnehmbare Massenphänomene, welche die Gesellschaft permanent beeinflussen und formen. Vergleichend kann man hier die Ausführungen von Le Bon (1899/1982, S. 38) zu den Ideen der Massen bemühen, die er ebenfalls in zwei Klassen einteilt, einerseits die zufälligen und flüchtigen, welche unter dem Einfluss des Augenblicks entstehen, und andererseits die dauerhaften Grundideen, politische und religiöse Glaubenssätze, soziales Erbe und so weiter, welche die Masse prägen. Zur Illustration schreibt er dann weiter: „Man kann sich die Grundideen als die Wassermasse eines langsam dahinströmenden Flusses, die flüchtigen Ideen als die kleinen, immer wechselnden Wellen vorstellen, die seine Oberfläche erregen und, obwohl ohne wirkliche Bedeutung, sichtbarer sind als der Flusslauf selbst.“ Von welcher zentralen Bedeutung diese Kategorisierung für mein Vorhaben ist, werde ich in Kapitel 3 ausführen.

Im Rahmen dieser Arbeit interessiere ich mich im Speziellen für die führerlosen Massen, die basierend auf psychologischen Hebelwirkungen getriggert durch ein initiales Ereignis zu gegenseitiger Ansteckung und dem Prinzip der Orientierung am Verhalten anderer führen und so psychologische Kettenreaktionen, wie sie häufig in der Wirtschaft, aber auch in der Politik und der Gesellschaft anzutreffen sind, entstehen lassen, die Schelling (1978/2006, S. 169) so beschreibt „ … what we have is people responding to an environment that consists of people who are responding to each other. As people respond they change the environment of the people they associate with, and cause further response. … The outcomes are described in aggregates … But the outcomes result from individual decisions.” Bei der massenpsychologischen Kettenreaktion kann also beobachtet werden, dass Menschen auf das Verhalten der anderen, durch das sie beeinflusst und angesteckt werden, reagieren, und so eine ganz bestimmte Aktivität zeigen, die wiederum anderen dasselbe Verhalten suggeriert.

Von welchem enormen Ausmaß an Bedeutung massenpsychologische Phänomene nicht nur für unsere Wirtschaft, sondern für unser ganzes Weltgeschehen sind, zeigt Thomas C. Schelling (1978/2006, S. 258 ff.) eindrucksvoll in der in seinem Werk „Micromotives and Macrobehavior“ enthaltenen Nobelpreislektüre zum Thema atomarer Waffen. „The non-proliferation effort, concerned with the development, production, and deployment of nuclear weapons has been more successful than most authorities can claim to have anticipated; the accumulating weight of the tradition against nuclear use I consider no less impressive and no less valuable. … The taboo … has become a powerful tradition of nearly universal recognition.” Es ist also auch denkbar, dass sich im Rahmen einer psychologischen Massenbewegung ein Tabu gegen eine bestimmte Handlungsweise aufbaut, das von allen Beteiligten unter allen Umständen eingehalten werden muss, sobald sich eine kritische Anzahl an Agenten darauf geeinigt hat, so wie hier beispielsweise auf jeglichen Gebrauch atomarer Waffen zu verzichten. Schelling argumentiert, dass sich eine allgemeine Konvention im Bezug auf den Einsatz atomarer Waffen etabliert hat, welche die Besitzer solcher Massenvernichtungswaffen von ihrem Gebrauch basierend auf einer damit einhergehenden nicht vorhersehbaren Eskalation abhält, und die den „Gewinn“, auch wenn er nicht nachgewiesen ist, ihres Besitzes in der damit einhergehenden erlangten Macht und dem gewonnenen Einfluss sieht. „Even terrorists may consider destroying large numbers of people as less satisfying than keeping a major nation at bay.“ (Schelling 1978/2006, S. 262)

Damit ist die breite Vielfalt an Möglichkeiten zu sehen, in denen sich massenpsychologische Reaktionen quer durch alle Bereiche der Gesellschaft und des Lebens manifestieren können.

Other-directedness – die Orientierung am Verhalten der anderen

Um das Verhalten in der durch psychologische Ansteckung entstandenen Masse besser verstehen zu können, wie also die eigenen Verhaltensweisen von der Wirkung der Handlungen der anderen beeinflusst wird und wie die eigene Handlung die anderen beeinflussen kann, muss festgestellt werden, dass es nicht nur Verhalten oder Auswahl der anderen sind, die ein Individuum beobachtet und wahrnimmt, sondern vielmehr auch die damit verbundenen Wirkungen sowie die Handlungskonsequenzen, an denen dann die eigenen Verhaltensweisen ausgerichtet werden. „What people actually ‚see and adapt to’ is sometimes not the number of choices one way or the other but the consequences.“ (Schelling 1978/2006, S. 215) Damit einhergehend können zwei weitere ganz wesentliche, nicht zu übersehende massenpsychologische Phänomene festgehalten werden, nämlich dass erstens der individuelle Wille in der psychologischen Masse ausgeschaltet ist, was ich im Kapitel 2 noch näher beschreiben werde, und zweitens sich die Beziehungen und Interaktionen der Menschen untereinander ganz dramatisch verändern.

David Riesman beschreibt diesen Wandel in „The Lonely Crowd“ (1952), einem der wohl bedeutendsten Werke in der Soziologie, wonach sich die Menschen im Rahmen der Veränderung von einer Produktionsgesellschaft hin zu einer Konsumgesellschaft von einer „tradition-direction“ (1952/2001, S. 9 ff.) und „inner-direction“ (1952/2001, S. 13 ff.), also einer Ausrichtung der Verhaltensweisen an Normen des Elternhauses, Autoritäten und Traditionen, wegentwickelt haben und zu „other-directed“ (1952/2001, S. 17 ff.) Personen wurden, die sich Zeit ihres Lebens an den Erwartungen und Verhaltensweisen der anderen orientieren.

Im Zusammenhang mit dieser other-directedness spricht Schelling in ähnlicher Weise von einem „contingent behavior“ (1978/2006, S. 17), bei dem das Verhalten von dem abhängt, was die anderen tun, „multi-person game theory“ und „interdependent decisions“ (1978/2006, S. 3 f.). „I define game theory as the study of how rational individuals make choices when the better choice among two possibilities, or the best choice among some several possibilities, depends on the choices that others will make or are making.“ (Schelling 1978/2006, S. 3)

Nach dem Anlassfall einer schweren Kopfverletzung bei einem Eishockeyspiel kommentierte ein Spieler in Newsweek (06.10.1969) die Stimmung und Meinungen vieler Eishockeyprofis zum Tragen von Helmen so: „It’s foolish not to wear a helmet. But I don’t – because the other guys don’t. I know that’s silly, but most of the players feel the same way. If the league made us do it, though, we’d all wear them and nobody would mind.” (in: Schelling 1973, S. 1) An diesem Beispiel zeigt sich eindrucksvoll, wie die Akteure in ihren Handlungen durch das Verhalten der anderen beeinflusst werden.

Riesman (1952/2001, S. xxiv) betont aber gleichzeitig, dass dieser Wandel von der Orientierung an Autoritäten und Traditionen hin zur Orientierung am Verhalten der Peer-Groups weniger mit Konformitätszwängen der Anpassung und Angleichung zu tun hat, als mit einer größeren Resonanz mit anderen Personen, also einerseits einem gesteigerten Selbstbewusstsein in den Beziehungen mit anderen und andererseits eine Ausweitung des Personenkreises, mit dem man sich verbunden fühlt.

„What is common to all the other-directed people is that their contemporaries are the source of direction for the individual – either those known to him or those with whom he is indirectly acquainted, through friends and through the mass media. This source is of course ‘internalized’ in the sense that dependence on it for guidance in life is implanted early. The goals toward which the other-directed person strives shift with that guidance: it is only the process of striving itself and the process of paying close attention to the signals from others that remain unaltered throughout life.” (Riesman 1952/2001, S. 21) Damit zeigt Riesman, dass sich zwar die Ziele, Wünsche und Erwartungen der Menschen im Laufe des Lebens ändern, nicht aber die Tatsache, dass erstens Menschen die Verhaltensweisen der anderen als wichtige Informationsquelle heranziehen und diese daher für die eigenen Handlungen richtungweisend sind, und zweitens die Menschen nach Höherem, Besserem, Imposanterem streben und kämpfen. Riesman weist aber auch darauf hin, dass erstens other-directedness für ein Individuum nicht auf das Verhalten in allen möglichen Situationen generalisiert werden kann (1952/2001, S. xl), was bedeutet, dass es ganz wesentlich von den Rahmenbedingungen im Umfeld abhängt, ob sich jemand an anderen Personen orientiert oder rationale Entscheidungen basierend auf Fakten und Daten trifft, und zweitens dass diese Situationsabhängigkeit von Kultur zu Kultur variiert (1952/2001, S. lxix f.), sodass other-directedness nicht immer kulturübergreifend wirksam wird. Das erklärt beispielsweise, warum die Massenreaktionen im asiatischen Raum bei Ausbruch der Vogelgrippe, wo Millionen von Menschen Mundschutzmasken trugen, die eine Ansteckung mit dem Krankheitserreger durch Tröpfcheninfektion verhindern sollten, nicht auf den westlichen Raum übergreifen konnten. Das Gesundheitsverständnis zwischen den Kulturen, einerseits die asiatische Vorstellung des Schutzes durch Atemschutzmasken und andererseits das impfungs- und medikamentenorientierte Denken in der westlichen industrialisierten Welt, differierte zu stark voneinander, sodass die Rahmenbedingungen keine Etablierung des Tragens von Mundschutzmasken unter der westlichen Population zuließen.

Emulation

Durch die other-directedness der Akteure entsteht nämlich im Kampf um Prestige, Ansehen und Erfolg ein „psychologischer Wettbewerb“, in dem einer den anderen outperformen will. Wettstreit ist ein Prinzip der Natur, bei dem im Kampf um das Überleben und die Fortpflanzung die erfolgreichen Organismen selektiert und die unterlegenen aussortiert werden. Beispielsweise erringen in der Balz die ästhetischsten und kräftigsten Männchen einer Art die Gunst der Weibchen, ein Pfau durch sein imposantes Rad, ein Löwe durch den in die Flucht geschlagenen Kontrahenten und so weiter. Um dem Gegner also einen Schritt voraus zu sein und ihn übertrumpfen zu können, muss die gesetzte Handlung oder die gezeigte Verhaltensweise eine Wirkung bei den anderen erzielen. „In any community where such an invidious comparison of persons is habitually made, visible success becomes an end sought for its own utility as a basis of esteem. Esteem is gained and dispraise is avoided by putting one’s efficiency in evidence.” (Veblen 1899/2002, S. 9) Genau an diesem Punkt setzen die psychologischen Hebel im Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen in der Wirtschaft an, die zweierlei Aufgaben erfüllen müssen. Einerseits müssen sie es schaffen, die Individuen anzustecken und die Massen zu synchronisieren, damit alle ein bestimmtes Produkt kaufen oder eine bestimmte Investition tätigen, und andererseits müssen sie es bewerkstelligen, dass sie dem Individuum vermitteln, durch das Produkt oder die getätigte Investition etwas Besonderes zu sein oder erreicht zu haben, sodass ein entscheidender Vorteil im entfachten psychologischen Wettstreit erzielt wurde. Neben der zu erzielenden Wirkung ist ein weiteres Charakteristikum des psychologischen Wettbewerbs, dass nicht mehr Kraft und Ästhetik die Waffen im Kampf um Prestige, Aufmerksamkeit und Ansehen sind, sondern andere Komponenten, nämlich durch finanzielle Mittel erkaufte „Prothesen“ und Trophäen, namentlich der neueste Ferrari, das Kunstwerk eines angesehenen Künstlers, das Designerkleid einer Ikone, und so weiter, zum Einsatz kommen. „The canon of reputability is at hand and seizes upon such innovations as are, according to its standard, fit to survive. Since the consumption of these more excellent goods is an evidence of wealth, it becomes honorific; and conversely, the failure to consume in due quantity and quality becomes a mark of inferiority and demerit.” (Veblen 1899/2002, S. 42) Damit wird aufgezeigt, dass es weniger der mit dem Erwerb solcher Trophäen verbundene Komfort und das Wohlbefinden des einzelnen sind, die für den Kauf den Ausschlag geben, als vielmehr die Wirkung die damit gegenüber den anderen erzielt wird, nämlich zu zeigen, dass man Erfolg hat und den anderen keinesfalls unterlegen ist.

Dieser Geltungskonsum (Veblen 1899/2002, S. 39) kann in der heutigen Gesellschaft im Gegensatz zu früheren Zeiten, wo er nur den wohlhabenden Schichten der Bevölkerung vorbehalten war, von jedem benützt werden, um den anderen zu übertrumpfen. Denn selbst wer nicht über die nötigen eigenen Geldmittel verfügt kann sich diese bei der Bank in Form eines Kredits ausborgen, eventuell noch durch am Aktienmarkt suggerierte Gewinne zu vermehren versuchen, und so seine finanzielle Potenz vortäuschen. Das ganze Unterfangen kann aber auch schief gehen und für den Einzelnen im Desaster enden, aber es ist nun einmal nicht die wahre Realität, die im psychologischen Wettstreit zählt, sondern es sind nur die beobachtbaren Taten und Effekte, egal mit welchen Mitteln sie erzwungen wurden. Es ist also nicht das Verhalten selbst der Kern der Beobachtung, sondern vielmehr das Ergebnis, das durch die gesetzte Handlung erzielt wurde und das in weiterer Folge eine Wirkung auf die anderen ausübt. Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass wir einfach die Realität jener Welt akzeptieren und annehmen, die uns von den anderen dargeboten wird, auch wenn sie nur auf einem Gerüst von Wünschen, Illusionen und scheinbaren Wahrheiten aufgebaut ist.

Irrationale Übertreibungen in psychologischen Massenbewegungen

Ganz eindeutig kann vorab festgehalten werden, dass die Individualität in der psychologisch gleichgeschalteten Massenbewegung abgeschaltet ist. Somit stellt sich die Frage, wenn gegenseitige Ansteckung und Suggestion zu den Gesetzmäßigkeiten in psychologischen Massenbewegungen gehören, wie sich diese auf das Verhalten im Kollektiv auswirken. Wir gelangen zu der Erkenntnis, dass es zu irrationalen Übertreibungen im Kollektiv kommt, weil die Agenten in der psychologisch gleichgeschalteten Masse mit einer ökologischen Rationalität handeln. Was darunter genau zu verstehen ist, werde ich an späterer Stelle erläutern. Susan Barretta (01/2007) charakterisiert solche irrationalen Übertreibungen des Kollektivs am Finanzmarkt in ihrer Analyse über die Entwicklung vom Boom zur Manie wie folgt: „Investment rules get rewritten. Proven measures of value and risk are cast aside. We experience cognitive dissonance, and rationalize away awkward financial truths. The rationalizations come dressed up in ‘new’ economic models, which justify asset prices and forecast trends. … warnings are criticized. Few act on them. … There is intense social pressure to conform to the crowd. If you try to persuade speculators of the dangers, you may be accused of trying to profit from their potential misfortunes.” In der psychologisch angesteckten Masse tritt gegenüber Abtrünnigen genau derselbe Mechanismus in Kraft, der in kohäsive Gruppen gegenüber „dissenters“ wirksam wird.

Dass es sich bei psychologischen Massenreaktionen nicht um irrationales Verhalten handelt, sondern die dynamischen Verhaltensweisen unter bestimmten Rahmenbedingungen durch Regeln vorhergesagt werden können, und die Agenten in der durch psychologische Ansteckung entstandenen Masse mit einer situationsbezogenen Rationalität handeln, werde ich an späterer Stelle detailliert betrachten. Für die weiteren Überlegungen in diesem Kapitel wollen wir diese Erkenntnisse als gegeben voraussetzen, was uns zu der Frage führt, wie Menschen auf andere reagieren und weiter, wie aus diesen gezeigten Verhaltensweisen die irrationalen Übertreibungen in massenpsychologischen Kettenreaktionen zustande kommen. Schelling (1978/2006, S. 14) schreibt dazu: „To make that connection we usually have to look at the system of interaction between individuals and their environment, that is, between individuals and other individuals or between individuals and the collectivity.“ Wegen der nahezu unermesslichen Komplexität der menschlichen Verhaltensweisen bedarf es einer systematischen Vorgehensweise, um das Verhalten im Rahmen psychologischer Massenbewegungen zu verstehen. „If we see pattern and order and regularity, we should … inquire first of all what it is that the individuals who comprise the system seem to be doing and how it is that their actions, in the large, produce the patterns we see. Then we can try to evaluate whether, at least according to what the individuals are trying to do, the resulting pattern is in some way responsive to their intentions.” (Schelling 1978/2006, S. 22) Schelling zeigt damit auf, dass der Zusammenhang zwischen den beobachteten Massenreaktionen und den dahinter stehenden Verhaltensweisen nichts mit den ursprünglichen Absichten zu tun hat.

Dass die Handlungen anderer Agenten Informationen über den Zustand des Umfelds, den „state of nature“ wie ihn Chritophe P. Chamley in Rational Herds (2004) nennt, in sich tragen, illustriert dieser (2004, S. 2) anhand folgenden Beispiels aus dem Alltagsleben: „When I see other people going out with an umbrella, I take an umbrella along without checking the weather forecast. … I can then infer their private information from their action without the need to talk to them.“ Die Beobachtungen der von anderen gesetzten Handlungen und deren Wirkungen dienen den Agenten als Informationsquelle, auf deren Grundlage sie sich in ihren Verhaltensweisen an den anderen orientieren. Dieses Phänomen werde ich später in meiner Arbeit im Zusammenhang mit den Begrifflichkeiten der other-directedness und ökologischen Rationalität, also dem Setzen von im Kontext der Situation als vernünftig erscheinenden Handlungen basierend auf Informationen aus den Verhaltensweisen der anderen, sowie bei der mathematischen Auseinandersetzung mit den Prozessen in psychologischen Massenbewegungen näher untersuchen.

Wenn wir uns vorstellen, dass in einem Vortrag vor versammeltem Auditorium der Redner eine kurze Gedankenpause einlegt und ein ausreichend großer Teil der Zuhörer zu klatschen beginnt, so werden auch fast alle anderen Anwesenden zu klatschen beginnen, womit die Orientierung der Akteure am Verhalten der anderen auf ganz einfache Art und Weise illustriert ist. „People are responding to an environment that consists of other people responding to their environment, which consists of people responding to an environment of people’s responses. Sometimes the dynamics are sequential … Sometimes the dynamics are reciprocal.” (Schelling 2006, S. 14)

Chamley betont in seinem Beispiel (2004 S. 2) jedoch: „There is, however, the possibility that everyone carries an umbrella because someone carries an umbrella (for example he is just taking a defect umbrella back to the shop; Anm. d. Verf.). The herd may be wrong.“ Die Dynamik der psychologischen Massenreaktion beinhaltet Kettenreaktionen, übertriebene Erwartungen, Spekulationen über die Zukunft und so weiter, die sich entweder als richtig oder falsch erweisen können. Dass bei solchen Prozessen immer die Möglichkeit des Irrtums beinhaltet ist, liegt darin begründet, dass die auf Beobachtung der anderen basierende Handlungen in der psychologisch angesteckten Masse nicht mit auf Fakten beruhender rationaler Logik gleichzusetzen ist. „’Aus Erfahrung lernen’ ist ja nicht primär ein Prozess des vernünftigen Schlussfolgerns, sondern der Beachtung, Verbreitung, Übermittlung und Entwicklung von Praktiken, die sich durchgesetzt haben. Oft nicht einmal, weil sie dem handelnden Individuum einen erkennbaren Vorteil verschaffen, sondern weil sie die Chancen der Gruppe erhöhten.“(Pelzmann 2002, S. 188 f.) Nun stellt sich also die Frage, welche Informationen denn dem anderen, beobachteten Individuum vorliegen, wobei es hier nicht von Bedeutung ist, ob diese den realen Tatsachen wirklich entsprechen. In durch psychologische Ansteckung entstandenen Massenbewegungen ist vielmehr meistens das Gegenteil der Fall.

1.2 Modelle gegenseitiger Ansteckung

Es ist also wichtig festzuhalten, dass das Prinzip der Entwicklung psychologischer Massenbewegungen auf der Gleichschaltung der Agenten durch gegenseitige soziale Ansteckung basiert. „Defined broadly as the transmission of an influence (direct or indirect; Anm. d. Verf.) from one individual to another, the concept of contagion occupies an important place both in biology - specifically in mathematical epidemiology (transmission of infectious diseases; Anm. d. Verf.) – and in the social sciences, where it is manifested in problems as diverse as the diffusion of innovations, the spread of cultural fads, and the outbreak of political or social unrest.“ (Dodds and Watts 2004, S. 218701-1) Aus dieser Feststellung und den bereits zuvor angestellten Überlegungen zu politischen, sozialen und ökonomischen Massen kann abgeleitet werden, dass es offensichtlich einer Differenzierung zwischen und innerhalb biologischer und sozialer Ansteckungsphänomene bedarf, da sich die in den unterschiedlichen Modellen zum Tragen kommenden Prinzipien der Ansteckung wesentlich voneinander unterscheiden. Tatsächlich ordnen Dodds und Watts die breite Palette sozialer und biologischer Ansteckungsphänomene in zwei Hauptkategorien von Modellen ein, die sie anhand des Kriteriums der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen aufeinander folgenden Kontakten mit dem initialen Erreger unterscheiden. „These categories can be explained in terms of the interdependencies between successive contacts: that is, the extent to which the effect of an exposure to a contagious agent is determined by the presence or absence of previous exposures.“ (Dodds and Watts, 2005) Es ergeben sich also folgende zwei Modellkategorien charakterisiert durch den Zusammenhang zwischen hintereinander stattfindenden direkten oder indirekten Aussetzungen eines anfälligen, noch nicht angesteckten Akteurs gegenüber anderen bereits angesteckten Teilnehmern: „(i) independent interaction models, in which successive contacts result in contagion with independent probability p; and (ii) threshold models, in which the probability of infection changes rapidly from low to high as a critical number of simultaneous exposures is exceeded.“ (Dodds and Watts 2004, S. 218701-1) Es ist also zu erkennen, dass in ersterem Modell die Ansteckung des Individuums unabhängig von vorhergehenden Ereignissen und mit gleichbleibender Wahrscheinlichkeit stattfindet, während im Schwellenwert-Modell die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung am individuellen Schwellenwert von niedrig auf hoch umspringt und damit ganz wesentlich von vorausgegangenen Kontakten abhängt, was zur Folge hat, dass die suggerierte Handlung als Reaktion auf das Verhalten der anderen gezeigt wird.

Als Beispiele für das „independent interaction model“ führen Dodds und Watts

(1) alle mathematischen Modelle über die Ausbreitung infektiöser Krankheiten und Epidemien, wie etwa das SIR Modell (susceptible–infected–removed) von Kermack und McKendrick (1927) als kanonisches Modell der biologischen Ansteckung,

(2) und einige Modelle der sozialen Ansteckung,
- das BASS Modell (Bass 1969) zur Beschreibung des Produktwachstums neuer langlebiger Konsumgüter basierend auf dem Zusammenhang zwischen Zeitpunkt des erstmaligen Kaufs durch einen Agenten und Anzahl bisheriger Käufer des Produkts,
- ein aus der epidemischen Theorie abgeleitetes, generalisiertes Modell über die Ausbreitung von Ideen von Goffman und Newill (1964),
- und ein Modell von Daley und Kendall (1965), das Parallelen zwischen der Ausbreitung von Gerüchten und Epidemien basierend auf dem Prinzip der „diffusion of arbitrary constants“ herausarbeitet an.

Unter das „threshold model“ ordnen Dodds und Watts den Großteil aller Modelle über soziale Ansteckung in Ökonomie, Politik und Soziologie ein, wo Akteure teilweise oder vollkommen am Verhalten anderer sich orientierend Handlungsalternativen folgen. Sie unterscheiden zwischen

(1) deterministischen Modellen, wie etwa
- die Untersuchungen von Schelling (1973) über binäre Auswahlprozesse bei „externalities“ – „An ‘externality’ is present when you care about my choice or my choice affects yours. You may not care but need to know – whether to pass on left or right when we meet. You may not need to know but care – you will drive whether or not I drive, but prefer that I keep off the road. You may both care and need to know. (If one doesn’t care nor need to know, there is no externality as far as the two of them are concerned; Anm. d. Verf.)” (Schelling 1973, S. 381) Unter diesen „externalities” ist also so etwas ähnliches wie ein Grundinteresse eines Individuums am Verhalten oder den Handlungen der anderen zu verstehen. – ,
- die Theorien zu kollektivem Verhalten basierend auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung der beiden möglichen Handlungsalternativen von Granovetter (1978),
- und das einfache Modell der globalen Kaskaden in willkürlichen Netzwerken von Watts (2002) – „The origin of large but rare cascades that are triggered by small initial shocks is a phenomenon that manifests itself as diversely as cultural fads, collective action, the diffusion of norms and innovations, and cascading failures in infrastructure and organizational networks. This paper presents a possible explanation of this phenomenon in terms of a sparse, random network of interacting agents whose decisions are determined by the actions of their neighbors according to a simple threshold rule.“ (Watts 2002, S. 5766) – ,

(2) und stochastischen Modellansätzen, wie
- die Theorie der Ausbreitung von kulturellen Modeerscheinungen basierend auf informatorischem Massenverhalten von Bikhchandani et al. (1992) ,
- das einfache Modell von Massenbewegungen mit der Orientierung am Verhalten anderer als situationsbezogene rationale Verhaltensweise von Banerjee (1992),
- und die Überlegungen zur Ansteckung in willkürlichen lokalen Netzwerken basierend auf einförmigen, einheitlichen Interaktionen von Morris (2000).

Das Dodds-/Watts-Modell gegenseitiger Ansteckung

Dodds und Watts kritisieren jedoch an allen eben genannten Modellen, dass sie die gegenseitigen Abhängigkeiten von sich wiederholenden Kontakten der für die Ansteckung anfälligen Akteure mit dem initialen Erreger oder den bei bereits angesteckten Teilnehmern beobachteten Verhaltensweisen entweder als existent (threshold-model) oder nicht vorhanden (independent interaction model) betrachten, allerdings die mit ihnen verbundene Wirkung auf die Individuen nicht zum Gegenstand der Untersuchung des Modells machen und keine Variabilität im Bezug auf die Mitmodellierung dieser Komponente im System vorsehen. Daher haben sie in ihrem „allgemeinen Modell der gegenseitigen Ansteckung“ die Funktionskomponente „Gedächtnis“ als eine Art Speicher eingeführt, sodass nicht nur die aktuelle Wirkung durch die ansteckende Beeinflussung berücksichtigt ist, sondern auch der Abhängigkeit der Reaktion der Akteure von vorausgegangenen Kontakten mit ansteckenden Einflüssen Rechnung getragen wird. Dieses Modell verbindet die beiden anfangs eingeführten klassifizierenden Kategorien für Ansteckungsmodelle miteinander und gilt daher als universell anwendbar, sodass es möglich wird, auch zwischen den beiden Ansätzen liegende Modelle zu charakterisieren. Bei ihren Analysen und Auswertungen kommen Dodds und Watts zu der Erkenntnis, dass es drei universelle Klassen von Verhaltensweisen im Rahmen des „Generalized Model of Contagion“gibt, in die alle Systeme sozialer und biologischer Ansteckung eingeordnet werden können:

(1) epidemic threshold model (class I): „the dynamics in class I is qualitatively equivalent to that of SIR-type models in which pc, sometimes called the epidemic threshold, determines the critical value of the infectiousness p required in order for an initial seed of infectives to trigger an epidemic.” (Dodds and Watts 2004, S. 218701-2) In diesem Modell ist ein initialer Erreger basierend darauf, ob die Wahrscheinlichkeit, durch einen Kontakt mit einem bereits angesteckten Teilnehmer dem Einfluss des Erregers ausgesetzt zu sein, den kritischen Wert der Epidemieschwelle pc überschreitet entweder nicht suffizient und es kommt zu keinem Massenphänomen, oder es kommt zur Ausbildung einer Massenansteckung unter einem bestimmten Bruchteil der Bevölkerung in Abhängigkeit davon, um wie viel die Epidemieschwelle überschritten wird. Der Schwellenwert bezieht sich also nicht auf die Anzahl der angesteckten Personen, sondern auf die Wahrscheinlichkeit der Übertragung des initialen Erregers im Kontakt mit anderen. Die folgende Grafik (Quelle: Dodds and Watts [A general model of social and biological contagion] S. 591) zeigt die Anzahl der angesteckten Personen Φ* in Abhängigkeit von der Wahrscheinlichkeit einer positiven Übertragung des ansteckenden Einflusses im Kontakt mit einem anderen, bereits angesteckten Akteuren p unter Gleichgewichtsbedingungen bei einer Epidemischwelle pc =⅓:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Für drei Anfangsbedingungen, die jeweils durch die Anzahl angesteckter initiierender Teilnehmer in der Gesamtpopulation Φ(0) sowie die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung des initiierenden Erregers p(0) durch einen bereits angesteckten Akteur bestimmt sind, ist der Verlauf der Ansteckung gemäß dem Modell dargestellt. Links im Diagramm beginnend führt die erste Ausgangsposition für Φ(0) und p(0) zum „Aussterben“ der initiierenden Teilnehmer, während es bei den zweiten Anfangsbedingungen zwar zu einer Ansteckung einer festen Anzahl von Personen in der Population kommt, die jedoch niedriger als die Anzahl der anfänglich angesteckten Akteure ist. Nur unter den dritten Anfangsbedingungen kommt es zu einer massenpsychologischen Kettenreaktion, bei der ausgehend von einer kleinen Anzahl initiierender Agenten, die eine sehr viel höher als die Epidemieschwelle liegende Wahrscheinlichkeit der positiven Übertragung des initialen Erregers etabliert haben, ein Großteil der Personen der Gesamtpopulation angesteckt wird.

(2) pure critical mass model (class III): „according to which a finite fraction of the population can only ever be infected in equilibrium if the initial outbreak size itself constitutes a finite critical mass.” (Dodds and Watts 2005, S. 590). Weil die theoretische Epidemieschwelle pc größer als 1 ist und die Wahrscheinlichkeit der gegenseitigen Ansteckung durch einen bereits angesteckten Agenten auf 0≤p≤1 beschränkt ist, muss eine bestimmte Anzahl an Personen anfänglich angesteckt werden, damit ein Massenphänomen entstehen kann. Nur in Abhängigkeit davon, ob die kritische Masse an angesteckten Personen erreicht wird oder nicht, entwickelt sich also eine Massenansteckung innerhalb der Population oder die Ansammlung der primär angesteckten Teilnehmer löst sich wieder auf beziehungsweise stirbt aus. Das unten dargestellte Diagramm (Quelle: Dodds and Watts [A general model of social and biological contagion] S. 592) zeigt wiederum die Anzahl angesteckter Personen Φ* im Gleichgewichtszustand in Abhängigkeit von der Übertragungswahrscheinlichkeit des ansteckenden Einflusses. Wie an den drei eingezeichneten Anfangsbedingungen zu sehen ist, muss eine bestimmte Anzahl, namentlich die kritische Masse an angesteckten Agenten erreicht oder überschritten werden, damit es zur Entstehung einer psychologischen Massenbewegung kommt. Dabei variiert die notwendige kritische Masse entlang der unteren gestrichelten Linie in Abhängigkeit der anfänglich unter den initiierenden Akteuren vorhandenen Wahrscheinlichkeit p(0) der Übertragung einer Dosis des initialen Erregers.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(3) vanishing critical mass model (class II): Hierbei handelt es sich um ein Zwischenmodell, das die Dynamiken der ersten beiden genannten Modelle vereint, sodass einerseits die kritische Masse an angesteckten Personen und andererseits auch der Schwellenwert der Wahrscheinlichkeit der Übertragung des Einflusses des initialen Erregers durch einen bereits angesteckten Teilnehmer, namentlich pc, zum Kriterium werden. „Thus, infections in class II require a ‘critical mass’ to succeed. Because the size of this critical mass decreases to zero for p<1, we call this class of models vanishing critical mass models, where we note that the sensitivity to initial conditions implicit in critical mass dynamics is absent entirely from models in class I.” (Dodds and Watts 2004, S. 218701-3). Kann die Wahrscheinlichkeit der Übertragung des initialen Erregers die epidemische Schwelle überschreiten, so verhält sich das System nach den Prinzipien des epidemic threshold model, liegt sie unterhalb von pc gelten die Regeln des pure critical mass models.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Dodds and Watts [Universal Behavior in a Generalized Model of Contagion] S. 218701-3

Die obige Abbildung zeigt die Anzahl angesteckter Personen Φ* im Gleichgewichtszustand in Abhängigkeit der Übertragungswahrscheinlichkeit des ansteckenden Einflusses p für alle drei universellen Klassen sozialer und biologischer Ansteckung im Vergleich, wobei Abbildung (b) das „vanishing critical mass model“ zeigt. „In the class II example of (b), trajectories of two initial conditions are indicated by arrows. For p=0.445 and Φ(0)=0.174, the contagion fails to persist, while for the same p and a slightly higher initial level of infection, Φ(0)=0.175, the contagion is sustained with 90% of individuals eventually infected.” (Dodds and Watts 2004, S. 218701-3) Dieses Beispiel zeigt den Fall, dass die Übertragungswahrscheinlichkeit der Ansteckung p unter der Epidemieschwelle pc (≈0.7) liegt, und daher das Erreichen der kritischen Masse an angesteckten Teilnehmern darüber entscheidet, ob es zu einem Massenphänomen kommt oder nicht. Das bedeutet es liegt die Dynamik eines „pure critical mass model“ vor. Würde die Ansteckungswahrscheinlichkeit mit p=0.8 über der Epidemieschwelle liegen, würde jede infinitesimal kleine anfänglich angesteckte Gruppe zu einer Ansteckung von nahezu 100% der Akteure führen, sodass sich das System wie ein „epidemic threshold model“ verhält. In Abhängigkeit der Rahmenbedingungen und Anfangsparameter wird also die Dynamik des „vanishing critical mass model“ bestimmt.

Die Existenz der drei von Dodds und Watts gezeigten universalen Klassen von Modellen der gegenseitigen Ansteckung in sozialer und biologischer Hinsicht hat nachhaltigen Einfluss auf die kollektive Dynamik in psychologischen Massen.

1.3 Entstehung massenpsychologischer Phänomene

Bei der Entwicklung einer psychologischen Massenbewegung zeigt sich, dass, je mehr Agenten sich anstecken lassen, die dem eigenen Verhalten zugrunde gelegte Basis immer weniger von der eigenen Meinung abhängt, sondern es zu einer Schwarmbildung kommt, bei der die neuen Agenten ohne Evaluation der eignen Meinung das bei den in der Masse agierenden Menschen beobachtete Verhalten übernehmen, wobei sie die aus der Beobachtung der Handlungen und deren Konsequenzen bei anderen erlangten Informationen zur Risikoevaluation heranziehen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass sich die neu hinzukommenden Agenten die allgemeine Meinung der anderen zu Eigen machen.

„A herd is defined as a situation in which all agents take the same action after some date (even if they have an inconsistent, contradictory private signal; Anm. d. Verf.). If all agents turn out to take the same action after some date T, there is still the possibility that an agent has a private signal that induces him to take a different action after date T.” (Smith and Sorensen in Chamley 2004, S. 5). Das bedeutet also, dass es trotz der Tatsache, dass ein Individuum mit widersprüchlichen privaten Informationen über den Zustand des Umfelds dieselbe Handlung wie die anderen Agenten setzt, an denen es sich orientiert, einen Informationszuwachs im Bezug auf das von allen gezeigte Verhalten im System gibt, sodass ein langsamer sozialer Lernprozess auch in einer gleichgeschalteten Akkumulation von Menschen stattfindet. Als Standardmodelle des Lernens am Verhalten andere Agenten beziehungsweise an den damit verbundenen Handlungskonsequenzen präsentiert Chamley (2004, S. 62 ff.) zwei stochastische Modelle der gegenseitigen Ansteckung, nämlich jenes von Bikhchandani, Hirschleifer & Welch (1992) sowie ein einfaches Modell des Massenverhaltens von Banerjee (1992).

Wie zu sehen war, trägt das Verhalten anderer Agenten Repräsentationen über den Zustand des Umfelds in sich und ist damit direkt verbunden ein suffizienter Kommunikator von Informationen an die anderen Akteure. Die Tatsache, dass diese Informationen nicht ausschließlich verbal zwischen ihnen kommuniziert werden, sondern wie bereits zuvor angedeutet auf verschiedenen Kommunikationskanälen übertragen werden, begründet Chamley (2004, S.42) durch mehrere Argumente: „People may not be able to express their information well. They may not speak the same language. They may even try to deceive us.” Daher ist es in einem sozial unsicheren Umfeld wesentlich effizienter sich auf die aus den Beobachtungen des Verhaltens der anderer Teilnehmer erlangten Informationen zu stützen sowie auf den Informationsgehalt aus den damit verbundenen, observierten Handlungskonsequenzen. „Other people know something about it, and their knowledge affects their behavior, which, we can trust, will be self-serving. By looking at their behavior, we will infer something about what they know.” (Chamley 2004, S. 42) Dabei könnte man nun einwenden, dass uns ja bewusst sein müsste, dass wir dabei nur auf Handlungen von anderen reagieren, die ihrerseits wiederum nur Reaktionen auf Verhaltensweisen von anderen Teilnehmern waren, und wir uns dadurch in unserer Wahl irren könnten, so wie das anhand des Beispiels mit dem Regenschirm gezeigt wurde. Dazu möchte ich folgendes Gedankenexperiment konstruieren: Angenommen wir kommen in eine neue Stadt in der es mehrere Restaurants gibt, über die wir nichts anderes wissen, als dass sie alle die gleichen Speisekarten und Preise haben. Wenn wir nun für das Abendessen ein Restaurant aussuchen müssten, so würden wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einfach jenes auswählen, in dem die meisten Kunden sitzen, weil wir davon ausgehen, dass die Gäste im Restaurant entsprechende Informationen, egal auf welche Art und Weise erlangt, darüber haben, dass man hier das beste Essen der Stadt bekommt. Dabei ist zu sehen, dass Menschen vor allem in neuen Situationen, in denen sie keine Erfahrungen haben, für die ihnen keine Fakten vorliegen (no-data-situations) oder in denen sie sich in einer besonderen affektiven Erregung (Euphorie) befinden, dazu neigen, sich am Verhalten anderer Personen zu orientieren, anstatt sich auf andere Informationen zu verlassen, weil ihnen diese Vorgansweise im Kontext der momentanen Situation als effizienter und sicherer erscheint.

Grundsätzlich hat jedes Individuum zu jeder Zeit die Möglichkeit, basierend auf seiner Meinung über die Bedingungen im Umfeld, entweder erlangt durch die direkte Beobachtung von Variablen in der Umgebung oder durch die Observation des Verhaltens anderer Agenten beziehungsweise der damit verbundenen Wirkung, eine entsprechende Handlung zu setzen. „This setting induces a waiting game, in which the more optimistic agents go first. … A large number means that the number of optimists is large. Because private beliefs are statistically correct, the large number is a signal that the state of nature is good, and agents who were initially reluctant join the fray. A bang may take place.” Diese Ausführungen von Chamley (2004, S. 6) beschreiben jenen Prozess, den ich später als die Initiationsphase bei der Entwicklung einer massenpsychologischen Kettenreaktion identifizieren werde, bei dem die initiierenden Agenten beeinflusst durch verschiedene Faktoren im Umfeld die Handlung als erste setzen. Genauso gut ist aber auch das gegenteilige Szenario in obiger Darstellung denkbar, dass die Anzahl der optimistischen Agenten in der initialen Phase klein ist beziehungsweise die von ihnen erzielte Wirkung nicht ausreichend ist, wodurch der Prozess unwiderruflich zum Erliegen kommt. Die soziale Kooperation und Koordination in einer Masse beschreibt Chamley (2004, S. 8) anhand des in der Übersetzung (1994) von Jean-Jacques Rousseaus Werk „Le Contrat Social“ (1762) angeführten Beispiels einer Treibjagd: „a hunter has a higher individual payoff if he participates in a stag hunt than if he goes on his own chasing a hare. However, the success of the stag hunt depends on the participation of all. There are two equilibria in this game with strategic complementarity: either all hunters participate in the stag hunt or none do.” Wie also zu sehen ist, hängt der „payoff” – der eigene Erfolg, Nutzen, Vorteil und dergleichen – einer bestimmten Verhaltensweise für jeden Akteur einzeln betrachtet nicht zuletzt davon ab, wie viele andere Teilnehmer ebenfalls das gleiche Verhalten zeigen und welche Konsequenz diese Handlung hat. Nur wenn beispielsweise genügend Anleger zum richtigen Zeitpunkt gemeinsam in eine Gewinn versprechende Aktie investieren, wird auch der Kurs des Wertpapiers entsprechend steigen und es werden sich die antizipierten Profite einstellen. Die Situation der Treibjagd ist also auch beim Entwicklungsprozess einer massenpsychologischen Kettenreaktion wieder zu finden, bei der die Agenten zwischen zwei möglichen Handlungsalternativen auswählen müssen, nämlich entweder ob sie die suggerierte Handlung setzen, oder die gegenteilige Verhaltensweise zeigen. Wie die Individuen nun zwischen den beiden möglichen Gleichgewichtsreaktionen im Bezug auf den äußeren Anreiz wählen, hängt je nach Fortschritt des Entwicklungsprozesses von unterschiedlichen Faktoren ab. In der Initiierungsphase können sich die Agenten nicht am Verhalten anderer orientieren, sodass sie das Risiko anhand der gegebenen Rahmenbedingungen und den eigenen Wünschen und Erwartungen evaluieren müssen. „A process of contagion takes place, which solves the decision problem for all agents.” (Chamley 2004, S.8)

Es kommt also im Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen zu einem stufenförmigen Übergang von der Ausrichtung des eigenen Verhaltens am Umfeld sowie den eigenen Wünschen und Erwartungen hin zu einer Handlungsauswahl, die nur am Verhalten und den dabei entstehenden Konsequenzen von anderen Akteuren ausgerichtet ist. „Von Runde zu Runde verschiebt sich der Vorrang, bis bei einer kritischen Masse von Marktteilnehmern nicht mehr Entscheidungen Vorrang haben, sondern Reaktionen (auf das Verhalten der anderen Menschen in dieser Situation; Anm. d. Verf.) Durch die Verschiebung der Entscheidungen zu Reaktionen ändert sich die Logik der Situation.“ (Pelzmann 2002, S. 189) In diesem hauptsächlich durch die euphorische Stimmung im Umfeld angetriebenen Selbstverstärkungsprozess wird schlussendlich das Risiko nur mehr an den Handlungskonsequenzen bei anderen Agenten evaluiert, sodass sich auch Personen mit eigentlich hoher Risikoerwartung im Bezug auf die zu setzende Verhaltensweise durch die anderen zum Vollzug der Handlung anstecken lassen.

Wichtig ist es festzuhalten, dass die eigenen Wünsche und Erwartungen im Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen mehrere Funktionen haben. Schelling (1978/2006, S. 24) schreibt dazu im Bezug auf Situationen, bei denen sich Personen über die Verhaltensweisen der anderen Gedanken machen oder sich durch deren Handlungen in ihrem eigenen Verhalten beeinflussen lassen: „And though people may care how it all comes out in the aggregate, their own decisions and their own behavior are typically motivated toward their own interests, and often impinged on by only a local fragment of the overall pattern.“ Damit legen die eigenen Wünsche und Erwartungen erstens überhaupt einmal das Interesse am Gegenstand der massenpsychologischen Reaktion fest, und nur wenn also ein eigener Nutzen oder Vorteil beziehungsweise eine zu erzielende Wirkung mit dem Gegenstand verbunden wird, dann haben die Wünsche und Erwartungen zweitens die Funktionalität der Abwägung der eigenen Handlungen und Verhaltensweisen im Bezug auf das, was die anderen machen. Wie später noch im Detail besprochen werden wird, darf jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass eigene Wünschen und Erwartungen immer aus freiem Willen entstehen, sondern diese sich im Rahmen psychologischer Massenphänomene oftmals zu Eigen gemacht werden, also durch das Verhalten der Masse gesteuert sind.

Termination von Massenbewegungen

Wie schon an dem zuvor geschilderten Beispiel mit dem Regenschirm zu sehen war, kann die Orientierung an anderen auch zu kollektivem Fehlverhalten führen, weil die Wirklichkeitsrelation verloren geht. „The observation of outputs does not prevent failures in social learning: if an action is deemed superior to others, it is chosen by all agents who do not try other actions. Hence, no information can be gathered on other actions to induce a switch. A herd may take place unless some agents have very strong private beliefs that other actions may be superior.” (Chamley 2004, S. 7) Aus dieser Feststellung kann gefolgert werden, dass die massenpsychologische Kettenreaktion erst dann beendet wird, wenn es Akteure gibt, die angesichts der gegebenen Situation, einem geänderten Umfeld oder Mangel an Erfolgsaussichten und so weiter gegenteilige Handlungsalternativen setzen. Diese Termination beschreibt Chamley (2004, S. 13) anhand der Spekulationsblase, die eine irrationale Übertreibung durch die sich gegenseitig ansteckenden Investoren an den Finanzmärkten darstellt: „In a speculative bubble, agents hold the asset with the sole purpose of capital gain. Because the capital gain, without the supporting dividends, cannot last forever, the bubble has to burst. The bubble bursts only if the mass of agents selling is sufficiently large.” (Chamley 2004, S. 13) Abreu und Brunnermeier (2003, S. 30 ff.) belegen in ihrer Studie über “Bubbles and Crashes”, dass Spekulationsblasen trotz des Wissens der Investoren, dass es sich um eine spekulative irrationale Übertreibung handelt, eine Zeit lang überdauern können, schlussendlich aber doch platzen müssen. Barretta (02/2007) sieht den Grund für die nur langsame Auflösung von großen Spekulationsblasen darin, dass die irrationalen Übertreibungen der Massen auch auf dem Weg nach unten greifen, sodass jede Stagnation oder jeder kurzfristige Rebound als Ende der Depressionsphase gesehen wird und die Erholung beziehungsweise ein neuer Boom bereits im Aufkeimen sind. „While it is well understood that appropriate departures from common knowledge will permit bubbles to persist, we believe that our particular formulation is both natural and parsimonious. The model provides a setting in which ‘overreaction’ and self-feeding price drops leading to full-fledged crashes will naturally arise.” (Abreu & Brunnermeier 2003, S. 31). Das zeigt uns also, dass jede durch einen Initiationsprozess entstandene psychologische Massenbewegung früher oder später basierend auf den irrationalen Übertreibungen, die sie mit sich bringt, abgebrochen wird. Weiters kann in diesem Zusammenhang auf die eigenen Wünsche und Erwartungen der Individuen, die anfangs eine der treibenden Kräfte im Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen darstellen, Bezug genommen und festgestellt werden, dass es zwar möglich ist, dass einige der Teilnehmer mit den gewählten Verhaltensweisen Erfolg haben, niemals jedoch das gesamte Kollektiv gleichermaßen Erfolg haben kann, sodass jede psychologische Massenbewegung vom Beginn ihrer Entstehung an schon früher oder später zum Scheitern verurteilt ist. Denn der persönliche Erfolg einiger ist nur dann möglich, wenn andere weniger beziehungsweise gar nicht erfolgreich sind, sodass der Erfolg der einen zum Leid und dem Versagen der anderen wird. Schelling (1978/2006, S. 66) schreibt in diesem Kontext: „Their wishes are individually reasonable, but collectively insatiable.“

Dieses Phänomen hat den Effekt, dass eine massenpsychologische Reaktion nicht auf unbestimmte Zeitdauer bestehen bleiben kann, sondern zu einem Zeitpunkt die gesamte Energie aufgebraucht ist, das Wachstum stagniert, oder es nicht mehr genügend Teilnehmer gibt, die im gegebenen Umfeld für die psychologische Ansteckung anfällig sind.

Infrastruktur und psychologische Massenreaktionen

Die bisherigen Überlegungen gehen von einer gleichverteilten Gesamtpopulation aus, in der sich kein Teilnehmer hinsichtlich der Kommunikation mit anderen Personen durch besondere Charakteristiken auszeichnet und die Auswahl des Agenten, dessen Handlung beobachtet wird, vollständig auf dem Zufallsprinzip basiert. Zufallsprinzip bedeutet dabei, dass das nächst mögliche angetroffene, im Kontext der relevanten Thematik handelnde Individuum in seiner Verhaltensweise und deren Wirkung beobachtet wird, wobei Beobachtung sowohl optische als auch akustische Vermittlung der Informationen bedeuten kann. Die für massenpsychologische Reaktionen charakteristischen „situations of uncertainty“, also vollkommen neue Situationen ohne Erfahrungswerte, zeichnen sich jedoch in der Gegenwart durch eine immer weiter verbreitete Infrastruktur (Breitbandinternet und mobiles Internet, Email, SMS und MMS sowie Mobil- und Videotelephonie, …) aus, die eine vereinfachte und beschleunigte Kommunikation und Koordination erlaubt. „New ventures also benefit from … a highly developed telecommunications infrastructure, including a robust broadband network“, schreibt Yoshito Hori (2007, S. 6) dazu im Kontext der durch Entrepreneurship wiederaufkeimenden Wirtschaft in Japan.

Um einige kritische Sekunden zu früh oder zu spät gezeigte Reaktionen oder das Vorhandensein oder Fehlen von Informationen über das Verhalten der anderen Marktteilnehmer an einem tausende Kilometer entfernten Ort können für Erfolg oder Misserfolg entscheidend sein, mit unabschätzbaren Folgen in einem sozialen und ökonomischen Umfeld, in dem immer mehr der Grundsatz „the winner takes it all“ gilt.

Salganik et al. (2006, S. 856) schreiben im Bezug auf die experimentelle Analyse der Infrastruktur in ihrer Untersuchung “Experimental Study of Inequality and Unpredictability in an Artificial Cultural Market” treffend: “Whereas experimental psychology, for example, tends to view the individual as the relevant unit of analysis, we are explicitly interested in the relationship between individual (micro) and collective (macro) behavior; thus we need many more participants. In order to ensure that our respective worlds had reached reasonably steady states, we required over 14,000 participants – a number that can be handled easily in a Web-based experiment, but which would be impractical to accommodate in a physical laboratory. Because this ‘micro-macro’ feature of our experiment is central to all collective social dynamics, we anticipate that Web-based experiments will become increasingly useful to the study of social processes in general.”

Die zentrale Bedeutung der Infrastruktur für massenpsychologische Phänomene zeigt beispielsweise Susan Barretta (01/2007) im Rahmen ihrer Untersuchungen der Entwicklung vom Boom zur Manie am Finanzmarkt auf. Sie schreibt, dass der eigene Druck, ebenfalls zu investieren und mitzumachen, mit zunehmender Dauer und Ausbreitung des Booms immer stärker zunimmt, weil man nicht mehr nur den Erfolg von anderen „unbekannten“ Akteure in den Medien beobachtet, sondern die Gewinner plötzlich in der eigenen Umgebung, bei Nachbarn, Freunden und in der Familie zu finden sind. Trotz der Lawine an aktuellen Publikationen und Literatur wurde jedoch nur sehr wenig über die Dynamik realer sozialer Prozesse gelernt, was Dodds (2007, S. 489) damit begründet, dass den drei folgenden fundamentalen Eigenschaften der Infrastruktur zwischen den Akteuren zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. „First, social networks are not static structures, but evolve in time as a consequence of the social and organizational environments in which they are embedded. Second, they are not unitary, but multiplex, meaning that people maintain a portfolio of types of ties – formal, informal, strong, weak, sexual, business and friendship – each of which serves different functions. And finally, network structure must be understood within the larger framework of collective social dynamics. People do not just interact: their interactions have consequences for the choices they, and others, make.”

Zwei aktuelle Studien von Salganik, Dodds & Watts (2006) und Kossinets & Watts (2006) der Collective Dynamics Group an der Columbia University in New York und eine Untersuchung von Hanson und Putler (1996) belegen die Bedeutung der Infrastruktur für die Orientierung eigenen Handelns am Verhalten anderer Agenten beziehungsweise dessen Ausrichtung an der durch diese Verhaltensweisen erzielten Wirkungen, wie sie in psychologisch angesteckten Massen zum Tragen kommen.

Die Studie von Kossinets und Watts (2006) analysierte die Weiterentwicklung einer bestehenden Infrastruktur unter ungefähr 44.000 Universitätsangehörigen im Laufe der Zeit durch gemeinsame Aktivitäten, zum Beispiel Lehrveranstaltungen, Ähnlichkeiten individueller Merkmale und dergleichen im Rahmen der existierenden Netzwerkstruktur anhand der Auswertung der mit Zeitmarken versehenen anonymisierten Email-Header. Kossinets und Watts (2006, S. 88) kamen dabei zu dem Ergebnis, „that network evolution is dominated by a combination of effects arising from network topology itself and the organizational structure in which it is embedded.” Diese Erkenntnis über Netzwerke lässt sich relativ einfach auf den Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen übertragen und besagt somit, dass dieser zu einem großen Ausmaß von der organisatorischen Struktur der Agenten untereinander und dem kontextbezogenen Umfeld, in dem er eingebettet ist, abhängt.

Ein internetbasiertes Experiment von Salganik et al. (2006) analysierte das Downloadverhalten von etwa 14.000 Probanden in einem künstlichen Musikmarkt, in dem verschiedenste unbekannte Musiktitel von bisher unbekannten Bands für eine Gruppe mit und für die andere ohne Information über das Verhalten und die Auswahl anderer Probanden zum Herunterladen zur Verfügung standen. „Our results support the hypothesis that social influence, which here is restricted only to information regarding the choices of others, contributes both to inequality and unpredictability in cultural markets. … as individuals are subject to stronger forms of social influence, the collective outcomes will become increasingly unequal (meaning popular songs get even more popular and unpopular songs get even less popular; Anm. d. Verf.). Social influence also generates increased unpredictability of outcomes.” (Salganik et al. 2006, S. 855) Hier ist das für massenpsychologische Reaktionen zentrale Prinzip der other-directedness wieder zu erkennen, bei dem sich die Menschen an den von anderen gezeigten Verhaltensweisen und den damit verbundenen Handlungskonsequenzen orientieren.

Ähnliche Ergebnisse fanden Hanson und Putler (1996) in einem Experiment, auf das ich im Kapitel 2 näher eingehen will, bei dem die Popularität von herunterladbaren Softwareprogrammen eines kommerziellen Onlineanbieters manipuliert wurde.

Gleichzeitig zeigen Salganik et al. (2006, S. 854 f.) mit ihrem Experiment aber auf, dass zwei experimentelle Welten, denen die gleichen Musiktitel jeweils gemeinsam mit den für die eigene Welt gerade aktuellen Downloadraten, also der Information über das Verhalten der anderen Teilnehmer, präsentiert werden, trotz identischer Anfangsbedingungen und nicht unterscheidbarer Populationen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

In diesem Einführungskapitel wurde nun einiges über die Phänomene in psychologischen Massenbewegungen gelernt und im nächsten Schritt können der Entwicklungsprozess massenpsychologischer Kettenreaktionen konkretisiert sowie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen und Regeln näher spezifiziert werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich Agenten in einem instabilen Umfeld befinden, zu dem nicht nur die anderen, sondern auch sie selbst gehören. Mit den Signalen aus dem Umfeld erhalten die Akteure Informationen über dessen Zustand, entweder direkt aus der Beobachtung von Variablen in ihrer Umgebung oder indirekt über die Observation des Verhaltens anderer Agenten oder dessen Wirkung im Umfeld, und aktualisieren damit ihre subjektive Betrachtungsweise des Gesamtzustands. Damit reagieren sie auf ihr Umfeld und die von ihnen gesetzte Handlung dient anderen Akteuren, welche dieses Verhalten und dessen Konsequenzen beobachten, als Informationsquelle. Mit der Modellierung und mathematischen Darstellung dazu werde ich mich an späterer Stelle dieser Arbeit auseinandersetzen.

2. Massenpsychologische Kettenreaktionen

In diesem Kapitel werde ich neben dem Umfeld, in dem sich massenpsychologische Kettenreaktionen entwickeln können, die bekannten Rahmenbedingungen beschreiben, die eine Entstehung von massenpsychologischen Bewegungen durch gegenseitige Ansteckung begünstigen sowie jene Gesetzmäßigkeiten anführen, die in solchen psychologischen Masse gelten. Diese dienen mir als Anhaltspunkt und Basis dafür, um ein Modell zu entwickeln, bei dem ausgehend von einem initialen Erreger mehrere Entwicklungsstadien durchlaufen werden müssen, bis eine massenpsychologische Kettenreaktion etabliert werden kann. Weiters werde ich in diesem Zusammenhang versuchen, erste, in der Literatur aufgezeigte Hinweispunkte zu natürlichen Modellen, die in einem ähnlichen Umfeld mit analogen Gesetzmäßigkeiten existieren, näher zu beleuchten.

Grundsätzlich lässt sich jeder Entwicklungsprozess einer Kettenreaktion, unabhängig welchen Wesens er ist, durch drei Phasen charakterisieren, nämlich der Initiationsphase mit der Erstzündung der Reaktion durch Zusammenführen der Komponenten unter Anwesenheit eines Katalysators, der Propagation mit der sich selbst aufrecht erhaltenden Ausbreitung der Reaktion, und der abschließenden Terminationsphase, in welcher der Prozess durch den Verbrauch sämtlicher zur Verfügung stehender Energien oder Komponenten beziehungsweise aufgrund der durch die Kettenreaktion herbeigeführten geänderten Umgebungsbedingungen abgebrochen wird. Beispielsweise schreibt Susan Barretta (01/2007) zur Entwicklung massenpsychologischer Reaktionen am Finanzmarkt: „Charles Kindleberger, Donald Christensen and other noted economic writers have described the progression of a mania in great detail. An investment mania exploits a good financial strategy, progresses into overuse, and eventually abuses the strategy to death.” Anhand des “Bounded-Neighborhood Models” zur Analyse des Anund Umsiedlungsverhaltens von Menschen in einer bestimmten Umgebung beschreibt Schelling (1978/2006, S. 155 ff.) eindrucksvoll diese Dynamik von der Initiation über die Kettenreaktion bis hin zur Termination. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich mich aber auch mit den Entwicklungsstadien von chemischen und physikalischen Kettenreaktion auseinandersetzen und versuchen, aus ihren Prinzipien mögliche übertragbare Erkenntnisse für die „psychological chain reactions“ zu gewinnen.

Als Ausgangspunkt bei der Bearbeitung dieser Themen dient uns ein von Christian Russ im Rahmen seiner Dissertation entwickeltes Ablaufdiagramm über den Entwicklungsprozess einer massenpsychologischen Kettenreaktion:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Russ 2007 [Entwicklungsprozess einer massenpsychologischen Kettenreaktion]

2.1 Umfeld und Rahmenbedingungen

„Es braucht drei Komponenten, um Menschen anfällig zu machen für psychologische Ansteckung und Suggestion: erstens Erregung – ängstliche oder euphorische –, zweitens Ahnungslosigkeit, Unkenntnis und Orientierungslosigkeit, drittens ein Umfeld, das Erklärungen nahe legt, suggeriert.“ (Pelzmann 2005, S. 172) Diese Komponenten und einige weitere Rahmenbedingungen für die Entstehung psychologischer Massenreaktionen will ich in den folgenden Kapiteln im Detail betrachten.

Instabiles Umfeld und fehlende Erfahrungswerte

Wie in bereits vorausgegangenen Kapiteln zu sehen war, ist es im sozialen Umfeld oftmals effizienter, sich auf jene Informationen zu stützen, die man aus den Beobachtungen des Verhaltens und der Handlungen anderer Akteure erlangt hat. Insbesondere in neuen, unbekannten Situationen, in denen keine Erfahrungswerte vorliegen, so genannten „no-data situations“ oder „situations of uncertainty“, und die wegen der kontextgebundenen Unsicherheit zu außergewöhnlichen affektiven Erregungen, namentlich Euphorie oder Angst und Panik, führen, neigen Menschen besonders stark dazu, ihr eigenes Verhalten an dem anderer zu orientieren, anstatt sich auf Fakten und Daten zu verlassen, weil ihnen diese Vorgansweise im Kontext der momentanen Situation als effizienter und sicherer erscheint.

In der Initiierungsphase kann das Risiko nur anhand der gegebenen Rahmenbedingungen und der eigenen Wünsche und Erwartungen evaluiert werden, weil sowohl die Erfahrungswerte als auch die Möglichkeit der Orientierung an anderen fehlen, sodass nur jene Individuen zu initiierenden Agenten werden, die im Vergleich zu dem möglichen Erfolg und Vorteil eine geringe Risikoerwartung im Bezug auf die Konsequenzen der Handlung haben. In Abhängigkeit davon, ob dieses von den „early adopters“ gezeigte Verhalten zu einem persönlichen Triumph oder zu einem „Waterloo“ wird, erzeugt es die entsprechende Wirkung, sodass sich Teilnehmer mit höherem Handlungskonsequenzrisiko mangels der eigenen Erfahrungswerte mit der neuen Situation an diesen Verhaltensweisen orientieren, denn das mit der Handlung verbundene Risiko kann an den anderen evaluiert werden.

Situationen der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit werden fast immer durch politische, gesellschaftliche oder ökonomische Schockereignisse ausgelöst, wie etwa die Ausbreitung neuer Technologien, Ausbruch oder Ende eines Kriegs, Sturz einer Regierung und so weiter. Solche Umfelder mit fehlenden Erfahrungswerten treten gehäuft immer dann auf, wenn technische, aber auch andere Innovation in das soziale Geschehen eingreifen. Beispielsweise führte die Informationstechnologie zu einer vollkommenen Veränderung der Dynamik an den Kapitalmärkten, weil plötzlich alle Marktteilnehmer immer und überall untereinander vernetzt waren, miteinander kommunizieren konnten und zu jedem Zeitpunkt online gehandelt werden konnte.

Die Initialzündung der Terroranschläge des 11. September 2001 wurde durch psychologische Hebel und Propaganda unter Zuhilfenahme modernster Technologien der Massenmedien, wie Internet, e-Mail, Satelliten-TV, von der amerikanischen Führung als Massenphänomen ausgeschlachtet, wobei das ursprüngliche Moment und Interesse der Initiatoren ökonomisch motiviert war, nicht etwa nur aber auf Interessen der Ölindustrie, wie das oft in den Medien dargestellt wird, sondern auf wirtschaftlichen Überlegungen der privaten Rüstungsindustrie, die bei bewaffneten Auseinandersetzungen als großer und wahrscheinlich auch einziger Gewinner vom Felde zieht, und finanzpolitischen Überlegungen der USA, die mit der von einigen Golfstaaten proklamierten Umstellung des Ölmarktes von US Dollar auf Euro in eine schwierige Situation gebracht werden würden. George W. Bush nutzte die „Gunst der Stunde“, um einen Krieg gegen die „Achse des Bösen“ zu legitimieren, der ansonsten nur sehr schwer gegenüber dem UN-Sicherheitsrat, dem eigenen Volk und gegenüber der gesamten westlichen Welt zu argumentieren gewesen wäre. Es handelt sich dabei um ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie im Rahmen massenpsychologischer Phänomene reale Fakten und Daten in den Hintergrund gedrängt werden und nur scheinbar offensichtliche, auf Indizien beruhende Ereignisse, denen keine erdrückende Beweislast zu Grunde liegt, Zentrum der Informationen sind, an denen sich alle orientieren. Wie dabei zu erkennen ist, basiert die erfolgreiche Etablierung einer massenpsychologischen Kettenreaktion niemals auf einem Einzelereignis, sondern neben dem initialen Zünder und Katalysator entscheiden eine Vielzahl von Faktoren im Umfeld, zu dem auch die anderen Akteure gehören, über den Ausgang des Entwicklungsprozesses.

Innovationen und externe Schockereignisse stellen also Neuerungen im Prozess dar, welche die Teilnehmer vorher nicht kannten, was bei Ihnen mangels vorhandener Informationen und Erfahrungswerte zu Unsicherheit und Ahnungslosigkeit führt und sie dazu veranlasst, sich am Verhalten anderer zu orientieren. Dass die Other-directedness in Verbindung mit eigenem Geltungsdrang – besser zu sein als die anderen – und dem Wunsch nach eigenem Erfolg noch weiter intensiviert wird, zeigt uns auch ein in Verbindung mit der mobilen Datenkommunikation entstandener Trend, den Linda Stone (2007, S. 10) als „continuous partial attention“ beschreibt, nämlich das ständige Überprüfen von Kurznachrichten oder Emails auf mobilen elektronischen Geräten, zum Beispiel Laptops mit mobilen Datenkarten, BlackBerrys oder Mobiltelefonen. „Continuous partial attention … involves constantly scanning for opportunities and staying on top of contacts, events, and activities in an effort to miss nothing.” (Stone 2007, S. 10) Mit der Vielzahl an Möglichkeiten wird der Unsicherheitsfaktor aber noch weiter geschürt, weil die Wahl der entsprechenden Verhaltensweise nachhaltige Folgen mit sich trägt, ganz gemäß einem in Michail Gorbatschows Memoiren zu findenden Zitat: „Das Leben verlangt mutige Entscheidungen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Ein Investor kann es sich beispielsweise nicht leisten, bei einer Hausse nicht mitzumachen, und für den Nachbar ist es zermürbend, dem Erfolg des anderen nur zusehen zu können.

[...]

Ende der Leseprobe aus 142 Seiten

Details

Titel
Modellbildung in der Massenpsychologie
Hochschule
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt  (Institut für Psychologie, Abteilung Wirtschaftspsychologie)
Note
1.00
Autor
Jahr
2007
Seiten
142
Katalognummer
V84504
ISBN (eBook)
9783638894463
ISBN (Buch)
9783638894593
Dateigröße
1722 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Modellbildung, Massenpsychologie
Arbeit zitieren
Mag. rer. nat. Thomas Fenzl (Autor:in), 2007, Modellbildung in der Massenpsychologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84504

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