Der urbane informelle Arbeitsmarkt in Entwicklungsländern


Diplomarbeit, 2003

105 Seiten, Note: 2


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnisiii

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Aufbau der Arbeit

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Der Begriff „Informeller Sektor”
2.2 Definitionen und Charakteristika des informellen Sektors
2.3 Neuere Sichtweisen
2.4 Erklärungsansätze des informellen Sektors
2.4.1 Strukturalistischer Ansatz
2.4.2 Neo-marxistischer Ansatz
2.4.3 Legalistischer Ansatz
2.4.4 „Microenterprise Development“ Ansatz
2.4.5 „Schattenwirtschaft des Weltmarkts“ als Erklärungsansatz
2.5 Wechselbeziehungen zwischen formellem und informellem Sektor
2.5.1 Das Verhältnis zwischen formellem und informellem Sektor
2.5.1.1 Der „positive“ Ansatz
2.5.1.2 Der „untergeordnete“ Ansatz
2.5.2 Abgrenzungskriterien
2.5.3 Beschaffungsmarkt
2.5.4 Produktionsseite
2.5.5 Absatzmarkt

3. urbaneR informeller Arbeitsmarkt
3.1 Einleitung
3.2 Charakteristika und Bestimmungsfaktoren
3.2.1 Zur Formung des urbanen informellen Arbeitsmarkts
3.2.1.1 Bevölkerungswachstum
3.2.1.2 Land-Stadt-Migration
3.2.1.3 Ökonomische Probleme des formellen Sektors
3.2.1.4 Urbane Arbeitslosigkeit
3.2.2 Empirische Bedeutung
3.2.3 Merkmale der Beschäftigung
3.2.3.1 Branchen und Aktivitäten
3.2.3.2 Formen der Beschäftigung
3.2.3.3 Informelles Arbeitsangebot
3.2.3.4 Frauen
3.2.3.5 Kinderarbeit
3.2.3.6 Einkommen
3.2.3.7 Lebenssituation im urbanen informellen Sektor
3.3 Sozioökonomische Bedeutung
3.3.1 Armutsüberwindung
3.3.2 Ausbildungsfunktion
3.3.3 Versorgungsfunktion
3.3.4 Recyclingsfunktion

4. strategien für den URBANEN informellen arbeitSMArkt
4.1 Wirtschaftspolitische Optionen
4.2 Förderungspolitik
4.2.1 Träger von Förderungsmaßnahmen
4.2.2 Zielgruppen
4.2.3 Zielgebiete
4.2.4 Arten und Maßnahmen
4.2.4.1 Angebots- und nachfrageseitige Maßnahmen
4.2.4.2 Humankapitalbildung
4.2.4.3 Verbesserung des Zugangs zu Krediten
4.2.4.4 Verbesserung der Infrastruktur
4.2.4.5 Kritik
4.3 Faktoren und Strategien zur Formalisierung
4.3.1 Kosten und Nachteile der Informalität
4.3.2 Kosten des Zugangs zur Formalität
4.3.3 Kosten des Verbleibs in der Formalität
4.3.4 Formalisierungsstrategien

5. Schlussfolgerungen

6. Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Jährlicher Zuwachs der Weltbevölkerung (total/urban), 1950-2030

Abb. 2: Urbane und rurale Bevölkerungsentwicklung 1950-2030

Abb. 3: Sektorale Verteilung von Kinderarbeit

Abb. 4: Einkommenshöhen im informellen und formellen (modernen) Sektor

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Die Legalität wirtschaftlicher Aktivitäten

Tab. 2: Abgrenzungskriterien Formeller - Informeller Sektor

Tab. 3: Bevölkerungsgröße und -wachstum

Tab. 4: Beitrag des informellen Sektors zum BIP

Tab. 5: Der Umfang des informellen Sektors in Entwicklungsregionen

Tab. 6: Geschätzter Anteil der im IS beschäftigten Arbeitskräfte

Tab. 7: Aktivitäten im informellen Sektor

Tab. 8: Beschäftigungskategorien

Tab. 9: Anteil des informellen Sektors an der Erwerbsarbeit außerhalb der Landwirtschaft

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

1.1 Problemstellung und Zielsetzung

Seit rund 30 Jahren existiert der Begriff des „Informellen Sektors“ (IS) im wissenschaft-lichen Sprachgebrauch, um ein Phänomen zu erfassen, das weltweit, insbesondere aber in den Entwicklungsregionen, von erheblicher Bedeutung ist:

Ein großer Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung in den Entwicklungsländern (EL) erzielt sein Einkommen durch wirtschaftliche Tätigkeiten, die offiziell nicht erfasst werden und sich demnach außerhalb des so genannten „Formellen Sektors“ (FS) befinden. Informelle Beschäftigung, die vor allem als urbane Erscheinung auftritt, umfasst die unter-schiedlichsten Berufsbilder – vom Schuhputzer, Müllsammler, Straßenhändler, Haushalts-hilfe bis hin zum Kleinunternehmer, der mehrere Angestellte beschäftigt. Diese Tätigkeiten zeichnen sich trotz ihrer heterogenen Ausgestaltung durch die Gemeinsamkeit aus, dass steuer-, arbeits- und sozialrechtliche Normen keine Anwendung finden.

Dass es sich bei informeller Beschäftigung jedoch nicht um ein vernachlässigbares Rand-phänomen handelt, zeigen Schätzungen, wonach rund ein Viertel der Welterwerbs-bevölkerung (vgl. Wick 2000, 4) seinen Lebensunterhalt durch Tätigkeiten in diesem Sektor bestreitet. Vor allem in Lateinamerika, Afrika und Asien sind mehr Menschen dem informellen als dem formellen Sektor zuzuzählen. Zudem wächst seit Beginn der 1990er Jahre informelle Beschäftigung in den meisten EL stärker als formelle (vgl. Altvater/ Mahnkopf 2002a, 110), womit diese Thematik auch eine große Relevanz für die Zukunft aufweist. Begründet kann dies v. a. durch die zunehmende Urbanisierung, steigende Bevölkerungszahlen und zu geringer Aufnahmefähigkeit des formellen Sektors werden. Somit fungiert der informelle Sektor als eine Art Auffangbecken für all jene Menschen, die keine offizielle Beschäftigung finden und hat darüber hinaus noch weitere sozio-ökonomische Funktionen, wie beispielsweise die Versorgung armer Bevölkerungs-schichten mit billigen Gütern und Dienstleistungen bzw. die Ausbildung außerhalb des offiziellen Schulsystems. Dennoch muss auch angemerkt werden, dass nur wenige informell Tätige ein Einkommen erwirtschaften, das über dem Existenzminimum liegt, und dass sich viele informelle Aktivitäten durch einen hohen Grad an Unsicherheit und Aus-beutung auszeichnen.

Primäres Ziel dieser Arbeit ist es nun, den urbanen informellen Arbeitsmarkt in den Entwicklungsländern umfassend zu analysieren und auf seine quantitative und qualitative Bedeutung für die Bevölkerung in diesen Regionen einzugehen. Darüber hinaus erfolgt eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen Definitionen und Erklärungsansätzen sowie mit der Abgrenzung zwischen formellem und informellem Sektor. Zudem wird auch die Thematik der Förderung bzw. Formalisierung des Sektors und seiner Angehörigen erörtert.

Die vorliegende Arbeit legt ihren Schwerpunkt aus zwei Gründen auf den informellen Arbeitsmarkt der städtischen und nicht der ländlichen Entwicklungsgebiete: Zum einen werden informelle Tätigkeiten weitgehend als städtisches Phänomen betrachtet, das vor allem durch die erhebliche Land-Stadt-Migration in vielen Entwicklungsländern verursacht wird. Zum anderen hat die Entscheidung, den ruralen Arbeitsmarkt weitgehend auszu-schließen, auch den pragmatischen Hintergrund, dass in der zugänglichen Literatur der rurale informelle Arbeitsmarkt meist ausgeklammert bzw. nur marginal erwähnt wird.

Im Zentrum der Betrachtung steht der IS in den Entwicklungsregionen[1] Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, wo dieser bezüglich seines Beitrags zum BIP und zur Beschäftigung eine hohe Bedeutung hat.

Zur besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit auf eine geschlechtsneutrale Formulierung verzichtet, weshalb sich die verwendeten Formulierungen (z.B. "informeller Unternehmer") auf beide Geschlechter beziehen.

1.2 Aufbau der Arbeit

Beginnend mit einer kurzen Einführung in die Problematik und Zielsetzung dieser Diplomarbeit wird anschließend in Kapitel 2 der Versuch unternommen, dem Phänomen „Informeller Sektor“ begrifflich näher zu kommen. Dies geschieht durch die Vor- bzw. Gegenüberstellung einiger der zahlreichen Definitionen, die zum Teil sehr gegensätzlich sind und deren Anwendung auch weitreichende Folgen haben kann – z.B. bei der Größen-einschätzung der informellen Beschäftigung. Im Anschluss daran werden die gängigsten Erklärungsansätze für die Entstehung des IS erläutert. Eine Untersuchung der zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen formellem und informellem Sektor schließt das Kapitel ab.

Kapitel 3 thematisiert den urbanen informellen Arbeitsmarkt und versucht diesen, anhand der Beschreibung zahlreicher Aspekte, eingehend zu analysieren. So werden zu Beginn jene Bestimmungsfaktoren, welche die Entstehung und das Wachstum des urbanen informellen Arbeitsmarkts bedingen, ausgeführt. Eine Einführung in die Problematik der empirischen Erfassung des IS sowie Beispiele für seine quantitative Ausdehnung setzen dieses Kapitel fort. Im Anschluss daran stehen die Charakteristika der urbanen informellen Beschäftigung im Mittelpunkt der Betrachtungen, diese werden durch die Untersuchung der Branchen, Aktivitäten, Einkommenssituation u.v.m. herausgearbeitet. Das Kapitel schließt mit der Beschreibung der sozioökonomischen Bedeutung des IS, welche anhand seiner wichtigsten Funktionen sowohl ergänzend als auch zusammenfassend erläutert wird.

Das vierte Kapitel setzt sich mit Strategien für den urbanen informellen Arbeitsmarkt aus-einander und stellt zu Beginn vor allem die Beziehung zwischen Staat und IS in den Vordergrund. Daran anschließend werden Arten und Maßnahmen der Förderung des IS vorgestellt und auf die besonderen Herausforderungen der Förderungspolitik eingegangen. Abschließend wird auch die Thematik der Formalisierung des IS ausgeführt, wobei es hier primär um die Beweggründe für eine formelle bzw. informelle Ausgestaltung der (klein)unternehmerischen Tätigkeit geht.

Das Kapitel 5 stellt in Form eines Resümees den Abschluss dieser Arbeit dar.

2. Theoretische Grundlagen

2.1 Der Begriff „Informeller Sektor”

Die Begriffsschöpfung des „Informellen Sektors“ entstand Anfang der 1970er Jahre als Versuch einer begrifflichen Annäherung an das Phänomen, dass der Arbeitsmarkt in vielen Ländern der Entwicklungsregionen zunehmend Tätigkeiten umfasst, die in keinen amt-lichen Statistiken aufscheinen (vgl. Altvater/Mahnkopf 2002b, 343). Trotz des mittlerweile geläufigen Umgangs mit dem Begriff existiert dennoch bis heute keine allgemein akzeptierte, konsistente und gebrauchsfähige Definition.

Häufig werden auch noch so unterschiedliche Erscheinungen wie Schwarzarbeit, Haus-haltsproduktion, Schmuggel, Dealerei, Prostitution, Gelegenheitsarbeit, Kleinunternehmer-tum, Straßenhandel u. v. m. mit dem Begriff „Informeller Sektor“ gleichgesetzt (vgl. Schamp 1989, 7 und Markmann 2001, 47f.), wodurch man vor allem zu einer Erkenntnis gelangt: die große Heterogenität des Informellen, die dadurch bedingt ist, dass der Begriff „Informeller Sektor“ im Gegensatz zum „Formellen Sektor“ eine Residualgröße darstellt (vgl. Schneider-Barthold 1995, 23).

Als Schöpfer des Begriffs selbst gilt nach Ansicht der meisten Autoren Keith Hart (1971), der im Rahmen einer Untersuchung über Ghana[2] diesen Ausdruck zur Beschreibung der lokalen traditionellen Wirtschaft prägte (vgl. Heimburger 1990, 8 und Altmann 1991, 5). Im Jahr 1972, als das International Labour Office (ILO) in Genf eine Studie über Kenia[3] veröffentlichte, wurde das Konzept des IS in die internationale wissenschaftliche und entwicklungspolitische Diskussion eingebracht (vgl. Lubell 1991, 17 und Kochendörfer-Lucius 1990, 7).

Der Begriff „Informeller Sektor“ wird oft als „nicht aussagekräftig“ und „nichts sagend“ beanstandet, doch kommt man trotz dieser Kritik und mangels besserer Alternativen immer wieder auf ihn zurück (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 6).[4] Allerdings ist diese Aussage aus heutiger Sicht mit Vorbehalt zu treffen, da auf der ILO-Jahreskonferenz 2002 versucht wurde, den Begriff des „Informellen Sektors“ durch den der „Informellen Wirtschaft bzw. Arbeit“ mit weltweiter Gültigkeit zu ersetzen (vgl. Wick 2002, www). Da noch offen ist, ob sich die neue Bezeichnung tatsächlich durchsetzen wird und sich die vorliegende Arbeit zum größten Teil auf Literatur stützt, die vor diesem Beschluss verfasst wurde, wird der Begriff „Informeller Sektor“ in dieser Arbeit beibehalten.

Während „informell“ noch sehr leicht und unverfänglich als etwas „ohne Regeln, ohne Strukturen, ohne wirkliche Bedeutung“ (Kochendörfer-Lucius 1990, 6) interpretiert werden kann, so ist die Verwendung des Ausdrucks „Sektor“ umstritten: Dieser suggeriert einen geschlossenen, klar abgrenzbaren Bereich (vgl. Altmann 1991, 5), was auch durch das in der Literatur sehr gängige Begriffspaar „formeller Sektor – informeller Sektor“ verstärkt wird, welches zumeist an Stelle anderer Dichotomien wie z.B. „moderner – traditioneller“ Sektor, „Firmenökonomie – Bazarökonomie“, aber auch „reicher – armer“ oder „regulärer – nicht regulärer“ Sektor verwendet wird (vgl. Heimburger 1990, 8).[5]

In der Ökonomie der Entwicklungsländer existieren jedoch keine klaren Grenzziehungen, vielmehr sind fließende Übergänge und sich überlappende Sektoren zu beobachten (vgl. Altmann 1991, 5 und Balkenhohl 1995, 12).

Für Schneider-Barthold (1995, 15) stellt der Begriff des IS jedenfalls „keine analytische, sondern bestenfalls eine deskriptive Kategorie“ dar. Diese umfasst zwei Konzepte in sich; auf der einen Seite das Konzept der kleingewerblichen Arbeitsweise und auf der anderen Seite das Konzept der Staatsferne – laut Letzterem ist jener Teil der Wirtschaft informell, der durch staatliches Handeln nicht oder nur schwach berührt wird (vgl. Schneider-Barthold 1995, 15). Demnach können auch Wirtschaftsbereiche in Entwicklungsländern wie Siedlungswesen, Kleinkreditwesen, Infrastrukturinvestitionen, Außenhandel (Schmuggel) und Organisationsbildungen informell sein – doch wird allgemein vom IS gesprochen, ist laut Schneider-Barthold (1995, 15) fast ausschließlich jener Teil des Klein-gewerbes gemeint, der sich durch Staatsferne auszeichnet.[6]

In den folgenden Kapiteln werden nun einige Definitionsversuche vorgestellt bzw. auf die Charakteristika des IS eingegangen. Die Wahl der Definition ist vor allem deswegen von Bedeutung, weil sie beispielsweise auf die Größeneinschätzung des IS einen maßgeblichen Einfluss hat.

2.2 Definitionen und Charakteristika des informellen Sektors

Die meisten Definitionen bedienen sich der Aufzählung der einzelnen Elemente des IS, wobei bis heute der Bedarf einer vollständigen Enumeration nicht gedeckt werden konnte, da dies „praktisch unmöglich“ sein dürfte (vgl. Markmann 2001, 48). Jede Definition konzentriert sich entweder auf einen besonderen Aspekt oder umfasst die Kombination unterschiedlicher Merkmale (vgl. Markmann 2001, 48).

Rein technisch gesehen unterscheiden sich die Definitionsversuche dadurch, dass sich empirische Arbeiten stärker auf quantitativ-statistische Merkmale stützen, während theoretisch ausgerichtete Begriffsbestimmungen zu qualitativ-funktionalen Kriterien neigen (vgl. Schmidt 1988, 9). Letztere verfügen daher über eine größere analytische Schärfe, leiden jedoch unter einer mangelnden Operationalisierungsfähigkeit (vgl. Schmidt 1988, 9).

In Harts Analyse (1973) der wirtschaftlichen Aktivitäten in Accra, Ghana, wird die Viel-zahl informeller Einkommensmöglichkeiten der städtischen Beschäftigten erstmals aufge-listet und formellen Erwerbsaktivitäten gegenüber gestellt (vgl. Heimburger 1990, 9f.). Harts Typologie unterscheidet nicht nach Personen, sondern ist auf Tätigkeiten ausge-richtet, weshalb Individuen durchaus in beiden Sektoren tätig sein können (vgl. Hart 1973, 68f., zitiert nach Heimburger 1990, 9).

Auch werden informelle Einkommensmöglichkeiten nach dem Kriterium der Legalität klassifiziert, da viele informelle Unternehmer in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität arbeiten (vgl. Hart 1973, 69, zitiert nach Heimburger 1990, 9). Sethuraman (1976, 70) weist außerdem auf die beiden Merkmale der Informalität – „unorganisiert“ und „nicht statistisch erfasst“ – in Harts Untersuchung hin.

Folgende Einkommensmöglichkeiten werden nach Hart unterschieden (vgl. Hart 1973, 68f., zitiert nach Heimburger 1990, 9f.):

a. Formelle Einkommensmöglichkeiten

- Löhne im öffentlichen Sektor
- Löhne im privaten Sektor
- Transferzahlungen: Pensionen, Arbeitslosenhilfen

b. Informelle Einkommensmöglichkeiten

Legal:

- Aktivitäten im primären und sekundären Sektor (Landwirtschaft, Gartenbau, Bau-wirtschaft, Kunstgewerbe); Aktivitäten selbstständiger Handwerker (Schuhmacher, Schneider, Bier- und Schnapsbrauer)
- Tertiäre Unternehmen mit relativ großem Kapitaleinsatz (Wohnungsbau, Trans-port, Dienstleistungen, Waren- und Geldspekulation, Vermietungen)
- Distribution auf kleinem Niveau (Markt-, Klein- und Straßenhändler, Lebens-mittel- und Getränkelieferanten, Träger, Zwischenhändler)
- Andere Dienstleistungen (Musiker, Wäscher, Schuhputzer, Barbiere, Fotografen, Fahrzeugreparatur, Vermittlungs- und Schiedsgerichtstätigkeit, Zauberer, Magier, traditionelle Medizinmänner)
- Private Transferzahlungen (Geschenke, Bettelei, Leihe)

Illegal:

- Dienstleistungen (Warenschieberei, Hehlerei, Wucher, Drogenhandel, Prostitution, Zuhälterei, Bestechung, Schmuggel, Korruption)
- Transfers (Kleindiebstahl, Diebstahl, Unterschlagung und Veruntreuung, Glücks-spiel und Falschspielerei)

Laut Schmidt (1988, 12) stellt Harts „etwas willkürliche Einteilung“ den ersten Versuch einer Typologie dar, die sich jedoch speziell auf die vorgefundene Situation in Accra, Ghana, bezieht. Zudem unterscheidet Hart strikt zwischen Lohnarbeit, die er dem formellen Sektor zurechnet und Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, das er als wesentlichstes Merkmal dem informellen Sektor zuordnet – mittlerweile ist jedoch empirisch bewiesen, dass Lohnarbeit auch im informellen Sektor existiert (vgl. Heimburger 1990, 10).

Aus diesen Gründen ist Harts Arbeit nur mit Einschränkungen als Basis für eine allgemein verbindliche Definition geeignet (vgl. Heimburger 1990, 10). Dessen ungeachtet ist es ihm jedoch gelungen, auf die Beschäftigungssituation der ärmeren Bevölkerungsschichten aufmerksam zu machen und dadurch die entwicklungspolitische Auseinandersetzung mit dem IS angeregt zu haben (vgl. Heimburger 1990, 10f.).

Eine Studie über Kenia im Jahr 1972, die im Rahmens des Weltbeschäftigungsprogramms (WEP) der ILO entstand, führte zu einer weiteren Entwicklung des Konzepts des informellen Sektors (vgl. Charmes 1990, 10) und zur Verbreitung der begrifflichen Dichotomie IS und FS (vgl. Heimburger 1990, 11).

Aus der Sicht der ILO sind für informelle Tätigkeiten folgende Merkmale charakteristisch (vgl. Haan 1989, 6f.):

a. Einfacher Zugang in den IS
b. Verwendung von lokalen Ressourcen
c. Familienbetriebe
d. Kleine Betriebsgrößen
e. Einsatz von arbeitsintensiven und angepassten Technologien
f. Fähigkeiten werden außerhalb des formellen Schulsystems erworben
g. Unregulierte und wettbewerbsintensive Märkte

Weiters kommt die Studie zu der Feststellung, dass informelle Tätigkeiten weitgehend ignoriert, selten unterstützt und oftmals durch den Staat reguliert sowie manchmal aktiv behindert werden (vgl. ILO 1972, 6, zitiert nach Bromley 1978, 1033).

Die Wahrnehmung einer dualistischen Struktur des Arbeitsmarkts ist dadurch erkennbar, dass die Merkmale des formellen Sektors aus Sicht der ILO dem genauen Gegenteil von jenen des IS entsprechen (vgl. Schmidt 1988, 10), die da wären (vgl. Bromley 1978, 1034):

a. Schwieriger Eintritt in den Markt
b. Häufige Verwendung ausländischer Ressourcen
c. Firmeneigentum (bzw. mehrere Eigentümer)
d. Produktion größeren Umfangs
e. Kapitalintensive und oft importierte Technologie
f. Formelle Aneignung der Fähigkeiten, oft „expatriate“
g. Geschützte Märkte (Zölle, Kontingente, Handelslizenzen)

Der Ansatz der ILO hat sehr bedeutend zur Etablierung des Konzepts des IS beigetragen und verglichen mit jenem von Hart, stärker versucht, die Ökonomie als Ganzes zu beschreiben (vgl. Heimburger 1990, 12ff.).

Dennoch ist der Versuch einer allgemein verbindlichen Definition gescheitert (vgl. Heimburger 1990, 15): Ähnlich wie bei Hart handelt es sich eher um eine deskriptive als um eine definitorische Annäherung an das Phänomen, wodurch in manchen Bereichen Abgrenzungsprobleme auftreten – so muss beispielsweise nicht jedes Kleinunternehmen überall staatlich benachteiligt werden (vgl. Heimburger 1990, 15). Auch die Nennung des ebenso wenig definierten informellen Schulbesuchs, um sich an das Phänomen IS heranzutasten, zeigt eine gewisse Operationalisierungsunfähigkeit des ILO-Ansatzes (vgl. Heimburger 1990, 15). Weiters stellt Poapongsakorn (1991, 110) fest, dass die ILO-Definition nicht anwendbar ist, wenn man nur die offiziellen Statistiken zur Verfügung hat.

Sethuraman (1976, 72) kommt zu dem Schluss, dass sich die von der ILO angeführten Charakteristika insbesondere für Kenia eignen, sich aber im Allgemeinen als weniger relevant erweisen.

Sethuraman (1976) selbst schlägt eine Reihe anderer Kriterien für die Identifizierung von Unternehmen im IS vor, welche die relative Komplexität der Kriterien des Kenia-Reports vermeiden und leichter beobachtbar sein sollen (vgl. Charmes 1990, 13). Demnach wäre ein Fertigungsbetrieb[7] dann als informelles Unternehmen zu klassifizieren, wenn zu-mindest eines der folgenden Kriterien zutrifft (vgl. Sethuraman 1976, 81):

a. Beschäftigung von nicht mehr als 10 Personen
(inklusive Teilzeit- und Gelegenheitsarbeitern)
b. Betrieb auf illegaler Basis, entgegen staatlicher Vorschriften
c. Mitarbeit von Familienangehörigen
d. Keine fixen Arbeitsstunden bzw. -tage
e. Betriebsstätte ist nicht dauerhaft
f. Keine Verwendung von Elektrizität im Herstellungsprozess
g. Kreditbedarf wird nicht durch formelle Finanzinstitutionen gedeckt
h. Produkt geht normalerweise direkt an den Endverbraucher
i. Fast alle Beschäftigten haben weniger als 6 Jahre Ausbildung im formellen Schulsystem absolviert

In einer späteren Arbeit merkt Sethuraman (1981, 16) jedoch an, dass Definitionen auf Basis von Mehrfach-Kriterien auch Probleme mit sich bringen: „...the informal sector universe remains vague because of the multiple criteria: each criterion can be used to define a universe of its own. Consequently one is not certain about the universe to which the term informal sector refers“ (Sethuraman 1981, 16).

Ein weiteres Anwendungsproblem ergibt sich dadurch, dass bereits das Auftreten eines einzigen Kriteriums ausreicht, um einen Betrieb als informell zu klassifizieren, wodurch der IS einen sehr großen Umfang annehmen kann (vgl. Schmidt 1988, 14). So würde beispielsweise jedes Unternehmen, das weniger als zehn Arbeitnehmer beschäftigt, automatisch als informell gewertet werden. Auf der anderen Seite muss jedoch auch eingestanden werden, dass die Verwendung mehrerer Kriterien, gleichsam einer Merkmalssumme, dazu führen würde, dass die meisten Unternehmen exkludiert werden würden (vgl. Schmidt 1988, 14).

Eine im Vergleich zu den bisherigen Ansätzen eher pragmatische Annäherungsweise verzichtet auf die Auflistung eines umfangreichen Kriterienkatalogs, sondern teilt informelle Aktivitäten entsprechend ihrer Buchhaltung in drei Kategorien ein (vgl. Chickering 1991, 10):

- Unternehmen mit keinem Buchhaltungssystem
- Unternehmen mit einem rudimentären Buchhaltungssystem
- Unternehmen mit einem ausgefeilten Buchhaltungssystem

Es wird angenommen, dass diese drei Stufen mit einem entsprechendem Niveau an Ent-wicklung und Größe der Produktionseinheit korrelieren: Je akkurater und je besser die Buchhaltung gesteuert wird, desto mehr spricht dafür, dass der Betrieb die Bedingungen des formellen Sektors erfüllt (vgl. Chickering 1991, 10).

Poapongsakorn (1991, 110) nennt weitere Definitionsansätze, die sich jedoch sehr rasch als unzulänglich erweisen:

- So lautet eine Methode, einfach alle Aktivitäten im Dienstleistungsbereich als informell einzuordnen – doch dadurch werden wichtige Komponenten des informellen Sektors als formell eingestuft und umgekehrt.
- Eine feinsinnigere Definition charakterisiert den IS durch wirtschaftliche Besonder-heiten wie Wettbewerbsverhalten und Arbeitsmarktbedingungen – mit der ent-sprechenden Problematik, dass diese Eigenschaften schwer zu quantifizieren und für die empirische Forschung daher ungeeignet sind.
- Eine mittlerweile überholte Annäherung ist es, die Angehörigen des IS auf „umherziehende Arbeiter ohne festen Arbeitsplatz“ zu reduzieren – darunter fallen Straßenhändler, Bettler und Hausierer etc.[8]
- In der empirischen Forschung wird oft auch eine Methode angewendet, bei der entweder die Charakteristika der arbeitenden Personen bzw. die Größe des Haushalts/Betriebsstätte[9], oder aber eine Kombination von beiden, einbezogen werden. Die Mängeln der Charakteristika-Methode sollen durch die Verknüpfung mit dem Größenkriterium abgewendet werden – doch existieren auch Unstimmigkeiten zur Größeneinteilung der Unternehmen.

Durch ein weiteres Beispiel soll aufzeigt werden, wie durch beliebig gesetzte Definitions-kriterien Umfang und Struktur des informellen Sektors beeinflusst werden können (vgl. Schmidt 1988, 16): Zum Zwecke der Identifizierung der Angehörigen wird der IS von den beiden PREALC[10] Vertretern Souza und Tokman definiert als „...comprising all those engaged in domestic service, casual labourers, the self-employed, and employers, white-collar, blue-collar and family workers in enterprises with a total staff of not more than four persons“ (Souza/Tokman 1976, 356).

Die Größe (im Sinne der Mitarbeiteranzahl) gehört zu den meist angewendeten Kriterien, weshalb auch entsprechende Definitionen existieren, in denen ein im IS operierendes Unternehmen auch bis zu 10, manchmal sogar 20 Arbeiter beschäftigen darf (vgl. Haan 1989, 9).

Statt der oben zitierten Definition, die laut Souza und Tokman (1976) dazu tendiert, die Größe des informellen Sektors zu überschätzen, wäre den Autoren zufolge auch alternativ möglich „...to define it in terms of all persons whose income is below a certain minimum level – usually the legal minimum wage – on the assumption that the low-productivity activities typical of the informal sector also generate low incomes” (Souza/Tokman 1976, 356f.).

Hierbei ist jedoch kritisch anzumerken, dass die Verwendung einer bestimmten Lohngrenze als Definitionskriterium dazu führt, dass gerade ein wichtiges Erkenntnisziel, nämlich das Lohnniveau im IS, per Definition aus der Untersuchung herausgenommen wird (vgl. Schmidt 1988, 16).

Auch gibt es Arbeitnehmer im IS, deren Lohnhöhe das Niveau erreicht, welches im FS Tätige erhalten – womit eine klare Abgrenzung zwischen den beiden Gruppen auf Basis der Lohnhöhe unmöglich wird (siehe auch Kapitel 3.2.3.6.).

Chickering (1991, 10f.) erkennt bei den bisherigen Definitionsversuchen vor allem zwei Strömungen: „In general, definitions tend to focus on either functional attributes (size or complexity of operation, for instance) or legal status“ (Chickering 1991, 10).

Jene, die eine Annäherung über die funktionellen Attribute wählen, tendieren dazu, den informellen Sektor als Ausdruck von Armut zu betrachten und sehen in den Armen das Proletariat, dem geholfen werden muss (vgl. Chickering 1991, 10f.). Die andere Gruppe beurteilt die Existenz des IS „as evidence of institutional failure“ und sieht in den Armen Entrepreneure, die nur eines benötigen: „... policies that do not discriminate against them“ (Chickering 1991, 11).

Ein Vertreter letzterer Ansichtsweise, die in den 1980er Jahren an Bedeutung gewann, ist Hernando de Soto, der eine Definition des informellen Sektors durch die Analyse seines Verhältnisses zum Staat unternimmt. Der so genannte legalistische Ansatz, der mit ihm verbunden wird, erklärt den IS durch ein einziges zentrales Kriterium, der Nicht-Gesetzesmäßigkeit der wirtschaftlichen Aktivität (vgl. Bass/Wauschkuhn 2000, 16 und Kochendörfer-Lucius 1990, 10): Durch ein protektionistisches rechtliches System werden Individuen gezwungen, an sich legale wirtschaftliche Tätigkeiten in einer Art auszuüben, in der es zur Umgehung oder Verletzung von Gesetzen kommt (vgl. Soto 1992, 18). Informalität ist für de Soto daher eine Frage von institutionellen und nicht von betrieblichen Charakteristika (vgl. Soto 1992, 18).[11]

Der genannte Aspekt der Umgehung oder Verletzung von Gesetzen führt auch zur Frage, ob informelle Tätigkeiten als kriminell eingestuft werden oder nicht.

Balkenhohl (1995, 12) meint zu dieser Thematik, dass Tätigkeiten im IS der Entwicklungs-länder sicherlich nicht den Normen und Regeln der formellen Wirtschafts- und Rechtsordnung entsprechen. Es handelt sich dennoch nur selten um Aktivitäten, „die strafrechtliche Tatbestände erfüllen oder bewusst arbeits-, gewerberechtliche oder steuerliche Vorschriften umgehen“ (Balkenhohl 1995, 12).

Castells/Portes (1989, 14f.) versuchen die Frage zu beantworten, indem sie auf der einen Seite den Produktions- und Distributionsprozess und auf der anderen Seite das Endprodukt auf Legalität bzw. Illegalität näher untersuchen.

Tab. 1: Die Legalität wirtschaftlicher Aktivitäten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: vgl. Castells/Portes 1989, 14 (eigene Darstellung).

Demnach werden kriminelle Aktivitäten dadurch charakterisiert, dass sowohl Produktion, Distribution als auch das Endprodukt selbst von nicht gesetzmäßigem Charakter sind. Bei informellen Tätigkeiten ist der Produktions- und Austauschprozess ebenso unerlaubt, jedoch ist das Endprodukt legal – dementsprechend werden informelle Aktivitäten als eine Art Stufe zwischen formellen und kriminellen Aktivitäten eingeordnet (vgl. Castells/Portes 1989, 14f.).

Auch für Altvater und Mahnkopf (2002a, 90ff.) befinden sich marktbezogene informelle Aktivitäten nicht nur in einer „Grauzone des Übergangs zur Formalität“, sondern desgleichen in einem „Schattenbereich des Übergangs zur Illegalität und Kriminalität“. Die Frage der Grenzziehung wird institutionell bzw. durch politische Regulierung entschieden (vgl. Altvater/Mahnkopf 2002a, 92).

2.3 Neuere Sichtweisen

Im Jahre 1993, etwa 20 Jahre nach der ersten Begriffsbestimmung, veröffentlichte die ILO eine neue Definition für den „informellen Sektor“, die da lautet:

„[Der informelle Sektor] besteht aus Betrieben, die in der Produktion von Waren und Dienstleistungen mit dem primären Ziel tätig sind, Beschäftigung und Einkommen für die betreffenden Personen zu erzielen. Die Produktionsbetriebe in diesem Sektor arbeiten auf niedriger Organisationsstufe ohne oder fast ohne Trennung zwischen den Produktions-faktoren Arbeit und Kapital und in kleinem Rahmen und weisen die charakteristischen Merkmale von Privathaushalten auf, deren Inhaber die notwendigen Mittel auf eigenes Risiko aufbringen müssen. Darüber hinaus sind die Produktionsausgaben oft nicht von den Haushaltsausgaben zu trennen“ (vgl. ILO 1993 zitiert nach DB 2002, 240).

Weiters unterscheidet die ILO drei Kategorien informell Arbeitender, zwischen denen jedoch alle Arten von Übergängen und Kombinationen denkbar sind (vgl. DB 2002, 240):

- Besitzer bzw. Betreiber von (Mikro- und Klein-)Unternehmen,
- Selbstbeschäftigte mit unbezahlt mitarbeitenden Familienangehörigen,
- abhängig Beschäftigte in informellen Unternehmungen, in Gelegenheitsjobs, Heimarbeit, Hausarbeit (domestic work), in Saison- oder Teilzeitarbeit, unregistrierter Arbeit etc.

Nach der ILO Definition werden Eigenarbeit und Reproduktionsarbeit, d. h. unbezahlte Tätigkeiten für die Familie und für den familiären Konsum nicht als „informelle Beschäftigung“ angesehen (vgl. DB 2002, 240).

Diese neuere Annäherung an das Phänomen hat zwar der Datenerfassung und der statistischen Schätzung des informellen Sektors einen großen Auftrieb gegeben (vgl. Charmes 1999, 2), doch auch diese bleibt nicht ohne Kritik: So werden weder die Bedingungen der Tätigkeit oder die Charakteristika des Arbeitsplatzes einbezogen, noch wird das verfügbare Kapital oder die Dauer und das Ausmaß der wirtschaftlichen Tätigkeit beachtet (vgl. DB 2002, 240). Weiters fehlen ganze Gruppen informell Beschäftigter, nämlich all jene, die nicht in Kleinst- und Familienunternehmen arbeiten (vgl. DB 2002, 240).

In den letzten Jahren wurde aus der eher unternehmensorientierten Sichtweise des IS, die sich auch in der ILO-Definition von 1993 widerspiegelt, eine zunehmend arbeitsplatz- und tätigkeitsbezogene Darstellung. Dadurch wird eine genauere Begriffsbestimmung von Informalität und informeller Beschäftigung möglich, die über eine rein sektorale Be-trachtungsweise hinausgeht (vgl. DB 2002, 241). So versteht man unter informeller Beschäftigung heute „eine Tätigkeit ohne regulären Vertrag, ohne soziale Absicherung und bei prekären Arbeitsschutzbedingungen“ (DB 2002, 241).

Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass auch die neueren Ansätze nicht den angestrebten Schlusspunkt in der Debatte zur Findung eines einheitlichen Definitionskonzepts bilden werden, sondern viel mehr, dass sich die kontroversiell geführte Diskussion auch in Zukunft fortsetzen wird.

Indessen resümiert Kochendörfer-Lucius (1990, 12), dass es nicht im Sinne des IS ist, „eine unfruchtbare Diskussion um Definitionen und Abgrenzungen“ zu führen, sondern dass eine „positive Bewertung des Wirtschaftsbereichs, die seiner tatsächlichen Bedeutung entspricht und sich im Sprachgebrauch ausdrückt“, viel wesentlicher ist. Auch Balkenhohl (1995, 10) betrachtet die Suche nach einer Definition als nebensächlich: „Es lohnt sich überhaupt nicht, so viel Zeit mit der Definition des informellen Sektors (IS) zu verschwenden: wenn man ihn sieht, dann weiß man sofort, worum es geht“.

2.4 Erklärungsansätze des informellen Sektors

Wie schon bei den Definitionen des IS gibt es auch bei der Erklärung seiner Entstehung keine einheitliche Meinung. Tatsächlich kann nicht einmal eindeutig geklärt werden, wie viele Erklärungsansätze überhaupt existieren – manche Autoren sprechen von zwei Schulen (z.B. Schmidt 1988, 8), andere von drei (z.B. Carr/Chen 2002, 5) und wiederum andere nennen gleich vier Erklärungsansätze (z.B. Kochendörfer-Lucius 1990, 9 oder Suharto 2002, www), wobei sich diese nicht immer decken.[12]

Kochendörfer-Lucius (1990, 9) schränkt die individuelle Bedeutung der Ansätze jedenfalls mit der Anmerkung ein, dass keiner die komplexe Wirklichkeit des IS vollständig zu erklären vermag. Stattdessen thematisiert jeder Erklärungsansatz jeweils einen Ausschnitt besonders (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9f.). Aus diesem Grund werden im folgenden Abschnitt einige der diskutierten Ansätze vorgestellt.

2.4.1 Strukturalistischer Ansatz

Der strukturalistische Ansatz wird vor allem vom Lateinamerika-Büro der ILO, PREALC, vertreten (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9). Dieser beurteilt den IS als Resultat der mangelnden Fähigkeit des formellen Sektors, das Überschussangebot an Arbeitskräften zu absorbieren (vgl. Balkenhohl 1995, 12). Die fehlenden Arbeitsplätze in der modernen Industrie sind demnach strukturell bedingt und werden folgendermaßen erklärt (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9):

Durch Imperfektionen des Kapitalmarkts wird die Bildung von Oligopolen begünstigt, wo-durch einerseits die Konkurrenz begrenzt wird und anderseits die Preise für Konsumgüter der Oberschicht auf einem hohen Niveau verharren. Dies führt zu einer Reduktion der Nachfrage und dadurch auch zu einem geringeren Bedarf an Arbeitskräften. Als Konsequenz sind die überschüssigen Arbeitskräfte dazu gezwungen, sich neue Ein-kommensquellen zu schaffen – der informelle Sektor wächst (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9).

Arme und Frauen werden dabei auf den Arbeitsmärkten am meisten benachteiligt, da ihnen der Zugang zu Arbeit bzw. den Voraussetzungen für Arbeit ­– Schule und Berufsausbildung – verwehrt bleibt (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9).

2.4.2 Neo-marxistischer Ansatz

Dieser kapitalismuskritische Ansatz wurde aus der Ideologie von Karl Marx entwickelt (vgl. Markmann 2001, 50) und durch die Dependencia- Theorien[13] beeinflusst (vgl. Schmidt 1988, 8). Die, auch als „Petty Commodity Production“ bezeichnete Perspektive, geht von einer ausbeuterischen Beziehung zwischen dem kapitalistischen und dem klein-gewerblichen Sektor aus (vgl. Markmann 2001, 50).

Möglich wird dies durch die „besonderen Strukturen der Wirtschaft“ (Kochendörfer-Lucius 1990, 9) der Entwicklungsländer, in der sich ein kapitalistisches Zentrum befindet, dem die vorkapitalistischen Produktionsmethoden untergeordnet sind – die Auffassung stellt sich also gegen eine dualistische Darstellung der Ökonomie (vgl. Markmann 2001, 50). Gleichzeitig sind die Entwicklungsländer, die sich in der Peripherie befinden, mit Strukturen konfrontiert, die ihnen von den Industrieländern, welche sich ihrerseits im Zentrum befinden, aufoktroyiert werden (vgl. Markmann 2001, 50).

Dem neo-marxistischen Ansatz zufolge trägt die Ausbeutung der untersten Einkommens-gruppen dazu bei, dass die Kosten für Rohstoffe und Inputs sowie die Lohnkosten des formellen Sektors auf einem niedrigen Niveau bleiben können, indem die Reproduktions-kosten der Arbeit niedrig gehalten werden (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9).

Letzteres drückt aus, dass durch die „kapitalarme, arbeitsintensive und wenig gewinn-trächtige Produktionsweise“ des IS Produkte und Dienstleistungen, die die Arbeiter für die Bestreitung ihres Lebensunterhalts benötigen, sehr günstig angeboten werden können (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9). Folglich ist es möglich, dass das Einkommen im FS zwar ein Niveau erreicht, das über dem Subsistenzniveau liegt, aber nie an die Höhe des Lohnniveaus der Industrieländer kommt (vgl. Markmann 2001, 50f.).

Von Ausbeutung betroffen sind hauptsächlich die schwächsten Glieder der Gesellschaft, also Frauen, Kinder, illegale Immigranten und ethnische Minderheiten, deren menschen-unwürdige Arbeit deswegen möglich wird, weil nur mündliche Arbeitsverträge bestehen und die Arbeitsgesetzgebung umgangen werden kann (vgl. Markmann 2001, 51). Zudem stellt der IS auch einen billigen und flexiblen Puffer dar, wenn es um die Reduzierung oder Ausdehnung von Beschäftigung geht (vgl. Markmann 2001, 51).

2.4.3 Legalistischer Ansatz

Dieser neo-konservative Ansatz, der meist mit de Soto gleichgesetzt wird (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 10), wendet sich gegen die in Lateinamerika vorherrschende Auffassung, dass Unterentwicklung hauptsächlich durch externe Ursachen bedingt ist (vgl. Markmann 2001, 53).

Stattdessen stellt de Soto den Einfluss der Gesetzgebung auf die Ausgestaltung der Wirt-schaft in den Mittelpunkt, denn Ungerechtigkeiten entstehen seiner Meinung nach durch „das Fehlen angemessener und verlässlicher gesetzlicher Institutionen“ (Soto 1992, 18).

So zeigt de Soto in seinen Untersuchungen über Peru, dass die dort bestehende Gesetzgebung vorrangig Partikularinteressen vertritt und weniger dem allgemeinen Interesse dient (vgl. Markmann 2001, 53). Beispielsweise werden der Zugang zu Wohnraum oder das legale Betreiben von Handel und Gewerbe durch bürokratische und gesetzliche Vorschriften erschwert oder gar verhindert (vgl. Markmann 2001, 53 und Soto 1992, 18ff.). Folglich ist Informalität oft der einzige Ausweg für Individuen, ihre legitimen wirtschaftlichen Ziele zu erreichen, da sie die mit den gesetzlichen Vorschriften verbund-enen Kosten niemals bezahlen könnten (vgl. Soto 1992, 18).

Und obwohl die informellen Betriebe vom Staat behindert, unterdrückt und in der Illegalität gehalten werden, erweisen sie sich als äußerst produktiv – während die moderne Industrie völlig ineffizient wäre, wenn der Staat sie nicht schützen und fördern würde (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 10). Aus diesem Grund werden eine freie Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb sowie der Wegfall des protektionistisch rechtlichen Systems gefordert (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 10).

Letzteres ist deswegen sehr zentral, weil nach de Soto gerade das Recht einen bedeutenden Einfluss auf die wirtschaftliche Effizienz hat, wobei zwischen guten und schlechten Gesetzen unterschieden werden muss (vgl. Maldonado 1995, 709 und Markmann 2001, 54): „Wenn ein Gesetz die Schaffung von wirtschaftlichem Reichtum anregt und unter-stützt, ist es „gut“; „schlecht“, wenn es sie blockiert oder überhaupt verhindert “ (Soto 1992, 152). Gute Gesetze wirken transaktionskostensenkend und fördern dadurch die Spezialisierung und Interdependenz zwischen Individuen (vgl. Markmann 2001, 54). Im Vergleich dazu haben schlechte Gesetze eine hemmende Wirkung, da sie die durch Spezialisierung entstehenden Kosten des Tausches erhöhen (vgl. Markmann 2001, 54 und Soto 1992, 152ff.).

2.4.4 „Microenterprise Development“ Ansatz

Die Verfechter dieses Ansatzes setzen sich nur wenig mit den Theorien über den Ursprung des informellen Sektors auseinander, welcher von ihnen auch mit den Ausdrücken „Microenterprise“ bzw. Armut gleichgesetzt wird (vgl. Rakowski 1994, 507). Es ist die Handlungsorientierung, die bei ihnen im Vordergrund steht, bei gleichzeitiger Vernach-lässigung von konzeptionellen Fragestellungen (vgl. Rakowski 1994, 507).

Vielmehr werden aus verschiedenen Konzepten Anleihen genommen: „Typically neo-liberal in economic orientation but also social welfare oriented, they feel comfortable with legalist arguments which reinforce their own sense of faith and confidence in the ability of the poor to defend themselves and survive” (Rakowski 1994, 507).

Gleichzeitig geht es den Anhängern dieses Ansatzes um die praktische Unterstützung der Mittellosen durch verschiedenste Förderungen und Programme, die sich an den Bedürf-nissen der Zielgruppe orientieren (vgl. Rakowski 1994, 507). Ihr Ziel ist die Armuts-linderung, Produktivitätssteigerung und Einkommenserhöhung der armen Bevölkerungs-schichten, wobei in diesem Zusammenhang die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen im Mittelpunkt steht (vgl. Rakowski 1994, 507f.).

Ihre Pläne und Programme basieren auf der Methode der „partizipierenden Forschung“ – dabei werden Kenntnisse durch die Interaktion mit informell Tätigen gewonnen – und auf der Evaluierung der praktischen Erfahrungen im Rahmen von Programmen, welche die kleinstgewerbliche Entwicklung fördern (vgl. Rakowski 1994, 507f.).

2.4.5 „Schattenwirtschaft des Weltmarkts“ als Erklärungsansatz

In einem weiteren, von Kochendörfer-Lucius (1990, 9) angeführten Ansatz, wird der informelle Sektor als „Schattenwirtschaft des Weltmarkts“ bezeichnet. Beeinflusst wurde diese Perspektive durch die Untersuchung des Internationalisierungsprozesses des Kapitals sowie der Verschärfung der weltwirtschaftlichen Wettbewerbssituation für die Ent-wicklungsländer (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 9).

Letztere, aber auch der verstärkte Druck der Industrie auf die EL führt konsequenterweise zur Entstehung neuer Produktionsweisen: Arbeitsformen wie Kontrakt- und Stückgutarbeit ermöglichen den Arbeitgebern eine größere Flexibilität – die Anzahl der Arbeitnehmer bzw. ihre Kosten können daher leichter verringert werden, womit ein Teil des unter-nehmerischen Risikos auf die Arbeiter abgewälzt werden kann (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 10).

Folglich wird einerseits die Industrie wettbewerbsfähiger, doch andererseits werden vor allem die unqualifizierten Arbeiter mit extrem unsicheren und abhängigen Arbeits-verhältnissen konfrontiert, die durch niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen charakterisiert werden können (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 10).[14]

2.5 Wechselbeziehungen zwischen formellem und informellem Sektor

2.5.1 Das Verhältnis zwischen formellem und informellem Sektor

Das Verhältnis zwischen dem IS und dem FS wird in der Literatur umfangreich und kontroversiell diskutiert, wobei zwei Richtungen die Diskussionen dominieren.

Auf der einen Seite wird der so genannte „positive Ansatz“ vertreten, der auch als „Benign Relationship Approach“ bezeichnet wird und der die Entwicklung des IS zuversichtlich betrachtet (vgl. Tokman 1978a, 1066 und Heimburger 1990, 106). Die andere Sichtweise, der „Subordination Approach“ sieht den informellen Sektor als benachteiligt und dem formellen Sektor untergeordnet (vgl. Tokman 1978a, 1067 und Heimburger 1990, 106). Innerhalb dieser beiden Richtungen gibt es weitere unterschiedliche Strömungen, auf die im Folgenden eingegangen wird.

2.5.1.1 Der „positive“ Ansatz

Gemäß dieser Sichtweise bietet der informelle Sektor das Potenzial für ein ausgewogenes Wachstum und eine gleichmäßigere Verteilung des Einkommens. Der Gang in die Informalität ermöglicht auch jenen Menschen die Generierung von Einkommen, denen der Zugang zu Ressourcen und Märkten versperrt bleibt (vgl. Tokman 1978a, 1066).

An diesem Punkt lässt sich nun weiter differenzieren, ob man den informellen Sektor als autonomen oder als integrativen Bestandteil der Ökonomie charakterisiert (vgl. Heimburger 1990, 107).

Die Bezeichnung „autonomer informeller Sektor“ basiert auf der Erkenntnis, dass dieser sowohl Arbeitsplätze als auch Güter und Dienstleistungen für die Bezieher niedrigen Einkommens der städtischen Bevölkerung schafft (vgl. Tokman 1978a, 1066). Es entsteht ein mehr oder weniger geschlossenes System (vgl. Heimburger 1990, 107), indem „Proprietors and their family help and employees work for each other and buy each other´s products“ (Oshima 1971, 170; zitiert nach Tokman 1978a, 1066).

Dadurch erklärt sich auch der Mangel an Verbindungen zur restlichen Ökonomie, was jedoch keineswegs die ökonomische Effizienz und die komparativen Vorteile des informellen Sektors im Vergleich zum formellen Sektor schmälert. So ist die informelle Produktionsweise nicht nur arbeitsintensiver, sondern auch im höchsten Maße kapitalsparend, da man technologisch einfach arbeitet und veraltete Maschinen einsetzt (vgl. Tokman 1978a, 1066).

Im Vergleich dazu gehen Vertreter des integrativen Ansatzes von komplementären Beziehungen zwischen informellem und formellem Sektor aus (vgl. Tokman 1978a, 1066):

So stellt der informelle Sektor alle Arten von Produkten bereit, vor allem aber Dienstleistungen wie beispielsweise im Kreditwesen, beim Verkauf von lebensnot-wendigen Gütern und bei öffentlichen Dienstleistungen, die der formelle Sektor oft nur unzureichend anbietet (vgl. Heimburger 1990, 108). Ein konkretes Beispiel für Letzteres findet man in Lima, wo der informelle öffentliche Verkehr im Jahr 1984 einen Anteil von mehr als 90% des gesamten öffentlichen Transportwesens ausmachte (vgl. Soto 1992, 113f.).

Als integrativer Teil der Gesamtwirtschaft verkauft der informelle Sektor laut Tokman (1978a, 1067) drei Viertel seiner Produktion und bezieht wiederum drei Viertel seiner Konsumption aus dem formellen Sektor. Diese Integration ist vor allem dann günstig, wenn sich der IS vorrangig auf Dienstleistungen konzentriert, da diese komplementär zur formellen Produktion sind und dem technologischen Wandel nur beschränkt unterliegen (vgl. Tokman 1978a, 1067 und Heimburger 1990, 108).

2.5.1.2 Der „untergeordnete“ Ansatz

Anhänger des untergeordneten Ansatzes gehen davon aus, dass der informelle Sektor keine Fähigkeit zur Kapitalakkumulation hat und gegenüber dem formellen Sektor benachteiligt ist (vgl. Heimburger 1990, 109ff.).

Diese Ansicht wird dadurch begründet, dass „jedes Gesellschaftssystem, das sich in seinen Grundstrukturen auf internationaler wie auch nationaler und lokaler Ebene wieder findet, durch die kapitalistische Produktionsweise dominiert wird, der sämtliche andere Produktionsweisen und -formen untergeordnet („subordiniert“) sind“ (Heimburger 1990, 109). Auch wenn zwischen dominanten und untergeordneten Wirtschaftsbereichen Wechselbeziehungen bestehen, so stellt der informelle Sektor vor allem Ausbeutungs-potenzial für den formellen Sektor dar (vgl. Heimburger 1990, 109).

Die heterogenen Strukturen in den peripheren Gebieten werden durch den dort unter-entwickelten Kapitalbildungsprozess erklärt, während in den Zentren die Produktivitäts-gewinne investiert werden, wo es folglich zu einem Kapitalakkumulationsprozess kommt (vgl. Tokman 1978a, 1067). Zudem wird der technische Fortschritt nicht ebenmäßig auf Stadt und Land verteilt, sondern konzentriert sich auf die modernen Wirtschaftsbereiche in den Städten, ohne dabei jedoch die alten Techniken zu ersetzen (vgl. Tokman 1978a, 1067). Der ökonomische Überschuss („Surplus“) selbst findet sich vorwiegend in oligo-polistischen und meist ausländischen Unternehmen, deren Investitionsneigung von der Verfügbarkeit ausländischer Gelder abhängt (vgl. Tokman 1978a, 1067).

Als Konsequenz wächst die Arbeitskräftenachfrage nur langsam, während die geforderten Arbeitsfähigkeiten tendenziell größer werden (vgl. Tokman 1978a, 1068). Verbunden mit dem raschen Anstieg des städtischen Arbeitsangebots entsteht dadurch ein Angebots-überschuss, welcher den informellen Sektor erzeugt (vgl. Tokman 1978a, 1068).

Auch diese Sichtweise unterscheidet zwei weitere Richtungen: Einerseits betrachtet der so genannte „Marginalitätsansatz“ den IS als autonomen Sektor, andererseits sieht der „Ausbeutungsansatz“ den IS als integrativen Bestandteil der städtischen Ökonomie (vgl. Heimburger 1990, 110).

Als autonom wird der IS dann eingestuft, wenn es ihm an Zugangsmöglichkeiten zu den Beschaffungs- und Absatzmärkten fehlt – diese Unterordnung hat als Konsequenz, dass er keinen Überschuss erwirtschaften kann (vgl. Tokman 1978a, 1069). Die Expansion des IS hängt folglich nicht von der Kapitalakkumulation innerhalb des Sektors ab, sondern viel mehr vom Umfang des Arbeitskräfteüberschusses, das nicht vom FS absorbiert werden kann sowie von den Marktmöglichkeiten, die der FS selbst nicht wahrnimmt (vgl. Tokman 1978a, 1069).

Wird der informelle Sektor hingegen als integriert betrachtet, so lässt sich seine Unter-ordnung durch die Beschaffungs- und Absatzmärkte seiner Produkte sowie durch die erzielbaren Produktpreise erklären (vgl. Tokman 1978a, 1069): Die Einkaufspreise sind für den IS meistens höher als für den FS, da nur in kleinen Mengen gekauft wird und es an Kreditmöglichkeiten mangelt[15] – gleichzeitig sind die erzielbaren Preise für die Produkte des IS niedriger aufgrund des Marktes, von dem er abhängig ist (vgl. Tokman 1978a, 1070). In beiden Fällen sind die Preise tendenziell fix und die Beschaffungs- und Absatz-märkte werden durch den formellen Sektor kontrolliert (vgl. Tokman 1978a, 1070).[16]

2.5.2 Abgrenzungskriterien

Laut Heimburger (1990, 18) ist der Grund, warum eine theoretisch einwandfreie und allgemein gültige Abgrenzung zwischen formellem und informellem Sektor bisher scheiterte, auf die Heterogenität des IS und auf die fließenden Grenzen zwischen den beiden Sektoren zurückzuführen.

Statt einer Klassifikation „formeller-informeller“ Sektor bietet sich daher eher an, die beiden Sektoren als extreme Pole zu definieren und die Vielzahl an städtischen Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten als Kontinuum zu verstehen (vgl. Heimburger 1990, 18 und Schneider-Barthold 1995, 47). Durch diese Betrachtungsweise werden nicht nur Interaktionen und Interdependenzen zwischen den Sektoren deutlicher, sondern der IS wird auch als integraler Bestandteil des Gesamtsystems dargestellt (vgl. Heimburger 1990, 18).

Trotz der konzeptionellen Schwäche der IS-FS Klassifikation, hat Heimburger (1990, 18) auf Basis mehrerer Untersuchungen Abgrenzungskriterien erarbeitet, die in folgender Tabelle zusammengefasst dargestellt werden:

Tab. 2: Abgrenzungskriterien formeller – informeller Sektor

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Hinweis:

Technische Absorptionsfähigkeit: Fähigkeit, zusätzliche Arbeitskräfte zu absorbieren.

Ökonomische Absorptionsfähigkeit: Fähigkeit, Einkommen zu schaffen, das Grundbedürfnisse ausreichend befriedigen kann.

Quelle: vgl. Heimburger 1990, 18ff. (eigene Darstellung).

Nachstehende Ausführungen sollen die Verbindungen zwischen den beiden Sektoren analysieren und dabei klären, welche Darstellung der theoretischen Diskussion – autonome oder integrative Beziehung – sich als relevant für die Praxis erweist. Im Folgenden wird auf die Beschaffungsmärkte, die Produktionsseite und die Absatzmärkte näher eingegangen.

2.5.3 Beschaffungsmarkt

So zeigt sich, dass bereits die Beschaffung von Rohstoffen, Sach- und Humankapital durch enge Verbindungen der beiden Sektoren gekennzeichnet ist (vgl. Heimburger 1990, 112ff.).

Informelle Kleinbetriebe, die mit einheimischen Inputfaktoren operieren, sind zunehmend darauf angewiesen, ihre Rohstoffe aus der formellen Produktion zu beziehen. Die Intensität dieser Verflechtung scheint mit steigendem Modernisierungsgrad der informellen Betriebe zuzunehmen: Metallbe- und verarbeitende Unternehmen haben eine tendenziell engere Beziehung zur formellen Ökonomie als beispielsweise Korbflechtereien oder Leder- und Schmuckbetriebe (vgl. Heimburger 1990, 112).

Eine Form von indirekter Abhängigkeit der informellen Betriebe gegenüber den formellen Betrieben konstatiert Hemmer (2002, 903) am Beispiel der folgenden Rohstoffherkunft: So ist für den IS die Fähigkeit charakteristisch, fast jegliche Art von Abfall, Müll und Stoffen, die für den FS unverwertbar sind, zu recyceln und dadurch weiter nutzbar zu machen (vgl. Hemmer 2002, 903).[17]

Bei der Beschaffung von Sachkapital ist den meisten Beschäftigten im IS der Zugang zum öffentlichen Kredit- und Bankensystem versperrt, weil ihnen jene Arten von Sicherheiten fehlen, die Kreditinstitute üblicherweise verlangen (vgl. Hemmer 2002, 902 und Altmann 1991, 9). Zudem sind die kleinen Summen, die Informelle als Kredit aufnehmen bzw. als Spareinlage deponieren wollen, aufgrund der hohen Bearbeitungsgebühren für Banken unattraktiv (vgl. Altmann 1991, 9).

So werden Kredite auf dem informellen Kreditmarkt nachgefragt, der von Großhändlern, Transportunternehmern und Geldverleihern, die Zugang zum modernen Sektor haben, dominiert wird (vgl. Hemmer 2002, 902). Negative Aspekte sind dabei nicht nur häufig die extrem hohen Zinssätze, sondern auch, dass die Aufnahme informeller Kredite nur selten eine Steigerung der Produktivität der informellen Betriebe bewirkt. Vielmehr werden Kredite aufgenommen, um das gegenwärtige Produktions- und Konsumniveau zu halten (vgl. Hemmer 2002, 902).

Im Bezug auf den Faktor Humankapital sind die Beziehungen zwischen IS und FS scheinbar schwächer ausgeprägt als bei den anderen Inputfaktoren:

Ein Großteil der Arbeitskräfte und Unternehmer im informellen Sektor hat weder eine formale Schulbildung noch Berufsausbildung erhalten (vgl. Altmann 1991, 9). Durch informelle Tätigkeiten erhalten sie jedoch auch eine Form von Ausbildung, die durchaus zu einer Beschäftigung im formellen Sektor verhelfen kann (vgl. Altmann 1991, 9). Dadurch unterstützt der IS auch die Humankapitalbildung für einen möglichen Eintritt in den formellen Sektor (vgl. Heimburger 1990, 119).

Umgekehrt ist nicht auszuschließen, dass informell Beschäftigte über Kenntnisse verfügen, die sie sich im FS angeeignet haben – weniger in Form einer formalen Ausbildung, sondern vielmehr durch Arbeitserfahrungen, die eine große Zahl von Betroffenen im FS gemacht hat (vgl. Heimburger 1990, 117).[18]

[...]


[1] Auf eine detaillierte terminologische Auseinandersetzung mit dem Begriff "Entwicklungsregion" bzw. "Entwicklungsland" wird verzichtet. Als Ansatzpunkt für eine Klassifikation lassen sich z.B. wirtschaftliche und soziale Indikatoren heranziehen: Zu den wichtigsten wirtschaftlichen Merkmalen von EL gehören niedriges Pro-Kopf-Einkommen, niedrige Spar- und Investitionstätigkeit, geringe Kapitalintensität (gemessen am Kapitalaufwand pro Beschäftigten), geringe Produktivität der Arbeit, niedriger technischer Ausbildungs-stand, mangelndes Know-how von Unternehmern und Managern, Vorherrschaft des primären Wirtschafts-sektors sowie mangelnde oder nicht ausreichende materielle Infrastruktur. Der Grad der Unterentwicklung eines EL wird meist anhand sozialer Indikatoren wie z.B. Lebenserwartung bei der Geburt, Kindersterblich-keitsrate, Ernährungssituation und Analphabetismus ermittelt (vgl. Nohlen 2000, 222).

[2] Harts Aufsatz „Informal income opportunities and urban employment in Ghana“ wurde 1971 erstmals an der University of Sussex vorgelegt (vgl. Heimburger 1990, 8).

[3] Die Studie „Employment, Incomes and Equality: A Strategy for Increasing Productive Employment in Kenya“ entstand im Rahmen des „World Employment Programme“ (vgl. Schmidt 1988, 7).

[4] Zu den alternativen Begriffen, die sich jedoch nicht durchgesetzt haben, zählen z.B. „Klein- und Kleinstgewerbe“, „Handwerk“ und „Selbstbeschäftigung“ (vgl. Kochendörfer-Lucius 1990, 6).

[5] Folgende weitere Bezeichnungen finden sich in der Literatur: „capitalistic – peasant forms of production“, „capitalist production versus petty production“, „upper versus lower circuit“, sowie „offizieller – in-offizieller“, „registrierter – nicht registrierter”, „organisierter – nicht organisierter” und „integrierter – nicht integrierter“ Sektor (z.B. Heimburger 1990, 8).

[6] Zur Abgrenzung informell – illegal siehe auch S. 13 (insbesondere Tab. 1: Die Legalität wirtschaftlicher Aktivitäten).

[7] Sethuraman (1976, 81) hat auch Kriterien für die Bereiche Bauwesen, Transport, Handel und Dienst-leistungen erarbeitet, die sich zum großen Teil mit den hier vorgestellten Merkmalen decken.

[8] Durch diese einseitige Begriffsbestimmung werden z.B. Produktionsbetriebe nicht miteinbezogen.

[9] Im Original wird „establishment size“ angeführt, ohne Hinweis, ob es sich um Haushalt oder Betriebsstätte handelt (vgl. Poapongsakorn 1991, 110).

[10] PREALC bzw. das „ILO Regional Employment Programme for Latin America and the Caribbean“ (vgl. Souza/Tokman 1976, 355) unternahm einen der wenigen Versuche, den informellen Sektor anhand des Kriteriums “Beschäftigte” zu definieren (vgl. Heimburger 1990, 16).

[11] De Sotos Ansatz bzw. Ergebnisse seiner Untersuchungen über den urbanen informellen Sektor in Lima (Peru) werden in den Kapiteln 2.4.3. bzw. 4.3. näher ausgeführt.

[12] Weitere Autoren, die Erklärungsansätze vorstellen: u.a. Peattie 1987, 852; Markmann 2001, 23f.; Rakowski 1994, 501f.

[13] Die Dependencia-Theorien entstanden in den 1960er Jahren in Lateinamerika mit dem Anspruch, einerseits theoretische Erklärungen für die Unterentwicklung in LA zu bieten und andererseits auf politischer Ebene eine Strategie zur Überwindung der UE zu entwickeln (vgl. Nohlen 2000, 171). Demnach sind die Ent-wicklungsländer (Peripherien) einseitig abhängig von den kapitalistischen Industriestaaten (Metropolen), die den Weltmarkt beherrschen (vgl. Nohlen 2000, 171 und Schmidt 1988, 8).

[14] Auf diese Entwicklung bzw. auf die Arbeitsform des „Subcontractings“ wird in Kapitel 2.5.4. näher einge-gangen.

[15] Höhere Einkaufspreise entstehen auch beispielsweise dadurch, dass der IS beim Bezug von Vorleistungen aus dem FS die Mehrwertsteuer entrichten muss (vgl. Soto 1992, 174).

[16] Tokman (1978a, 1071) selbst wählt einen eigenen, dritten Ansatz, der auf den beiden genannten Sicht-weisen basiert, wobei er jedoch dem „untergeordneten Ansatz“ einen größeren Stellenwert einräumt. Letzteres begründet er dadurch, dass der IS beim Zugang zu Ressourcen und Märkten benachteiligt wird, wo-durch sich im Vergleich zum FS geringere Entwicklungsmöglichkeiten ergeben (vgl. Tokman 1978a, 1071f.). Außerdem beurteilt Tokman (1978a, 1071) die Stellung des IS weder als vollständig autonom noch als vollständig integriert.

[17] Siehe auch Kapitel „Recyclingsfunktion“ (3.3.4).

[18] Siehe auch Kapitel "Ausbildungsfunktion" (3.3.2).

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Der urbane informelle Arbeitsmarkt in Entwicklungsländern
Hochschule
Wirtschaftsuniversität Wien  (Volkswirtschaftstheorie und -politik)
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
105
Katalognummer
V24304
ISBN (eBook)
9783638272094
ISBN (Buch)
9783656661290
Dateigröße
915 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Seit rund 30 Jahren existiert der Begriff des "Informellen Sektors" (IS) im wissenschaftlichen Sprachgebrauch, um ein Phänomen zu erfassen, das weltweit, insbesondere aber in den Entwicklungsregionen, von erheblicher Bedeutung ist: Ein großer Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung in den Entwicklungsländern (EL) erzielt sein Einkommen durch wirtschaftliche Tätigkeiten, die offiziell nicht erfasst werden und sich demnach außerhalb des sogenannten "Formellen Sektors" (FS) befinden...
Schlagworte
Arbeitsmarkt, Entwicklungsländern
Arbeit zitieren
Katharina Kainz (Autor:in), 2003, Der urbane informelle Arbeitsmarkt in Entwicklungsländern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24304

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