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Inhalt
1.0 Einleitung
2.0 Versuchsmethoden und –aufbau
3.0 Versuchsdurchführungen und –ergebnisse
3.1 Untersuchungen mit Kindern aus monolingualen Familien
3.1.1 Erstes Experiment: Katalanisch/Spanisch vs. Englisch
3.1.2 Zweites Experiment: Katalanisch vs. Spanisch
3.1.3 Drittes Experiment: Low-pass-gefiltertes Material
3.2 Untersuchungen mit Kindern aus bilingualen Familien
3.2.1 Viertes Experiment a): Spanisch/Katalanisch vs. Englisch
3.2.2 Viertes Experiment b): Katalanisch vs. Spanisch
3.2.3 Fünftes Experiment: Katalanisch/Spanisch vs. Italienisch
4.0 Relevanz der Ergebnisse für die Spracherwerbsforschung
Anhang:
-Die Problematik der Arbeit mit low-pass-gefiltertem Material
1.0 Einleitung
Der Aufsatz „Native-language recognition abilities in 4-month-old infants from monolingual and bilingual environments”[1] von Laura Bosch und Núria Sebstián-Gallés gibt einen Einblick in Untersuchungen des psychologischen Instituts der Universität Barcelona.
Ziel der Untersuchungen war es, Daten und Erkenntnisse über die Diskriminierungsfähigkeit und Mechanismen des Spracherwerbs bi- und monolingual aufwachsender Kinder zu gewinnen.
Motivation für diese Untersuchungen, sowie viele vorangegangene Untersuchungen anderer Spracherwerbsforscher[2], war die Beobachtung, dass Kinder mühelos mehrere Sprachen gleichzeitig erlernen können. Aus diesem Phänomen ergab sich die Frage, wie Kinder zwei oder mehr Sprachen ihrer Umgebung voneinander unterscheiden können. Besäßen sie diese Fähigkeit zur Diskriminierung der Sprachen ihres Umfeldes nicht, so wären bilingual oder multilingual aufwachsende Kinder nicht in der Lage die grammatischen Strukturen auch nur einer Sprache zu erlernen.
Für Laura Bosch und Núria Sebstián-Gallés stellte sich die Frage, ob Kinder unterschiedlichen Alters auch unterschiedliche Merkmale zur Unterscheidung der Sprachen nutzen und ab welchem Alter sich muttersprachspezifische Merkmale auf die Spracherkennung auswirken. Weiter fragten sie, ob die Entwicklung der Prozesse der Sprachrezeption bei Kindern monolingualer und bilingualer Umgebung sich unterschiedlich entwickeln. Wie früh beginnen bilingual aufwachsende Kinder ihre Zielsprachen zu diskriminieren, und wie phonologisch unterschiedlich müssen die Sprachen sein, damit sie leicht diskriminiert werden können? Wie hoch ist die Diskriminierungsfähigkeit zweier so ähnlicher Sprachen wie Katalan und Spanisch? Welche Mechanismen werden zur Spracherkennung genutzt und welche Informationen der Sprache werden ausgewertet.
2.0 Versuchsmethoden und -aufbau
Für die Untersuchungen wurden Kinder ausgewählt, die im Durchschnitt 4 Monate alt waren. Die Wahl der Altersgruppe begründet sich darin, dass in diesem Alter noch keine Manifestierung der Zielsprache vorliegt[3]. Wäre die Zielsprache bereits manifestiert, könnten die Mechanismen der Spracherkennung nicht mehr nachgewiesen werden.
Als Untersuchungsmethode wählten Bosch und Sebastián-Gallés die Visuell-Orientation-Latency[4] (RT). Da einem 4-monate-altem Kind keine Instruktionen erteilt werden können, auf welche Weise es auf bestimmte Reize reagieren soll, werden für solche Untersuchungen Paradigmen genutzt, die auf den natürlichen Reflexen der Kinder beruhen. Die abhängige Variable ist bei dieser Methode die Blickrichtung des Kindes - in die Richtung, aus der die akustischen Stimuli gegeben werden. Dabei wird gemessen, wie lang die Orientierungsphase der Kinder ist, bis sie die nach Gabe der Stimuli die Quelle der akustischen Reize mit ihrem Blick fixiert haben[5].
Das Headturn-Preference-Paradigma (HPP) wurde nicht angewandt, da Kinder zunächst die motorische Fähigkeit entwickelt haben müssen, ihren Kopf drehen zu können. Diese Fähigkeit haben Säuglinge in der Regel erst im Alter von 4,5 Monaten erworben. Die High-Amplitude-Sucking-Methode konnte auch nicht angewendet werden, da sie nur bis zu einem Alter von drei Monaten einsetzbar ist. Ab dem 3. Monat lässt der Saug-Reflex der Kinder nach.
Als akustische Stimuli wurden den Kindern Segmente eines Märchens geboten. Eine professionelle Sprecherin, die alle vier Sprachen Katalanisch, Spanisch, amerikanisches Englisch und Italienisch beherrschte, erzählte Raymond Briggs´ Kindermärchen „Der Schneemann“ in allen genannten vier Sprachen. Aus diesem Material wurden in jeder Sprache 21 verschiedene Sprachproben erstellt, die im Durchschnitt 4 Sekunden lang waren. Diese Proben repräsentierten die charakteristischen prosodischen Merkmale der jeweiligen Sprachen. Die Segmente waren in allen Sprachen inhaltlich äquivalent zueinander. Da das Sprachmaterial von derselben Sprecherin stammte war gewährleistet, dass jegliche Differenzen zwischen den Sprachproben der unterschiedlichen Sprachen auf die Charakteristiken der jeweiligen Sprache zurückgingen und nicht sprecherindividuellen Merkmalen zuzuschreiben waren. Auch konnte durch die Verwendung des gleichen Sprechers verhindert werden, dass bei den Kindern bei der Präsentation der Sprachproben aufgrund des Sprecherwechsels eine Dishabituierung einsetzt.
Die Versuche wurden in einem schalldichten Raum durchgeführt. Die Kinder wurden gegenüber einer Kamera positioniert, so dass über einen Monitor im Kontrollraum das Verhalten der Kinder beobachtet werden konnte. Die beiden Lautsprecher, über die die akustischen Stimuli gegeben wurden, waren mit dem Bild des Gesichtes einer Frau verdeckt und rechts neben der Kamera positioniert, so dass mit Hilfe der Kamera die Blickrichtung der Kinder erfasst werden konnte. Die Bezugsperson des Kindes saß hinter dem Kind im Versuchsraum, mit der Anweisung, das Kind nicht zu berühren, um seine Aufmerksamkeit nicht stören, es sei denn, das Kind zeigte Anzeichen von Stress.
Zu Beginn der Experimente wurde die Aufmerksamkeit der Kinder durch bunte Bilder erregt, die auf einem Monitor gezeigt wurden, der sich ebenfalls im Versuchsraum befand. Nach dem visuellen Reiz, mit einer Dauer von 8 Sekunden, begann die eigentliche Testphase mit der Darbietung der akustischen Stimuli. Ob der Reiz über den linken oder rechten Lautsprecher eingespielt wurde und welche Sprache wiedergegeben wurde, wurde nach dem Zufallsprinzip bestimmt. Es wurden maximal drei Sätze über den gleichen Lautsprecher und maximal zweimal hintereinander die gleiche Sprache wiedergegeben. Die Versuchsdauer betrug pro Versuchsdurchlauf maximal 15 Minuten. Alle 16 Sekunden wurde ein neues Testmodul gestartet, bestehend aus 14 Versuchen mit jeweils sieben Sätzen aus jeder Sprache. Nach einer kurzen Pause wurde eine zweite Testreihe gestartet. Vor der zweiten Testreihe[6] wurde eine kurze Konditionierungsphase eingefügt, in der das Kind mit Hilfe der beiden italienischen Sätze, von denen einer über den rechten, der andere über den linken Lautsprecher eingespielt wurde, darauf konditioniert werden sollte bei der Gabe akustischer Reize mit seinem Blick die Quelle der Reize, den jeweils aktiven Lautsprecher zu fokalisieren. In der Zeit zwischen den akustischen Reizen wurde auf dem Monitor ein Fixationspunkt eingeblendet.
3.0 Versuchsdurchführungen und -ergebnisse
3.1 Untersuchungen mit Kindern aus monolingualen Familien
3.1.1 Erstes Experiment: Katalanisch/Spanisch vs. Englisch
Im ersten Experiment wurden die kategoriell unterschiedliche Sprachen Katalanisch/Spanisch und Englisch kontrastiert. Die Sprachen unterscheiden sich in rhythmischen und prosodischen Charakteristika. Spanisch ist eine silbenzählende Sprache, Englisch dagegen eine akzentzählende Sprache. Ein signifikanter Unterschied der Sprachen zeigte sich in der Anzahl der Silben pro Äußerung. Das englische Material wies pro Äußerung nur 13,1 Silben auf, das Katalanische dagegen 16,0 und das Spanische 16,4 Silben. Die englischen Proben wiesen auch mehr Dynamik in der Intonation auf.
Das Experiment wurde mit 10 Kindern durchgeführt. 5 Kindern aus katalanischsprechenden Familien und 5 aus spanischsprechenden Familien. Monolingual aufgewachsene Kinder mit der Muttersprache Katalanisch wurden die Segmente der englischen und katalanischen Sprachproben des Märchens präsentiert, Kinder mit der Muttersprache Spanisch wurden englische und spanische Sprachproben präsentiert. In dem zweiten Testmodul wurden dann native und nichtnative Sprachen, Katalanisch/Spanisch und Englisch kontrastiert.
Nach den beiden Testreihen wurden die Videoaufzeichnungen ausgewertet, um die Orientierungszeiten der Kinder zu erfassen. Mögliche drop-out-Raten ergaben sich, wenn Kinder weinten, von der Mutter berührt wurden, wenn Kinder zu spät reagierten, den falschen Lautsprecher fixierten oder durch technische Ausfälle. Die Kinder durften nicht mehr als sechs Fehlversuche in jeder Sprache aufweisen. Wenn dieses Kriterium nicht erreicht wurde, wurde das Material zur weiteren Auswertung nicht herangezogen. In 73% der Fälle aber wurde der akustische Stimulus korrekt lokalisiert. Die Orientierungsphase war bei bekannten Reizen kürzer als bei unbekannten Reizen. Bei muttersprachlichen Sprachproben (Katalanisch/Spanisch) zeigte sich ein Habituierungseffekt, die Orientierungszeit lag bei 1054 ms. Bei nichtnativen Sprachproben (Englisch) zeigte sich ein Dishabituierungseffekt. Hier lag die Orientierungszeit bei 1294 ms. Es ergab sich also ein signifikanter Unterschied von 240 ms. Die signifikant kürzere Orientierungszeit bei nativen Sprachproben zeigt, dass 4-Monate-alte Kinder ihre Zielsprache von einer Fremdsprache diskriminieren können[7].
Bemerkenswert war, dass bei der ersten Sichtung des Videomaterials auffiel, dass die meisten Kinder zunächst vom Fixationspunkt weg in eine unbestimmte Richtung blickten, nach wenigen Millisekunden aber den aktiven Lautsprecher fixierten. So wurden zwei Orientierungszeiten ausgewertet. Zum einen die Zeit zwischen dem Einsetzen des akustischen Reizes und der Lösung des Blicks vom Fixpunkt, zum zweiten die Zeit zwischen Einsetzen des Stimulus und der Fixierung des Lautsprechers. Fokussierte ein Kind direkt den Lautsprecher, so waren die erste und die zweite Orientierungszeit identisch. Berücksichtigt man nun auch die erste Orientierungszeit, so betrug diese bei muttersprachlichen Sprachproben 762 ms, bei den englischen Sprachproben hingegen 855 ms. Der Unterschied ist aber nicht signifikant, da nicht alle Kinder eine zweiphasige Orientierung zeigten. Dieses Phänomen könnte Aufschluss über die Komplexität der Diskriminierungs-Mechanismen geben, mit denen Kinder Sprachen diskriminieren.
3.1.2 Zweites Experiment: Katalanisch vs. Spanisch
Im zweiten Experiment wurden[8] Säuglingen aus monolingualem Umfeld Reize zweier kategoriell gleicher Sprachen, nämlich der Sprachen Katalan und Spanisch geboten. Die prosodischen Strukturen der beiden Sprachen sind sehr ähnlich, jedoch unterscheiden sie sich in ihrer segmentalen Struktur hinsichtlich ihrer Silbenstruktur. Während das Phoneminventar des Katalanischen acht Vokale umfasst, hat das Spanische nur fünf Vokale. Folglich unterscheiden sich auch die Silbenstrukturen, Kopf, Nukleus und Coda weisen unterschiedliche VC-Kombination auf.
Dieses zweite Experiment sollte Aufschluss darüber geben, wie weit Sprachen phonologisch voneinander entfernt sein müssen, um von 4-Monate-alten Kindern diskriminiert werden zu können. Weiter sollte es Aufschluss darüber geben, ob die Sprachen nur auf prosodischer Ebene oder bereits auf segmentaler Ebene diskriminiert werden. Es wurde mit 20 Kindern durchgeführt, von denen 10 aus monolingualen katalanischsprechenden Familien und 10 aus monolingualen spanischsprechenden Familien stammten. Die katalanischen Kinder waren im Durchschnitt 126 Tage alt, die spanischen Kinder 128 Tage.
Es wurden die 14 Sätze aus dem ersten Modul des ersten Experimentes genutzt. In der Konditionierungsphase wurden zwei englische Sätze benutzt.
Die Versuchsgruppe katalanischer Kinder diskriminierte 75,5% der Sprachproben korrekt, die der spanischen Kinder 74,4%. Die Orientierungszeit der katalanischen Kinder betrug bei muttersprachlichen Sprachproben 1173 ms, bei spanischen Proben 1344 ms. Die Orientierungszeit der spanischen Kinder bei nativen Sprachproben betrug 1164 ms, bei nichtnativen katalanischen Proben 1320 ms. Auch hier zeigen sich eindeutige Habituierungs- und Dishabituierungsefffekte. Die Muttersprache wurde von beiden Gruppen signifikant schneller fokalisiert als die nichtnative Sprache. 4-Monate-alte Kinder sind also auch in der Lage Sprachen zu diskriminieren, die derselben phonologischen Kategorie angehören.
Hier werden nun die Zeiten der ersten Orientierungsphase interessant. Bei katalanischen Kindern betrug die Reaktionszeit bei katalanischem Material 885 ms, bei spanischem Material 866 ms. Bei spanischen Kindern betrug die Reaktionszeit bei katalanischen Proben 816 ms, bei muttersprachlichen Proben 891 ms. Da die kontrastierten Sprachen auf der suprasegmentalen Ebene nicht unterscheiden, folgt daraus, dass die Kinder die Sprachen auf segmentaler Ebene diskriminieren. Die Diskriminierungs-Mechanismen sind komplizierter und aus dieser Tatsache resultierten wohl die etwas längeren Reaktionszeiten, als wir sie im ersten Experiment bei prosodisch unterschiedlichen Sprachen vorfanden.
3.1.3 Drittes Experiment: Low-pass-gefiltertes Material
Im dritten Experiment wurde mit low-pass-gefilterte Sprachproben gearbeitet, um die Frage auf welcher Ebene 4-Monate-alte Kinder Sprachen der gleichen phonologischen Klasse diskriminieren näher zu untersuchen. Bei den Proben wurde nur der Frequenzbereich unterhalb 400 Hz erhalten und somit alle segmentalen Informationen der Sprache liquidiert[9].
Wieder wurden 20 Kinder untersucht, von denen 10 aus monolingualen katalanischsprechenden Familien und 10 aus monolingualen spanischsprechenden Familien stammten. Die katalanischen Kinder waren im Durchschnitt 125 Tage alt, die spanischen Kinder 127 Tage. In der Konditionierungsphase wurde mit den beiden ungefilterten italienischen Sätzen gearbeitet.
Katalanische Kinder diskriminierten 50,2% der Proben korrekt, spanische Kinder 62,6%. Die Orientierungszeit der katalanischen Kinder betrug bei muttersprachlichen Sprachproben 1302 ms, bei spanischen Proben 1393 ms. Sieben von zehn katalanischen Kindern fokalisierten ihre Muttersprache schneller. Die Orientierungszeit der spanischen Kinder bei nativen Sprachproben betrug 1301 ms, bei nichtnativen katalanischen Proben 1468 ms. Alle spanischen Kinder fokalisierten ihre Muttersprache schneller als die nichtnative Sprache. Bosch und Sebastián-Gallés halten die etwas schlechteren Ergebnisse bezüglich der Diskriminierungsfähigkeit aber nicht für einen Hinweis dafür, dass die Kinder auch segmentale Merkmale zur Diskriminierung heranziehen, sondern dass als Hinweis, dass es vielleicht doch leichte Unterschiede in der Prosodie der beiden Sprachen gibt.
3.2 Untersuchungen mit Kindern aus bilingualen Familien
Bei bilingual aufgewachsenen Erwachsenen, die zwei Sprachen perfekt beherrschen hat sich gezeigt, dass meist eine Sprache dominanter ist. Die Dominanz muss sich sehr früh entwickelt haben. Wenn sich bereits bei 4-Monate-alten Kindern eine Sprache stärker manifestiert hat, so ist zu vermuten, dass die Diskriminierungs-Mechanismen bilingualer Kinder mit der Dominanz einer der beiden Sprachen sich nicht von den Diskriminierungs-Mechanismen monolingualer Kinder unterscheiden. Das Ziel der folgenden Experimente soll die Beantwortung der Frage sein, ob Kinder aus bilingualem Umfeld eine ihrer Muttersprachen in ähnlicher Weise von einer nichtfamiliären Sprache diskriminieren wie Kinder aus monolingualen Familien und wie diese Kinder die beiden Sprachen, mit denen sie aufwachsen diskriminieren. Um diese Frage zu beantworten wurden die Ergebnisse der Diskriminierungsleistung monolingualer und bilingualer Versuchgruppen miteinander verglichen.
3.2.1 Viertes Experiment a): Spanisch/Katalanisch vs. Englisch
Kinder aus bilingualen Familien[10] (Katalan/Spanisch) werden, wie zuvor schon den monolingualen Kindern, Stimuli einer ihrer Muttersprachen und einer Sprache einer anderen prosodischen Kategorie (Englisch) geboten. Dazu wurden 10 Kinder aus bilingualen Familien ausgewählt. 5 Kinder hatten eine katalanischsprechende Mutter, 5 eine spanischsprechende Mutter.
Der prozentuale Anteil korrekter Orientierung lag bei den monolingualen Kindern bei 72,2%, bei den bilingualen Kindern ergab sich ein Anteil von 64,1%. Bei den Kinder aus bilingualem Umfeld betrug die Orientierungszeit bei muttersprachlichen Proben 1597 ms, bei nichtnativen 1454 ms. Die Kinder aus monolingualem Umfeld zeigten deutliche Habituierungseffekte bei muttersprachlichen Proben. Die Kinder aus bilingualer Umgebung dagegen zeigten mit einer Differenz von 151 ms deutlich kürzere Orientierungszeiten bei nichtnativen Sprachproben. Dieses unerwartete Ergebnis, die längere Orientszeit bei muttersprachlichem Material stellte die beiden Spracherwerbsforscher vor einige Fragen, über die die folgenden Experimente Aufschluss geben sollten.
3.2.2 Viertes Experiment b): Katalanisch vs. Spanisch
Wieder wurden 5 Kinder mit spanischsprechender Mutter und 5 mit katalanischsprechender Mutter ausgewählt, denen spanisches und katalanisches Material vorgespielt wurde.
75% der bilingualen Kinder diskriminierten die beiden Sprachen korrekt. Die Orientierungszeit betrug bei katalanischem Material 1311 ms, bei spanischem Material 1291 ms. Im Vergleich mit der monolingualen Versuchsgruppe ergeben sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Orientierungszeit oder dem prozentualen Anteil der korrekten Orientierung. Damit ist gezeigt, dass sich zumindest in diesem Alter noch keine Dominanz einer der beiden zu erlernenden Sprachen manifestiert hat.
3.2.3 Fünftes Experiment: Katalanisch/Spanisch vs. Italienisch
Die längere Orientierungszeit bilingual aufwachsender Kinder bei muttersprachlichem Material wirft die Frage auf, ob es bei diesen Kindern durch die Bilingualität zu Problemen der kognitiven Sprachrepräsentation kommt, ob die Diskriminierungsmechanismen komplexer sind. Wenn es den bilingualen Kindern Schwierigkeiten bereitet die beiden Sprachen zu diskriminieren, stellt sich die Frage, ob diese Schwierigkeiten auf der Tatsache beruhen, dass sie zwei Sprachen lernen oder darauf, dass die beiden Sprachen so ähnlich sind, dass es zur Lernhemmung kommt. Im Fall einer Lernhemmung wäre zu erwarten, dass die Kinder Schwierigkeiten bei der Diskriminierung von Katalanisch/Spanisch und Italienisch haben. Das Italienische ist als ebenfalls romanische Sprache und entstammt so der gleichen phonologischen Kategorie. Zehn Kindern aus bilingualer Umgebung wurden katalanisches, spanisches und italienisches Material präsentiert.
Wie schon im vorangegangen Experiment reagierte die bilinguale Versuchgruppe mit 1292 ms schneller auf die italienischen Sprachproben als auf die muttersprachlichen Proben, wo die Orientierungszeit 1445 ms betrug. Dieses Ergebnis belegt eindeutig, dass die Kinder mit zwei Muttersprachen nicht aufgrund der Ähnlichkeit der Sprachen längere Orientierungszeiten haben. Sie benötigen allerdings mehr Zeit, um zu erkennen, welche der beiden zu Hause gesprochenen Sprachen ihnen nun vorgespielt wurden, da sie im Grunde nicht zwei sondern drei Sprachen miteinander vergleichen. Bosch und Sebstián-Gallés vermuten, dass Kinder von 4 Monaten gerade beginnen wahrzunehmen, dass sie mit zwei Sprachen konfrontiert werden. Würde das Experiment etwa zwei Monate später durchgeführt, so vermuten die Spracherwerbsforscher, wäre die Diskrepanz der Orientierungszeiten zwischen monolingualen und bilingualen Kindern möglicherweise nicht mehr feststellbar.
4.0 Relevanz der Ergebnisse für die Spracherwerbsforschung
Die vorgestellt Untersuchung von Laura Bosch und Núria Sebastián-Gallés beschäftigt sich mit den Phänomenen der frühkindlichen Sprachwahrnehmung.
Die Experimente leisten einen Beitrag zu der Diskussion, ob Kinder nur ihre Muttersprache, alle Sprachen der Welt oder nur Sprachen verschiedener phonologischer Klasse diskriminieren können. Diese Frage wurde von den beiden Spracherwerbsforschern in dem Kontext bearbeitet, ob Kinder ihre Muttersprache diskriminieren können, wenn sie in bilingualem Umfeld aufwachsen und beide Sprachen der gleichen phonologischen Klasse angehören. Weiterhin sollte in den Experimenten untersucht werden, wie bilingualer Spracherwerb funktioniert und wie dieser sich von monolingualem Spracherwerb unterscheidet. Die Ergebnisse der Experimente von Bosch und Sebstián-Gallés sprechen dafür, dass die Kinder früher als bisher angenommen in der Lage sind differenziertere prosodische Merkmale einer Sprache zu erfassen. Die Untersuchung zeigt zum einen, dass 4 Monate alte Kinder in der Lage sind sowohl Sprachen unterschiedlicher als auch gleicher phonologischer Kategorien zu diskriminieren und zum anderen, dass Bilingualität Einfluss auf die Diskriminierungsmechanismen der Kinder hat. Schon frühere Untersuchungen von Mehler (1988), Bahrick und Pickens (1993), Nazzi, Moon et al. (1993) sowie Dehaene-Lambertz und Houston (unveröffentlicht) beweisen, dass Kinder schon im frühen Säuglingsalter in der Lage sind, ihre Muttersprache anhand prosodischer Merkmale von anderen Sprachen zu unterscheiden. Die Hypothese, Kinder könnten nur Sprachen divergenter phonologischer Klassen diskriminieren, haben Bosch und Sebastián-Gallés widerlegt.
Anhand welcher Merkmale ein Säugling aber Sprachen diskriminiert und wie sich die Mechanismen der Spracherkennung mono- und bilingualer Kinder nun konkret unterscheiden, konnte nicht geklärt werden. Ob die Diskriminierung nun auf segmentaler Ebene oder doch auf prosodischer Ebene stattfindet konnte nicht eindeutig beantwortet werden, da die Tiefpass-Filterung nicht alle segmentalen Informationen der Sprache herausfiltert.
Angesichts der vielen Diskussionen um die Vor- und Nachteile mehrsprachiger Erziehung wäre es lohnenswert, die unbeantworteten Fragen dieser Untersuchungen als Ausgangspunkt weiterer Forschungen zu sehen.
Quelle:
&Bosch, Laura/Sebastián-Galles, Núria: Native-language recognition abilities in 4-month-old infants from monolingual and bilingual environments. In: Cognition 65/Dezember 1997. Seiten 33-69.
Die Problematik der Arbeit mit low-pass-gefiltertem Material
Laura Bosch und Núria Sebastián-Gallés haben in ihrer Untersuchung versucht, mit Hilfe von low-pass gefiltertem Material, die Frage zu beantworten, ob Kinder Sprachen anhand prosodischer oder segmentaler Merkmale[11] diskriminieren.
Die Sprachproben in dem Experiment der beiden Spracherwerbsforscher wurden von einer Sprecherin gesprochen. Die Grundfrequenz einer Frauenstimme liegt bei etwa 200 Hz. Bei einer low-pass-Filterung bei 400 Hz, wie sie im dritten Experiment eingesetzt wurde, sollte theoretisch lediglich die Grundfrequenz erhalten bleiben. Anhand der Dynamik der Intonation (Hz) und der Betonung (dB) sollten prosodische Merkmale erfasst werden können. Aber die Obertöne, die Vielfachen der Grundfrequenz, also alle Formanten der Vokale sollten nicht erhalten bleiben. Somit sollte sich zwar anhand von +/- Stimmhaftigkeit erkennen lassen, dass Vokale gesprochen werden, aber nicht welche - die Vokalqualität sollte nicht erkennbar sein.
Die Trennung zwischen suprasegmentalen und segmentalen ist hier (und wohl generell) sehr schwierig. Denn dadurch, dass CV-Stukturen, die Grundlage rhytmischer Merkmale sind, also Silbenstrukturen hörbar sind, kann man nicht mit Sicherheit sagen, dass in low-pass-gefiltertem Material alle segmentalen Informationen selektiert werden. Mit dieser Problematik sahen sich wohl auch Laura Bosh und Núria Sebastián-Gallés konfrontiert: „ it has been claimed, that a low-pass-filter cut-off frequency of 400 Hz. does not completely remove segemental information.” (S. 62).
Um die Problematik zu verdeutlichen, habe ich eine Sprachprobe[12] einer american-english sprechenden Frau low-pass-gefiltert[13] und mit Hilfe des Programms WafeSurfer Songagramm-Ausschnitte erstellt (Die Sonagramme sind jeweils als Screenshots beigefügt). Die verschiedenen Waves, power-plot, pitch-contour und formant-contour habe ich erstellt, um die gefilterte mit der ungefilterten Sprachprobe vergleichen zu können und zu ermitteln, ob die low-pass-Filterung wirklich alle segmentalen Informationen liquidiert.
Die power-plot-wave[14] (Abb. 4+5) weist eine Reduzierung der Betonung gegenüber dem ungefilterten Material auf. Während die Amplitude der ungefilterten Probe von ~40 bis~60 dB reicht, sind dies bei dem gefiltertem Material nur ~35 bis ~50 dB. Durch den Verlußt der Formanten bei low-passgefiltertem Material sind auch die Betonungsmuster nicht mehr so gut erkennbar. Denn nicht die Grundfrequenz allein erreicht diese Lautstärken bis ~60 dB, sondern diese wird vor allem durch die Summierung der höherfrequentigen Intesitätsballungen der Formanten erreicht.
Ähnliches gilt für die pitch-contour[15] (Abb. 6+7) der Sprachproben[16]. Diese zeigt, dass die Dynamik des Intonationsverlaufs/Melodik durch die Filterung reduziert worden ist. Also sind durch die Filterung nicht nur die gewünschten Informationen, sondern auch prosodische Informationen verloren gegangen. Einige segmentale Informationen dagegen sind trotz der Filterung erhalten geblieben.
Vokale sind komplexe periodische Klänge, bestehend aus 3-4 Sinustönen (Grundfrequenz + Obertöne). Jeder Vokal hat spezifische Intensitätsballungen/Formanten in unterschiedlichen Frequenzbereichen. Diese Unterschiede entstehen durch den Grad der Lippenrundung, Kieferöffnung und Zungenstellung. Durch diese artikulatorischen Charakteristika der Vokale zirkuliert unterschiedlich viel Luft in den Resonanzräumen des Vokaltrakts (Mundraum, Ansatzrohr, Nasenhöhle). Dadurch entstehen bei jedem Vokal spezifische Kombinationen der Obertöne (Sinustöne). Je „velarer“ z.B. der Resonanzraum der Vokale ist und je höher der Grad der Verengung ist, desto niedriger sind die F1-Frequenzen z.B. bei [i, I, e]. Bei Vokalen wie [i, I, e] können die F1-Formanten also durchaus unter 400 Hz liegen und ihre Qualität somit trotz low-pass-Filterung ansatzweise erkennbar bleiben!
Die Sprecherin meiner Sprachprobe hatte beispielsweise eine Grundfrequenz (F0) von ~170 Hz (für eine Frau schon relativ tief![17] ), so dass der erste Formant des Vokals [I] bereits bei ~340 Hz lag und somit der entscheidende charakteristische Formant zur Erkennung der Vokalqualität unter 400 Hz lag und trotz Filterung erhalten blieb (Siehe Abb. 1+2+3!).
Ich halte aus diesem Grunde die Arbeit mit low-pass gefiltertem Sprachmaterial in anbetracht der Fragestellung des Experimentes von Laura Bosch und Núria Sebastián-Gallés für äußerst problematisch[18]. Ich möchte nochmals betonen, dass die Trennung zwischen suprasegmentalen und segmentalen besonders in diesem Fall sehr schwierig ist. Die Untersuchungsergebnisse lassen, schon wegen dieser Methodik, keinen Rückschluss darauf zu, ob 4-Monate-alte Kinder Sprachen aufgrund suprasegmentaler oder segmentaler Merkmale diskriminieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1, ungefiltert
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2, gefiltert
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3, gefiltert, Zoom im Bereich bis 400Hz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4, ungefiltert
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5, gefiltert
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 5a, Vergleich der Waves 4 und 5
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 6, ungefiltert
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 7, gefiltert
[...]
[1] erschienen in der Zeitschrift Cognition 65/1997.
[2] Schon frühere Untersuchungen von Mehler (1988), Bahrick und Pickens (1993), Nazzi, Moon et al. (1993) sowie Dehaene-Lambertz und Houston (unveröffentlicht) beweisen, dass Kinder schon im frühen Säuglingsalter in der Lage sind, ihre Muttersprache anhand prosodischer Merkmale von anderen Sprachen zu unterscheiden. Allerdings wurde für diese Untersuchungen ausschließlich low-passes-gefiltertes Sprachmaterial verwandt. Das heißt, dass in diesem Proben nur der untere Frequenzbereich erhalten war. Der untere Frequenzbereich ist Träger prosodischer Merkmale, segmentale Merkmale wie Silbenstruktur und Intonation sind nicht erhalten. Des Weiteren waren die Versuchsgruppen unterschiedlich alt.
[3] Kuhl wies eine Manifestierung der Zielsprache bei 6 Monate alten Kindern nach.
[4] Da die Visuell-Orientation-Latency-Methode zuvor aber nur bei 2 Monate alten Kindern angewandt worden ist, wurde zunächst überprüft, ob diese Methode auch bei 4-Monate-alten Kindern einsetzbar sei.
[5] Die Zeitmessung hat zudem folgende Vorteile:(A) Kann man feststellen, wie kompliziert die Mechanismen der Sprachdiskriminierung sind. (B) Hat man die Möglichkeit anhand des Paradigmas Zeit, die Ergebnisse der 4-Monate-alten Kinder in späteren Studien, die die Entwicklung der Kinder beobachten, mit den Ergebnissen anderer Altersgruppen zu vergleichen.
[6] Eigentlich war noch ein drittes Testmodul geplant gewesen, um mögliche drop-out-Raten zu kompensieren, aber nach 28 präsentierten Sprachproben war die Konzentrationsfähigkeit der meisten Kinder zu gering.
[7] Weiter zeigt das erste Experiment, dass die Visuell-Orientation-Latency-Methode auch bei älteren Kindern angewendet werden kann.
[8] Im Übrigen verlief das zweite Experiment methodisch, in Aufbau und Ausführung wie das erste Experiment.
[9] Die Arbeit mit low-pass-gefiltertem Material ist in diesem Kontext nicht unproblematisch. Siehe Anhang!
[10] Der Versuchsaufbau der folgenden Experimente mit bilingualen Kindern ist identisch mit dem der vorigen Experimente.
[11] Die prosodischen Charakteristika einer Sprache setzen sich zusammen aus ihrer Betonung (Akzentbetonung, Silbenbetonung, Phrasenbetonung), ihrem Rhythmus (jambisch, trochäisch, daktylisch...) und ihrer Intonation (Tonhöhenvariation bei z.B. Frage oder Aussage…). Die segmentale Ebene der Sprache umfasst dass phonologisch relevante Lautmaterial und dessen Kombination z.B. in Silbenstrukturen.
[12] Die Sprachprobe besteht aus dem englischen Satz: <Imaginable to us only as flights of fancy> / [?ImedZIn@B@ltu?Us?@Unli?ez`ßfAItzß?Vfensi]. Die, als Abbildungen beigefügten Sonagramm-Screenshots umfassen den Zeitausschnitt von 0,03-0,60 sek. = <imaginable> / [?ImedZIn@B@l].
[13] Filterung mit dem Programm Kay-Multispeech durch Herrn Prof. Dr. Künzel; Cut bei 400 Hz, wie auch in dem Experiment von Bosch/Sebstián-Gallés.
[14] Power-plot-wave: Stilisierung der Betonung/Rhytmik.
[15] Pitch-contur: Stilisierung des Intonationsverlaufs, Tonhöhe.
[16] Die Sprachprobe ist aufgrund ihrer Hintergrundgeräusche nicht besonders gut. Die Störgeräusche sind für die Analyse allerdings relativ irrelevant, da sich das Rauschen (Wind) auf den unteren Frequenzbereich von 0-100 Hz beschränkt. Da die Grundfrequenz einer Frauenstimme aber bei etwa 200 Hz liegt, kann es hier kaum zu Irritationen durch Überlagerungen kommen. Das Grillenzirpen, dass konstant bei 3000 Hz liegt, könnte zu Verwechslungen bezüglich F3/F4 führen. Ich habe jedoch mit einem Ausschnitt gearbeitet, in dem kein Grillenzirpen vorhanden ist.
[17] statistisch haben nur 10% aller Frauen eine Stimmfrequenz von ~170 Hz.
[18] Über dieses Thema ließe sich durch etwas intensivere Einarbeitung sicherlich eine komplette Hausarbeit schreiben, aber das möchte ich an dieser Stelle nicht leisten. Leider habe ich weder Erfahrung im Sonagramm-Lesen noch in der Auswertung von Sonagrammen, daher bitte ich die Oberflächlichkeit meiner Argumentation und Mängel in der Darstellung zu entschuldigen!
- Arbeit zitieren
- Kerstin Schramm (Autor), 2004, Native-language recognition abilities in 4-month-old infants, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108975
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