Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. David gegen Goliath
3. Die Rolle der Sexualität im Film Secretos del corazón
3.1 Javi lebt in einer magischen Kinderwelt
3.1.1 Das Geheimnis des unbewohnten Hauses
3.1.2 Das von der Mutter verbotene Zimmer
3.2 Die Begegnungen Javis mit der Sexualität
3.2.1 Die Gewalt animalischer Sexualität reißt Javi aus den Kinderträumen
3.2.2 Javi will wissen, was hinter den Geheimnissen steckt
3.2.2.1 Juans Begeisterung gibt ein neues Rätsel auf
3.2.3 Das verbotene Zimmer verliert seinen Zauber
3.2.4 Nach seiner Befreiung wagt sich Javi zu weit vor
3.2.5 Durch Juans Taten bekommt Javi neue Einblicke
3.2.6 Auf eine Enttäuschung folgt eine tiefgreifende Einsicht
3.2.7 Javi verschafft sich letzte Gewissheit
3.2.8 Javi in der Erwachsenenwelt, Rebell und Schmeichler
3.3 Die Sexualität, Ausgangspunkt und Triebfeder der Filmhandlung
4. Filmrealität und politische Realität
Anhang
Sequenzanalyse und Szenenfolge
Literaturverzeichnis
1. Vorwort
In einem literaturwissenschaftlichen Proseminar des WS 2002/03 (Frau Dr. Jutta Schütz), wurden unter dem Titel „La infancia no es un paraíso, das Kind in spanischer Erzählliteratur und Film“ folgende Werke bearbeitet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Fragestellungen betrafen das Kind, seine Charakterisierung, die Rolle der Erziehung, die Kindheit als Paradies oder Hölle und die Reaktion des Kindes auf seine Situation, die Annäherung des Kindes an oder gar der Übergang in die Erwachsenenwelt und die Funktion der Kinderperspektive. Die unterschiedlichen Darstellungen der Kindheit wurden miteinander verglichen. Erörtert wurde der kultur-historische Hintergrund, außer Secretos del corazón enstanden alle Werke zur Zeit der Francodiktatur, waren also der Zensur unterworfen.
Die Frage, warum Secretos del corazón in diese Zeit zurückversetzt wird, war einer meiner Gründe, diesen Film auszuwählen. Beeindruckt hat mich die Leistung des achtjährigen Hauptdarstellers. Auf ihm liegt die ganze Last des Films, der durch-gängig die Welt aus Kindersicht darstellt.
Mangels vordergründiger Erklärungen wird der Fantasie des Zuschauers großer Raum gegeben, so dass nicht nur jeder Rezipient seinen individuellen Film konstruiert, sondern sich auch mir selbst nach jedem Anschauen andere Inter-pretationsmöglichkeiten anboten. Daher bin ich Frau Dr.Schütz dankbar, dass sie auf die Bedeutung der Sexualität hinwies, und ich den Film unter diesem Aspekt neu entdeckte.
2. David gegen Goliath
Secretos del corazón ist das jüngste der bearbeiteten Werke, 1996 entstanden und 1997 uraufgeführt. In gleichen Jahr hatte der Film an den Kinokassen Spaniens den übermächtigen Konkurrenten Titanic, der mit einem immensen finanziellen Aufwand entstand (geschätztes Budget über 300 Millionen US$) und weltweit mit einem generalstabsmäßigen Werbefeldzug „promotet“ wurde. Das Budget von Secretos ist nicht bekannt, aber liegt wohl unter dem von Armendáriz neuestem Film Silencio roto (2001), das 450 Millionen Peseten (etwa 25 Millionen Euro) betrug[1].
Das spanische Publikum verhalf Secretos del corazón zu einem unerwarteten Erfolg: er erhielt den spanischen Publikumspreis als bester Film des Jahres 1997[2]. Er wurde mit mehreren Premois Goya und dem blauen Engel bei den Filmfestspielen Berlin ausgezeichnet, auch für den Oskar als bester ausländischer Film nominiert. Nach dem mäßigen Erfolg seiner früheren Spielfilme (1984 Tasio, 1986 27 horas, 1990 Las cartas de Alou und 1995 Historias del Kronen)[3] überraschte dies auch Montxo Armendáriz, wie er in einem Interview zugab:
(Interviewer) „Secretos del corazón ha conseguido un éxito arrollador en taquilla.
¿ Esperaba esa respuesta por parte del público?”
(Armendáriz): “Nunca nos lo hubiésemos imaginado y para mí una de las mayores sorpresas es que haya funcionado entre la gente joven.”[4]
Die Ursachen dieses Erfolges sind vielfältig, einmal ist es sicher die Faszination, die der Hauptdarsteller ausübt. Zudem denke ich, dass die wohltuend zurückhaltende Darstellung der Sexualität eine Rolle spielt. Sie hat eine zentrale, sinngebende Bedeutung in dem Film, Armendáriz aber verzichtet auf die heute üblichen umsatzsteigernden Sexszenen. Auch die Nostalgie mag im Spiel sein. Der Film spielt im Jahr 1962, vermeidet jedoch die vordergründige, oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit der politischen Realität
3. Die Rolle der Sexualität im Film Secretos del corazón
Der Film stellt die Entwicklung des Protagonisten Javi dar, den Übergang aus seiner Kinderwelt in die Erwachsenenwelt, seine Initiation. Dabei hat er zahlreiche Begeg-nungen mit der Sexualität, die das Fortschreiten seiner Entwicklung beeinflussen, die Anstöße sind oder ihm Rätsel aufgeben. Seine fast kriminalistischen Erforschungen dieser Rätsel bringen Erkenntnisse, die ihm schließlich ein neues Weltbild vermitteln.
Sein herausragender Charakterzug ist die Neugier, sein Rüstzeug eine hohe Intelligenz. Seine Kombinationsfähigkeit geht über die seiner Altersgenossen hinaus, zum Beispiel der seines Freundes Carlos. Doch diese Eigenschaften werden erst später gefordert, zu Beginn des Films stellt er die unerklärlichen Dinge noch nicht in Frage.
3.1 Javi lebt in einer magischen Kinderwelt
3.1.1 Das Geheimnis des unbewohnten Hauses
Mit seinem Mitschüler Carlos, seinem ständigen Begleiter in der Stadt, erkundet er das geheimnisvolle, Haus, „la casa deshabitada“. Es heißt, dass darin ein Mann verrückt wurde und seine Frau und einen Freund erstach, weil sie sein Geheimnis entdeckt hatten. Dahinter scheint ein Eifersuchtsdrama zu stecken. In solchen Gerüchten steckt oft ein Stück Wahrheit.
Aber derzeit interessiert ihn etwas anderes: Juan, sein großer Bruder, hat ihm erzählt, dass man in dem Haus die Stimmen der Toten[5], der darin Ermordeten hören kann. Javi glaubt das. Als er mit Carlos durchs offene Kellerfenster das Haus inspiziert, sieht er vom Wind bewegte Türen, und noch ganz in seiner magischen Welt lebend, hält er das Heulen des Windes für Geisterstimmen. Vom Lärm eines dicht vorbeifahrenden Zuges zusätzlich erschreckt, rennen die beiden weg.
3.1.2 Das von der Mutter verbotene Zimmer
In Javis Elternhaus in einem navarresischen Dorf, wo er und sein Bruder die Ferien der Semana Santa verbringen gibt es mehrere unheimliche Orte. Den Kuhstall mit den Geräuschen der Tiere, ein Spinnennetz und den Weinkeller. Am meisten zieht es Javi aber in ein bestimmtes Zimmer, la habitación prohibida. Am Tag seiner Ankunft läuft er eine Treppe hinauf und bleibt vor der Tür des Zimmers stehen.
. Er hat die Türklinke in der Hand, die Tür einen Spalt geöffnet, da kommen seine Mutter und sein Bruder die Treppe hinauf. Die Mutter wiederholt eindringlich das schon oft ausgesprochene Verbot, dieses Zimmer zu betreten und nimmt ihren Söhnen das Versprechen ab, sich auch daran zu halten. Einen Grund für das Verbot gibt sie nicht an. Aber Javi wird sich damit nicht abfinden, er wird das Geheimnis des Zimmers ergründen, er wird es trotz Verbotes noch mehrfach betreten.
3.2 Die Begegnungen Javis mit der Sexualität
3.2.1 Die Gewalt animalischer Sexualität reißt Javi aus den Kinderträumen
Unmittelbar danach, nach der Begrüßung des mürrischen Großvaters, der am liebsten im Dunkeln sitzt, ruft er die Hündin Perla, verlässt mit ihr das Haus und läuft auf eine Wiese. (Szene 14)[6]
Ein älterer und größerer Junge betritt von der anderen Seite die gleiche Wiese mit einem deutschen Schäferhund. Doch dann geschieht etwas für Javi Unerwartetes. Die Hunde beschnuppern sich, umkreisen sich, balgen miteinander, dabei laut hechelnd winselnd oder bellend, und schließlich bespringt der Schäferhund Perla. Javi ist entsetzt, er glaubt, der Schäferhund würde Perla umbringen. Er schreit, dass Perla kommen solle, dass sie weiter müssten und bittet den Jungen, die Hunde zu trennen. Der denkt nicht daran, grinst verständig und sagt Javi, dass die Hunde sich vergnügten.
In seiner Verzweiflung wirft Javi einen Stein auf den Schäferhund, er muss etwas tun, um diesen Schrecken zu beenden. Der Schäferhund zeigt sich wenig beeindruckt. Der Junge ist schon ungehalten, was er da tue, er solle sie sich doch anschauen, man sehe doch, dass die Hunde Spaß hätten.
Javi, immer noch voller Angst sucht einen größeren Stein, holt zum Wurf aus, doch der Junge fällt ihm in den Arm und wirft ihn zu Boden. Schließlich ruft der Junge seinen Hund und geht weg. Er wendet sich um und droht Javi, dass er ihm das Gesicht zerschlage, wenn er ihn noch einmal berühren würde. Der äußert daraufhin seine Befürchtung, dass die Hunde dabei waren, sich umzubringen. Er wird ausgelacht, die Antwort „Sólo querían chingar[7], idiota“ lässt Javi wütend und ratlos am Boden liegend zurück. Die linke Hand zur Faust geballt, hält er in der rechten immer noch den Stein fest. Die Wut über die Niederlage weicht allmählich, die Linke öffnet sich, er streichelt Perla mit nachdenklicher Miene. Aber den Stein umklammert er noch immer.
Das schockierende Erlebnis der Gewalt animalischer Sexualität hat ihn selbst gewalttätig werden lassen, hat ungeahnte Kräfte freigesetzt. Er hat Neuland betreten und sich mit der Realität auseinandersetzen müssen. Aber der stärkere Junge hat ihm eine Niederlage beigebracht, und drohte ihm mit weiterer Gewalt. Er ist in eine Gewaltspirale geraten, die noch nicht am Ende ist. Aber was dieses Wort chingar wohl bedeuten mag? Er kennt die Bedeutung genauso wenig wie er die Aktivitäten der Tiere einzuordnen weiß.
3.2.2 Javi will wissen, was hinter den Geheimnissen steckt
Bei nächster Gelegenheit fragt Javi seinen Onkel nach dem unbekannten Wort (Szene 16). Zu seiner Überraschung hört er die Antwort, das müsse er die Priester fragen, die über alles Bescheid wüssten, was sie nicht tun, am allerwenigsten würden sie chingar. Eine „Erklärung“, die das Wort nur noch rätselhafter macht.
Was haben Priester mit Hunden zu tun, oder wenden Priester keine Gewalt an? Jedenfalls scheint es nichts Schlimmes zu sein, da der Onkel lachend geantwortet hat.
[...]
[1] “Está producida por Oria Films y el presupuesto ha sido de 450 millones de pesetas.” (http://www.zinema.com/)
[2] Angulo, Jesús; Gómez, Concha; Heredero, Carlos F.; Rebordinos, José Luis: Secretos de la elocuencia: El cine de Montxo Armendáriz, Filmoteca Vasca-Euskadiko Filmategia,
San Sebastián,1998. S.310
[3] Torres, Augusto: Diccionario del cine español, Espasa Calpe, Madrid, 1999, S.66
[4] Angulo, Jesús...S.285
[5] “Las voces de los muertos” hieß der Film im ersten Entwurf Armendáriz. (Angulo, JesúsS.246)
[6] Sequenzanalyse und Szenenfolge im Anhang Seiten I - VI
[7] Warum Armendariz gerade diese Wort gewählt hat erklärt vielleicht die Ethymologie:
“chingar. (Del caló čingarár, pelear).
1. tr. coloq. Beber con frecuencia vino o licores.
2. tr. Importunar, molestar.
3. tr. malson. Practicar el coito.” (http://www.rae.es)