Deutsche Physiker und die nationalsozialistische Bewegung in der frühen Weimarer Republik: Johannes Starks Weg zu Adolf Hitler


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

37 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Deutsche Professoren und Hochschulen in Kaiserreich und Weimarer Republik
2.1. Deutsche Professoren als Elite zwischen Staat und Politik
2.2. ‚Kultur’ und ‚Zivilisation’: Elitäres Denken und Rechtfertigungsideologie
2.3. Weltkrieg, Inflation und Ablehnung der Weimarer Republik

3. Die Physik und die Naturwissenschaften in Kaiserreich und Weimarer Republik
3.1. Die Naturwissenschaften in Kaiserreich und Weimarer Republik
3.2. Die Revolution in der Physik und der Verlust eines Weltbildes

4. Johannes Stark: Wissenschaftliche, soziale und politische Entwicklung
4.1. Starks Karriere vor dem ersten Weltkrieg
4.2. Weltkrieg und Isolation
4.3. Wissenschaftspolitik als Instrument gegen die theoretische Physik
4.4. Die Abrechnung: „Die gegenwärtige Krisis der deutschen Physik“
4.5. Stark und Hitler

5. Analyse

6. Fazit

7. Bibliographie
7.1. Gedruckte Quellen:
7.2. Literatur:
7.3. Quellen im Internet

1. Einleitung

„Hitler und seine Kampfgenossen, sie scheinen uns wie Gottesgeschenke aus einer längst versunkenen Vorzeit, da Rassen noch reiner, Menschen noch größer, Geister noch weniger betrogen waren“[1], schrieben Johannes Stark und Philipp Lenard am 8. Mai 1924 in einem mit „Hitlergeist und Wissenschaft“ betitelten Artikel der ‚Großdeutschen Zeitung’. Alles an diesem Ereignis ist ungewöhnlich: Stark und Lenard waren Nobelpreisträger der Physik, deutsche Wissenschaftler, Angehörige einer Zunft für die politisches Engagement ausnahmslos als vulgär, unwürdig und verachtenswert erschien. Sie waren die ersten Wissenschaftler überhaupt, die sich explizit auf die Seite einer politischen Partei oder Bewegung schlugen – auf die Seite einer Bewegung deren Putschversuch niedergeschlagen worden war und deren Führer in Haft saß. Dabei war es gerade ihr Fach, dass einerseits als das liberalste und internationalistischste der deutschen Wissenschaftslandschaft galt und dass andererseits aufgrund seines naturwissenschaftlichen Forschungsgegenstands am wenigsten Interferenzen mit dem gesellschaftlichen und politischen Leben aufzuweisen schien. Warum ist dieses Bekenntnis zu Hitler erfolgt? Warum zu diesem außergewöhnlich frühen Zeitpunkt, warum ausgerechnet in der Physik, warum durch die beiden Nobelpreisträger Stark und Lenard?

Die vorliegende Arbeit versucht, sich diesen Fragen auf einer politisch-soziologischen, einer wissenschaftsgeschichtlichen und einer persönlichen Ebene zu nähern. Auf dieser Grundlage sollen abschließend bestehende Analysen und Erklärungen kommentiert und kritisiert werden. Aufgrund dieser Herangehensweise und des vorgegebenen geringen Umfangs dieser Arbeit, wird sich die Darstellung dabei auf Johannes Stark konzentrieren. Stark wurde dabei seinem Kollegen Lenard vorgezogen, weil Starks Biographie zu uneindeutigeren und streitbareren Ergebnissen führt. Sie ist damit für eine Kritik bestehender Theorien besser geeignet. Außerdem ist Starks Lebenslauf zum Teil exemplarisch für die Situation, der andere deutsche Physiker ausgesetzt waren: Neben seiner charakterlichen Disposition führte das Zusammentreffen mehrerer Krisen - die Krise innerhalb der deutschen Professorenschaft, die Krise der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit sowie die wissenschaftliche Krise innerhalb der Physik – zu Starks politischem Radikalismus.

Der erste Teil der Arbeit umreißt die innere Verfassung und die krisenhafte Entwicklung der deutschen Professorenschaft im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Er stützt sich zum größeren Teil auf Fritz Ringers „Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933“.[2] Das darauf folgende Kapitel beschreibt die Revolution innerhalb der Naturwissenschaften zum Ende des 19. Jahrhunderts. Deren Darstellung beruht auf mehreren Zusammenfassungen der komplexen Prozesse und ihrer physikalischen Inhalte.[3] Der dritte Teil stellt eine Kurzbiographie Starks dar. Zu Stark, Lenard und der von ihnen während des Dritten Reiches propagierten und wissenschaftspolitisch durchgesetzten ‚Deutschen Physik’ liegt nur eine Monographie vor, Alan D. Beyerchens unscharf betiteltes „Wissenschaftler unter Hitler“.[4] Das bereits 1977 erschienene Werk liefert bis heute die Faktengrundlage für alle weiteren Ergänzungen und Interpretationen. Daneben existiert eine Vielzahl von Beiträgen in Sammelbänden oder Zeitschriften, die sich mit Teilaspekten der Thematik beschäftigen.[5] Die umfassendste Ergänzung und Neuinterpretation von Beyerchens Quellen erfolgte in Steffen Richters Artikel „Die ‚Deutsche Physik’“.[6] Starks nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste Autobiographie erhält hingegen nur wenig verwertbare Erkenntnisse.[7] Als Ergiebiger erweist sich eine im Jahr 2000 erschienene Stark-Biographie.[8] Die Beschaffung von originalen Veröffentlichungen Starks gestaltete sich in den meisten Fällen jedoch schwierig;[9] Zur Besprechung dieser Quellen mußte auf Sekundärliteratur zurückgegriffen werden. Das abschließende Kapitel referiert die vielfältigen Deutungen der Beweggründe Starks, Hitler zu unterstützen. Anhand der Kritik dieser Analysen erfolgt der Versuch der Formulierung eigener Thesen.

2. Deutsche Professoren und Hochschulen in Kaiserreich und Weimarer Republik

2.1. Deutsche Professoren als Elite zwischen Staat und Politik

Die Professorenschaft des Kaiserreichs war stets eine intellektuelle Elite zwischen Machteliten. Sie rekrutierte sich zum auffallend großen Teil aus sich selbst und kommunizierte wenig mit anderen Herrschaftseliten.[10] Auch trat sie nie als politische Elite in Erscheinung.[11] Das Bewusstsein und die Privilegien einer Elite ließen sich mit denen der anderen herrschenden Klassen jedoch vergleichen: Das soziale Ansehen der Akademiker war sehr hoch, die Promotion fungierte als Ersatznobilitierung und ermöglichte den Zugang zum Rang des Reserveoffiziers. Die Habilitation und der Professorentitel wurden gleichgesetzt mit höheren Adelsrängen.[12] Am ehesten ist die Professorenschaft als eine soziale und kulturelle Elite zu charakterisieren, die ihren Status statt Reichtum primär der Qualifikation durch Bildung verdankt.[13] Diese soziale Stellung war prekär. Durch die fortschreitende Industrialisierung und den damit verbunden Aufstieg kapitalistischer Eliten einerseits und der Funktionäre der Arbeiterbewegung andererseits wurde sie zusätzlich gefährdet. Ihr prekärer Elitenstatus ließ nun vor dem Hintergrund einer bestimmten historischen Situation eine spezifische Ideologie entstehen.

Die Fixpunkte ihrer Weltanschauung bildeten der Staat, die Nation und die ‚Kultur’. Nachdem zuvor der Verwaltungsapparat des Staates vorwiegend aus Angehörigen des Geburtsadels bestanden hatte, rekrutierte er sich seit Ende des 18. Jahrhunderts aus einer universitär gebildeten bürgerlichen Elite.[14] Die Universität wurde somit Ausbildungsstätte der Staats- und Verwaltungsbeamten, die Professoren übernahmen eine staatstragende Funktion.[15] Ihre Elitenstellung verdankten die deutschen Professoren also ausschließlich dem Staat. Darüber hinaus sahen sie sich fortan als Spitze und Anleiter der deutschen Bildungsschichten, als alleinige Träger der Bildung und ‚Kultur’.[16] Bildung bedeutete ihnen dabei mehr als höhere Ausbildung oder Schulung: Sie umfasste auch die Persönlichkeitsbildung, die auf Pflichterfüllung, Prinzipientreue sowie innerliche und geistige Werte ausgerichtet war. Den höchsten Ausdruck fanden diese von ihnen verherrlichten Werte im Begriff der ‚Kultur’.[17] Die ‚Kultur’ einer Nation konnte nach Ansicht der Akademiker wiederum ausschließlich durch einen über Partei- und Partikularinteressen erhabenen und höheren Zielen dienenden Staat gewahrt und beschützt werden.[18] Die deutschen Professoren pflegten nun ein Selbstbild, das sie als treue Staatsdiener und als einzig berechtigte und unersetzliche treuhänderische Verwalter der ‚Kultur’ verherrlichte.[19]

Aus dieser Verpflichtung auf höhere Werte, die für sie über jeglichen politischen und wirtschaftlichen Interessenkonflikten standen, erklärt sich ihre Abneigung und Verachtung gegenüber Politik und Parteiinteressen.[20] Darüber hinaus hielten sie die vermeintlich ‚reine’ und ‚objektive’ Wissenschaft a priori für unvereinbar mit politischen Interessen.[21] Die deutschen Professoren im Kaiserreich nahmen sich deshalb nie als politische Akteure wahr, eine kritische Reflektion über ihre eigenen Überzeugungen fand nie statt.[22] Die „extreme politisch-geistige Selbstentfremdung (…) von den realen gesellschaftlichen Bedingungen seiner eigenen Existenz“[23] ging so weit, dass die Professoren sich auch dann noch als unpolitisch verstanden, wenn sie klar politisch Stellung bezogen. Denn ihr ‚unpolitisches’ und ‚objektives’ Denken war mit einem starken antidemokratischen Vorurteil identisch.[24]

2.2. ‚Kultur’ und ‚Zivilisation’: Elitäres Denken und Rechtfertigungsideologie

Zur Erklärung dieses Sachverhalts ist der Rückgriff auf ein anderes Element ihrer Ideologie notwendig. Die Weltanschauung der deutschen Bildungselite war von einem dichotomen Gegensatzpaar geprägt, auf dessen einer Seite die positiv besetzte ‚Kultur’ stand und deren Gegenpart die verhassten Erscheinungen von ‚Zivilisation’ und ‚Materialismus’ bildeten.[25] Diese letzteren Topoi waren Sammelbegriffe für relativ neuartige Zeiterscheinungen der Moderne, wie z.B. Individualismus, kapitalistisches Gewinnstreben, Technik, Liberalismus, Parlamentarismus sowie Massenerscheinungen wie Verstädterung und das Anwachsen der industriellen Arbeiterschaft.[26] Dieses Konglomerat von Begriffen erscheint wahllos. Als bewusst unklares Schlagwort, das den Ursprung aller Übel der deutschen Gesellschaft benennt, entsprach die Ablehnung von ‚Materialismus’ und ‚Zivilisation’ jedoch einer vagen, stark ideologischen Abwehrhaltung seitens der Professoren, denen diese große negative Projektionsfläche als Konstituens ihrer eigenen, prekären Identität diente.[27] Diese hier nur kurz dargestellte Weltanschauung ist u.a. als Kulturpessimismus bekannt.[28]

Diese Denkart erklärt, warum die Professoren ihren Kampf gegen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie als unpolitische, staatsbürgerliche Selbstverständlichkeit auffassten.[29] Dabei nahm die Agitation gegen links explizit politische Formen an: Sozialdemokraten war es fast unmöglich sich zu habilitieren, bekennende sozialdemokratische Professoren wurden entweder diskriminiert oder entlassen.[30] Die Grundlagen für Sozialismus und die Arbeiterbewegung als Massenbewegung par excellence sahen die Professoren jedoch im ‚Materialismus’. Durch die Proletarisierung der deutschen politischen Landschaft, des Staates und der Bildungseinrichtungen wähnten sie diese Institutionen und damit die ‚Kultur’ in Gefahr.[31] In ihrer Funktion als Hüter der ‚Kultur’ im Dienste des die ‚Kultur’ wahrenden Staates konnten sie politische Kritik an dem System, das ihre Werte geschaffen hatte, nicht dulden.[32] Die Professoren waren somit zum „philosophischen Anwalt des deutschen Obrigkeitsstaates geworden“[33].

Diese Weltanschauung diente auch einer Rechtfertigung der eigenen gesellschaftlichen Stellung.[34] Die Ablehnung der Zunahme moderner Erscheinungen gründete auf das Anwachsen moderner Eliten, die das intellektuelle Bildungsbürgertum in seiner staatstragenden Funktion, seinem intellektuellem Einfluss und seiner Deutungsmacht über nationale und kulturelle Belange herausforderten. Das aufstrebende Zwillingspaar der kapitalistischen Eliten und der funktionären Eliten der Arbeiterbewegung bedrohte insbesondere seit dem großen Konjunkturaufschwung Mitte der 1890er Jahre direkt jene Schichten, die ihre Position nicht durch Besitz, sondern durch Bildung gerechtfertigt sahen.[35] Der Reflex, in der Bedrohung der eigenen Deutungsmacht und der eigenen Werte eine Bedrohung der Gesamtnation zu sehen, wird nun verständlich: Nur durch die Identifikation mit Staat und Nation sowie durch die Behauptung, die alleinigen Vertreter der entrückten und über jeglichen ‚Materialismus’ erhabenen ‚Kultur’ zu sein, glaubten die deutschen Professoren das Dogma ihrer Unersetzbarkeit und somit ihre elitäre, privilegierte Stellung retten zu können.[36]

2.3. Weltkrieg, Inflation und Ablehnung der Weimarer Republik

Der erste Weltkrieg führte zu einer umfassenden nationalistischen Radikalisierung der deutschen Professorenschaft: Sein Ausbruch wurde begeistert begrüßt, etwa 4000 Professoren und Intellektuelle unterzeichneten den ‚Aufruf an die Kulturwelt’, in dem deutsche ‚Kultur’ gegen westliche ‚Zivilisation’ in Stellung gebracht und die annexionistischen Kriegsziele der Regierung unterstützt wurden.[37] Ein pazifistisches Gegenstück, den ‚Aufruf an die Europäer’ unterschrieben neben Albert Einstein nur zwei weitere deutsche Professoren.[38]

Die Niederlage führte zu schwersten Konflikten zwischen den verherrlichten Werten und der politischen Realität. Den Professoren fehlte nun ein integraler Bestandteil ihres weltanschaulichen Gebäudes, eine Instanz, die über Partikularinteressen hinweg die deutsche Nation vertritt: der autoritäre Obrigkeitsstaat.[39] Sie sahen sich somit einer ‚illegitimen’ Regierung gegenüber.[40] Darüber hinaus verkörperte die auf einer Revolte der Massen gründende Weimarer Republik nahezu alle Aspekte des ‚Materialismus’. Die überwältigende Mehrheit der Professoren lehnte die neue Republik geschlossen ab, von fast allen Lehrstühlen wurden die Dolchstosslegende und die Kriegsunschuldslegende verkündet.[41] Eine universitäre Personalpolitik seitens der Regierung blieb jedoch aus.[42] Die Kontinuität des Hochschulwesens geriet in Diskontinuität zu der allgemeinen politischen Entwicklung. Die Universität wurde somit zu einem Biotop antirepublikanischer, antidemokratischer und antisemitischer Ideologien jeglicher Couleur.

Die Radikalisierung der im vorigen Kapitel beschriebenen Eigenarten der bildungselitären Ideologie wurde durch die Inflation und den wirtschaftlichen Abstieg, den viele Professoren erlitten, nochmals vorangetrieben. Die Inflation kulminierte 1923, ihre größte Zerstörungskraft entfaltete sie u.a. in der gebildeten Beamtenschaft und unter den Professoren.[43] Deren durchschnittliches Einkommen sank rascher als das Einkommen tiefer stehender Berufsgruppen: 1913 verdiente ein hoher Beamte siebenmal so viel wie ein ungelernter Arbeiter, 1922 nur noch doppelt so viel.[44] Die Geldentwertung zog soziale Desorientierung, Destabilisierung und Demoralisierung nach sich, verursacht durch ein soziales und finanzielles System, das irrational, unvorhersehbar und der menschlichen Kontrolle entzogen erschien.[45] Daneben zeitigte die Inflation bei den deutschen Professoren einen spezifischen Effekt: Sie bestätigte das antimoderne Ressentiment, verwies scheinbar auf den Irrweg des ‚Materialismus’ und erschütterte das ohnehin pessimistische Weltbild von neuem.[46] Nicht zuletzt zeigte sie die Verwundbarkeit und Prekarität der Verfassung der Professorenschaft als intellektuelle Elite mit unmissverständlicher Klarheit.[47]

Trotz Radikalisierung und erbitterter Gegnerschaft gegenüber der Weimarer Republik blieben Verbindungen und Zusammenarbeit mit politischen Parteien weitgehend aus. Deutsche Professoren in der Weimarer Republik sympathisierten am ehesten, wenn auch fast nie öffentlich und explizit geäußert, mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Den Nationalsozialismus lehnte man als proletarisch colorierte Massenbewegung ab.[48]

Bisher unerwähnt blieb der Antisemitismus der deutschen Professoren. In zwei Punkten knüpfte der moderne Antisemitismus an die professorale Ideologie an. Für Antisemiten symbolisierte der Jude einerseits ökonomisches und finanzielles Kalkül, das Streben nach dem eigenen Vorteil zum Nachteil anderer und somit die ‚unproduktiven’ und ‚betrügerischen’ Aspekte des modernen Kapitalismus. Andererseits repräsentierte der Jude den negativen Aspekt modernen Denkens, die kritische Analyse und den Skeptizismus, die moralische Gewissheiten, patriotische Aufopferung und nationale Gemeinschaft angeblich zersetzten.[49] Die Identifikation der Juden mit den ideologischen Topoi ‚Materialismus’ und ‚Zivilisation’ bot sich für viele Wissenschaftler also geradezu an.[50] Vor allem die Assoziation der Juden mit ‚zersetzendem Denken’ wurde fast habitual unter orthodoxen Akademikern und anderen Intellektuellen. Ebenso war der Gedanke, dass Rasse und Nationalität das Denken beeinflussen, weit verbreitet.[51] Nach dem Weltkrieg wurde der Antisemitismus in Akademikerkreisen virulent: In einem zunehmend aggressiven Klima entwickelten sich explizit antisemitische Theorien ab Mitte der zwanziger Jahre zum Normalfall.[52]

Das bisher Dargestellte kann nur einen schematischen Überblick über Außen- und Innenwelt der universitären Elite geben. Bei aller Grobschlächtigkeit bleibt anzumerken, dass die erwähnten ideologischen Einstellungen jedoch nicht zwischen verschiedenen sozial, kulturell und politisch geformten Gruppen innerhalb der Professorenschaft variierten, sondern vielmehr das nie hinterfragte sozial-kulturelle Ferment, den gemeinsamen ideologischen Nenner der überwältigen Mehrheit der Professoren des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik bildeten.[53]

3. Die Physik und die Naturwissenschaften in Kaiserreich und Weimarer Republik

3.1. Die Naturwissenschaften in Kaiserreich und Weimarer Republik

Die Ideologie der Naturwissenschaftler glich der Weltanschauung ihres universitären sozialen Milieus weitestgehend: Man war der Überzeugung, dass die soziale, ökonomische und politische Ordnung der Wahrung der ‚Kultur’ galt, die als oberstes Ziel wissenschaftlichen Strebens und gesellschaftlichen Lebens galt.[54] Ihr Nationalismus und ihre Überzeugung, an den bestehenden Verhältnissen nicht rütteln zu dürfen, standen denen der übrigen Fakultäten in nichts nach.[55] Die daraus resultierende apolitische Haltung wurde durch den Gegenstand ihrer Studien noch verschärft: Im Gegensatz zu Staatsrechtlern, Ökonomen, Historikern oder Philosophen waren die Forschungsgegenstände der Naturwissenschaften den politischen Geschehnissen noch weiter entrückt. Die Annahme, Hüter der wissenschaftlichen Objektivität und in der Forschung vollkommen von ihrer Umwelt losgelöst zu agieren, war hier am stärksten.[56] Diese Haltung stärkte jedoch nicht nur ihre Ablehnung von Politik, sondern führte auch zu geringerer tatsächlicher politischer Aktivität, etwa der Agitation gegen die Sozialdemokratie.[57] Die naturwissenschaftlichen Professoren können also mit Einschränkungen als gemäßigte Gruppe innerhalb der Professorenschaft angesehen werden. Die Physik als ‚reinste unter den reinen’ Wissenschaften galt wiederum als deren am weitesten gemäßigte Fachrichtung.[58] Der Ausbruch des Weltkriegs wurde jedoch auch von Naturwissenschaftlern begeistert aufgenommen, während die Akzeptanz der Weimarer Republik hier etwas über dem universitären Durchschnitt lag. Eine minoritäre Meinung blieb sie dennoch.[59] Ebenfalls waren es die Naturwissenschaften, die im akademischen Bereich von antisemitischer Diskriminierung relativ unberührt blieben. Insbesondere die Physik wies eine vergleichsweise hohe Anzahl jüdischer Professoren auf.[60]

3.2. Die Revolution in der Physik und der Verlust eines Weltbildes

Die Naturwissenschaften erfuhren zum Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts eine vehemente Aufwertung, die aus dem gestiegenen wirtschaftlichen und militärischen Bedarf an Technik und naturwissenschaftlichem Know-how resultierte.[61] Diese eng mit der Industrialisierung und Technisierung der deutschen Gesellschaft verzahnte Entwicklung vollzog sich jedoch nicht als Akkumulation von Wissen und Technologie, sondern als wissenschaftliche Revolution. Die gesellschaftliche Funktion, die Organisation und die Praxis der Forschung in den Naturwissenschaften wandelten sich fundamental und mit ihnen die Vorstellung vom Aufbau der Welt. Speerspitze bildete hierbei die theoretische Physik mit den revolutionären Theorien der Quanten und der Relativität.

[...]


[1] Lenard, Philipp; Johannes Stark: Hitlergeist und Wissenschaft; in: Großdeutsche Zeitung vom 8. Mai 1924; nach: Wallach, Curt: Völkische Wissenschaft – Deutsche Physik; in: Der Aufbau, 1945, S. 130; nach: www.aleph99.org/etusci/ks/t2a2.htm, Fußnote 50.

[2] Ringer, Fritz K.: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933; Stuttgart: 1983 [a]; Döring, Herbert: Deutsche Professoren im Kaiserreich und Drittem Reich; in: Neue Politische Literatur; 19. Jahrgang; Wiesbaden: 1974; Hammerstein, Notker: Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871-1933; New York, Frankfurt: 1995; Schwabe, Klaus (Hrsg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite. 1815-1945; Boppard am Rhein: 1988.

[3] Nachmansohn, David: Die große Ära der Wissenschaft in Deutschland 1900 bis 1933; Stuttgart: 1988; Nelkowski, Horst; A. Hermann, H. Poser, R. Schrader, R. Seiler (Hrsg.): Einstein Symposion Berlin; Berlin, Heidelberg, New York: 1979.

[4] Beyerchen, Alan D.: Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich; Köln: 1980.

[5] Hier sind hervorzuheben : Olff-Nathan, Josiane (Hrsg.): La science sous le troisième Reich. Victime ou allié du nazisme? Paris: 1993; Albrecht, Helmuth (Hrsg.): Naturwissenschaft und Technik in der Geschichte; Stuttgart: 1993; Ringer, Fritz K.: Inflation, Antisemitism and the German Academic Community of the Weimar Period; in: Leo Baeck Institute Year Book; Bd. 28; London, Jerusalem, New York: 1983 [b].

[6] In: Mehrtens, Herbert; Steffen Richter (Hrsg.): Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Dritten Reichs; Frankfurt am Main: 1980.

[7] Stark, Johannes: Erinnerungen eines deutschen Naturforschers; Mannheim: 1987.

[8] Stöcker, Walter: Der Nobelpreisträger Johannes Stark (1874-1957). Eine politische Biographie; Tübingen: 2001.

[9] Der bereits erwähnte Artikel der „Großdeutschen Zeitung“, eines nur kurze Zeit erscheinenden Nachfolgeblattes des verbotenen „Völkischen Beobachters“, ist im norddeutschen Raum nicht einsehbar, ebenso wie Starks Pamphlet „Die Krisis der gegenwärtigen Physik“.

[10] Ringer, Fritz: Das gesellschaftliche Profil der deutschen Hochschullehrerschaft 1871-1933; in: Schwabe 1988, S. 98; Schwabe 1988, S. 218 ; Döring 1974, S. 351.

[11] Sontheimer, Kurt: Die deutschen Hochschullehrer in der Zeit der Weimarer Republik; in: Schwabe 1988, S. 215.

[12] Abendroth, Wolfgang: Die deutschen Professoren und die Weimarer Republik; in: Tröger, Jörg (Hrsg.): Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich; Frankfurt, New York: 1984, S. 13; Beyerchen 1980, S. 21.

[13] Vgl. Döring 1974, S. 343.

[14] Beyerchen 1980, S. 20.

[15] Ebd.

[16] Ebd., Tröger 1984, S. 12; Schwabe 1988, S. 215, 218.

[17] Beyerchen 1980, S. 20.

[18] Ebd., S. 20 f.; Tröger 1984, S. 15; Forman, Paul: Scientific Internationalism and the Weimar Physicists; in: ISIS; Vol. 64; Chicago, New York: 1973, S. 171.

[19] Vgl.: Forman 1973, S. 171.

[20] Forman 1973, S. 153, 171; Schwabe 1988, S. 216 f.; Tröger 1984, S. 12.

[21] Mehrtens, Richter 1980, S. 46; Freise, Gerda: Autonomie und Anpassung – Das Selbstverständnis von Naturwissenschaftlern im Nationalsozialismus; in: Brämer, Rainer (Hrsg.): Naturwissenschaft im NS-Staat; Marburg: 1983, S. 54 ff.; Beyerchen 1980, S. 23; Forman 1973, S. 170.

[22] Tröger 1984, S. 11; Beyerchen 1980, S. 23.

[23] Döring 1974, S. 351.

[24] Mehrtens, Richter 1980, S. 8; Tröger 1984, S. 16.

[25] Beyerchen 1980, S. 20.

[26] Behnke, Ties: Arische Physik; in: Brämer 1983, S. 76; Beyerchen 1980, S. 24; Ringer 1983 b, S. 4.

[27] Brämer 1983, S. 76; Beyerchen 1980, S. 24.

[28] Brämer 1983, S. 76.

[29] Ringer 1983 b, S. 5.

[30] Tröger 1984, S. 15.

[31] Beyerchen 1980, S. 22 ff.; Tröger 1984, S. 14.

[32] Tröger 1984, S. 13.

[33] Döring 1974, S. 344.

[34] Ebd.

[35] Tröger 1984, S. 12 f.; Beyerchen 1980, S. 22; Ringer 1983 b, S. 4; Döring 1974, S. 344.

[36] Mehrtens, Richter 1980, S. 41; Döring 1974, S. 348.

[37] Tröger 1984, S. 16, 21; Döring 1974, S. 340.

[38] Brämer 1983, S. 53.

[39] Tröger 1984, S. 17 ff.; Forman 1973, S. 163, 171 ff.; Frank, Philipp: Einstein; Braunschweig, Wiesbaden: 1979, S. 268; Hammerstein 1995, S. 85.

[40] Cornwell, John: Hitler’s Scientists; London, New York, Camberwell, Toronto, New Delhi, Auckland, Rosebank: 2003, S. 111; Tröger 1984, S. 17 ff.

[41] Cornwell 2003, S. 113 f.; Tröger 1984, S. 20.

[42] Tröger 1984, S. 21.

[43] Ringer 1983 b, S. 5.

[44] Ringer 1983 b, S. 6.

[45] Ebd., S. 8.

[46] Ebd., S. 5 f., 8.

[47] Ebd., S. 5 f.

[48] Mehrtens, Richter 1980, S. 17; Tröger 1984, S. 21 ff.; Beyerchen 1980, S. 22 f.; Ringer 1983 a, S. 186; Hentschel, Klaus (Hrsg.): Physics and National Socialism; Basel, Boston, Berlin: 1996, S. XLII.

[49] Ringer 1983 b, S. 6 f.

[50] Brämer 1983, S. 76; Cornwell 2003, S. 114; Beyerchen 1980, S. 22; Ringer 1983 b, S. 4; Ringer 1983 a, S. 204.

[51] Forman 1973, S. 159; Ringer 1983 b, S. 7.

[52] Beyerchen 1980, S. 23; Ringer 1983 b, S. 3; Hammerstein 1995, S. 92.

[53] Tröger 1984, S. 20; Schwabe 1988, S. 217.

[54] Cornwell 2003, S. 114.

[55] Brämer 1983, S. 15, 53; Forman 1973, 171; Schwabe 1988, S. 213; Beyerchen 1980, S. 22.

[56] Mehrtens, Richter 1980, S. 8, 35, 46; Schwabe 1988, S. 213.

[57] Schwabe 1988, S. 211.

[58] Mehrtens, Richter 1980, S. 16; Tröger 1984, S. 21.

[59] Cornwell 2003, S, 114; Forman 1973, S. 174.

[60] Brämer 1983, S. 77; Beyerchen 1980, S. 23.

[61] Brämer 1983, S. 13; Beyerchen 1980, S. 21.

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Details

Titel
Deutsche Physiker und die nationalsozialistische Bewegung in der frühen Weimarer Republik: Johannes Starks Weg zu Adolf Hitler
Hochschule
Universität Hamburg  (Department für Geschichtswissenschaft)
Veranstaltung
Auf dem Weg zur Macht: NSDAP und deutsche Gesellschaft 1918 - 1933
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
37
Katalognummer
V90420
ISBN (eBook)
9783638045186
ISBN (Buch)
9783638941259
Dateigröße
573 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Dozenten: "Untersuchung insgesamt sehr gelungen: eine differenzierte, in sich schlüssige Analyse komplexer Problemfelder, gewandt formuliert, dicht belegt"
Schlagworte
Deutsche, Physiker, Bewegung, Weimarer, Republik, Johannes, Starks, Adolf, Hitler, Macht, NSDAP, Gesellschaft
Arbeit zitieren
Julius Hess (Autor:in), 2006, Deutsche Physiker und die nationalsozialistische Bewegung in der frühen Weimarer Republik: Johannes Starks Weg zu Adolf Hitler, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90420

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