Dieser Text zielt darauf ab, Friedrich Nietzsches Ansichten über das Mitleid zu untersuchen und zu erörtern. Dabei wird der Versuch unternommen, die Bedeutung von Mitleid, Mitgefühl und Empathie in Nietzsches Philosophie zu klären und den Wahrheitsgehalt seiner Behauptung zu hinterfragen, dass Mitleid Teil einer manipulierten Moral ist.
Ausgehend von der Frage nach dem Werte des Mitleids stellt Nietzsche in der Vorrede zur „Genealogie der Moral“ die Forderung, nicht nur diesen, sondern den Wert aller moralischen Werte infrage zu stellen. Dabei bezeichnet er das Mitleid als eine Infektion und eine Verschwendung der Gefühle.
Es fällt schwer, so etwas unwidersprochen zu lassen. Wir sind es gewohnt, das Mitleid als etwas Gutes zu sehen, als einen Teil der Menschlichkeit, etwas, das uns als Menschen auszeichnet und definiert. Es kann nur ein Unmensch sein, wer gar kein Mitleid kennt! Und doch behauptet Nietzsche, das Mitleid sei Teil einer verkommenen, manipulierten und manipulierenden Moral. Aber was meint er, wenn er von Mitleid spricht? Gibt es unterschiedliche Formen von Mitleid? Ist Mitgefühl das gleiche wie Mitleid? Und was ist mit der Empathie? Und wenn es nicht Mitleid ist, was ist es dann, was wir fühlen, wenn wir glauben, es wäre Mitleid? Diese Fragen müssen wir beantworten, bevor wir uns über den Wert des Mitleides Gedanken machen können.
NIETZSCHES MITGEFÜHL
Ausgehend von der Frage nach dem Werte des Mitleids stellt Nietzsche in der Vorrede zur „Genealogie der Moral“ die Forderung, nicht nur diesen, sondern den Wert aller moralischen Werte infrage zu stellen. Dabei bezeichnet er das Mitleid als eine Infektion und eine Verschwendung der Gefühle.
Es fällt schwer, so etwas unwidersprochen zu lassen. Wir sind es gewohnt, das Mitleid als etwas Gutes zu sehen, als einen Teil der Menschlichkeit, etwas, das uns als Menschen auszeichnet und definiert. Es kann nur ein Unmensch sein, wer gar kein Mitleid kennt! Und doch behauptet Nietzsche, das Mitleid sei Teil einer verkommenen, manipulierten und manipulierenden Moral. Aber was meint er, wenn er von Mitleid spricht? Gibt es unterschiedliche Formen von Mitleid? Ist Mitgefühl das gleiche wie Mitleid? Und was ist mit der Empathie? Und wenn es nicht Mitleid ist, was ist es dann, was wir fühlen, wenn wir glauben, es wäre Mitleid? Diese Fragen müssen wir beantworten, bevor wir uns über den Wert des Mitleides Gedanken machen können.
„ Unsere Welt ist die schlechteste aller Welten und etwas, das besser nicht sein sollte“, meint Arthur Schopenhauer in Antwort auf Leibnitz. Dieser behauptet, wir würden trotz des Leids in unserem Leben in der besten aller Welten leben. Ein allmächtiger und gütiger Gott würde nur eben diese jene beste Welt erschaffen und keine mangelhafte. Das Leid in der Welt ist demnach das geringste Übel, denn jede andere mögliche Welt wäre noch grausamer. Leibnitz sieht darin die Erklärung für das Schlechte und Böse in der Welt und nennt es Theodizee - Gottes Rechtfertigung.
Schopenhauer braucht diese Rechtfertigung nicht, er glaubt nicht an einen solchen Gott. Der Mensch wird nicht zu einem Gott hingezogen und drängt auch nicht zu einem hin. Vielmehr erkennt Schopenhauer, dass wir alle Getriebene sind vom Willen zum Leben. Der Wille, der allem Lebenden innewohnt und keinem anderen Zweck dient als nur sich selbst. Der Wille, der blind ist und universell. Er macht keinen Unterschied zwischen Opfer und Täter, zwischen Schuld und Unschuld oder Gut und Böse. Der Wille, der den hungrigen Wolf antreibt, ist derselbe Wille, der das flüchtende Reh antreibt. Er kannibalisiert sich selbst. Er verbeißt sich und sprießt und lodert und liebt und frisst und in diesem Sinne ist er in allem Lebenden und sein einziges Ziel ist das Überleben. Ein Überleben aber, das keinen tieferen Sinn als das Leben selbst hat, der blinde Wille einer Urkraft: entstehen und vergehen, leben, leiden, sterben und neues Leben.
Um dieser sich ewig wiederholenden, sich immer nur mit kleinsten Veränderungen selbst kopierenden Raserei zu entkommen, sagt Schopenhauer ,Nein‘ zum Leben. ,Nein‘ zu dem blinden Willen. Er studiert und nimmt Anleihen bei östlichen Philosophien, dem Buddhismus, dem Hinduismus, und beschäftigt sich mit Askese und der Vorstellung einer All-Einheit. Die All-Einheit umfasst alles Lebende. In ihr erkennen wir uns in allem Lebenden wieder, wir erkennen, dass der Wille zum Leben alles Lebende zu Einem macht. „Tat twam asi - Dieses Lebende bist du“, heißt es im Vedantischen Hinduismus. Das bedeutet, dass dem, der sein Ego überwunden hat, jedes Leben, alles im Allwesen gleich nahe ist. Wenn wir ein Leben beschädigen, wird der Wille zum Leben selbst beschädigt, eben jener Wille, der auch in uns selbst tätig ist. Deshalb leiden wir mit.
Schopenhauers Mitleid ist kein ethisches, religiöses oder sonst wie dogmatisches Mitleid. Es ist ein Mit-Leiden, das in der Natur des Lebens verankert ist. Es ist nicht etwas wofür oder wogegen wir uns entscheiden können. Es ist ein Teil von uns, den wir erkennen und anerkennen können, sobald wir uns als Teil des großen Ganzen sehen. Der Teil, der mit allen anderen lebendigen Teilen verbunden ist, durch den gemeinsamen Willen zum Leben und durch das Leid, das mit dem Leben einhergeht. Wir können dieses Leid nur akzeptieren und im Mit-Leid das Wohl des Anderen als unser eigenes erkennen. So bleibt uns gar nichts anderes übrig, als ein Leben zu führen, in dem wir bei jeder Handlung auch die Folgen bedenken, die sie für die Gesamtheit des Lebendigen in der Welt hat. Das Mitleid ist für Schopenhauer aufgrund seiner Ausrichtung auf das Wohl des Anderen, die tatsächliche und oberste moralische Instanz. Aber das Mitleid ist hier wie ein Boot auf einem unendlichen Meer aus Leid. Wenn wir das Boot beschädigen, in dem wir mit allem Lebenden gemeinsam sitzen, ertrinken wir im Leid. Egoistische Motive gleichen einer Selbstvernichtung. Hinter all dem steckt aber kein selbstzufriedener, gütiger oder böser, allmächtiger Gott, sondern der grund- und ziellose Urdrang zum Leben, der allem Lebenden innewohnt. Die Suche nach dem Erkennen dieser All-Einheit führt über Askese, die Wunschlosigkeit und die Selbstlosigkeit.
Die wenigsten sind in der Lage, ein solches wunschloses, asketisches Leben zu führen. Dessen ist sich Schopenhauer bewusst. Die meisten von uns sind voller Wünsche und das ständig. Und voller Ängste, voller Traumata und Beschädigungen. Das meiste Mitleid empfinden wir mit Leid, das möglichst weit von unserer Lebensrealität entfernt ist. Wenn wir an derselben Sache leiden wie unser Gegenüber, ist es unwahrscheinlich, dass wir Mitleid mit uns haben. Wir empfinden das gleiche Leid. Mitleid erfordert psychologische Distanz und Distanz der Lebensrealität. Ist die Distanz zu gering, so handelt es sich nicht um Mitleid, sondern um ein tatsächliches „gemeinsam leiden“. Wenn einem uns emotional sehr nahestehendem Menschen etwas Grauenhaftes passiert, dann ist das, was wir empfinden, kein Mitleid, sondern ganz genuin unser empfundenes Leid. Wir sind unglücklich. Der Weg der selbstlosen Askese, wie immer man ihn definieren möchte, ist einer, den zu gehen nur die wenigsten imstande sind. Es scheint, als gebe es keinen Ausweg aus dem ewigen Leid. Ein trister Gedanke, der Menschen, die auf ein zukünftiges Paradies hoffen, beneidenswert macht. Nietzsche sieht das anders. Als junger Mann war er ein begeisterter Schüler Schopenhauers, hat von ihm bestimmt viel über dessen Vorstellungen zu Mitleid und fernöstliche Mystik mitgenommen, bevor er eine Wende zum Aufklärer und Antimetaphysiker vollzog und sich zu einem Kritiker Schopenhauers entwickelte. Bei seinem Vorhaben, die vorherrschenden Werte infrage zu stellen, versucht Nietzsche genealogisch-akribisch die Geschichte unseres Verständnisses von Gut und Böse, von Mitleid und Scham, von Schuld und schlechtem Gewissen zu schreiben. Und er stellt die Frage, warum wir an diesen alten Grundsätzen festhalten.
Schuld, Scham, Gewissen, Gut und Böse, sie alle entstammen einem Moralverständnis, das nicht natürlich ist. Es ist dem Menschen nicht innewohnend, nicht angeboren. Wir lernen es, verinnerlichen es, glauben es und sind darin gefangen. Wenn Nietzsche von einem „Willen zur Macht“ spricht, meint er damit die Selbstermächtigung, die einhergeht mit der Befreiung von fremdbestimmten Moralvorstellungen. Die Macht, die man über sich selbst wiedererlangt, wenn man alles infrage stellt, was auf undurchsichtigen Dogmen beruht, deren Herkunft im Dunkel liegen. Also worauf basieren sie, diese Dogmen und Moralglaubenssätze, die so klar und unumstößlich erscheinen, dass es uns so schwerfällt, sie zu hinterfragen?
Vor 2000 Jahren, sagt Nietzsche, haben die Unterdrückten, die Unseligen aufbegehrt. Er spricht hier vom aus dem Judentum entstandenen Christentum, das sich gegen die aggressiven antiken Werte der Tapferkeit und Stärke auflehnte. In einem Akt der Rache gegen die Vornehmen und Gewaltigen wurde ein moralischer Aufstand vollzogen, der zu den Werten führte, auf denen auch heute noch unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Es ist eine Moral, die vom Niederen ausgeht. Alles Benachteiligte, Defekte, Hässliche ist in der neuen MoralReligion bevorteilt. „Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen“, sagt Nietzsche. Und dieser Hass erwächst aus der Machtlosigkeit, die der Priesterkaste zugrunde liegt. Die Figur des Priesters steht stellvertretend für alle Menschen, die aus Ermangelung tatsächlicher Macht ihre Werte durch Versprechungen, die nicht einhaltbar sind, anderen Menschen verkaufen. Die Macht des Priesters beruht darauf, von sich selbst zu behaupten, das Gute zu repräsentieren. Alles, was nicht seinem Ideal entspricht, muss demnach böse sein. Böse nicht schlecht. Denn ,schlecht‘ ist ein technischer Begriff, kein moralischer. So wie das Messer, das schlecht schneidet, nur schlecht ist und nicht böse. Das moralische Böse aber ist notwendig als Gegenteil für das Gute, um sich selbst zu definieren. Das Gute ist Gegenstand ständiger Überarbeitung und Neudefinition. Gerade so, wie es dem Priester der wahren Werte gerade hilfreich erscheint. Die Frage, die Nietzsche stellt, ist: Wer hat das Recht, das Gute zu definieren oder anzupassen und woher kommt es? Und warum sollten wir uns daran halten? In unserer jüdisch-christlich-islamisch dominierten Welt gibt uns die Religion seit 2000 und mehr Jahren vor, wie wir zu denken und zu leben haben. Genau das ist die Sklavenmoral, von der Nietzsche spricht.
Die Sklavenmoral kennt kein Mitgefühl. Nur Mitleid. Weil die Sklavenmoral eine Moral des Vergleichs ist. Sie blickt zuerst nach außen, weg von sich und bewertet das, was sie da sieht als böse. Nicht weil es böse ist, sondern weil es anders ist und wenn das Andere böse ist, ist das Selbst gut. Das zwingt die Priester der Sklavenmoral in eine reaktive Position. Sie müssen immer mehr und mehr Böses finden um sich daran als Gut zu messen. Diese Ablehnung allem Außerhalb, allem Nicht-Selbst, allem Anders gegenüber, das nennt Nietzsche die schöpferische Tat der Sklavenmoral. Und tatsächlich: Wenn man auf die abendländische Geschichte blickt, sieht man, dass die Definition des Guten immer abhängig war von der Definition des Bösen im Fremden, von der Grenzziehung zwischen dem bösen Fremden und dem guten Selbst. In der Reihenfolge der Zuschreibungen steht immer das Fremde an erster Stelle. Erst dann, wenn das fremde Böse verortet ist, kann das gute Selbst daran gemessen werden. Diese Sklavenmoral ist ein System der Schwäche, in dem das Mitleid als Instrument benutzt wird.
Wer bemitleidet wird, ist Leidender und damit würdig der Seligkeit. Das macht es leichter, das Leid auf Erden zu ertragen, um in einem Jenseits den Lohn dafür zu erhalten. Aber ein so gelebtes Mitleid ist das Gegenteil von Mitgefühl. Das Mit-Gefühl fühlt das Leid und nimmt es ernst. Das entspricht nicht dem Glauben, dass wir das Leid brauchen, um würdig zu sein, dass das Leid für uns wichtig ist, um zu den „Guten“ zu gehören. Die Moral erwartet von den Menschen an ihrem Mitgefühl zu verzweifeln oder es zu begraben.
Die Sklavenmoral setzt ,schlecht‘ und ,böse‘ gleich. Sie entspricht der „Werkzeugnatur“ der Tugenden: Wichtig ist das Funktionieren innerhalb der vorgegebenen Werte, nicht ein inhärenter, genuin moralischer Wert. So wird das Messer, das nicht schneidet, plötzlich böse, so kann alles plötzlich böse werden. Die Tugend der Sklavenmoral ist das unwidersprochene Ausführen und das Bewerten nach einem vorgegebenen Wertekanon, egal ob zu diesem Kanon eine emotionale Verbindung besteht oder nicht. Dieser Wertekanon bezeichnet „die Elenden als die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit,...“. In diesem Sinne ist es auch gut, zu bemitleiden. In diesem Sinne fällt es auch leichter, Nietzsches Verurteilung des Mitleids zu verstehen. Und Nietzsche spricht ganz bewusst nicht von Mitgefühl.
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- Arbeit zitieren
- Max Pelikan (Autor:in), 2023, Friedrich Nietzsche und der Wert des Mitleids. Eine kritische Auseinandersetzung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1375664
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