Leseprobe
Inhalt:
2 Einleitung
3 Sozialgeschichtliche Werkinterpretation (Theorie)
3.1 Entstehung sozialgeschichtlicher Ansätze
3.2 Ausrichtungen und Verdienste der sozialgeschichtlichen Auffassung
3.2.1 Vermittlungsmodelle
3.2.2 Literatur als Diskurs
3.3 Grundlagen sozialgeschichtlicher Werkinterpretation
3.4 Rolle des Werkes
4 Sozialgeschichtliche Werkinterpretation (Praxis)
5 Zusammenfassung
6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
2 Einleitung
Literarische Texte zu verstehen und zu interpretieren, ist ein Grundanliegen der Literaturwissenschaft. Aus dem weiten Feld der literaturtheoretischen Zugänge für die Interpretation eines literarischen Werkes widmet sich die vorliegende schriftliche Hausarbeit der sozialgeschichtlichen Werkinterpretation: Zunächst ihrer theoretischen Erschließung und anschließend ihrer praktischen Anwendung am konkreten literarischen Text.
Der erste Abschnitt dieser Arbeit, der theoretische Überblick, umfasst die Entstehung, die Grundlagen und die Entwicklung der sozialgeschichtlichen Zugänge in der Literaturwissenschaft. Hierbei wird auch auf die besondere Rolle des literarischen Werkes innerhalb der sozialgeschichtlichen Ansätze eingegangen. Aufgrund der Fülle der theoretischen Fakten soll hier lediglich ein einführender Überblick ohne Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit gegeben werden.
Im zweiten Abschnitt soll die sozialgeschichtliche Werkinterpretation zur praktischen Anwendung am konkreten Text gebracht werden. Am Beispiel des Gedichts „Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen“ von Heinrich Heine soll überprüft werden, ob und in wie weit die Sinnerschließung und das Verstehen dieses literarischen Werkes mit der Methode der sozialgeschichtlichen Werkinterpretation möglich ist.
3 Sozialgeschichtliche Werkinterpretation (Theorie)
3.1 Entstehung sozialgeschichtlicher Ansätze
Ihren Ursprung haben sozialgeschichtliche Ansätze in den marxistisch geprägten Auffassungen der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.[1] Georg Lukács und Theodor W. Adorno stellten die Frage nach dem gesellschaftlichen Inhalt von Literatur.[2] Sie betrachteten Literatur als Widerspiegelung der sozialen Verhältnisse, beispielsweise als Widerspiegelung der Klassengesellschaft. Diese Ansätze resultierten aus der aufkommenden Kritik an der werkimmanenten Werkinterpretation und aus dem Aufstieg der Literatursoziologie[3]. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren forderte die Studentenbewegung eine politisch und sozial verantwortungsbewusste, so genannte „progressive“ Literaturwissenschaft, also die Erweiterung des Betrachtungsgegenstands um gesellschaftliche Zusammenhänge, statt ausschließlich des ästhetischen Aspekts. Aus diesen Veränderungsbestrebungen resultierten verschiedene Ansätze und Betrachtungsweisen. Beispiele sind die Wiederbelebung der empirischen Literatursoziologie, die Erforschung des Verhältnisses zwischen ästhetischen Werkstrukturen und gesellschaftlichen Strukturen und auch ideologiekritische Modelle.[4]
3.2 Ausrichtungen und Verdienste der sozialgeschichtlichen Auffassung
Den sozialgeschichtlichen Ansätzen liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Verhältnisse Einfluss auf Literatur haben[5] und dass Literatur deshalb nicht unabhängig von den sozialen Umständen betrachtet werden darf. Es gibt eine Fülle von verschiedenen Ausrichtungen innerhalb dieser Forschungsorientierung. Im Folgenden sollen zwei dieser Ansätze mit Ausblick auf ihre Entwicklung und ihre Verdienste für die Literaturwissenschaft betrachtet werden.
3.2.1 Vermittlungsmodelle
Innerhalb der Vermittlungsmodelle werden Literatur und Geschichte als eigenständige Bereiche betrachtet, die über Vermittlungsinstanzen zueinander in Wechselbeziehung stehen.[6] Für die Literaturwissenschaft haben sich aus diesen Modellen in zwei Bereichen wesentliche Neuerungen ergeben. Einerseits erfolgte eine Neuorientierung in der Literaturgeschichtsschreibung. War diese zuvor positivistisch ausgerichtet, also ausschließlich auf die Beschreibung ästhetischer Veränderungen konzentriert, wurden nun die Ursachen für diese Veränderungen in außerliterarischen Entwicklungen gesucht. Ästhetische Erscheinungen wurden nunmehr „als spezielle Form sozialer Erscheinungen“[7] betrachtet.[8]
Andererseits führte diese neue Betrachtungsweise zur Erweiterung des literarischen Kanons, da der historische Kontext an Bedeutung gewann. Das „literarische Leben“, also alle Faktoren, die Einfluss auf literarische Kommunikation haben, wurden zur Betrachtungsebene. Maßgebend war mehr und mehr die Frage nach dem Einfluss des Wandels von Produktions- und Kommunikationsbedingungen auf das künstlerische Schaffen einer Zeit. Daraus folgten neue Kriterien für die Erstellung eines literarischen Kanons, etwa die Rolle der Medien, die Verbreitung von Literatur und auch das Publikum. Somit wurden auch Gebrauchstexte, Trivialliteratur und Arbeiterliteratur bei der Kanonbildung berücksichtigt, die vorher wegen der ausschließlich ästhetischen Bewertungsweise ausgeschlossen waren.[9]
Kritisiert wurden die Vermittlungsmodelle wegen der unzureichenden Verknüpfung der historischen Darstellung mit der Darstellung der ästhetischen Verhältnisse bei der Umsetzung dieser Modelle in den jeweiligen Literaturgeschichten.[10] Ebenso kritisierten Vertreter des Feminismus die Vernachlässigung von Frauen als Literaturproduzenten und -rezipienten trotz der erweiterten Kanonkriterien.[11] In Bedrängnis geriet das Vermittlungsmodell im Besonderen durch die Postmodernediskussion seit den 80er Jahren, die immer mehr Skepsis gegenüber den geltenden Wirklichkeits- und Geschichtsvorstellungen schürte.[12] Es entwickelte sich die neue Annahme, dass „Wirklichkeit und damit auch Geschichte [und Gesellschaft] immer nur über kulturelle Äußerungen […] zugänglich“[13] sei und Gesellschaft somit nicht einzig den Hintergrund für kulturelle Äußerungen bildet. Hieraus ergab sich eine notwendige Neuorientierung bei der Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft.
3.2.2 Literatur als Diskurs
Die neueren sozialgeschichtlich orientierten Ansätze knüpfen hierbei an die historische Diskursanalyse von Michel Foucault[14] an. Laut Foucault ist kulturelles Wissen eine unüberschaubare Ansammlung von Aussagen und Ereignissen, die er als Diskurs bezeichnet. Dieser Diskurs ist durch Kontroll- und Regulierungsmechanismen strukturiert, die die diskursive Praxis einer Gesellschaft bestimmen. Das heißt, unser Wissen und unsere Aussagen über die Wirklichkeit sind laut Foucault der Ordnung des Diskurses unterworfen.[15] Literatur selbst bildet keinen eigenständigen Wissensdiskurs wie beispielsweise das Spezialwissen über Medizin, Naturwissenschaften oder Philosophie. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis der Literatur zu den herrschenden Diskursformationen. Foucault beantwortete diese Frage mit der Einordnung der Literatur als „Gegendiskurs“ wegen der Verletzung und Missachtung der herrschenden diskursiven Ordnungen und Regeln.[16] Da diese Aussage aber nur auf eine begrenzte Menge von literarischen Texten zutrifft und nicht als allgemein gültig für das gesamte Spektrum der Literatur akzeptiert werden kann, suchten Literaturwissenschaftler nach neuen, angepassten Ansätzen und Lösungen.[17] Es würde den Umfang dieser Arbeit sprengen, dieses Thema detailliert auszuführen; eine Aufzählung der populärsten Ansätze soll deshalb hier genügen.
- Der ‚New Historicism’ oder ‚Cultural Poetics’ beschäftigt sich mit Austauschbeziehungen zwischen Literatur und anderen kulturellen Äußerungen (Verhaltens- und Sprachformen, Gesten, Rituale, kollektive Meinungen etc.) und der Verknüpfung unterschiedlicher Textsorten zur stückweisen Erschließung der jeweiligen Machstrukturen etc.[18]
- Der ‚Cultural Materialism’ ist marxistisch orientiert und hat vorrangig das elisabethanische Zeitalter zum Gegenstand.[19]
- Die Betrachtung von Literatur als Interdiskurs ist eine von der Systemtheorie beeinflusste deutsche Theorie des Bochumer Germanisten Jürgen Link.[20]
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die sozialgeschichtlichen Zugänge bis heute hohe Aktualität genießen und dass sich in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion zwei konkurrierende Pole herausgebildet haben: die diskursanalytischen Ansätze und besonders im deutschsprachigen Raum die Systemtheorie. Es bleibt abzuwarten, ob überhaupt und wenn ja, welche Richtung die Diskussion für sich entscheiden kann.[21]
3.3 Grundlagen sozialgeschichtlicher Werkinterpretation
Grundlegend für die sozialgeschichtliche Werkinterpretation ist ein Literaturverständnis, das den historischen Wandel von Literatur berücksichtigt. Die Frage nach den Ursachen dieses Wandels findet ihre Antwort im Zusammenhang zwischen literarischen und gesellschaftlichen Entwicklungen.[22] Ausgegangen wird von der Existenz von „Wechselwirkungen zwischen Literatur und Geschichte, zwischen (literarischem) Text und (sozialem) Kontext“[23]. Als zentrale Kategorie ist die Geschichte ausschlaggebend.[24] Eine Verbindung von soziologischer und historischer Methodik zu einer sozialgeschichtlichen Dimension wird auf die Literaturwissenschaft angewandt, wobei das Erkenntnisinteresse historisch-pragmatisch angelegt ist.[25]
Das heißt jedoch nicht, dass alle literarischen Werke durch Rückbindung an ihre soziale Situation besser verstanden werden können. Sondern diese Interpretationsform konstatiert, dass es Texte gibt, die man in dem Sinne verstehen kann, dass sie auf bestimmte soziale Probleme antworten. Ebenfalls bedeutet dies nicht, dass ein literarisches Werk die Widerspiegelung oder Wiedergabe sozialer Fakten darstellt. Vielmehr wird darin eine einzigartige Darstellung sozialhistorischer Probleme gesehen, wie sie nur im Medium der Literatur möglich ist.[26]
Das Ziel der sozialgeschichtlichen Interpretationsweise ist die genauere Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft.[27]
[...]
[1] Kirsten Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge, S. 446
[2] Ebd., S. 450
[3] Helmut J. Schneider: Der Zusammensturz des Allgemeinen, S. 110
[4] Kirsten Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge, S. 448
[5] Ebd., S. 447
[6] Ebd., S. 447 f.
[7] Ebd., S. 448
[8] Ebd., S. 447 f.
[9] Kirsten Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge, S. 448
[10] Ebd., S. 449
[11] Ebd., S. 448
[12] Ebd., S. 447
[13] Ebd., S. 453
[14] Zur ausführlichen Darstellung der Diskurstheorie vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main 2002.
[15] Kirsten Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge, S. 454
[16] Ebd.
[17] Kirsten Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge. S. 454
[18] Ebd., S. 454 - 457
[19] Ebd., S. 457 f.
[20] Ebd., S. 460 - 462
[21] Ebd., S. 462
[22] Ebd., S. 446
[23] Ebd., S. 447
[24] Ebd.
[25] Helmut J. Schneider: Der Zusammensturz des Allgemeinen, S. 110
[26] Erich Schön: Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft, S. 611
[27] Kirsten Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge, S. 446