Leseprobe
Einleitung
ER. Nein, liebe Frau, das geht nicht an:
Ich muß hier meinen Willen haben.
SIE. Und ich muß meinen haben, lieber Mann.
ER. Unmöglich!
SIE. Was? nicht meinen Willen haben?
Schon gut! so sollst du mich in Monatsfrist begraben.
ER. Den Willen kannst du haben.
Lessing: Ihr Wille und sein Wille
(vgl. Sinngedichte, Lessing-Werke Bd. 1, S.38)
Abgesehen davon möchte ich mich im Folgenden zwei Denkern widmen, die versucht haben, den Willen auf eine ‚ernstere‘ Art zu behandeln. Neben Arthur Schopenhauer wird es um die Versuche des Neurophysiologen Benjamin Libet gehen, der mittlerweile aus dem Bereich der modernen Bewußtseinsforschung nicht mehr wegzudenken ist. Seine Experimente zum Willen von 1982 wurden seitdem in der Fachwelt mit steigender Tendenz behandelt und sind heute obligatorischer Bestandteil einer jeden Neuveröffentlichung zum Thema und nach wie vor Ausgangspunkt für erhitzte Debatten. Das liegt zum einen daran, daß er die uralte philosophische Frage nach der Freiheit des Willens direkt mit seiner empirischen Forschung adressierte und somit Versuche durchführte, die in gleicher Form erstmalig waren. Zum anderen ist nicht zuletzt von so namhaften und unterschiedlichen Theoretikern und Philosophen wie Thomas Nagel, Daniel Dennett und Thomas Metzinger viel über die Ergebnisse spekuliert worden, während die empirische Forschung seither auf diesem Gebiet nicht allzuviel hinzufügen konnte, was die ursprünglichen Experimente relativiert oder überflüssig gemacht hätte.
Mit den Versuchen Libets und der von ihm vorgenommenen Interpretation beschäftigt sich der erste Teil (I) der vorliegenden Arbeit.
Im zweiten Teil (II) wird der Versuch unternommen, die Ergebnisse aus I in den Denkkategorien Schopenhauers, wie sie sich in seiner Preisschrift Über die Freiheit des menschlichen Willens finden, zu reflektieren, und umgekehrt.
Neben dem vorgesehenen Text habe ich mir erlaubt, die Originaltexte Libets heranzuziehen, in denen die durchgeführten Versuchsreihen detailliert beschrieben werden. Nur so schien es möglich, die im Schnabel/Sentker-Text verwendeten Begriffe genau zu bestimmen, was wiederum als Voraussetzung einer fundierten Kritik diente. Da die erwähnten Abhandlungen nur im englischen Original verfügbar sind, und eine direkte Übernahme den Lesefluß doch erheblich behindern würde, habe ich mich entschlossen, die zentralen Terminologien in der von mir selbst vorgenommenen Übertragung zu verwenden, und dies jeweils durch « ... » zu verdeutlichen. Die so gekennzeichneten Begriffe stammen ausschließlich aus der Abhandlung Libets, die im Literaturverzeichnis als Primärtext aufgeführt ist. Gewöhnliche Zitate hingegen sind auf herkömmliche Art gekennzeichnet und ebenfalls direkte Übertragungen aus dem Englischen.
I. Libets Experimente
1. Versuchsbeschreibung
Insgesamt sechs Versuchspersonen (College-Studenten) wurden sitzend angewiesen, spontan und auf eigene Initiative die Finger und/oder das Handgelenk ihrer rechten Hand zu bewegen. Dabei sollten sie den Blick auf das Zentrum eines in zwei Meter Entfernung aufgestellten Kathodestrahloszilloskops fixieren, auf dem ein Lichtpunkt ausgehend von der 12 Uhr-Position im Uhrzeigersinn rotierte. Die Analogie zur herkömmlichen Zeigeruhr unterschied sich darin, daß eine vollständige Umdrehung nur 2.5 anstatt 60 Sekunden benötigte. Gleichzeitig wurden Hirnströme und die Muskelaktivität der rechten Hand gemessen und deren zeitliche Abfolge mit der Position des Lichtpunktes in Beziehung gesetzt.
Die Personen sollten sich nun die Position des Lichtpunktes zu dem Zeitpunkt merken, als sie sich das erste Mal des «Dranges» oder «Wunsches» bewußt wurden, die Handlung auszuführen, um dies im nachhinein mitzuteilen.[1]
Diese Versuchsanordnung läßt auf folgende Implikationen schließen: Ein einfacher motorischer Akt wird als Komplex betrachtet, bei dem die physische Bewegung (das objektive Charakteristikum) lediglich das Ende eines zeitlichen Prozesses darstellt, der eine Reihe unterschiedlicher Aspekte aufweist. Ausschlaggebend für diese Sichtweise ist die Meßbarkeit von elektrophysiologischen Aktivitäten an der Kopfhaut, dem sog. Bereitschaftspotential (RP = readiness potential), das sich regelmäßig vor dem motorischen Akt regt.[2] In der sukzessiven Folge des Prozesses stellt RP den Anfangspunkt dar.
[...]
[1] Zu weiteren Einzelheiten vgl. Libet 1985: 529.
[2] Seit die deutschen Neurologen Deeke, Grözinger und Kornhuber diesen Zusammenhang in den 70er Jahren aufgezeigt hatten, besteht darüber Einigkeit in der Fachwelt.
- Arbeit zitieren
- Volker Linder (Autor), 2000, Libets Experimente vor Schopenhauers Selbstbewußtsein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1967
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