"Auf den Zeigern der Uhr gehen". Zur Sprache und Topik in der Migrationsliteratur am Beispiel von Libuše Moníková, Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu


Doktorarbeit / Dissertation, 2007

84 Seiten, Note: "prospela"


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Theorie
2.1 Thesen zur Migrationsliteratur
2.1.1 Begriffe durch die Sprache(n) lesen
2.1.2 Begriffsgeschichte
2.1.2.1 Mögliche Aspekte für die Bestimmung des Begriffs
2.1.2.2 Exkurs: Engagierte Literatur
2.1.3 Versuch einer Begriffsbestimmung: Poetik der zwischensprachlichen Kreativität

3 Interpretationen
3.1 Vorüberlegungen
3.1.1 Die Schwellenerfahrung
3.1.2 Der Zauber der Fremdsprache und der Übersetzung
3.2 Interpretationen
3.2.1 Sprache und Topoi in ausgewählten Werken
3.2.2 "Ich habe sie aber nicht so gern, um ihnen dieses Bild zu geben" Libuše Moníková: Pavane für eine verstorbene Infantin (1983)
3.2.3 Warten und Beobachten. Das Buch ohne Fragezeichen
Herta Müller: Reisende auf einem Bein (1989)
3.2.4 "Die Kamelkarawane sammelte sich in meinem Mund" Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein – aus der anderen ging ich raus (1992)
3.2.5 Sprache als Ornament Feridun Zaimoglu: Liebesmale, scharlachrot (2000)

4 Abschluss und Ausblick

5 Resumé

6 Abbildungen

7 Literaturverzeichnis

1 Einführung

Die Migration mit ihren vielen Gesichtern ist zum Bestandteil unseres Alltagslebens geworden. Die Mischung aus Sprachen und Kulturen umschließt uns in europäischen Städten auf Schritt und Tritt. Es ist nur natürlich, dass sie bereits seit Jahrzehnten auch in der Literatur ihre Spiegelungen findet.

Diese Arbeit nimmt es sich zur Aufgabe, die Möglichkeiten der Bestimmung von Migrationsliteratur als Begriff und möglicherweise ästhetische Form zu untersuchen. Als Grundlage dienen dabei neben den Abhandlungen zur Migrationsliteratur auch bisherige Erkenntnisse zur Exilliteratur und der littérature engagée. Die Migrationsliteratur ist in naher Verwandschaft zu diesen Literaturen entstanden. Aus der Differenz zur Exilliteratur und der engagierten Literatur werden die Spezifika und Merkmale der Migrationsliteratur speziell in Deutschland bestimmt. Ausgehend von diesem Abgrenzungsversuch richtet sich die Aufmerksamkeit besonders auf die Sprache und die Topik der Migrationsliteratur. Es wird die These aufgestellt, dass sich Migrationsliteratur über den Umgang der ihr zugehörigen Autoren mit Sprache und Topik universaler definieren lässt, als mit geographischen und kulturspezifischen Kriterien. Notwendig ist eine Argumentation möglichst nah an den literarischen Texten.

Der heutige Forschungsstand wird im ersten Kapitel zusammengefast. Hier findet sich auch ein Vergleich der Sprachauffassung in der Migrationsliteratur und der Exilliteratur. Das Engagement, das das stärkste Bindeglied zwischen der Migrationsliteratur und der Exilliteratur bildet, wird hier unter Verweis auf die Geschichte der littérature engagée in Deutschland in einem Exkurs dargestellt.

An dieses Kapitel schließt ein interpretatorischer Teil mit Analysen der Werke von Libuše Moníková, Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu an. Zur Einführung werden die theoretischen Voraussetzungen für die Analysen erläutert, vor allem mit Verweis auf die Erfahrung der Schwelle und die Wahrnehmung von Sprache als Fremdsprache und als Übersetzung. Absichtlich werden sehr verschiedene Autoren gewählt, so dass zwar keine flächendeckende, jedoch eine repräsentative Exempla-Analyse entsteht.

Jede konkrete Textanalyse beschäftigt sich einerseits mit der Sprache des Textes (Semantik, Phraseologismen, Wortschatz etc.) und andererseits mit der Topik. So rückt in der Interpretation von Libuše Moníkovás Pavane für eine verstorbene Infantin neben den Phraseologismen und dem Fachwortschatz die Topik der Mythopoetik und der Behinderung ins Zentrum. In der Analyse von Herta Müllers Reisende auf einem Bein zeigen sich alte, traditionelle Topoi im neuen Licht der Intermedialität. Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu gehören beide in den Kontext der Literatur mit türkischem Hintergrund. In Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein – aus der anderen ging ich raus schiebt die Frage nach dem Wirken der Sprache als Zauber und somit nach ihrer Autonomie in den Vordergrund. Am Beispiel von Feridun Zaimoglus Liebesmale, scharlachrot sehen wir die Fortsetzung der Ästhetik der Schlangenlinie in der neuen Migrationsliteratur.

Im abschließenden Kapitel suchen wir zusammenfassend nach für die Migrationsliteratur besonders prägenden Sprachmerkmalen und Topoi. Hier werden die Hauptthesen noch einmal hinterfragt und endgültig formuliert.

Der Migrationsliteratur wird der

Ort im gesellschaftlichen Literaturgefüge an der Grenze zwischen Drinnen und Draußen zu[gewiesen], im Schatten der Schwelle zwischen dem, was als das Eigene angesehen, und dem, was als fremd und anders wahrgenommen und abgewehrt wird. So sieht sich die Migrationsliteratur der besonderen Anstrengung ausgesetzt, sich gegen das Vergessen zu behaupten, noch ehe sie die Schwelle zur Aufmerksamkeit richtig überschreitet (Todorow 2004b, 235).

Diese Arbeit möchte dazu beitragen, dass die Migrationsliteratur als eine vollwertige und vor allem sinnvolle Kategorie gesehen wird, die im Kontext der Literaturen der europäischen Länder unabdingbar ist.

2 Theorie

2.1 Thesen zur Migrationsliteratur

2.1.1 Begriffe durch die Sprache(n) lesen

In jedem Text zur Migrationsliteratur stößt man sofort auf ein Problem im Bereich der Begriffsbestimmung. Noch schwieriger wird es, wenn man den Begriff Migrationsliteratur in eine andere Sprache übertragen möchte. Denn den deutschen Begriff Migrationsliteratur samt seiner Bedeutung kann man z.B. nicht ohne weiteres ins Tschechische übertragen. Wie Alfrun Kliems zeigt, sind die tschechischen Begriffe, die der Migrationsliteratur nahe stehen könnten, bei weitem nicht so differenziert, wie die in deutschsprachigen Ländern üblichen:

Was die im Exil entstandene Literatur anbelangt, so präsentiert sich das tschechische Begriffsfeld überraschend weitläufig und unscharf: Unter dem übergeordneten Terminus 'unabhängige Literatur' (nezávislá literatura) hat sich das Kompositum 'Exilliteratur' (exilová literatura) eingebürgert. [...] Ein terminologischer Zusammenschluß, der allein den geographischen Faktor als pars pro toto suggeriert, ist die verstärkt seit den ausgehenden neunziger Jahren verwendete Konstruktion 'im Ausland entstandene Literatur' (literatura vzniklá v zahraničí), die allerdings auch im Exil geschriebene Werke einschließt. Vor allem dieses Syntagma läßt den politischen Trennungsgrund, aber auch die heterogenen Lebenslagen, Selbstverständnisse und Konzepte der im Westen lebenden Schriftsteller unbeachtet. (Kliems, 2004, 290; meine Hervorhebung)

Die von Kliems beschriebene Vereinfachung weist auf den bewussten und unbewussten Unwillen der tschechischen Gesellschaft (Wissenschaft eingeschlossen) hin, sich mit den geschichtlichen Geschehnissen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen und die gesellschaftlichen Vorgänge differenzierter aufzuarbeiten. Das Hauptziel in der Literaturwissenschaft ist die möglichst neutrale, unpolitische Kategorisierung der Literatur, wobei es zur Zeit vor allem um eine Bestandsaufnahme geht, die eine Wertung der Literatur eher ausschließt. Die Verwirrung der Begriffe in der tschechischen Literaturwissenschaft macht entfernt darauf aufmerksam, dass auch in der deutschsprachigen Germanistik der Begriff Migrationsliteratur nicht eindeutig bestimmt ist. Gleichzeitig zeigt sich hier die besondere Natur von den Begriffen wie Migrationsliteratur, deren Bedeutung durch den kulturellen Kontext insoweit bestimmt wird, dass sie in einer Übersetzung den ursprünglichen Inhalt nicht beibehalten können und einer zusätzlichen Erklärung bedürfen.

Die folgenden Seiten machen es sich zur Aufgabe, die Entwicklung des Begriffs Migrationsliteratur in den deutschsprachigen Ländern zu beschreiben und den Begriff so darzustellen, wie er sich bis zum heutigen Zeitpunkt entwickelt hat.

2.1.2 Begriffsgeschichte

Der im Laufe der 70er Jahre auf dem literaturwissenschaftlichen Gebiet entstandene Terminus “Migrationsliteratur” wurde als Oberbegriff für Immigration, Emigration, Remigration und Binnenmigration in der Literatur verstanden (Rösch, 1992, 8). Er fiel mit dem Begriff Exilliteratur größtenteils zusammen, was hieß, dass z.B. auch diejenigen Schriftsteller, die in den Jahrhunderten zuvor ins Exil geschickt wurden, zur Migrationsliteratur zählten. Diese Konzeption hat sich praktisch bis heute erhalten, wenn auch mit immer größeren Vorbehalten. So bringt Sybille Cramer in ihrer Laudatio für Libuše Moníková (Cramer, 1991, 235) diese Autorin u. a. mit Ovid zusammen und spricht von ihr im Zusammenhang der Exilliteratur.

Man kann feststellen, dass Arbeiten, die nicht versuchen, den Begriff festzulegen, Migrationsliteratur und Exilliteratur zusammenfallen lassen, oder den Begriff Migrationsliteratur unter Vorwegnahme seiner Unbestimmtheit benutzen (Tvrdík, 2004, 4). Meine Annahme ist, dass sich die Gebiete der Migrationsliteratur und der Exilliteratur zwar überlappen, jedoch keineswegs identisch sind. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal neben der politischen Akzentuierung des Exilliteratur-Begriffs sehe ich dabei im Verständnis und in der Handhabung der Sprache der Texte (s. weiter unten).

Was den Begriff Migrationsliteratur angeht, unterschied die deutsche Germanistik bis in die 1990er Jahre hinein zwischen der MigrantInnenliteratur, der Literatur zum Thema Arbeitsmigration und Migrationsliteratur. Dabei war die MigrantInnenliteratur die Literatur, die von MigrantInnen geschrieben wurden; die Literatur zum Thema Arbeitsmigration schränkte sich auf die Thematisierung der Migration aus ökonomischen Gründen ein und die Migrationsliteratur war „eine Literatur, die sich mit dem Gegenstand der Migration befaßt, diese eindeutig parteiisch, das heißt aus der Perspektive unterdrückter Minderheiten bearbeitet und auch ästhetisch gestaltet“ (Rösch, 1992, 33). Bereits aus den Definitionen kann man ersehen, dass die Begriffe hier unter Berücksichtigung des geographischen, des sozialen, des interkulturellen und des sprachlichen Aspekts bestimmt worden sind.

Diese begriffliche Trennung verlor jedoch bis zur Gegenwart größtenteils ihre Stichhaltigkeit. Die seit den 50er Jahren aus ökonomischen Gründen nach Deutschland migrierenden Völker (vor allem Türken, die mit etwa 2,1 Millionen Menschen die größte Minderheit in Deutschland darstellen (Eschenhagen 2005)) sind zur Alltagserscheinung geworden. Durch die Erweiterung der Europäischen Union hat sich außerdem allgemein die Migrationsrate vergrößert und die Zuwanderungen und Abwanderungen werden als eine Folge der Globalisierung wahrgenommen. Die heutigen Autoren der Migrationsliteratur lassen sich außerdem nicht mehr eindeutig den einzelnen Gruppen zuordnen, da sie einerseits zum Teil als Kinder der Einwanderer bereits die deutsche Staatsbürgerschaft haben (z.B. R. Schami, F. Zaimoglu) oder zwischen den Ländern und Sprachen pendeln (z.B. Y. Tawada). Der heutige Stand ist, dass die drei oben genannten Begriffe (MigrantInnenliteratur, Literatur zum Thema Arbeitsmigration und Migrationsliteratur) alle in den Begriff der Migrationsliteratur eingeflossen sind.

Immer wichtiger wird die Erkenntnis, dass sich die Autoren der Migrationsliteratur nicht eindeutig einer Nationalliteratur zuordnen lassen, beziehungsweise in mehrere Nationalliteraturen eingereiht werden können. Das Selbstverständnis des Autoren ist bei den Einordnungsversuchen nur sehr bedingt von Hilfe. So verstand sich z.B. Libuše Moníková als eine Schriftstellerin der „deutschen Sprache“, sie erscheint jedoch sowohl in Lexika der tschechischen, wie auch der deutschen Literatur. Die Autoren der Migrationsliteratur sind wahre Grenzgänger, im wörtlichen und im übertragenen Sinne.

Der gemeinsame Nenner der Migrationsliteratur ist vorerst die „Erfahrung der Wanderung“ (Todorow, 2004a, 26). Dies gilt sowohl in Bezug auf die Seite der Produktion, als auch auf die Rezeption. Die Wanderung kann dabei auf mehrere Weisen unternommen werden. Ich habe mich hier vorläufig auf drei Aspekte konzentriert.

2.1.2.1 Mögliche Aspekte für die Bestimmung des Begriffs

Der räumliche Aspekt

Nehmen wir uns zuerst den räumlichen Aspekt vor. Die Erfahrung der Grenzüberschreitung fließt direkt in die Texte ein.

In Feridun Zaimoglus Briefroman Liebesmale. Scharlachrot (2000) überbrücken Briefe in schnellem Tempo die Distanz zwischen Deutschland und der Türkei. Die Briefe geben Zeugnis über die Erfahrungsgeschichten von zwei jungen Deutsch-Türken. Die räumliche Distanz zwischen den beiden Hauptfiguren Serdar und Hakan ermöglicht nicht nur Rückblicke auf das Vergangene, sondern auch reflektierende Distanzierung von der eigenen Person. Serdars Fahrt in sein „Heimatland“ hat jedoch darüber hinaus eine bedeutende Auswirkung: er verliert sowohl seine sexuelle als auch seine dichterische Potenz. Die sexuelle Potenz stellt sich erst auf dem Rückflug nach Deutschland wieder ein, die dichterische gibt Serdar freiwillig auf. Auf diesen Text gehe ich später noch im Detail ein. Hier möchte ich feststellen, dass auf der narrativen Textebene auf die Einwirkung des Ortswechsels verwiesen wird.

Der Ortswechsel, oder auch die Unmöglichkeit, einen Ort zu verlassen, wird bei den meisten Autoren der Migrationsliteratur thematisiert. Aufgegriffen werden dabei nicht nur Übergänge zwischen zwei geographisch bestimmten Gebieten, sondern auch auf der Textebene der Wechsel zwischen dem für die Gestalten realen und imaginären Textraum. Im Werk von Libuše Moníková sehen wir zum Beispiel den Grenzgang von der Realität zur mythologisierten böhmischen Geschichte (Pavane für eine verstorbene Infantin), bei Emine Sevgi Özdamar die ständige Bewegung zwischen der Welt der Lebendigen und der Toten (Das Leben ist eine Karawanserei).

Dabei wird die Erfahrung der räumlichen Grenzen auch auf den Körper der Gestalten und auf die Ich-Erfahrung übertragen (z.B. in Texten von Jan Faktor, Libuše Moníková, Emine Sevgi Özdamar). So kann man den menschlichen Körper auch als "existential ground of culture and self" (Csordas 1994) sehen. Die Darstellung des Heimatlandes und die zeitweise Doppelung des Raumes überhaupt entsprechen der Topologie des Zauberatlasses im Sinne Ingeborg Bachmanns.

Der interkulturelle Aspekt

Der interkulturelle Aspekt steht für die Vermittlungsfunktion zwischen Kulturen in der Migrationsliteratur. Er hilft das Fremde, das bei den Migranten als ein konstitutives Merkmal vorhanden ist, zu einem weniger Fremden, Eigenen zu verschieben. Nicht nur die Geschichte des Ursprungslandes und der eigenen Familie wird zum Thema, sondern auch die (traditionelle) Vermittlung und Erhaltung der Geschichte (Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei) sowie der persönliche und gesellschaftliche Verlust der Geschichte und des Gedächtnisses (Terezia Mora: Alle Tage).

Auf diese Art und Weise bildet sich die Grundlage für eine bessere Akzeptanz fremden Gedankenguts. Das Denken von der Schwelle aus macht die geistigen Grenzen der Kulturen durchlässiger und „leistet somit einen Beitrag zur Multikulturalisierung der Gesellschaft“ (Rösch, 1992, 9). Die zuerst negativ konnotierte Fremdheit erfährt eine Umkehr. So kann Gregor Reichelt am Beispiel von Rafik Schami zeigen:

Fremdheit kommt auf diese Weise nicht als eine Ursache fehlender Integration oder Partizipation in den Blick oder als Anlaß von Diskriminierung, als gesellschaftlicher 'Makel', sondern sie bereichert eine sonst homogenere, also ärmere westliche Kultur. Damit einher geht ein Rollenwechsel des Autors: Weit davon entfernt, von der Gesellschaft etwas zu begehren, was diese ihm durch Ausschließung oder Diskriminierung vorenthält, schlüpft der Autor hier in die Rolle des Gebenden, der das Publikum 'verzaubert', indem er ihm eine andere oder teilweise fremdgewordene Kultur des mündlichen Erzählens präsentiert und bei seinen Lesungen auf der Bühne vorführt (Reichelt, 2004, 222).

Die Wirkung wird durch die Anwendung der Sprache erzielt. Die Kritik der Zustände der Gesellschaft geht dabei nicht verloren, sondern wird „literarisch kompensiert“, was zum Beispiel praktisch dazu führt, dass für den Leser lange nicht ersichtlich ist, in wie dürftigen Verhältnissen die Familie der Heldin in Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei lebt.

Zugleich bieten die Texte einen Blick auf Deutschland, seine Geschichte und seine Kultur, durch fremde Augen. Dieser “Blick von Außen”, nicht selten verbunden mit Humor, stellt eine der attraktivsten Seiten der Texte dar, und macht es möglich, dass Autoren von leichter Lektüre zu Kultautoren werden (z.B. Wladimir Kaminer, Russendisko). Aber auch Romane wie Alle Tage von Terezia Mora oder Pavane für eine verstorbene Infantin von Libuše Moníková bieten diese Perspektive.

Klaus Schenk weist am Beispiel des Essayismus nach, wie die Schreibweise der AutorInnen der Migrationsliteratur Aspekte der Kritik an ihrem Gastgeberland beinhaltet und dabei die Möglichkeiten des Essays erweitert:

Neben seiner traditionellen Verbindung mit der Kritik hat sich die essayistische Schreibweise von Autoren der Migration auch der Performanz von sprachlichen wie kulturellen Übersetzungen verschwistert – oder mit Tawadas Abwandlung eines Zitats von Gertrude Stein ausgedrückt: „die Muttersprache macht die Person, die Person hingegen kann in einer Fremdsprache etwas machen." (Schenk, 2004, 114)

Der Autorenblick wendet sich auch gegen das eigene Heimatland, und er bietet eine Darstellung des Ursprungslandes und seiner Geschichte speziell für deutschsprachige Augen angepasst (z.B. Libuše Moníková: Verklärte Nacht, Jiří Gruša: Gebrauchsanweisung für Tschechien).

Die Anpassung an die deutschsprachige Leserschaft erschwert die Rezeption der Autoren in ihrem Herkunftsland, wie man es an der problematischen Rezeptionsgeschichte der Romane von Libuše Moníková in der Tschechischen Republik nachweisen kann (vgl. Haines 2005)

Der sprachliche Aspekt

Die wichtigste Wanderung unternimmt jeder der Autoren der Migrationsliteratur jedoch in der Sprache. Der Autor muss sich für einen Übergang von der ursprünglichen Muttersprache zur Fremdsprache entscheiden. Deutsch wird für ihn/sie zur Sprache des Schaffens, zum Mittel der Darstellung. Der Entschluss für die Fremdsprache und für die Poesie führt zu Sprach(er)findungen verschiedenster Art. Zu nennen sind beispielsweise Direktübersetzungen von tschechischen Idiomen bei Libuše Moníková, die “Kanak Sprak” von Feridun Zaimoglu oder die Zitate von arabischen Gebeten bei Emine Sevgi Özdamar (die ja eine Mehrfachverfremdung und Verzauberung darstellen, da es sich für die Autorin um ein Zitat einer Fremdsprache in ihrer Muttersprache und im Deutschen handelt).

Regelmäßig tauchen tiefgehende Auseinandersetzungen mit dem Wesen der Sprache, dem Sein der Sprache in der Gesellschaft und der Handhabung der Welt durch die Sprache auf. Sie münden ins narrativ-essayistische Werk, wie bei Herta Müller (Der König verneigt sich und tötet), Yoko Tawada (Talisman und Überseezungen) oder Libuše Moníková (Schloß, Aleph, Wunschtorte).

Am Beispiel von Libuše Moníková lässt sich darstellen, von welcher Bedeutung ein Sprachwechsel für eine Autorin ist. Für Libuše Moníková war das Deutsche als Sprache des Erzählens ein Mittel des Abstandschaffens und Abstandhaltens. Durch die Fremdsprache konnte sie sich Sachverhalte erschließen, denen sich ihre Zunge bis dahin verweigert hatte. Ihr Deutsch, durchflochten mit absichtlichen Strukturen aus dem Tschechischen, mit tschechischen Idiomen, aber auch mit Fachausdrücken aus verschiedenen Gebieten und intertextuellen Zitaten, wird zu einer utopischen Sprache, in der man alles, auch das Unsagbare, aussprechen kann. Die Muttersprache schränkt ein, die Fremdsprache ist grenzenlos. Man kann in ihr, wie Moníková im Roman Treibeis erprobt, auch das Sprengen der literarischen Gattung wagen.

Rezeptionsästhetisch ist von Bedeutung, dass der Leser fremde Sprachkörper im Deutschen erkennt. Seine Muttersprache wird ihm neuartig und aus einem unbekannten Blickpunkt dargeboten. Gleichzeitig wird die Fremdsprache zu einer Zauberformel (vgl. Texte von Emine Sevgi Özdamar, Rafik Schami), die auch ohne sinngemäß genau verstanden zu werden durch ihren Klang und ihr Schriftbild wirkt. Die als etwas Fremdes, Verfremdetes erkannte Sprache erhöht die Sensibilität des Lesers sich selbst gegenüber und lockert die Grenzen der sprachlichen Norm.

Auch die Unkenntnis der Fremdsprache wird von den Autoren positiv kompensiert:

Wo Sprache als Erfahrung von Mangel thematisch wird, deutet Schami diesen Mangel positiv um: die Fremdsprache wird zu einer Geliebten, die sich sträubt und verführt wird. Die fehlende Sprachbeherrschung erscheint dann plötzlich als absichtsvolle Entsagung und Kunst der Verführung. (Reichelt 2004, 231)

Dieses Sich-die-Freiheit-nehmen im Umgang mit der Sprache ist ein typisches Merkmal der Migrationsliteratur und stellt in meinen Augen das wichtigste Kriterium für die Definition einer Migrationsliteratur dar. Es korrespondiert mit der Öffnung der Grenzen speziell im europäischen Raum. Die Migrationsliteratur reagiert auf die Öffnung der Grenzen und bereitet gleichzeitig eine Vertiefung der Öffnung in den Köpfen und Körpern der Leser vor. Erst in diesem Sinne handelt es sich um eine engagierte Literatur.

Die engagierte Literatur stellt in ihrer Entwicklung einen der bedeutendsten Berührungspunkte zwischen der Migrationsliteratur und der Exilliteratur dar. Aus diesem Grund ist in diese Arbeit ein Exkurs zur Entwicklung des Begriffs der engagierten Literatur und zur Wahrnehmung ihrer Position vor allem in Deutschland eingegliedert. Dieser Exkurs bereitet auch die Basis für die Diskussion über die littérature engagée in der Migrationsliteratur. In dem Diskurs um die littérature engagée ist auch die Frage nach der Autonomie und dem Engagement des Kunstwerks zwingend anwesend.

2.1.2.2 Exkurs: Engagierte Literatur

Die Wurzeln des Diskurses um die engagierte Literatur reichen tief; der Diskurs selbst hat unzählige Veränderungen durchlaufen. So wird heutzutage Engagement, vor allem politisches, in akademischen Kreisen nicht gerne gesehen. Nach den geschichtlichen Entwicklungen vor allem des 20. Jahrhunderts und der Diskreditierung vieler Wissenschaftler durch die Zusammenarbeit mit einem totalitären Regime ist dies auch nicht überraschend. Es ist heute jedoch von Bedeutung wahrzunehmen, dass der Begriff des Engagements im Laufe der Zeit viele wichtige Veränderungen durchlief, die ihn in immer wieder neuen Formen ständig aktualisierten. So gleicht Schillers Theater als moralische Anstalt nicht der Tendenz Benjamins, so wendet sich Adorno kritisch gegen Sartres Ausformulierungen der littérature engagée. So kennt man in den angelsächsischen Ländern nur den Begriff politically commited literature, während Herta Müller dezent vom Anliegen spricht und einer Einschränkung dieses Begriffs ausschließlich auf das politische Engagement wohl nicht zustimmen würde. Wir wollen uns im Rahmen einer Skizze, die keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, mit diesen Begriffen auseinandersetzen.[1]

Überlegungen zu den Möglichkeiten der Autonomie des Kunstwerks und seiner Instrumentalisierung gibt es bereits bei Friedrich Schiller:

Die Notwendigkeit von Kunst und ästhetischer Erfahrung ist für Schiller also gerade dadurch bedingt, dass das epochale Projekt zur Befreiung der Menschen seiner Meinung nach gescheitert ist. Die Autonomie von Kunst ist mithin eine Konsequenz des Fortbestehens von politischer und gesellschaftlicher Unterdrückung in der nachrevolutionären Periode (Hofmann 1991, 822).

Für Schiller weitet sich die Lebenswelt in das Literarische aus. Das Theater, im Gegensatz zu der Kirche und zur Exekutive, hat die Fähigkeit, die Gerichtsbarkeit der Welt hinter ihren Grenzen im Realen weiterzuführen und auf diese Weise sowohl präventiv als auch tadelnd einzugreifen. Das Theater kann weiter gehen als die weltlichen Institutionen, da es die Fähigkeit besitzt, die Welt frei in ihrer ganzen Wahrheit zu zeigen. Wie auch im 20. Jahrhundert ist das Theater ein Instrument der Kommunikation mit der Öffentlichkeit.

Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele (Schiller 1989, 426).

Hiernach ist das Theater eine moralische Anstalt – es zeigt das Ideal, wirbt für die Moral und verteidigt sie.

Eine Debatte rund um den Begriff des Engagements selbst entwickelte sich jedoch erst im 20. Jahrhundert. Einer der herausragenden Texte Walter Benjamins zu diesem Thema ist Der Autor als Produzent von 1934. Dieser in Paris vorgetragene Text setzt sich mit der Notwendigkeit des Engagements in der Kunst, vor allem in der Literatur, auseinander. Benjamin stellt die etwas zwanghafte These auf, dass "ein Werk, das die richtige Tendenz aufweist, notwendig jede sonstige Qualität aufweisen [muss]" (Benjamin 1977, 684). Walter Benjamin benutzt den Begriff Tendenz, den man mit dem Begriff des Engagements gleichsetzen kann, welches sich nicht auf das politische Engagement beschränkt. "Die Tendenz einer Dichtung [kann] nur politisch stimmen, wenn sie auch literarisch stimmt. Das heißt, daß die politisch richtige Tendenz eine literarische Tendenz einschließt" (Benjamin 1977, 684f.).

Mit Hinweisen auf die Bewegung des Aktivismus und die neue Sachlichkeit plädiert Benjamin für einen Autoren als Produzent, der aus seiner habitualisierten Rolle in der Gesellschaft ausbricht und sich neuer Produktionsmittel und -wege annimmt: "Seine [des Schriftstellers] Arbeit wird niemals nur die Arbeit an Produkten, sondern zugleich die an den Mitteln der Produktion sein" (Benjamin 1977, 696). "Der Schriftsteller sollte ans Photographieren gehen" (Benjamin 1977, 693). Am Beispiel der Photomontage zeigt Benjamin einen Ausbruch aus der Spezialisierung des Schriftstellers und wendet sich gegen den Personen- beziehungsweise Geniekult. Berthold Brecht verkörpert für Walter Benjamin den Künstler, der als Produzent die Mittel der Produktion im epischen Theater hinterfragt. Er bringt den Zuschauen durch Verfremdung, die Montage und die Unterbrechung zum Lachen und schließlich zum Denken. Im Kampf mit dem totalitären Regime des Faschismus verschwindet der individuelle Geist.

Die richtige Tendenz beinhaltet ein Engagement des Künstlers in der Führung des Rezipienten zur Reflexion, die durch die Änderung der "Produktionsmittel" eingeleitet werden kann. Das Medium, durch das die Veränderung zustande kommen kann, bleibt für Walter Benjamin die Sprache (vgl. Benjamin 1977, 693f).

Die Sprache ist auch der Ausgangspunkt von Jean Paul Sartres Überlegungen zur littérature engagée. Kurz nach dem Kriegsende wurde sein Essay Qu’est-ce que la littérature? (nach einem Vorabdruck in der Zeitschrift Les Temps Modernes 1948 in einem Sammelband Situation II erschienen) zum Grundstein einer Debatte über die engagierte Literatur, die bis in die 60er Jahre andauerte. Der Essay ist eine Antwort auf die Kritik an Sartres politischem Engagement, das sich nicht an eine politische Partei gebunden sehen wollte. Qu’est-ce que la littérature? bemüht sich die Frage zu beantworten, wie die Literatur beschaffen sein muss, um die menschliche Gesellschaft und durch sie die Welt, beeinflussen zu können. Die Behauptung, dass die Kunst die Welt bewegen kann, gehört zu den Prämissen des Textes.

Ausgehend von der Erfahrung des Krieges spricht Sartre dem Schriftsteller die Pflicht zu, den Leser zu engagieren und folglich in Bewegung zu bringen. Der Autor muss geschichtlich arbeiten, seine Zeit festschreiben, so dass der Leser sich angesprochen fühlt und mit dem Autor in einen Dialog beziehungsweise in eine dialektische Beziehung tritt. Doch dazu muss der Schriftsteller sein Publikum zuerst finden. ”L’écrivain est un parleur [...]”(Sartre 1965, 70). Ein Sprecher, ein Rhetor also, der durch seine Aussagen den Stand der Dinge enthüllen kann und sich gleichzeitig auf den gemeinsamen Kenntnisstand des Schriftstellers und des Lesers stützen muss: ”Ainsi, en parlant, je dévoile la situation par mon projet même de la changer; je la dévoile à moi-même et aux autres pour le changer” (Sartre 1965, 73). Der Sprecher muss der Sprache mächtig sein, er bedient sich der Wörter. Da die Prosa im Wesentlichen zweckbedingt ist, muss sie immer an sich engagiert sein. Sartre setzt hinzu, dass Literatur keinen Zweck hat, sondern ein Zweck ist, ”parce qu’elle est appel” (Sartre 1965, 98).

Der Appell an den Leser ist ein mehrfacher. Da Sartre annimmt, das Kunstwerk könne nur während des Lesens entstehen und existieren, richtet sich der Appell des Autors erstens an die Freiheit des Lesers, am Entstehen des Werkes teilzunehmen. Zweitens stellt es Anforderungen an die Kapazität des Lesers, die schöpferische Freiheit des Autors anzuerkennen und einen gegenseitigen Appell an den Autor auszusenden. Da die Freiheit zu schreiben auch die bürgerliche Freiheit beinhaltet, muss die Prosa mit dem einzigen Regime, das diese Freiheit gewährleistet, mit der Demokratie, solidarisch sein. Der Schriftsteller muss auch bereit sein, aktiven physischen Widerstand zu leisten, wenn es ihm nicht möglich sein sollte, mit seiner Feder zu kämpfen, so Sartre. Hier kommt Sartre Walter Benjamins Auffassung des Autors als Produzent nahe. Am bedeutendsten ist allerdings das bereits oben erwähnte Ziel, den Leser in Bewegung zu bringen, mit der er die Welt verändern könnte. Zusammenfassend steht hier Engagement für Aktion.

Diese an das erwünschte, gewählte Publikum gerichtete Nachricht ist ein Zeichen des durch den Totalitarismus gekennzeichneten Zeitgeistes. Wichtig ist die Ausrichtung des Schreibens auf die Totalität, also die Fähigkeit, die Situation vollständig in ihrer Einzigartigkeit zu erfassen. Traugott König beschreibt sie auf folgende Weise:

Sartre [suchte] nach einer synthetischen Anthropologie, die davon ausgeht, daß jeder Einzelne in jedem Augenblick auf eine einmalige Weise das ganze Allgemeine, die Totalität des In-der-Welt-Seins manifestiert, indem er seine total determinierte Situation durch sein einmaliges Verhalten in ihr zu einer einmaligen Situation macht (König 1980, 41).

Der Autor jedoch trägt mit der Aktivität des Schreibens seine Tat in die Welt und möchte sie damit beeinflussen. Das Schreiben beinhaltet so eine moralische Dimension.

Wir können daraus schließen, dass das gewählte Thema an sich nicht die vorderste Stelle einnimmt. Wichtiger ist die Art und Weise der Verarbeitung, die "Mittel der Produktion", wie Benjamin sie nennt. Sartre beteuert in Qu’est-ce que la littérature?, dass vor dem Zweiten Weltkrieg ein Zwang existierte, neuzeitliche Themen nicht zu bearbeiten und sich den historischen oder den allgemeinen zu widmen. Er appelliert, dass der moderne Schriftsteller zeitgenössische Themen verarbeite. Er selbst setzt jedoch in seinem dramatischen Schaffen auf den Mythos, den er als allgemein verständlich einstuft (vgl. Sartre, 1979). Sartre bearbeitet beide Gebiete. Den Mythos in Les Mouches und die örtlich nicht näher bestimmte Gegenwart in Les Mains sales. Nur eine engagierte Literatur kann nach Sartre von Bedeutung sein.

Für Jean Paul Sartre waren im Kontext von Qu’est-ce que la littérature? auch rezeptionsästhetische Fragen von Interesse. Der Text ist für Sartre ein Dolmetscher, durch den ein historischer Kontakt zwischen dem gegenwärtigen Schriftsteller und dem zukünftigen Leser entsteht (also zwischen ihren unterschiedlichen historischen Kontexten). Das Buch verbindet zwei Punkte, die auf der geschichtlichen Achse beliebig weit voneinander entfernt sein können. Die Problematik der unterschiedlichen geschichtlichen Kontexte beim Autor und Leser beschäftigt Sartre nicht. Wichtig ist für ihn, dass man das Schreiben als die Geschichte schreibenden Prozess verstehen kann: ”la praxis comme action dans l‘histoire et sur l‘histoire, c‘est-à-dire comme synthèse de la relativité historique et de l‘absolu moral et métaphysique, avec ce monde hostile et amical, terrible et dérisoire qu‘elle nous révèle, voilà notre sujet” (Sartre 1965, 265). Es muss eine Literatur der Historizität geschaffen werden, also eine Literatur, die den Krieg und den Tod festschreibt, gleichzeitig aber die Realität (im Idealfall) umgestaltet.

Sartre löst die unklare Konstellation der linearen, vorhandenen Geschichte und der zu erschaffenden zum Teil selber auf. Er erkennt, ”that his initial account of the writer’s appeal to the freedom of the reader proceeds as if the reader were an universal and ahistorical being” (Kastely 1989, 10). Das steht jedoch im Gegensatz zu einer der Hauptthesen Sartres, der Mensch sei ein Wesen, das nur in einer bestimmten historischen Situation existiert und das Werk sei eine Anspielung an den gemeinsamen Kenntnisstand des Schriftstellers und des Lesers, also auch an ihre Historizität: ”On n'a pas assez remarqué, en effet, qu'un ouvrage de l'esprit est naturellement allusif” (Sartre 1965, 117). Um dem Text eine angemessene Aufmerksamkeit widmen zu können, muss der Leser sich nach Sartre von seiner empirischen Persönlichkeit befreien. Erst dann kann er das Absolute der Information aufnehmen und dieses Verständnis dann auf die Geschichte anwenden. Außerdem wird die für das Verändern der Welt unabdingbare Freiheit negativ bestimmt. Sie wird mit Hilfe der Négativité von dem Hintergrund der historischen Unterdrückung und Mystifizierung gelöst, so Kastely.

Sartre richtet an die Gesellschaft einen Appell. Doch ”eine Moral, die nicht auf eine soziale Verflechtung von Situationen, Zielen und Ansprüchen zurückgreifen kann, verharrt beim reinen Appell und eine Freiheit, die sich vom Gegebenen immer nur abstößt, endet bei sich selber und gerät in eine leere Tautologie. […] eine weitgehende Moralisierung von Literatur und Politik ist die Folge.” (Waldenfels 1987, 104).

Die in die Abstraktion führende Moralisierung in der (dramatischen) Praxis Sartres kritisiert außer Waldenfels und Kastely auch Theodor W. Adorno in seinem Essay Engagement von 1962. Adorno macht darauf aufmerksam, dass die vom Sartre bekämpften Gewaltsysteme die Taten und Leiden ihrer Führer mit den tatsächlichen geschichtlichen Verhältnissen verwechseln würden und dass Sartre hierdurch seine Aussagen als Parolen für diese Systeme und ihre Ideologien verfügbar mache. Außerdem bringe Sartre seine engagierten Aussagen durch den Versuch um ihre Eindeutigkeit in Gefahr: ”Sobald jedoch die engagierten Kunstwerke Entscheidungen veranstalten und zu ihrem Maß erheben, geraten diese auswechselbar,

[…]” (Adorno 1980, 114). Die Ausrichtung der Aussagen könne also beliebig polarisiert werden und büße so ihre Stichhaltigkeit ein.

Das Kunstwerk an sich bleibt von seiner Natur aus vieldeutig. Das ist nach Adorno der innere Zwist der bewusst engagierten Literatur. Diese bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen dem ”nicht engagierten” Kunstwerk und dem Fall in den Abgrund der Agitation. Entweder sie ist vieldeutig interpretierbar, oder sie gleicht Propaganda und dann mindert sich ihre Glaubwürdigkeit. Adorno zeigt dies am Beispiel von Brecht, der zum Teil in seinen Stücken wahrheitswidrige Aussagen zugunsten der kommunistischen Partei macht und seine Kunst so ”entkünstet”: ”Dem politischen Engagement zuliebe wird die politische Realität zu leicht gewogen: das mindert auch die politische Wirkung.” (Adorno 1980, 120).

Der Text an sich zieht jedoch den Leser, so Sartre, in einen Dialog, in dem er die Stellungen des Lesers erforscht. Diese verändern sich in Abhängigkeit von der historischen Situation des Lesers, was auch dazu führt, das ein Leser einen Text mehrmals lesen und verschieden verstehen kann. Nach Kastely ist das die Antwort auf Sartres Frage aus dem Text von Qu’est-ce que la littérature?: Wie könne man den Abstand zwischen dem Menschen und der Geschichte, der durch die Abstraktion der Themen entsteht, überbrücken? Eine zusätzliche ethische Rückkoppelung an die Geschichte sei nicht mehr notwendig, da der Leser ständig im Austausch mit dem Text stehe.

Adornos Kritik an Sartre setzt bei einem grundlegenden Gegensatz ein: dem engagierten und dem autonomen Kunstwerk. Adorno nimmt sich Sartres grundsätzliche Fragen zu den ”Stellungen zur Objektivität” des Werkes vor, die Sartre bereits am Anfang seines Essays zu klären scheint. Die l’art pour l’art-Literatur (bei Sartre nicht auf die l‘art pour l‘art-Bewegung bezogen, sondern allgemein gedacht) wird hier unter dem Vorwand der Selbstgefälligkeit abgeleht, und Sartre gibt vor, sich auf die engagierte Literatur zu konzentrieren. Doch Adorno bringt Sartre auf den Punkt zurück, wenn er für die Frage ”Warum schreiben?” die Zurückführung auf eine ”tiefere Wahl”, eine Berufung des Autors, nicht gelten lässt. ”Fürs Geschriebene, das literarische Produkt, [sind] die Motivationen des Autors irrelevant” (Adorno 1980, 114).

Sartre waren die Vorteile der Trennung des Werkes vom Autor nicht unbekannt, denn er stimmte Hegel zu, die Wirkung eines mit dem Autor nicht verbundenen Werkes sei größer, als die des noch in den Augen des Lesers mit dem Hersteller verbundenen. Wirft Adorno Sartre jedoch vor, dieser hätte die Bedeutung der Autonomie des Werkes nicht weit genug geführt, so attackiert er damit die Grundlagen von Sartres Überlegungen: Sartre geht es um den Kontakt zwischen dem schreibenden und dem empfangenden Ich und das nicht nur auf der Ebene der Beziehung zwischen dem Autor und dem jeweiligen Leser. Sartre möchte die Entstehung einer Lesergemeinschaft, eines Publikums erzielen. Das Publikum soll die Menschen umschließen, die dem Autor und seinem Werk gegenüber positiv eingestimmt sind, also des Willens sind, sein Werk zu empfangen und zu verstehen. Dieses Publikum ist eine Öffentlichkeit, und auf sie will Sartre in den Nachkriegsjahren unter der Last der Kriegserlebnisse einwirken. Die Autor-Leser Beziehung ist für Sartre also durchaus wichtiger, als die Autonomie des Werks und darin sehe ich auch den Grund, warum er den Autor auf sein Menschsein zurückführt (”parce qu‘il est homme”, Sartre 1965, 51). Das ermöglicht ihm, wie auch Adorno feststellt, statt von dem subjektiven Standpunkt des Autors im Werk, von dem objektiven Blick des Menschen als Mitglied der mit gemeinsamen Werten und Wissensstand verbundenen Gesellschaft zu sprechen.

Wir müssen uns fragen, ob die Werte, welche die littérature engagée durchzusetzen versucht, tatsächlich als ”neu” bezeichnet werden können. Die Beteiligung des Schriftstellers/Rhetors an der Entstehung der Gemeinschaft der Öffentlichkeit steht seit der Antike fest. Das eigentliche Bindeglied der Gesellschaft verändert sich jedoch. Während es für Sokrates, beziehungsweise Platon, der Eros war und für den heiligen Augustin die Vereinigung in Gott, so muss man bei Sartre einen anderen Boden suchen. Kastely benennt ihn ”generosity” – Großzügigkeit, die der Autor beim Leser zu finden hofft (und umgekehrt) und die als Basis für das gegenseitige Verstehen und eine Einigung vorhanden sein muss.

[...]


[1] Teile dieses Abschnitts sind bereits in meiner Diplomarbeit Fritz Hochwälder. Ein Autor, der nicht mehr aufgeführt wird beinhaltet. Für diese Arbeit sind sie umgearbeitet worden.

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
"Auf den Zeigern der Uhr gehen". Zur Sprache und Topik in der Migrationsliteratur am Beispiel von Libuše Moníková, Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu
Veranstaltung
Philology, Germanic literatures
Note
"prospela"
Autor
Jahr
2007
Seiten
84
Katalognummer
V230866
ISBN (eBook)
9783656484455
ISBN (Buch)
9783656491958
Dateigröße
919 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dieser Text wurde zur Erlangung des tschechischen akademischen Titels "PhDr." vorgelegt. [Resumé auf tschechisch]
Schlagworte
zeigern, sprache, topik, migrationsliteratur, beispiel, libuše, moníková, herta, müller, emine, sevgi, özdamar, feridun, zaimoglu
Arbeit zitieren
Lucie Koutkova (Autor:in), 2007, "Auf den Zeigern der Uhr gehen". Zur Sprache und Topik in der Migrationsliteratur am Beispiel von Libuše Moníková, Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230866

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