Leseprobe
1. Einleitung
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das System distinktiver Merkmale nach Chomsky und Halle (Sound Pattern of Englisch = SPE) vorzustellen und kritisch zu betrachten.
In Punkt 2.0 wird kurz auf die Vorläufermodelle der „SPE“ eingegangen, um dann auf die Grundlagen der generativen Phonologie zu kommen und diese von der strukturalistischen Phonologie abzugrenzen.
Als nächstes werde ich auf die Prämissen Chomskys und Halles Merkmalssystem eingehen und unter den Punkten 4-7 das System vorstellen, um abschließend das System kritisch zu betrachten und kurz auf aktuelle, alternative Modelle hinzuweisen.
Die Erstellung der Hausarbeit gestaltete sich äußerst schwierig. Die Komplexität und Abstraktheit des Systems führte zu diversen Verständnisproblemen.
2. Grundlagen der generativen Phonologie
Als erstes wird in diesem Kapitel ein kurzer Blick auf die Entwicklung phonologischer Systeme geworfen, um im Folgenden die Unterschiede zu Chomskys und Halles System aufgreifen zu können.[1]
Die strukturalistische Phonologie der 40er und 50er Jahre (z.B. Trubetzkoy, Jakobson) ging von der phonetischen, beobachtbaren Oberfläche aus und segmentierte diese durch z.B. Minimalpaarbildung und Belege der Distinktivität der Laute in verschiedenen Sprachen in Phoneme. Nach der Einführung der Phonemebene wurden dann phonologische Regeln abgeleitet. Roman Jakobson entwarf 1949 ein phonem-basiertes Merkmalssystem - ausgehend von einer Einzelsprache: dem Französischen. Auf die Minimalpaaranalyse (Ermittlung minimaler Oppositionen) folgend gruppierte Jakobson die so ermittelten Phoneme auf Basis phonetischer Ähnlichkeiten (und komplementärer Verteilungen = Allophone). Mit dieser Vorgehensweise erhielt Jakobson fünf, akustisch definierte distinktive Merkmale der französischen Sprache (Nasalität, Gespanntheit, Kontinuität, Gravity, Compactness).
Spätere Systeme distanzierten sich von der phonem-basierten Systematisierung (z.B. Jakobson 1952 et al.). Als alternative Organisationsform wurden die phonetischen Features als Basiseinheit phonologischer Beschreibungen betrachtet. Die Features basierten auf phonischen (lautlichen) Parametern; diese sind nur durch die Möglichkeiten des menschlichen Sprechapparates begrenzt und somit von sprachübergreifender Gültigkeit.
Es wurde versucht, die produzierbaren (und existenten) Laute menschlicher Sprache durch eine Vielzahl phonischer (akustischer) Achsen zu kategorisieren. Durch diese Art der Kategorisierung erhoffte man sich universale Lautklassen zu ermitteln, die alle produzierbaren Laute in allen Sprachen erfassen sollten.
Jakobson, Fant und Halle haben 1952 in ihrem Werk „Preliminaries to Speech Analysis” ein System von zwölf Merkmalen entworfen, die alle Kontraste in allen menschlichen Sprachen beschreiben sollten. Die Features wurden überwiegend akustisch definiert.
Spätere Analysen von verschiedenen Sprachen haben aber gezeigt, dass diese zwölf Merkmale nicht ausreichen, um alle Sprachen systematisch beschreiben zu können[2].
Die Entwicklung der Merkmalssystem habe in den 60er Jahren, so Sommerstein, die Tendenz gehabt, die Features mehr artikulatorisch als akustisch zu definieren. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellte das 1986 erschienene Werk Chomskys und Halles „Sound Pattern of English“ dar[3], auf das im Folgenden genauer eingegangen werden soll.
„Die Bibel der generativen Phonologie“[4] von Noam Chomsky und Morris Halle baut auf dem System distinktiver Merkmale von Jakobson, Halle und Fant (1952) auf.
Chomsky und Halle aber wenden sich von der strukturalistischen Phonologie ab und entwerfen, in Korrelation zu dem Modell der generativen Grammatik, ein Modell der generativen Phonologie.
Im Gegensatz zur strukturalistischen Phonologie etablieren Chomsky und Halle keine Phonemebene. Chomsky und Halle verzichten auf derlei Beobachtungen der phonetischen Oberflächenstruktur, sondern versuchen auf umgekehrtem Wege, die Oberflächenstruktur durch die Tiefenstruktur zu erklären. Grundlage ihres Systems distinktiver Merkmale bildet der Pool aller artikulatorisch möglichen Laute. Nach den Vorstellungen der generativen Phonologen ist die die Segmentierung der Laute bereits durch die syntaktische Oberflächenstruktur gegeben und muss nicht über den Umweg der phonetischen Oberfläche vorgenommen werden. Die Phonemebene stelle eine unnatürliche und überflüssige Ableitung der phonetischen Oberflächenstruktur dar und führe „sogar zu unmotivierten Verkomplizierungen“[5]. Weiterhin müsse die Merkmalsmatrix nicht durch Beobachtungen der Oberflächenstruktur geschaffen werden, sondern sei bereits durch die Repräsentation der Segmente im Lexikon vorhanden[6].
Chomsky und Halle glauben, dass phonologische Regeln mit universellen phonetischen Regeln interagieren, so dass durch deren Rekombination und Aktualisierung alle grammatischen Formen gebildet werden können, die die Produktion und Perzeption von Sprache gewährleisten. Grammatik, so Mayerthaler, ließe sich als eine Vorrichtung interpretieren, „die die Beziehung zwischen Lautung und Bedeutung regelt“[7]. So wie die syntaktische Oberflächenstruktur eines Satzes aus den abstrakten Strukturen / Tiefenstrukturen, der Schemata ihrer Generierung herleitbar sind, so sind, nach Chomsky und Halle, in Analogie zu dieser Vorstellung auch die phonetischen / phonologischen Oberflächenstrukturen einer Äußerung aus ihrer phonologischen Tiefenstruktur ableitbar[8]. Tatsächlich könne man, so Mayerthaler, „zugrunde liegende Repräsentationen als ´phonologische Tiefenstruktur´ und abgeleitete Repräsentationen als ´phonologische Oberflächenstruktur´ auffassen“[9].
Chomsky und Halle gehen dabei davon aus, dass im Lexikoneintrag von Wörtern und Morphemen neben deren semantischer Bedeutung auch die Lautstruktur repräsentiert ist.
Den Prozess vom Lesen eines Satzes bis zu dessen lautlicher Repräsentation kann man sich folgendermaßen vorstellen:
Als einfachstes Organisationsschema kann man sich vorstellen, dass die syntaktische Oberflächenstruktur einer Äußerung als Input fungiert. Dieses Input wird durch die Aktualisierung phonologischer Constraints transformiert. Ausgehend von der syntaktischen Oberfläche wird eine gegebene Äußerung durch die syntaktische Oberflächenstruktur - durch Phrase-Marker (=Grenzsymbole) - in immer kleinere Segmente zergliedert. Die größte Einheit stellt dabei der komplette Satz dar, die nächst kleineren Einheit sind Nominal- und Verbalphrasen, folgend Konstituenten und schließlich lexikalische und grammatische Morpheme, die von Chomsky und Halle im Folgenden als „formatives“ bezeichnet werden[10].
Die Segmentierung der Äußerung erfolge seriell durch „bracket labels“ (=Klammerstrukturen)[11].
Nach Chomsky und Halle ist jedes dieser Formatives verschiedenen Kategorien zugeordnet, nämlich sowohl denen seiner syntaktischen und semantischen Funktion, als auch der seiner lautlichen Struktur. Die Segmente des Wortes < boy> beispielsweise lassen sich in die universalen Kategorien „Element mit initialem stimmhaften Plosiv“, „Nomen“, „belebt“ und „maskulin“ einordnen[12].
Die phonetischen Kategorien seien als zweidimensionale (Artikulationsart und Artikulationsort), binäre Merkmalsmatrix im Lexikon repräsentiert[13] und stellten nichts anderes dar, als das, was Chomsky und Halle im Folgenden als Features bezeichnen. Auf Grundlage dieser Kategorien wird durch die Aktualisierung phonologischer Regeln die phonetische Repräsentation erstellt. Die abstrakte, kognitive phonetische Repräsentation stellt das Output dieses Prozesses dar. In diesem Prozess der Umcodierung (Black-Box-Situation!!) wird also etwas generiert, nämlich die phonetische Repräsentation einer syntaktischen Struktur.
Die Phonologie habe hier, so Mayerthaler, insofern eine interpretierende Funktion, als dass sie der, „von der Grammatik generierten Satzmenge eine lautliche Realisierung oder eine phonetische Repräsentation“[14] zuweise.
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3. Das System der distinktiven Merkmale nach Chomsky und Halle
Ziel des Systems distinktiver Merkmale nach Chomsky und Halle ist es, universelle, inhärente phonetische Features (also unter Ausschluss prosodischer Features) zu ermitteln - unabhängig davon, welche Rolle sie für die englische Sprache spielen. Die erarbeiteten Features sollen den Pool aller artikulatorischen Möglichkeiten menschlicher Sprache repräsentieren:
„The total set of features is identical with the set of phonetic properties that can in principle be controlled in speech; they represent the phonetic capabilities of man and, we would assume, are therefore the same for all languages“ (SPE, S. 295).
Bei dem Merkmalssystem Chomskys und Halles handelt es sich, wie bereits erwähnt, um ein feature-basiertes System. Die Features werden als die Basiseinheit phonologischer Beschreibungen betrachtet. Jedes Feature definiert hier zwei Klassen von Segmenten: die, die es tragen und die, die es nicht tragen[15]. Die phonetischen Features sollen zum einen der phonetischen Beschreibung dienen und zum anderen der Kategorisierung der Segmente. Hinsichtlich der zweiten Funktion soll die Natürlichkeit der Klassen durch die vermeintliche Referenz der Features auf die psychische Realität des mentalen Lexikons gestützt werden: „the features have a phonetic function and a classificatory function. In their phonetic function, they are scales that admit a fixed number of values, and they relate to independently controllable aspects of the speech event […]. In their classificatory function they admit only two coefficients, and they fall together with other categories that specify the idiosyncratic properties of lexical items” (SPE, S. 298).
Die Features werden überwiegend artikulatorisch definiert und deren Distinktivität durch Beispiele aus verschiedenen Sprachen belegt. Jedes Merkmal, so Chomsky und Halle, stelle eine physikalische Skala dar, die an zwei Punkten definiert sei, z.B. durch die Semi-Antonyme high-nonhigh. Diese Skalen referierten auf die Matrizen der kognitiven phonetischen Repräsentation[16].
Als Referenzgröße dieser physikalischen Skalen dient die unmarkierte Neutralposition. Die Neutralposition definieren Chomsky und Halle durch eine bestimmte Lage des Velums und der Zunge, die aber nicht der Ruhelage der Organe während der Atmung entspricht! In der Neutralposition ist das Velum gehoben, der Nasenraum ist verschlossen. Der Zungenrücken (Dorsum) ist ebenfalls leicht gehoben, wie bei dem englischen Vokal /e/ (= [@] in <bed>), die Zungenspitze (Apex) dagegen ruht am unteren Zahndamm[17].
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Abb.1: Röntgenbild und Zeichnung des Röntgenbildes; Darstellung der Neutralposition anhand des „Neutralvokals“ [@].
Aus: Laver, John: Principles of Phonetics, Cambridge University Press, Cambridge [u.a.] 1995 (keine Seitenzahl).
Chomsky und Halle betonen, dass die Hierarchie der Merkmale zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auf einer recht defizienten theoretischen Basis beruhe[18].
[...]
[1] Nach: Sommerstein, Alan H.: Modern Phonology, Edward Arnold, London 1977. S. 92-113.
[2] Nach: Sommerstein, S. 95.
[3] Nach: Sommerstein, S. 95.
[4] http://www.cogsci.uni-osnabrueck.de/~haase/sphonbib.html (22.3.2005)
[5] Mayerthaler, Willi: Einführung in die generative Phonologie, [Romanistische Arbeitshefte 11], Niemeyer Verlag, Tübingen 1974. S. 7.
[6] Nach: Mayerthaler, S. 7.
[7] Mayerthaler, Einführung in die generative Phonologie, S. 2.
[8] Nach: Mayerthaler, S. 7.
[9] Mayerthaler, S. 58.
[10] Nach: SPE, S. 293.
[11] Siehe auch Abb. SPE, S. 8
[12] Nach: SPE, S. 295.
[13] „What exactly is a phonetic representation? […] a phonetic representation has the form of a two-dimensional matrix in which the rows stand for particular phonetic features; the colums stand for the consecutive segments of the utterance generated; and the entries in the matrix determine the status of each segment with respect to the features. In a full phonetic representation, an entry might represent the degree of intensitiy whith which a given feature is present in a particular segment” (SPE, S. 5).
[14] Mayerthaler, Einführung in die generative Phonologie, S. 2.
[15] Nach: Sommerstein, S. 93.
[16] Nach: SPE, S. 298 (s.o.).
[17] Nach: SPE, S. 300.
[18] SPE, S. 300: “This subdivision of features is made primarily for purposes of exposition and has little theoretical basis at present”.
- Arbeit zitieren
- Kerstin Schramm (Autor), 2005, Sound Pattern of English - Das System distinktiver Merkmale nach Chomsky und Halle, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/210463
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