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Gliederung:
0. Vorwort
1.1. Einleitung
1.2. Der ‚epische Held‘ in der Chanson de geste
2. Der ‚epische Held‘ in der Voyage de Charlemagne en Orient
2.1. Karl der Große in Jerusalem
2.1.1. Sein Auftreten und seine Heldentaten
2.2. Karl der Große in Konstantinopel
2.2.1. Sein Auftreten und seine Heldentaten
2.2.2. Seine Auffassung der Gesellschaftsordnung
3. Schlussbetrachtung
LITERATURVERZEICHNIS
0. Vorwort
Diese Hausarbeit entstand in Zusammenhang mit dem Hauptseminar ‚Die Eroberung von Konstantinopel: Chanson de geste, höfischer Roman, Chronik‘.
Sie trägt den Titel ‚Der ‚epische Held‘ in der Voyage de Charlemagne en Orient.
Grundlage für die Analyse sind die im Seminar behandelten Texte ‚Il Viaggio di Carlomagno in Oriente‘[1] und ‚Le Voyage de Charlemagne à Jérusalem et à Konstantinople‘[2].
Im einleitenden Teil dieser Arbeit soll versucht werden, die wesentlichen Charakterzüge einer Chanson de geste zu erfassen, wobei der Held bzw. die Helden im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.
Es schließt sich im nachfolgenden Punkt 1.2. eine Beschreibung der charakteristischen Züge eines Helden an. Diese dienen im Folgenden zur Fixierung eines oder mehrerer Helden in der Voyage de Charlemagne en Orient.
Im Hauptteil meiner Arbeit, dem Punkt 2 mit seinen Unterpunkten, möchte ich mich hauptsächlich mit den folgenden Fragestellungen auseinandersetzen:
- Ist der Protagonist Karl der Große gleichsam der Held?
- Gibt es eventuell noch andere Helden?
- Wer ist letztendlich der Held in der Voyage de Charlemagne en Orient und warum?
Im Zuge dieser Untersuchung analysiere ich das Auftreten Karls und das der anderen Charaktere, die im Laufe der Reise angekündigten oder vollbrachten Heldentaten und schließlich Karls Relation zu den anderen Personen bzw. dessen Position im Beziehungsgeflecht der epischen Charaktere.
In der Schlussbetrachtung wird ein Resümee der Untersuchungsergebnisse gezogen. Daraus soll geschlussfolgert werden, wer der Held in der Voyage de Charlemagne en Orient ist und aus welchen Gründen.
1. Einleitung
Die mittelalterliche Chanson de geste, zu diesem Typus zählt auch die Karlsreise, zeichnet sich durch ihren mündlichen Charakter aus. Das Lied ist die Inszenierung einer epischen Erzählung und „[...] l’auteur/ le jongleur invite le lecteur/ l’auditeur à faire son miel du récit qui lui est proposé.“ (Boutet, 1993: 17 f.). Das Textkorpus basiere, so Boutet weiter, auf schriftlichen Zeugnissen, die den Wahrheitsgehalt der Erzählung stützten. Somit ist anzunehmen, dass der heroische Siegeszug Karls nicht der Fantasie eines Erfinders, sondern vielmehr historischen Quellen entspringt. Jedoch ist in Bezug auf die Karlsreise offensichtlich, dass die Schilderungen stilisiert sind. Als Beispiel sei an dieser Stelle die Ankunft Karls in Jerusalem genannt, bei der er und seine Begleiter für Jesus und die zwölf Aposteln gehalten werden. Weitere Beispiele führe ich im Verlauf der Hausarbeit zur Illustration der plakativen, parodistischen Erzählweise an. Es ist also legitim, von einer Abänderung der Geschehnisse durch den Erzähler oder durch andere mündliche Übermittler zu sprechen, womöglich, um die Chanson für das Publikum interessanter zu gestalten. Aus diesem Grund sind an der oben angeführten Hypothese Boutets Einschränkungen bezüglich des Wahrheitsgehaltes des Liedes durchaus angebracht. Es ist plausibler zu sagen, dass „[...] la chanson de geste puise son origine dans un passé dont elle prétend détenir la vérité, et qui se montre toujours disponible à la célébration de hauts faits.“ (Suard: 50) [die Kursivmarkierung stammt von mir]. Letztgenannte basieren ergo auf Erzählungen, die den Protagonisten heldenhaft erscheinen lassen, was aber keinesfalls den wahren Geschehnissen entsprechen muss. Diese bleiben dem Zuhörer verborgen.
Inhalt der Chansons de geste ist stets die Würdigung und Anerkennung der „[...] exploits des héros du passé [...]“ (Suard: 121). Die Schilderungen der gefeierten Heldentaten sind Rekonstruktionen von Episoden aus der Biografie einer bestimmten Person. Auch die Karlsreise ist ein solches, in sich abgeschlossenes Lied, welches Karls Siegeszug gegen den Orient thematisiert.
Die erzählte Zeit beträgt lediglich einige Jahre („[...] pur set aunz en la tere ester e demurer.“ (Bonafin: Z. 74)), die Erzählung ist also nur ein kleiner Ausschnitt aus Karls Leben, steht aber in enger Relation zu anderen Chansons de geste (vgl. Heintze: 30).
Von der Thematik her lässt sich (nach Suard: 79 f.) eine Dreiteilung der Gesamtheit der Themen in den Liedern vornehmen:
A) Poèmes où domine l’idéal de la croisade
B) Chansons de révolte et de lignage
C) Chansons d’aventures.
Der Voyage de Charlemagne en Orient ist diesen inhaltlichen Kategorien nicht eindeutig zuzuordnen: Einerseits kann man von einem Eroberungsfeldzug gegen den Orient sprechen, andererseits revoltiert Karl im Zuge der Durchsetzung seines alleinigen Herrschaftsanspruches gegen alle Mächtigeren, in diesem Fall den Patriarchen und Hugo, und er will seine Familienfolge würdig vertreten („[...] Rollanz si est mis nes.“ (Tyssen: Z.307)). Außerdem gilt es für den Heeresführer, auf seiner Reise Abenteuer zu bestehen.
Wie sich der Protagonist während dieses Abenteuerfeldzuges im Einzelnen verhält, wird in Punkt 2 dieser Arbeit erörtert. Zunächst wird, im folgenden Abschnitt, die Figur des Helden allgemein umrissen, bevor ich die in diesem Paragraf angeführten Charakteristika auf den epischen Helden in der Karlsreise beziehe.
1.2. Der ‚epische Held‘ in der Chanson de geste
Um den Begriff ‚Held‘ zu fixieren, d. h. die Verwendung des Terminus im weiteren Verlauf der Hausarbeit zu verdeutlichen und um somit eine Grundlage für die weitere Analyse zu schaffen, verweise ich an dieser Stelle auf eine Definition des Grand Dictionnaire Hachette Encyclopédique, die den Helden allgemein umschreibt:
héros [‚ero] n. m.
1. MYTH. Demi- dieu. Achille, Hercule sont des héros.
2. Celui qui s’est rendu célèbre par son courage et son succès dans les faits d’armes. Un héros de la guerre de 14.
3. Celui qui se distingue par sa grandeur d’âme exceptionelle, son dévouement total, etc. Les héros de la science.
4. Personnage principal d’une œuvre littéraire, dramatique ou cinématographique. Le héros d’un film. – [...] Le héros d’une aventure, celui à qui elle est arrivée. – Le héros de la fête, celui en l’honneur de qui elle est donnée.
(Grand Dictionnaire Hachette Encyclopédique: 712)
Ich möchte nun auf diese einzelnen Aspekte eingehen, und zwar unter Bezugnahme von Definitionen diverser Autoren bezüglich des Helden in der Chanson de geste.
Im Zuge der anschließenden Analyse des ‚epischen Helden‘ verweise ich an mehreren Stellen auf jene Definitionen bzw. überprüfe, ob diese auf die Charaktere in der Voyage de Charlemagne en Orient anwendbar sind.
Ad 1) MYTH. Demi- dieu
Dominique Boutet erwähnt, dass „[...] la chanson de geste peut s’approcher de l’hagiographie.“[3]. Der epische Held erreiche, zumeist postum, den Status eines Heiligen bzw. eines Halbgottes. Er sei jedoch in keinem Fall Gott gleichgestellt.
Als „[...] médiateur entre le monde humain et celui de la transcendance [...]“ (Boutet, 1994: 48) agiert der Held ruhmreich, wobei „[...] les exploits des héros profanes sur le même plan que ceux de Dieu pour qui ils combattent, [...]“ (Suard: 9) sind. Aus diesem Grund werde der Held im Stand der Heiligkeit dargestellt, und zwar immer am Ende seines Lebensweges nach vollbrachten Heldentaten, folgert Ursula Ernst (Ernst: 100).
Resümierend kann man sagen: „Ein Held ist also ein Mensch mit Gaben und Fähigkeiten rein menschlicher Natur, mit denen er jedoch in verführerisch reicher Weise ausgestattet ist.“[4]. Mit Hilfe dieser glückseligen Fügung kann der Held, wie bereits erwähnt, den Status eines Halbgottes oder eines Heiligen erreichen.
Ad 2) Celui qui s’est rendu célèbre par son courage et son succcès dans les faits d’armes
Der epische Held muss „[...] auf eine Weise gekennzeichnet werden, die es ihm ermöglicht[e], sich im Gedächtnis der Zuhörer zu verankern.“ (Ernst: 70). Dies geschehe zumeist durch kriegerische Tätigkeiten im Zuge der Erfüllung christlicher und kriegerischer Wertvorstellungen, so Ernst weiter. Die Autorin spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem attraktiven Identifikationsangebot für den Zuhörer (vgl. Ernst: 112 f.).
Ad 3) Celui qui se distingue par sa grandeur d’âme exceptionelle, son dévouement total, etc.
„Heldendichtung entsteht, wenn sich die breite Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Zauberkräfte eines Menschen, sondern auf seine rein menschlichen Tugenden konzentriert.“[5]. Der Held definiert sich also durch fundamentale menschliche Werte und Wertvorstellungen der Allgemeinheit, die ihn zur gefeierten Persönlichkeit machen.
In seinem Denken wird er gelenkt von der „[..] idée, toujours prégnante, que la «cité terrestre» doit progressivement se transformer en la «cité de Dieu»“ (Boutet, 1994: 56). Dadurch definiert sich seine „grandeur d’âme“, die Person wird zu dem, als was sie angesehen wird: als Held.
Ad 4) Personnage principal d’une œuvre littéraire, dramatique ou cinématographique
Für die Chanson de geste als schriftlich verankerte Erzählung ist lediglich die „œuvre littéraire“ (nach Definition 4) relevant. Ebenso lässt sich mit Sicherheit die zweite Definition („ Le héros de la fête“) ausschließen, da wir es im Fall der Karlsreise eindeutig mit einem Abenteuerhelden zu tun haben. Die Hauptfigur der Chanson de geste nimmt nach der Definition automatisch den Heldenstatus ein: „Figure majeure de l’écriture épique, le personnage est aussi le lieu textuel où s’exprime de la façon la plus visible le message de la chanson de geste, puisqu’il donne à voir ce héros que le poème a pour mission de célébrer.“ (Suard: 39 f.).
Man kann außerdem sagen, dass „[...] le héros épique a d’abord un statut de personnnage.“ (Boutet, 1994: 48), was die Verbindung zur Ursprungsdefinition, in der der Held als „personnage principal“ dargestellt wird, wieder herstellt.
2. Der ‚epische Held‘ in der Voyage de Charlemagne en Orient
Es stellt sich zunächst die Frage, ob man in Bezug auf die Karlsreise überhaupt von dem epischen Helden sprechen kann oder ob der Terminus eventuell im Plural zu verwenden ist. Ausgehend vom Titel der Chanson und von der eben zitierten Definition 4 ist anzunehmen, dass Karl diese Position einnimmt. In der Tat taucht er im Verlauf des Liedes kontinuierlich als Anführer seiner Begleiter auf, so dass er zweifellos als zentrale Figur, als Protagonist zu sehen ist. Ob er aber gleichwohl den Status eines Helden hat, ist fraglich, denn es ist zu beachten, dass „[...] celle-ci [la figure centrale] se constitue par rapport à d’autres, dans un réseau serré de ressemblances et d’oppositions. [...] Le personnage épique a donc une consistance propre, mais celle - ci ne se révèle qu’à travers le miroir que lui proposent d’autres figures complémentaires.“ (Suard: 47).
Es ist im Folgenden zu untersuchen, ob sich im Beziehungsgeflecht der Charaktere der Chanson de geste ein individueller Held herauskristallisiert oder nicht. Wenn ja, dann ist zu fragen, wer diese Position einnimmt.
Diese Fragestellung greife ich im Anschluss auf, wenn es um die detaillierte Analyse der Karlsreise geht. Im Zuge der nachfolgenden Untersuchung soll weiterhin herausgefunden werden, ob die eingangs in Punkt 1.2. erwähnten Definitionen auf Karl den Großen als Protagonisten zutreffen oder ob sie vielmehr auf einen der anderen Charaktere anwendbar sind.
Es kann an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden, dass der vierte Aspekt der Definition („Personnage principal d’une œuvre littéraire [...]“) schon erfüllt ist: Karl ist der hauptsächliche Agitator[6] in der Voyage de Charlemagne en Orient, er tritt kontinuierlich auf und trägt maßgeblich zum Fortschreiten der Handlung bei.
Es bleiben folglich die ersten drei Definitionen zur Diskussion.
In Zusammenhang mit der Hauptperson Karl dem Großen nennt Heintze vier Charakteristika, die jenen als vorbildlichen König auszeichnen:
a) Priesterkönigtum
b) Göttliche Erwähltheit
c) Ideales Lehnsherrentum
d) Glaubenskämpferischer Eifer
(Heintze: 102 f.)
In der Karlsreise finden sich mehrere Anhaltspunkte, die diese Annahme stützen. So agiert Karl beispielsweise in der Funktion eines Königs bzw. der eines Kaisers: Er will sein Reich vergrößern, seine Machtposition unter Beweis stellen, sich an anderen bereichern, etc.
Gleichsam handelt er aber auch in der Funktion eines Priesters: er ‚kämpft‘ gegen die Heiden im Morgenland, will sie zum Christentum bekehren.
Zugleich umgibt ihn eine Aura göttlicher Erwähltheit: Sein Siegeszug steht unter göttlicher Assistenz. Dies wird zum Beispiel deutlich, als Karl die heiligen Reliquien erhält, mit denen Gott bereits „[...] granz vertuz“ (Bonafin: Z. 192) getan hat. Gottes Omnipotenz wird somit auf Karl übertragen. Die Verbindung zum Allmächtigen wird außerdem deutlich in dessen Anbetung auf der Suche nach Hilfe in einer Notlage: Dies ist beispielsweise der Fall bei der Ankunft des Gefolges in Jericho, wo Karl bittet: „«Utre <e>, Deues aïe!»“ (Bonafin: Z.243), um ihn und seine Mannen zu einer Wasserstelle zu führen. Des Weiteren wird in Laisse V (Bonafin: Z. 71 ff.) ein Traummotiv angedeutet, was aber nicht weiter ausgeführt wird. Man kann es als göttliche Eingebung deuten, die Karl den Weg für seine Mission aufzeigt. Im zweiten Teil des Kreuzzuges, der Reise nach Konstantinopel, wird die göttliche Erwähltheit Karls noch ersichtlicher, und zwar durch das Erscheinen eines Engels in einer scheinbar ausweglosen Situation (Tyssen: Z. 672 ff.) oder durch Gottes Einfluss auf die ‚Heldentaten‘, die durch ihn zu irdischen Wundern werden.
[...]
[1] Bonafin, Massimo (1987) Il Viaggio di Carlomagno in Oriente, Parma: Società Produzioni Editorali srl
[2] Tyssen, Madeleine (1997) Le Voyage de Charlemagne à Jérusalem et à Konstantinople, Gand: KTEMATA
[3] nach: Keller, H. - E. (1989) Autour de Roland, Paris: Champion- Slatkine, S. 16, in: Boutet, Dominique (1993) La Chanson de geste, Paris: Presses Universitaires de France, S.25
[4] nach: Bowra, C. M. (1964) Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten, Stuttgart, S. 98 – 102, in: Ernst, Ursula (1989) Studien zur altfranzösischen Verslegende (10. – 13. Jahrhundert), Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, S.59
[5] ebenda
[6] vgl. Bowra, C. M. (1964) Heldendichtung. Eine vergleichende Phänomenologie der heroischen Poesie aller Völker und Zeiten, Stuttgart, S.51, in: Ernst, Ursula: S.81: „Der Protagonist wird als Handelnder erlebt.“ (Bowra charakterisiert die Heldenepik als eine „Poesie der Tat“.)