Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der dadaistische Dekonstruktivismus als Sackgasse für jede Botschaft?
2.1 Zur Theorie des Dada
2.2 Zu Hugo Ball und seinen Lautgedichten
3. Textlinguistische Betrachtungen als Ausweg?
3.1 Dadaistische Lautgedichte als Texte
3.2 Dadaistische Lautgedichte als Sinn träger
4. Exemplarische Analyse und Interpretation von „gadji beri bimba“
5. Rückblick und Ausblick
1. Einleitung
Hugo Ball notierte in seinem Tagebuch am 23. Juni 1916, wie er die Uraufführung seiner „Elefantenkarawane“ erlebte und wie er bei der Inszenierung seiner Lautgedichte genau vorging: „Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen und versuchte es, nicht nur ernst zu bleiben, sondern mir auch den Ernst zu erzwingen.“[1] 80 Jahre später kommentiert der frühere SWR-Chefdramaturg Hans Burkhard Schlichting Balls Schilderung wie folgt:
An den eigenen Unsicherheiten erfährt Ball die ungewohnte Gestaltungsfreiheit einer rein phonetischen Poesie, die auch dort noch artikulatorische Entscheidungen fordert, wo bei gewohnten Texten Wortsinn und Grammatik die Richtung weisen. Lautgedichte sind Medien ohne Botschaft, Spielräume des mimetischen Vermögens.[2]
Klare Vorbehalte also, die Schlichting da in seinem Aufsatz Anarchie und Ritual. Hugo Balls Dadaismus gegenüber der Aussagekraft von dadaistischen Lautgedichten äußert. Spinnt man Schlichtings These weiter, nach der Lautgedichte „Medien ohne Botschaft“ sind, dann ist die Folge eindeutig: Ohne Botschaft haben wir keinerlei Kommunikation. Und ohne Kommunikation sind derartige Dichtungen, semiotisch argumentiert, schlichtweg sinnlos. Aus Schlichtings Postulat wäre zu schließen: Dadaistische Lautgedichte wie jene von Hugo Ball sind lediglich ein Experimentierfeld für den Vortragenden, der seinen Sprachspielen freien Lauf lassen kann. Der Performer muss dabei nicht auf vernunftbestimmte Werte und Normen, vor allem nicht auf das Verständnis des Rezipienten achten. Dada, frei von sämtlichen programmatischen Richtlinien und rationalen Zwängen, wird demgemäß als sinnlose und alles negierende Anti-Kunst dargestellt.
Bezeichnend ist, dass Schlichting mit seiner abwertenden Haltung kein Einzelgänger ist; anders lässt sich der Bogen, den die Literaturwissenschaften um Dada-Dichtungen machten[3] und teils noch immer machen[4], nicht erklären. Der Grund für die allgemeine Missachtung ist nachvollziehbar: Lautgedichte setzen dem üblichen literaturwissenschaftlichen Vorgehen eine Grenze. In dieser Disziplin ist es Usus, sich mit (mehr oder weniger) vollständigen Sätzen, syntaktischen Konstruktionen und Wörtern auseinanderzusetzen, sie zu analysieren und zu interpretieren. Solches Vorgehen wird aber angesichts einer entscheidenden Eigenschaft der dadaistischen Lautgedichte unmöglich: „In ihnen ist kein ‚Wort‘ vorhanden, keine ‚Wörter‘, die eine semantische Fragestellung sinnvoll werden ließen.“[5]
Die von Schlichting geschilderte These wird allerdings kontrovers, wenn man sie Eugenio Coserius Postulat gegenüberstellt: Jeder Text, so der romanistische Sprachwissenschaftler, enthalte Sinn, der „nicht unmittelbar mit dem Geschilderten selbst zusammenfällt, sondern den man erst herausfinden muß.“[6] Der Sinn könne im Fall von Texten einzig durch Kommunikation vermittelt werden. Enthalten die Dada-Lautgedichte also doch Botschaft?
Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die widersprüchlichen Meinungen zu diskutieren und zu prüfen. Die Leitfrage ist: Kann ein Text ohne „Wortsinn und Grammatik“ eine Botschaft vermitteln? Handelt es sich überhaupt um einen Text? Und: Können dadaistische Lautgedichte sinnvoll sein? Zunächst werde ich die dadaistische Theorie umreißen (Kapitel 2), welche die von Schlichting geäußerte Meinung als schlüssig erscheinen lässt. Daraufhin werden die Prämissen einer relativ neuen sprachwissenschaftlichen Disziplin vorgestellt, nämlich die der Textlinguistik (Kapitel 3). Meiner Ansicht nach bietet diese gegenüber der literaturwissenschaftlichen Arbeitstechnik griffigere Methoden, die sich auf die Lautgedichte von Hugo Ball anwenden und sie in einem anderen Licht erscheinen lassen – und zwar in einem, das diese als Texte kategorisiert und das sie als Träger eines inhaltlichen Sinns darstellt (Kapitel 3). Nur unter dieser Voraussetzung ist unser letzter Schritt möglich, der die Erkenntnisse exemplarisch auf ein Gedicht anzuwenden versucht: auf das von Hugo Ball verfasste „gadji beri bimba“. Das Lautgedicht soll nach textlinguistischen Kriterien analysiert und interpretiert werden (Kapitel 4). Gelingt der Schritt, dann gilt Schlichtings These widerlegt und die mitunter destruierende Theorie Dadas als nicht völlig realisiert.
2. Der dadaistische Dekonstruktivismus als Sackgasse für jede Botschaft?
Um die Theorie hinter den dadaistischen Lautgedichten von Hugo Ball zu verstehen, um ihre Ästhetik zu erkennen und um nachzuvollziehen, warum Schlichting ihnen keine kommunikative Funktion zuschreibt, sollen an dieser Stelle zunächst die wichtigsten Eigenschaften des Zürcher Dada[7] genannt werden. Nach allgemeinen Feststellungen wollen wir uns in diesem Kapitel mit den Lautgedichten von Hugo Ball im Speziellen beschäftigen.
2.1 Zur Theorie des Dada
Ein wichtiger Schritt ist bereits damit getan, das Dada- Projekt[8], initiiert durch die „vier ‚Urdadaisten‘“[9] Hugo Ball, Hans Arp, Richard Huelsenbeck und Tristan Tzara, als Glied der historischen Avantgarde anzusehen. Als solche war ihre Haltung sowohl negativ als auch destruktiv gestimmt gegenüber traditionellen Kunst- und Werkformen, oberste Intention war der Schock und das Spiel mit der Erwartungshaltung der Rezipienten. Unter anderen stellt Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde fest, dass die Intentionen zum einen durch die neuen Darstellungsformen erreicht werden (beziehungsweise wurden ![10]), die mit der Tradition radikal brachen. Zum anderen auch dadurch, dass die inhaltliche Seite des Kunstwerks gegenüber der formalen Seite immer weiter zurücktrat.[11] Die organische „Teil-Ganzes-Beziehung“ war damit aufgelöst. Bezüglich einer solchen Verschiebung auf dem „Form-Inhalt-Para-meter“ kommt Theodor Adorno bei seinem Versuch über Wagner zu dem Schluss, dass „der Schlüssel jeglichen Gehaltes von [avantgardistischer und dadaistischer] Kunst in ihrer Technik“[12] liege; oftmals nehme, so Adorno, allein der Akt der Provokation die Stelle des Werks ein. Da somit eine Abwendung oder zumindest Abstraktion von allgemeinverständlichen Inhalten stattfinde, verfüge Dada über eine „antinormative Kraft“[13] – und gleichzeitig über mehr Freiraum für die Befriedigung derjenigen subjektiven Bedürfnisse, die im bürgerlichen Habitus nicht vorgesehen sind.[14] Ebenso ist Dada als intermediales Phänomen, als „Totalkunst“[15] zu verstehen: Während der Soiréen im Cabaret Voltaire wurde aus sämtlichen künstlerischen Ausdrucksformen geschöpft. Die Folge aus alledem ist das, was Peter Bürger als „totalen Protest gegen jedes Moment des Zwanghaften“[16] beschreibt. Phantasie in der künstlerischen Produktion[17], Zufall im künstlerischen Endprodukt und Stillosigkeit im Allgemeinen[18] sind konstitutiv für Dada.
„Destruktion“, „Schock“, „Radikalität“, „Provokation“, „Befreiung“, „Antinorm“ und „Protest“: Deutlich tritt hier der für Dada so typische Hang zum (künstlerischen) Anarchismus entgegen, ein Anarchismus, der sich als Beseitigung regulierender Strukturen versteht[19]. Damit verbunden ist der Dekonstruktivismus, den Hugo Ball selbst deutlich macht, indem er vorgibt: Die Aufgabe des dadaistischen Künstlers besteht darin, „die Welt zu erlösen durch Rausch und Brand“[20], er solle sich gegen die traditionelle und zeitgenössische Kunst, gegen das Kunst-Sein richten.
Dem zu Beginn aufgeführten Zitat von Schlichting ist bis hierhin nichts entgegenzusetzen, denn es scheint, als wolle die künstlerische Produktion überhaupt nicht auf die Gewohnheiten des Rezipienten abgestimmt sein.
2.2 Zu Hugo Ball und seinen Lautgedichten
Die genannte Form-Inhalt-Verschiebung, der Anarchismus und Dekonstruktivismus gegenüber den bisherigen Produktions- und Rezeptionsgewohnheiten, wird besonders anschaulich bei den dadaistischen Lautgedichten von Hugo Ball. Der deutsche Autor beschreibt sein Vorgehen im Eröffnungsmanifest für den ersten Dada-Abend vom 14. Juli 1916 folgendermaßen: In seinen Dichtungen würde er ad eins: Verse verwenden, „die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu verzichten“ und ad zwei: Worte gebrauchen, die „außerhalb eurer Sphäre, eurer Stickluft, […] außerhalb dieser Nachrednerschaft, eurer offensichtlichen Beschränktheit“ seien. Ball wolle damit sowohl auf bereits erfundene Worte als auch auf die „vermaledeite“ wie „abgegriffen(e)“ Sprache verzichten und stattdessen etwas ganz Individuelles gebrauchen: „meinen eigenen Unfug, seinen eigenen Rhythmus und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind.“[21]
Einerseits legt der dadaistische Gründervater[22], im Kontext der Avantgarde, deutlich eine extreme Lesart der von Marinetti geforderten parole in libertà an den Tag und weckt gleichzeitig Erinnerungen an dessen Manifesto tecnico; Balls „Verse ohne Worte“[23] entfernen sich nämlich – so zumindest die Absicht – komplett von der referentiellen Sprachfunktion. Die Lautgedichte erzeugen neuartige Wortbilder, die „sich unwiderstehlich und mit hypnotischer Macht dem Gedächtnis“ eingraben. Mit der geringen Bedeutung des Semantischen nähern sich Lautgedichte zudem der Musik an, in der eben völlig „begriffslos“ gearbeitet wird[24].
[...]
[1] Hugo Ball: Flucht aus der Zeit, S. 106.
[2] Hans Burkhard Schlichting: Anarchie und Ritual. Hugo Balls Dadaismus, S. 54.
[3] So bemängelt der vor 40 Jahren erschienene Sammelband Dada in Zürich und Berlin 1916-1920. Literatur zwischen Revolution und Reaktion unter der Herausgeberschaft von Reinhart Meyer die fehlende Achtung gegenüber Dada, u.a. S. 64.
[4] Hier sei auf gängige und aktuelle Einführungen zur Literaturwissenschaft verwiesen; auch der Literat Oliver Ruf spricht immerhin von einem „Zurücktreten kommunikativer […] Funktionen“, in: Ders.: Ästhetik der Provokation, S. 204.
[5] Meyer u.a.: Dada in Zürich und Berlin, S. 65.
[6] Coseriu: Textlinguistik, S. 49.
[7] Ganz bewusst habe ich mich für den Begriff „Dada“ statt „Dadaismus“ entschieden. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass im dadaistischen Selbstverständnis das Prinzip vorherrschte, kein festes Programm zu verfolgen, kein System zu besitzen – eben kein „ismus“ zu sein, sondern sich vielmehr durch eine ziellose Dynamik auszuzeichnen. Fällt dennoch der Begriff „Dadaismus“, dann nur in direkten Zitaten.
[8] Auf die Idee, den Terminus „Projekt“ zu verwenden, kam ich über Hubert van den Berg; der niederländische Literaturwissenschaftler erachtet diesen insofern als passend, als dass er die Vorläufigkeit, Dynamik und grundsätzliche Offenheit des Dada berücksichtige, vgl. van den Berg: Avantgarde und Anarchismus, S. 44-50.
[9] Liede: Dichtung als Spiel, S. 145.
[10] Da avantgardistische wie dadaistische Kunstwerke inzwischen Kunstwerkstatus erreicht haben, sie sich so gesehen institutionalisiert haben oder sich – rezeptionsästhetisch gesprochen – der Erwartungshorizont des Rezipienten vergrößert hat, haben sie für den heutigen Rezipienten an ihrer ursprünglichen Wirkung eingebüßt.
[11] Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 25.
[12] Adorno: Versuch über Wagner, S. 135.
[13] Schlichting: Dadaismus, S. 60.
[14] Vgl. Bürger, S. 32f.
[15] Oesterreicher-Mollwo, S. 10.
[16] Bürger, S. 91.
[17] Vgl. Bergmeier: Dada-Zürich, S. 59.
[18] Vgl. Van den Berg: Avantgarde und Anarchismus, S. 36f.: Dada sei „als Synthese oder Zusammenfassung zeitgenössischer Tendenzen gedacht“ gewesen.
[19] Vgl. Van den Berg: Avantgarde und Anarchismus, S. 79: Der hier verwendete Anarchismus-Begriff geht auf Proudhorn zurück.
[20] Ball: Aphorismen, S. 363.
[21] Balls Sprachkritik erinnert stark an die von Hugo von Hoffmannsthal, welche besonders in dem Prosastück Ein Brief zu tragen kommt; der Protagonist namens Philipp Lord Chandos, ein junges Dichtergenie, bezweifelt unter anderem, dass die menschliche Sprache seine Empfindungen adäquat ausdrücken könne.
[22] Hugo Ball selbst machte mehrmals deutlich, auf wen die Wurzeln Dadas zurückgingen: „Der Dadaismus stammt von mir.“, in: Briefe 1904-1927, S. 109.
[23] Ball: Flucht, S. 105.
[24] Vgl. Bürger, S. 92.