Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Begriffliche Erklärungen
1. Die Realangst
2. Das Trauma
3. E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann
1. Inhaltliche und zeitgeschichtliche Einordnung
2. Nathanaels Kindheitstrauma
3. Nathanaels Phantasma
4. Destruktionsängste in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann
1. Nathanaels Ängste als Folge seiner Traumata
2. Das „doppelte Ich“ Coppelius und Coppola – und ihr Einfluss auf Nathanael
3. Nathanaels Destruktionsängste im Kontext der Literaturepoche der Romantik
5. Schlussbetrachtungen
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Indemich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen , dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.
(Novalis)
In der Literaturepoche der Romantik galt es, Seelenzustände zu literarisieren und die Welt zu poetisieren. Literaten suchten nach inneren Gesetzen, um die Welt zu erklären. Man widmete sich zunehmend der Vergangenheit. Das Vergangene wurde zum beliebten Thema in vielen Werken dieser Zeit. Ferner nahm das wissenschaftliche Interesse für den Wahnsinn, den Spuk und das Unheimliche zu. Das Unheimliche selbst wurde in der Literatur mehr und mehr zum Selbstzweck, ja sogar zum trivialen Schrecken gesteigert. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann steht in der Tradition dieser so genannten „schwarzen“, beinahe nihilistischen Romantik und sein Sandmann steht im literarischen Umfeld der „Schicksalstragödien“. Der Tragödien, in denen die Helden jeglichen Glauben an einen freien Willen und an die individuelle Selbstbestimmung verloren haben, in denen sie die ständige Angst vor dem unvermeidbaren Schicksal verfolgt. Hoffmann übt mit dem im Zyklus der „Nachtstücke“ erschienenen Werk eine scharfe Kritik an dem poetischen Gemüt des Romantikers und erteilt eine heftige Absage an die romantische Weltsicht. Dennoch ergeben sich während des Rezeptionsprozesses des Sandmanns zahlreiche Verbindungslinien zwischen Hoffmann und den in vielen Werken anderer Romantiker auftauchenden Motiven dieser Epoche: Angst und Schrecken, sowie die Motivik des zerfallen Ichs, des Doppelgängers und des Perspektivs.
Ziel dieser Arbeit soll es ein, das Kindheitstrauma des Nathanael, das daraus resultierenden Phantasma, und im Allgemeinen die Destruktionsängste des Helden im Sandmann herauszuarbeiten und zu untersuchen, inwiefern diese im Kontext und in der Tradition der Literaturepoche der Romantik stehen.
2. Begriffliche Erklärungen
2.1 Die Realangst
Um den von Sigmund Freud geprägten Ausdruck der Realangst, der in Hoffmanns Sandmann eine entscheidende Funktion besitzt, näher erläutern zu können, muss man auch andere begriffliche Erklärungen Freuds mit einbeziehen – seine Deutung zu den Begriffen der Furcht, des Schreckens und der neurotischen Angst.
Freud unterscheidet klar zwischen Angst, Furcht und Schrecken. In seiner Abhandlung „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ setzt er sich intensiv mit der Angstproblematik auseinander.
Angst beschreibt er dabei als Zustand, der isoliert von dem Objekt stattfindet, welches die Angst auslöst. Die Furcht hingegen erklärt er als Zustand, in welchem die Aufmerksamkeit genau auf das Objekt gerichtet wird. Der Schrecken wiederum sei eine plötzliche Reaktion und Wirkung, um eine Gefahr hervorzuheben. Um Freuds Abgrenzungen der einzelnen Begriffe besser zu verstehen, muss man sich den Prozess einer Angstsituation, welche er folgendermaßen beschreibt, vor Augen führen. Zunächst bestehe die Bereitschaft auf eine Gefahr. Diese drücke sich durch eine erhöhte sensorische Aufmerksamkeit und eine gesteigerte motorische Spannung aus. Diese Erwartungsbereitschaft, mit einer Gefahr konfrontiert zu werden, sei durchaus als vorteilhaft zu bezeichnen. Als nächstes folge die motorische Aktion, eine Art Flucht oder Abwehr. Diesen Zustand, den wir als den eigentlichen Angstzustand zu verstehen glauben, erkennt Freud als unvorteilhaft. Die hier dargelegte Angstsituation kann mit Freuds so genannter „Realangst“ gleichgesetzt werden. Er erklärt diese Form als Angst vor einer bestimmten Wahrnehmung, als Affektzustand und etwas Rationelles und Begreifliches. Ferner beschreibt er diesen Zustand der Realangst als unzweckmäßig. Er unterstützt diese These durch folgendes Argument:
„Sie sehen ja auch, wenn die Angst übermäßig stark ausfällt, dann erweist sie sich als äußerst unzweckmäßig, sie lähmt dann jede Aktion, auch die der Flucht. […] Das geschreckte Tier ängstigt sich und flieht, aber das Zweckmäßige daran ist die „Flucht“, nicht das „sich ängstigen“.“[1]
Freud führt zudem eine klare Abgrenzung zwischen der Realangst und der „Angst bei den Nervösen“ durch. Diesen anderen Zustand definiert er als „Erwartungsangst“ oder „ängstliche Erwartung“. Personen, die diese Form von Angst empfinden, erwarten von möglichen Situationen und Ergebnissen immer die schlimmste, sie
„(…) deuten jeden Zufall als Anzeige eines Unheils, nützen jede Unsicherheit im schlimmen Sinne aus. (…) ein auffälliges Maß von Erwartungsangst gehört aber regelmäßig einer nervösen Affektion an, die ich als „Angstneurose benannt habe(…).“[2]
Diese neurotische Angst kann somit auch als objektlose Angst erklärt werden, da es keines bestimmten Objektes bedarf, um in den Angstzustand versetzt zu werden.
Ein weiterer Punkt, der auch in Bezug auf den Rezeptions- und Analyseprozess des Sandmanns entscheidend ist, erklärt Freud in dem Auftreten der verschiedenen Angstformen in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Menschen. So tritt die Realangst verstärkt bei kleinen Kindern auf, dass heißt, sie besitzen eine erhöhte Neigung zu dieser Angst, da es ausreichend Objekte gibt, vor dem es sich ängstigen könnte. Dennoch erklärt Freud, dass die infantile Angst schwer zu definieren sei und sie sich nur in Maßen von der neurotischen Angst eines Erwachsenen unterscheidet.
Freud schließt seine Abhandlung über die Angst mit einer entscheidenden Erkenntnis: „Wir haben uns so überzeugt, welche geradezu zentral zu nennende Stelle das Angstproblem in den Fragen der Neurosenpsychologie einnimmt. (…) Nur einen Punkt empfangen wir als unverbunden, als eine Lücke in unserer Auffassung, die eine doch schwer bestreitbare Tatsache, daß die Realangst als eine Äußerung des Selbsterhaltungstriebes des Ichs gewertet werden muß.“[3]
Inwiefern die Angstproblematik in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann mit dem Ich des Helden, und seiner Auseinandersetzung mit sich selbst, seinen Trieben und seinen Traumata zusammenhängt, wird in den späteren Kapiteln dieser Arbeit seine Erwähnung und Erörterung finden. Zunächst erscheint eine weiterführende Beschäftigung mit einer zweiten entscheidenden Thematik im Sandmann, die ebenso wie die Problematik der Angst ihre Abhandlung in der Psychologie fand, sinnvoll: Die Beschäftigung mit der Problematik des Traumas.
2.2 Das Trauma
Die Komplexität des Begriffes Trauma lässt es im Rahmen dieser Seminararbeit nicht zu, eine umfangreiche Abhandlung zu liefern. Im Folgenden werden darum nur einige Eckpunkte für die Definition des Wortes geliefert.
Martina Kopf stellt in ihrem Werk „Trauma und Literatur“ dar, dass bei einem psychischen Trauma stets äußere Ereignisse und individuelle Erfahrungen zusammenwirken. Äußere Ereignisse werden somit laut Kopf mit deren spezifischen Folgen für die innere Realität verknüpft. Ferner erklärt sie, dass sich das ursprüngliche Trauma meist bis in die frühe Kindheit zurückverfolgen lässt. Ein Punkt, den man in der späteren Analyse des Sandmanns in dieser Arbeit nicht außer Acht lassen sollte. Weiter definiert sie einen engen Zusammenhang zwischen einer veräußerlichten Gewalttat und dem Trauma des Opfers:
„Im Unterschied zu Katastrophen, die nicht absichtsvoll von Menschen verursacht sind, zerstört Gewalt jedoch das Vertrauen in das eigene Menschsein und das Menschsein anderer. Sie greift auf spezifische Weise sowohl in die Persönlichkeit des Opfers als auch in den gesellschaftlichen Umgang mit Opfern von Gewalt ein, da die Konfrontation mit ihrem Trauma auch das Vertrauen und die Integrität des Gegenübers bedroht.“[4]
Kopf stellt hier klar heraus, wie stark sich ein von Gewalt verursachtes psychisches Trauma auf die Persönlichkeit des Menschen auswirken kann. Dabei ist ein körperlicher Gewaltakt als Ursache nur eines von vielen Beispielen.
Einen weiteren wichtigen Fakt in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Traumata liefert Sigmund Freud in seinen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. In dem Kapitel achtzehn setzt sich Freud mit der Fixierung an das Trauma auseinander. Spätere traumatische Neurosen eines Patienten geben somit Anzeichen dafür, dass eine starke Fixierung an den Moment des
„traumatischen Unfalls“ zugrunde liegt. Der wichtige Fakt hierbei ist, dass Freud neurotische Patienten in Verbindung mit früheren Traumata der Patienten bringt, dass Neurosen somit auch in traumatischen Ereignissen ihre Ursache haben können. Ferner zieht Freud eine Verbindung zwischen dem vergangenen Ereignis und dem späteren Trauma eines Menschen:
„Es kommt auch vor, daß Menschen durch ein traumatisches, die bisherigen Grundlagen ihres Lebens erschütterndes Ereignis so zum Stillstand gebracht werden, daß sie jedes Interesse für Gegenwart und Zukunft aufgeben und dauernd in der seelischen Beschäftigung mit der Vergangenheit verharren (…).“[5]
Zusammenfassend lässt sich also über das Trauma sagen, dass es sich maßgeblich auf die Persönlichkeit des Menschen auswirkt sowie, dass es einen starken Vergangenheitsbezug aufweist. Denn es ist meist auf ein Ereignis in der Kindheit zurückzuführen und es bewegt den traumatisierten Menschen dazu, sich stets mit dieser Vergangenheit konfrontiert zu fühlen.
Nachdem nun anfängliche Grundbegriffe definiert wurden, lässt sich im Folgenden ein erster Zusammenhang zu E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann ziehen.
3. E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann
3.1 Inhaltliche und zeitgeschichtliche Einordnung
„Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten!“[6]
Bereist in der Exposition des Nachtstückes Der Sandmann wird der Leser mit dem Wesen und den Motiven des Werkes vertraut gemacht. Entsetzliches, Unheimliches, Vergangenes und Zerstörerisches spielen in den drei Briefen, die die Erzählung eröffnen, eine wichtige Rolle. Der Leser erfährt sowohl über die vergangenen, in der Kindheit stattgefundenen, Ereignisse aus Nathanaels Leben, als auch den aktuellen Bezug, der ihn so beunruhigt und ängstigt. Die längst verjährte Geschichte des Sandmanns, die der junge Nathanael von der Amme gehört hat, die nächtlichen Besuche des vermeintlichen Sandmann, der sich als der Bekannte des Vaters Coppelius entpuppte, der Tod des Vaters bei ebendiesen Experimenten bekommen für Nathanael plötzlich wieder eine aktuelle Bedeutung. Denn, Coppola, ein alter Wetterglashändler, der neu in der Stadt ist, ähnelt dem grauenvollen Coppelius aus seiner Kindheit in erheblichen Zügen. Dem Leser erscheinen Realität und Verwechslung kaum unterscheidbar. Diese Taktik des Verwirrens gelingt Hofmann nicht zuletzt auch durch den stets wachsenden Wahnsinn des Helden, der sich in Coppolas Tochter Olimpia verliebt, die sich als leblose Puppe entpuppt. Die Erzählung mündet im absoluten Wahnsinn Nathanaels und in seinem Selbstmord, da Phantasma und Reales für ihn nicht mehr unterscheidbar scheinen. Da das vergangene Kindheitstrauma als universelle Erfahrung sich in sein Leben als Erwachsener geschlichen hat und ihn nicht mehr loslässt.
Die von Hoffmann im Jahr 1817 verfasste Erzählung Der Sandmann steht in der Tradition der Spätromantik. Die Auseinandersetzung mit dem Motiv des Doppelgängers, des Perspektivs und des Automaten waren häufige Themen dieser Zeit. Der Seelenzustand des Protagonisten wird genauestens analysiert. Die Vergangenheit erfährt Nathanael als immense Instanz und unüberwindbare Macht. Die Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn wurde zum Modethema in der Romantik. Hoffmann hatte mit seinem Sandmann den Zahn der Zeit getroffen.
[...]
[1] Freud, Sigmund (1950): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 11.Auflage. London (Imago Publishing), Seite 421
[2] Freud, Sigmund: Einführung in die Psychoanalyse, a.a.O., Seite 425
[3] Ebd., Seite 440
[4] Kopf, Martina (2005): Trauma und Literatur: Das Nicht – Erzählbare erzählen – Assia Djebar und Yvonne Vera. Frankfurt/Main (Brandes & Apsel), Seite 14
[5] Freud, Sigmund: Einführung in die Psychoanalyse, a.a.O., Seite 291
[6] Hoffmann, E.T.A: DS, Seite 5 Die Sigle „DS“ steht für „Der Sandmann“. Zitiert wird nach der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke. 174. Heft. Husum/ Nordsee (Hamburger Lesehefte)