Janusz Korczaks Roman „Kinder der Straße“ – gelesen als „Straßenkinder-Report“


Diplomarbeit, 2013

105 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

2... Einführung
2.1 Korczaks Kurzbiographie
2.2 Skizze der Pädagogik Korczaks
2.3 Korczak auf der Spur
2.4 Zusammenhang Autobiographie und Werk
2.5 Inhaltsangabe des Romans
2.6 Übersicht Straßenkinder in Deutschland im Bezug zum Werk
2.6.1 Begriffsbestimmung: Was bedeutet der Begriff „Straßenkind" in der Bundesrepublik Deutschland?
2.6.2 Altersklassifikation: Wie alt sind die Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland auf der Straße leben?
2.6.3 Soziographische Daten: Wie viele Straßenkinder gibt es etwa in Deutschland?
2.6.4 Jugendhilfe: Wie reagiert die Jugendhilfe auf die obdachlosen Kinder und Jugendlichen in Deutschland?

3.. Korczaks „Kinder der Straße“
3.1 Gesellschaftsverhältnisse
3.1.1 Geographische Herkunft
3.1.2 Schichtzugehörigkeit
3.2 Gesellschaftspolitischer Kontext
3.2.1 Kriminalität
3.2.2 Kontakt zur Polizei
3.3 Beweggründe für Straßenkarrieren
3.3.1 Familiäre Faktoren
3.3.2 Außerfamiliäre Faktoren
3.3.3 Schule und Bildung
3.3.4 Der Wunsch nach Freiheit
3.4 Gruppen-Strukturen
3.5 Suchtverhalten
3.6 Sozialverhalten
3.6.1 Lebensführung
3.6.2 Soziale Kompetenzen
3.6.3 Zukunftsperspektive
3.6.4 Geschlechtsdifferenzierende Aspekte
3.7 Moralverständnis
3.7.1 Regeln
3.7.2 Moral-Kodex

4 1. Exkurs: Vergleich zwischen Korczaks „Kinder der Straße“ und dem Aufsatz Jens Wietschorkes

5. „Straßenkinder“ in der Bundesrepublik Deutschland
5.1 Gesellschaftsverhältnisse
5.1.1 Geographische Herkunft
5.1.2 Schichtzugehörigkeit
5.2 Gesellschaftspolitischer Kontext
5.2.1 Kriminalität
5.2.2 Kontakt zur Polizei
5.3 Erklärungsansätze zu Straßenkarrieren
5.3.1 Familiäre Faktoren
5.3.2 Außerfamiliäre Faktoren
5.3.3 Wie ist die Situation bei Migranten?
5.3.4 Schule und Bildung
5.3.5 DerWunsch nach Freiheit
5.4 Gruppen-Strukturen
5.5 Suchtverhalten
5.6 Sozialverhalten
5.6.1 Lebensführung
5.6.2 Soziale Kompetenzen
5.6.3 Zukunftsperspektive
5.6.4 Geschlechtsdifferenzierende Aspekte
5.7 Moralverständnis
5.7.1 Regeln
5.7.2 Moral-Kodex

6.. Vergleich zwischen dem Roman „Kinder der Straße“ und den „Straßenkindern-Reporten“ aus Deutschland
6.1 Gesellschaftsverhältnisse
6.1.1 Geographische Herkunft
6.1.2 Schichtzugehörigkeit
6.2 Gesellschafspolitischer Kontext
6.2.1 Kriminalität
6.2.2 Kontakt zur Polizei
6.3 Erklärungsansätze zu Straßenkarrieren
6.3.1 Familiäre Faktoren
6.3.2 Außerfamiliäre Faktoren
6.3.3 Schule und Bildung
6.3.4 Der Wunsch nach Freiheit
6.4 Gruppen-Strukturen
6.4.1 2. Exkurs: Bruno Schonig: Vergleich zwischen Korczak und Kästner
6.5 Suchtverhalten
6.6 Sozialverhalten
6.6.1 Lebensführung
6.6.2 Soziale Kompetenzen
6.6.3 Zukunftsperspektive
6.6.4 Geschlechtsdifferenzierende Aspekte
6.7 Moralverständnis
6.7.1 Regeln
6.7.2 Moral-Kodex

7... Zusammenfassung

8 3. Exkurs: soziographische Daten von Wohnungslosen in Ostwestfalen (2012)

Fazit

Literaturverzeichnis

„Ein Straßenkind, ein richtiges Kind der Straße, kennt den Begriff Morgen nicht. All sein Tun, alle Gedanken sind auf das Heute gerichtet. Nach diesem Grundsatz gibt man h e u t e alles Geld aus, das morgen fürs Brot für die Kinder nötig sein kann, und nach diesem Grundsatz tut man h e u t e eine Tat, für die man morgen vielleicht ein Leben lang büßt. 'Wir sind frei', sagt das Kind der Straße, 'denn wir fürchten weder Armut noch Tod' “ (Korczak 1996, S. 150f., Hervorheb. im Original).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. I: „Straßenjunge“ (unbekannte Herkunft)

Abbildungsverzeichnis

Abb. I: „Straßenjunge“

Abb. II: jüdisches „Straßenkind“ in Warschau (1941)

Abb. III: Kellerwohnung eines Lastenträgers und seiner Familie (1935-1939, Osteuropa)

Abb. IV: Kellerwohnung in Przeworsk (1935-1939, Polen)

Abb. V: Drei jüdische Jungs (1935-1939, Osteuropa)

Abb. VI: jüdisches „Straßenmädchen“ in Warschau (1942)

Abkürzungsverzeichnis dass. = dasselbe (Institut)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

In der vorliegenden Arbeit soll ein Vergleich zwischen den Lebensbedingungen von „Straßenkindem“, wie sie in dem Roman „Kinder der Straße“ (1901) von Janusz Korczak1 geschildert werden, und den heutigen Lebenssituationen von „Straßen­kindern“2 in Deutschland anhand verschiedener Kriterien3 gezogen werden.

Organisieren sich Kinder und Jugendliche4, die auf der Straße, in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten leben, gleich? Erkannte Korczak Strukturen der Gruppenbildungen und Lebensführung bei den „Straßenkindern“ in Warschau, die mit denen von „Straßenkindern“ in Deutschland übereinstimmen?

Korczaks Roman „Kinder der Straße“ umfasst 193 Seiten und spielt in Warschau um das Jahr 1900. Eine gründliche Lektüre des Textes und auch zeitgenössische Berichte über Korczaks sozialpädagogischen Bemühungen im Milieu der Warschauer „Straßenkinder“ widerlegen die Annahme, dass es sich bei dem Roman lediglich um eine fiktive Erzählung handelt. Korczaks Roman enthält so viel „Report-Material“, dass sich ein Vergleich mit der Situation von heutigen „Straßenkindern“ in Deutschland geradezu anbietet. Für die gegenwärtige Situation in Deutschland musste ich größtenteils auf Literatur aus den Jahren 1995 bis 2000 zurückgreifen. Warum lässt sich nur wenig aktuelle Literatur zu diesem Thema finden? Anhand ausführlicher Recherchen musste ich feststellen, dass in den letzten Jahren sehr wenig Fachliteratur oder „Straßenkinder-Reports“ erschienen sind. Wie lässt sich die „Flut“ von „Straßenkinder-Reports“ aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts erklären? Das 1978 erschienene und häufig diskutierte Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ gab der Jugendhilfeforschung einen Anstoß und versuchte eine verstärkte Aufmerksamkeit für die so genannten „Straßenkinder“ zu erreichen (vgl. Jordan & Trauernicht). Aufgrund des steigenden Bekanntheitsgrades des Buches „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und dem wachsendem Bewusstsein für die Situation der „Straßenkinder“ in der Gesellschaft wurden ab 1993 vermehrt „Straßenkinder“-Studien durchgeführt. Warum gibt es keine aktuellen Studien zum Leben der „Straßenkinder“ in Deutschland? Eine Antwort darauf lässt sich nicht finden, im Fazit werde ich darauf zurück kommen.

Die Arbeit gliedert sich in 8 Kapitel. Zunächst erfolgt eine Einführung in das Leben Janusz Korczaks beginnend mit einer Kurzbiographie Korczaks (Kapitel 2.1). Anschließend werden Zeitzeugenberichte von verschiedenen Menschen aufgeführt, die Korczak in seinem Leben traf oder mit denen er in einer bestimmten Art und Weise verbunden war (Kapitel 2.2). Eine Skizze der Pädagogik Korczaks wird im Anschluss aufgeführt (Kapitel 2.3). Der Zusammenhang zwischen dem Werk „Kinder der Straße“ und Korczaks Leben wird im folgenden Abschnitt beschrieben (2.4). Die Inhaltangabe über den Roman bildet das nächste Kapitel (Kapitel 2.5). Eine Einführung in die Begrifflichkeiten der „Straßenkinder“ in Deutschland und den direkten Bezug zu den Kindern im Roman geschehe im nächsten Abschnitt (Kapitel 2.6). In Kapitel 2.6.1 wird dann zunächst der Begriff „Straßenkind“ geklärt. Im Anschluss daran folgt eine Bestimmung des Alters von „Straßenkindern“ (Kapitel 2.6.2), der soziographischen Daten (Kapitel 2.6.3) und die Aufgabe des Jugendamtes (2.6.4).

Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich, wie folgt: Zunächst werden die Verhältnisse der Kinder aus Korczaks Roman anhand verschiedener Aspekte untersucht. Hierzu zählen die Gesellschafsverhältnisse (Kapitel 3.1), der gesellschaftspolitische Kontext (Kapitel 3.2), die Erklärungsansätze für „Straßenkarrieren“ (Kapitel 3.3), die Gruppen­Strukturen (Kapitel 3.4), das Suchtverhalten (Kapitel 3.5), das Sozialverhalten (Kapitel 3.6) und das Moralverständnis (Kapitel 3.7). In einigen der einzelnen Kapitel finden weitere Unterteilungen statt. Anschließend soll in einem Exkurs (Kapitel 4) Korczaks Roman „Kinder der Straße“ mit dem Aufsatz: „Die Straße als Miterzieher. Städtischer Raum und Sozialpädagogik im frühen 20. Jahrhundert“ von Jens Wietschorke verglichen werden.

Im anschließenden Teil der Arbeit (Kapitel 5) werden die bereits beim Roman angewandten Kriterien auf die Situation von „Straßenkindern“ in Deutschland angewendet. Ergänzend wird als Zusatzaspekt die Situation von Migranten in Deutschland reflektiert.

Abschließend (Kapitel 6) erfolge der Vergleich zwischen dem Roman „Kinder der Straße“ und der heutigen Situation von „Straßenkindern“ in Deutschland. Die Gruppen Strukturen (6.4) werden durch einen weiteren Exkurs (Kapitel 6.4.1) ergänzt, in welchem ein Vergleich zwischen Janusz Korczak und Erich Kästner anhand eines Textes von Bruno Schonig stattfindet.

Die Zusammenfassung der Ergebnisse des Vergleiches zwischen dem Roman „Kinder der Straße“ und den „Straßenkinder-Reporten“ aus Deutschland erfolge im Kapitel 7.

Angehängt sei noch ein weiterer Exkurs (Kapitel 8), in dem anhand eines Zeitungsartikels aus dem Jahr 2012 die soziographischen Daten von wohnungslosen Menschen in Ostwestfalen-Lippe geschildert werden.

Im Fazit soll über eine knappe Zusammenfassung der Befunde hinaus auch auf die Bedeutung der sozialpädagogischen Bemühungen Korczaks im Kontext der „Straßenkinder“ hingewiesen werden.

2 Einführung

2.1 Korczaks Kurzbiographie

„Janusz Korczak schrieb viel über Glück und Zufriedenheit des Kindes. Er forschte in allen historischen Ereignissen, in der Entwicklungsgeschichte der Kultur, und er stellte soziologische Analysen an, wieviel (!) Glück und Zufriedenheit dem Kinde in der Weltgeschichte beschert worden war “ (Harari 1981, S. 96).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. II: jüdisches „Straßenkind“ in Warschau (Pirotte, 1941)

Janusz Korczak (Pseudonym für Henryk Goldszmit) wurde am 22. Juli 1878 oder 1879 als Kind einer jüdischen Juristen-Familie in Warschau (Polen) geboren. Das genaue Jahr ist nicht bekannt, da der Vater die Geburt erst später gemeldet hat (vgl. Lifton 1990, S. 23). Bis zum frühen Tod des Vaters wuchs er in wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen auf. „Die Goldszmits waren eine angesehene Familie; sie lebten nicht auf großem Fuß, aber immerhin besaßen sie genug, um gut leben zu können und darüber hinaus ein wenig zu repräsentieren: ein geräumiges Haus, einen Namen in der Stadt, Dienstleute, hin und wieder eine Abendgesellschaft“ (Pelzer 1987, S. 11f.). Henryk gab bereits im Jugendalter Nachhilfeunterricht, um seine nach der Erkrankung5 und dem Tod des Vaters6 plötzlich verarmte Familie finanziell zu unterstützen. Er fand großen Gefallen an der Arbeit mit Kindern. Das veranlasste ihn dann auch dazu, die „Klassiker der Pädagogik“7 zu studieren und erste pädagogische Artikel zu veröffentlichen. 1898 entschied er sich mit der Begründung: „Ich werde nicht Schriftsteller, sondern Arzt. Literatur hat nur Worte, Medizin jedoch ist Handeln“ (Lifton 1990, S. 46), das Medizinstudium an der Universität Warschau zu beginnen. Auch während seines Studiums verfasste er literarische und fachwissenschaftliche Artikel für Zeitschriften. Anlässlich der Teilnahme an einem Dramatiker-Wettbewerb legte er sich sein Pseudonym „Janusz Korczak“ zu (vgl. Sobecki 2008, S. 47). Während seines Studiums und als junger Kinderarzt arbeitete er als Sozialarbeiter und Arzt mehrfach in „Sommerkolonien“8. 1904 schloss er sein Medizinstudium mit der Promotion ab (vgl. Pelzer 1987, S. 20). Die Ausbildung zum Kinderarzt erfolgte in einem kleinen Kinderspital in Warschau, dem einzigen Spezialkrankenhaus für Kinder in Warschau. Zu dieser Zeit war er bereits als Schriftsteller sehr bekannt (vgl. ders. S. 22). Bis 1912 und arbeitete er als geschätzter Arzt im Kinderspital in Warschau. Für mehr als ein Jahr unterbrach Korczak seine Facharztausbildung, um in Berlin, Paris und London intensive Studien in Medizin, Pädagogik und Sozialpädagogik zu betreiben. „Die Menschen in seinem Stadtviertel sehen in ihm mehr einen unprofessionellen Philosophen, einen Lebensberater, der plaudern kann, leicht versteht und gut zuhört, ein Arzt, der mehr kann und tut, als Medizin zu verschreiben“ (ders. S. 32). „Im Jahr 1908 wurde Korczak Mitglied der jüdischen Vereinigung für die Kinderfürsorge Hilfe für Waisen (Sobecki 2008, S. 57, Hervorheb. im Original). Ein radikal neuer Abschnitt im Leben Korczaks begann 1911/12 mit der Übernahme der „Leitung eines neu gegründeten Warschauer Waisenhauses [...]“ (Pelzer 1987, S. 33), des „Dom Sierot“ (Waisenhaus) (vgl. ders.. S. 42). Von 1914-1918 musste er als Lazarettarzt im russischen Heer9 am 1. Weltkrieg teilnehmen. 1919 erfolgte dann unter der pädagogischen Mitbetreuung Korczaks, die Leitung hatte die Pädagogin Maryna Falska inne, die Eröffnung eines weiteren Waisenhauses, des „Nasz Dom“ (Unser Haus) (vgl. Sobecki 2008, S. 58). Die Umsetzung eines der größten Projekte im Leben Korczaks geschah im Jahr 1926 mit der Gründung der Kinderzeitschrift „Maly Przeglad“ (Kleine Rundschau) (vgl. dies. S. 61). In den Jahren 1927-1939 wirkte Korczak unter anderem auch als Dozent für Bildungs­und Sozialarbeit an der Freien Polnischen Universität (vgl. ebd), als Gerichtsgutachter in Kinder- und Jungendstrafprozessen sowie als Kinderfunksprecher.

Nach der Besetzung Polens durch die deutsche NS-Herrschaft (1939) musste das Waisenhaus „Dom Sierot“ am 30. November 1940 in das „Warschauer Ghetto“, „ein mit Mauern umgebenes Stadtviertel für die jüdische Bevölkerung“ (dies. S. 68) umziehen. Am 5. oder 6. August 1942 wurden Janusz Korczak, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die etwa 200 Kindern aus dem Waisenhaus von den Nationalsozialisten in das Vernichtungslager Treblinka deportiert (vgl. dies. S. 70) und dort durch Giftgas ermordet.

2.2 Skizze der Pädagogik Korczaks

„Die literarische Hinterlassenschaft Dr. Korczaks, darin Begründung für erzieherisches Verhalten und Handeln an diesem Tag, in dieser Situation, gegenüber diesem Kind, entsprang nicht so sehr wissenschaftlichen Forschungen und Methoden, sondern strömte aus den Gefühlen, Ahnungen, Träumen und Visionen eines großen Herzens. In einer kaltgewordenen Welt gibt Korczak damit der unzerstörbaren Sehnsucht nach Menschenfreundlichkeit, Wärme, Güte, individueller Zuwendung Hoffnung“ (Dauzenroth & Hampel 1981, S. 3f).

Sobecki betont, dass Korczak bereits Anfang der zwanziger Jahre zu den bekanntesten Pädagogen Polens gehörte (vgl. Sobecki 2008, S. 253). Seine Forschungsbereiche untergliederten sich in Hygiene, Anthropometrie, Physiologie, Psychologie des normalen Kinder, Psychologie des verhaltenssauffälligen Kindes und der Tierpsychologie (vgl. dies., S. 160-195). Hinsichtlich der Hygiene10 war Korczak der Auffassung, dass das Beachten der hygienischen Gebote den Erhalt des Gesundheitszustandes und das Gelingen der Erziehungsarbeit ebenso wie die Bedeutung der seelischen Gesundheit beeinflusste (vgl. dies., S. 160). Im Korczaks Waisenhäusern „[...] gehörten Gesundheitsfürsorge, Krankheitsversorgung und stetes Streben nach Sicherung der günstigen Lebensbedingungen der Zöglinge zu den grundlegenden Aufgaben“ (ebd.). Als Pädologe führte Korczak zudem in der Zeit von 1912 bis 1942, akribische Messungen der Körperlänge und des Körpergewichts seiner insgesamt etwa 1000 Zöglinge durch. Korczaks Ziel war es anhand der Untersuchungen und Auswertungen einen Zusammenhang zwischen dem körperlichen Wachstum und den psychischen Funktionen zu erhalten. Angesichts dieser Ergebnisse „[...] schlussfolgerte er die individuelle Behandlung der Kinder“ (dies., S. 167). Der Ehrgeiz Korczaks, mit welchem er sich dieser Aufgabe widmete, wird im folgenden Zitat deutlich.

„Meine wissenschaftliche Arbeit. Gewichtskurven, Entwicklungsprofile11, der Wachstumsindex, die Prognose der körperlichen und psychischen Evolution. So viel Hoffnung, wie wird das Ergebnis sein? Und wenn es kein Ergebnis gibt?“ (Korczak 1999a, S. 208).

Unter der Physiologie stehen in diesem Zusammenhang vor allem Korczaks ebenso detaillierten, umfangreichen physiologischen Untersuchungen des Kinderschlafes, welche zum Ziel hatten, dass Korczak erforschen wollte, wie viele Stunden ein Kind Schlaf benötigt, was für einen erholsamen Schlaf von Nöten ist und welches die besten Bedingungen im Rahmen eines Internats sind, damit die Erholung gewährleistet wird (vgl. Sobecki 2008, S. 170). Er maß konstant die Körpertemperatur, den Puls und die Muskelkraft seiner Zöglinge und beobachtete neben dem Schlafverhalten auch das Verhalten der Kinder am Tag. Ebenso „[...] untersuchte [er] die Ernährung, das Bettnässen sowie die Onanie über einen längeren Zeitraum“ (dies., S. 172). Angesicht des Forschungsgebiets der Psychologie des normalen Kindes standen „[im] Zentrum seiner psychologischen Interessen [.] die individuellen Schwankungen, das kindliche Verhalten, das Temperament, Verhaltensmuster [...], Verhaltensmotive, die Bedürfnisse der Kinder und deren Interessen sowie Begriffsentwicklung, v.a. das moralische Urteil der Kinder“ (dies., S. 175). Korczak begann mit den Untersuchungen der Kinder im Vorschulalter und sammelte in seiner Zeit als Kinderarzt wichtige Beobachtungen auch bei Säuglingen. Besonderes Augenmerk legte Korczak auf die Kinder, die in ihrer Entwicklung von der Norm abwichen. Korczak informierte sich auch in den Bereichen der Tierpsychologie und nutzte die damaligen Erkenntnisse aus dieser, um die kindlichen Verhaltensweisen zu verstehen und zu erklären. Korczak verglich in mehreren Auszügen Tier- mit Menschenkindern und war der „[...] Überzeugung, [dass der] [...] diagnostische^..] Wert der Tierpsychologie für die Erklärung menschlichen Verhaltens [verantwortlich war]“ (Sobecki 2008, S. 195).

Seine Methoden lassen sich in folgende Bereiche unterteilen. Die Beobachtung war für Korczak ein wichtiges Instrument, um in das Leben der Kinder vorzudringen. „[...] [Er] nutze diverse Techniken der Datensammlung, wie Proben, Beschreibungen in Form von Tagebucheintragungen bis zu Protokollen und Aufzeichnungen fortlaufender Beobachtungen“ (dies., S. 197). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Korczak sich bei seinen Protokollen auch immer über sein eigenes Wohlbefinden und seine Gedanken äußerte. Neben den Beobachtungen nutze Korczak die statistischen Methoden in Form von „Diagramme[n], Gewichts- und Körperlängekurven, statistische Aufstellungen über Streitereien und Danksagungen, Tabellen zu Gerichtsurteilen für gesamte Gruppen und einzelne Kinder, Statistiken zur Lesefertigkeit und zur Schlafdauer u.a.“ (dies., S. 200). Seine soziometrischen Untersuchungen stellten im Rahmen seiner statistischen Untersuchungen eine weitere Methode Korczaks dar. Korczak setzte sich schon seit etwa Mitte der 20er Jahre intensiv mit der Erforschung der Struktur und Dynamik von Kindergruppen auseinander und gilt als Pionier der soziometrischen Untersuchungsmethode (vgl. dies., S. 204f.). Aufgrund von Empathie und Intuition gelang es Korczak sich in die Denk- und Gefühlswelt von Kindern hineinzuversetzen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang Korczaks gutes Gelingen des Perspektivwechsels bei Erzählungen. „Er versuchte die Welt mit den Augen eines Kindes wahrzunehmen und zu erleben“ (dies., S. 207). Die biographischen Materialien stellten eine weitere Untersuchungsmethode Korczaks dar (vgl. Korczak 2004, S. 371­405). Korczak sah das Kind im gesamten Kontext seines bisherigen Lebens und „als einen voll- und gleichwertigen Menschen“ (Sobecki 2008, S. 209).

Es lässt sich festhalten, dass Korczak sich von Teilen der Pädologie, Psychologie, Soziologie, Rechtswissenschaft, Pädagogik und vor allem der Medizin beeinflussen ließ. (vgl. dies., S. 215). „[...] [Seine] Forschungen hatten einen ganzheitlichen und interdisziplinären Charakter“ (ebd.). Korczak stand „den experimentellen Verfahrensweisen in der Psychologie und Psychometrie“ (dies., S. 177) eher kritisch gegenüber. Vor allem gegenüber Experimenten im Labor äußerte er immer wieder Vorbehalte (vgl. dies., S. 214). Korczak setzte sich jedoch „[...] nach 1918 mit verschiedenen Ansätzen innerhalb der Kinderforschung auseinander“ (Sobecki 2008, S. 178f.). Im Rahmen seiner Untersuchungen und Beobachtungen zur Onanie wandte Korczak sich kritisch mit folgenden Worten an die Pädagogen, sofern sie ihr Wissen nur aus Büchern schöpften;

„Im Gegensatz zur Medizin, wo jede Einzelheit über Jahre zum Forschungsobjekt für zahlreiche Kliniken und Laboratorien wird, wobei sich das Problem um eine Reihe von Fragen vermehrt - zeichnet sich die Pädagogik aus durch Leichtfertigkeit und Schnelligkeit endgültiger Urteile. Als ob das psychische Leben weniger komplex und zugänglicher sei als Prozesse des somatischen Lebens “ (Korczak 1999b, S. 279).

Dauzenroth (1978) schreibt Korczak drei Qualitäten zu. Zum einen die „unermüdliche Beobachtung“ (S. 57), zum anderen die „vorsichtige Diagnose“ (ebd.) und zuletzt die „illusionslose Therapie“ (ebd.). Bezüglich der Diagnose erwähnt Dauzenroth, dass Korczak die Einsicht überkam, „dass die Fülle seiner schriftlich fixierten Beobachtungen ihn dann doch pädagogisch im Stich gelassen hat und dass die Addition aller Ergebnisse für die Erziehung wenig oder nichts eingebracht hat“ (ders., S. 63).

Aufgrund seiner Erfahrungen entwickelte Korczak einen Hinweis an die suchenden Erzieher:

„Aber er soll immer daran denken, daß (!) er sich irren kann. Keine Ansicht sollte zur absoluten Überzeugung oder zu einer stets gültigen Überzeugung werden“ (Korczak 1967, S. 228).

Das Kind bleibt eine unbekannte Größe (vgl. Dauzenroth 1978, S. 63).

Sachs formuliert folgende Botschaft an den Erzieher:

„Wer bist Du, der Erzieher, oder wer bin ich? Dann erst kommt das 'Was' und schließlich das 'Wie'“ (1981, S. 108).

Des Weiteren betont Sachs, dass die Pädagogik Korczaks zunächst „die [...] Selbstarbeit des Erziehers an sich [ist], bevor er zum Kinde geht [...]“ (ebd.).

2.3 Korczak auf der Spur

Rygier, ein damaliger Schulkamerad und Freund Korczaks, beschreibt in dem Bericht „Janusz Korczak in jungen Jahren“, dass Korczak „in der Rolle eines Anstreichers in cognito verschiedene verrufene Spelunken in Powisle und in der Altstadt [besuchte]“ (Rygier 1999, S. 405). Damals äußerte Rygier Korczak gegenüber sein Unwohlsein und fragte ihn, ob er nicht um sein Leben fürchte, wenn er solche Orte besuche. Es ergab sich daraus folgender Dialog:

„'Aber was kann mir denn schon passieren ', antwortete er erstaunt. 'Schließlich gehe ich ja nicht als Detektiv, sondern als Freund dorthin/ 'Was heißt das - als Freund?' 'Naja ... Wenn ich zwischen zwei Übeln zu wählen hätte, so würde ich hungrige Wölfe im dichten Wald den gemästeten Schweinen im Salon vorziehen.' 'Aber die Menschen? Es gibt doch auch Menschen!!' 'Natürlich gibt es Menschen ... Nur - vorläufig mästen sie hauptsächlich Schweine (ebd.).

Es gibt einige Zeitzeugenberichte über Korczak aus denen hervorgeht, dass Korczak sich mit Vorliebe in dem damaligen Milieu des Straßenlebens aufhielt. Lukrec, ein damaliger Mitarbeiter einer radikalen-sozialen Zeitschrift, in welcher auch Korczak Artikel veröffentlichte, berichtet, dass Korczak sich schon als Student der Medizin „in den verrufenen Kneipen der Altstadt herum [trieb] und [...] ein beliebter Kumpan der dortigen Ganoven und Taschendiebe [war]“ (Lukrec 1999, S. 413). Wenn er von dem Leben der Altstadt erzählte, klangen seine Berichte „wie Märchen aus einem verwunschenen Land“ (ebd.) und „[er] erinnerte sich mit Rührung an diese Zeiten“ (ebd.). „[In] diesem Königreich des gesellschaftlichen Abschaums“ (ebd.) wurde Korczak verehrt und fürsorglich behandelt: „Man beschützte ihn in den Schenken und Spelunken der Altstadt vor allem Ungemach, das ihn zufällig von der Hand eines fremden, uneingeweihten Mordbuben hätte treffen können“ (ebd.). Über die Ergebnisse „seiner ersten pädagogischen Versuche [...] konnte Korczak selbst nichts Bestimmtes sagen“ (ebd.). Eines stand allerdings fest: „In einer Atmosphäre von Herzen kommender Vertrautheit versuchte er, ihnen die Vorstellung von einem anderen, menschenwürdigen Leben nahezubringen“ (ebd.). Bobinska, eine Freundin Korczaks, berichtet im diesem Zusammenhang:

„Es schien, als kenne er jeden der Jungen schon seit langem und wissen genau über ihn Bescheid. Seine Dialoge mit diesen Warschauer Straßenjungen waren einzigartig, unwiederholbar. Damals kam es mir nicht in den Sinn, sie niederzuschreiben. Ich selbst erlag dem Zauber dieses ungewöhnlichen Pädagogen“ (Bobinskazit. n. Pelzer 1987, S. 21).

Lifton zitiert Licinski, einen guten Kamerad Korczaks, mit dem Korczak damals „durch die schlimmsten Elendsviertel der Stadt [streifte] [...], [nachts] an den sandigen Ufern der Weichsel entlang [spazierte], [...] die Namenstage der Huren [feierte] und [...] sich an 'stinkendem Wodka' [betranken]“ (Lifton 1990, S. 56). Licinski dazu: „Er verstand es meisterlich, die Herzen dieser Menschen zu erreichen“ (Licinski zit n. Lifton 1990, S. 56). Eingeengt durch die überfürsorgliche Mutter, bei der er während des Studiums lebte, erfuhr Korczak während der Nächte „in diesem rauhen (!) Teil der Stadt“ (Lifton 1990, S. 56) ein Gefühl der Befreiung; „[seine] Seele, die jaulte wie ein Hund', wurde von der Kette gelassen“ (ebd.).

Daneben finden sich Passagen, in denen Korczak sich selbst über seine Erfahrungen im Milieu äußerte. Im „Warschauer Elend“ - Literarische Reportagen, veröffentlicht in der Monatsschrift des Polnischen Kuriers (1901), schrieb er:

„Seit einigen Jahren habe ich, anfangs nur gelegentlich, doch in der letzten Zeit mit größerer Regelmäßigkeit, Beobachtungen über das Leben und mehr noch über die Seele der Notleidenden unserer Stadt angestellt “ (2002, S. 423f.).

Er beschreibt seine Erfahrungen in einer Schenke und stellte fest, dass der Satz:

„'Wir fürchten keine Not' - [...] ein allgemeiner Grundsatz der Notleidenden von Geburt an [ist]. Sie haben sich daran gewöhnt, sie sind damit vertraut, sie haben sich eine besondere Philosophie, ja sogar einen speziellen Moralkodex geschaffen, und wenn sich die Stimme der geplagten Seelen erhebt, dann ersticken sie sie im Wodka und entledigen sich ihrer mit einem zynischen Scherz“ (ders. S. 92).

In einer Situation schilderte Korczak, wie er für einen Augenblick lang seine Rolle des Beobachters verlassen hatte, weil ihn während eines Festes die Bitte an die Gäste überkam, den Kindern keinen Alkohol mehr zu geben und auch den Gästen riet keinen Alkohol zu trinken. Er wurde daraufhin von der Gastgeberin in ein Gespräch verwickelt und gebeten zu gehen. Korczak erkannte, dass er mit dem Verlassen der Rolle des Beobachters einen Fehler begangen hatte (vgl. ders., S. 100f.). Dieses Erlebnis ließ ihn folgende Schlussfolgerung ziehen:

„Man muß (!) sie so nah kennenlernen wie ich um zu wissen, daß (!) jedes 'Du', jeder 'Dummkopf', jeder 'Narr' sie reizt, verdirbt und für die Stimme ihrer Seele und das, was sie in den seltenen Augenblicken des Überlegens 'ankommt', unempfindlich macht“ (Korczak 2002, S. 101).

In seinem Bericht „Streiflichter“12 beschrieb Korczak recht detailliert seine Studien im Straßenmilieu. Sein Ziel während der dargelegten elf (2- bis 3-stündigen) nächtlichen Exkursionen war „die nächtlichen Betteleien von Kindern und Jugendlichen zu beobachten - und ihre Rolle im Stadtzentrum in der Nacht zu erkunden“ (ders. S. 136).

Korczak berichtete von der Anzahl der Kinder und stellte fest, dass es „[in] Nächten mit günstiger Witterung [...] mehr [sind]“ (ders., S. 136).

„In den beiden mit schlechtem Wetter (Schneetreiben) zählte ich: einmal drei, ein anderes Mal sechs Jungen. An Sonnabenden und Sonntagen sind sie am zahlreichsten: bis zu zwanzig und mehr “ (Korczak 2002, S. 136).

Das Alter der Jungen schätzte Korczak auf „sieben bis vierzehn Jahre“ (ebd.).

Korczak schilderte das Treiben der Kinder und deren Verdienstmöglichkeiten. Die Bettelei fand in den Nächten in zwei Formen statt. Zum einen boten einige der Kinder eine Zeitung zum Kauf an, zum anderen berichtete Korczak von zwei, etwa 14-jährigen Mädchen, die sich prostituieren (vgl. ebd.).

Daneben gaben einige Zeitzeugen wieder, dass Korczak ebenso die Verhaltensweisen spielender Kinder studierte. Rygier schildert, dass er Korczak bereits in der Zeit nach dem Abitur dabei angetroffen habe, wie er Kinder beim Spielen beobachtete. Er wollte ergründen, warum jedes Kind anders spielte und zu diesem Verhalten Diagnosen stellen. Korczak befürchtete, dass es auf diese Frage keine Antworten gab und ihn die Frage zeitlebens verfolgen könnte (vgl. Rygier 1999, S. 404f.).

Des Weiteren geht aus den Zeitzeugenberichten hervor, dass Korczak stets von seinen Mitarbeitern, Patienten und Freunden für seinen Umgang mit den Kindern, mit denen er arbeite, wertgeschätzt wurde. Er war sich für nichts zu schade, organisierte Spiele, wusch den Kindern im Waisenhaus die Haare, half beim Kartoffelschälen, beim Abspülen, badete gemeinsam mit den Jungen (vgl. Marciniak 1999, S. 407f.). Beispielsweise wird von einer Familie berichtet, bei der Korczak damals als Hausarzt tätig war, dass er der einzige war, der die Tochter „zum Einschlafen bringen konnte [...] [und] ein Gefühl des Friedens und der Sicherheit [schuf] (dies. S. 410). Weiter heißt es, „daß (!) er sehr freundlich, liebevoll und herzlich zu mir, seiner Patientin, war“ (ebd.).

Lukrec beschreibt Korczak als „ [...] immer gutmütig, wie ein Kind [...]“ (1999, S. 412). Er hatte eine große „Sensibilität für Unterdrückung und Unrecht in der menschlichen Gesellschaft“ (ebd.). Dazu schrieb Gadzikiewicz, ein Kollege Korczaks: „Sein Verhältnis zu den Frauen gab mir zu denken. Wenn wir jungen Kollegen verächtlich, ironisch oder frivol von 'Weibchen' sprachen, widersetzte sich Henryk ruhig, aber bestimmt“ (ders. S. 417). Aufgrund der Ungerechtigkeit der Gesellschaft „verachtete er schon früh den 'Salon', seine geistige Hohlheit, seinen falschen Glanz und suchte einen Weg, um den tiefsten Abgrund kennenzulemen, in dem Lebensschwäche und moralisches Versagen wohnen“ (ders. S. 413). Lukrec charakterisiert ihn weiter als einen „großartige[n] Arzt, [der] es verstand, den Schmerz der heulenden Knirpsen zu lindern - aber nicht mit Hilfe schmerzstillender oder betäubender Mittel, sondern mit seiner wohlklingendem Stimme, einem gütigen Wort oder einer rasch improvisierten Geschichte“ (Lukrec 1999, S. 414). Korczaks ungewöhnliche Geduld ebnete seinen späteren Weg für die Arbeit in den Waisenhäusern, „um sich dort den unglücklichen Kindern zu widmen und ihr Leben mit seinem glänzenden Geist und der Wärme seinen großen Herzens zu erhellen“ (ders. S. 413). Bescheidenheit wurde als einer seiner weiteren Charakterzüge beschrieben. Obwohl Korczak mit der Leitung des Waisenhauses die finanziellen Angelegenheiten angehörten, blieb er zeitlebens arm und lebte vorrangig von den Honoraren als Schriftsteller (vgl. Marciniak, S. 408). „[...] [Er] hört nicht auf, ein aufopfernder 'Sozialfürsorger', ein feuriger Fürsprecher der vom Schicksal benachteiligten Kinder zu sein“ (ebd.).

Aufgrund der Zeitzeugenberichte, lässt sich festhalten, dass Korczak zu Lebzeiten bei den Menschen beliebt war, sich mit Herz und Körper engagierte und ständig den Kontakt zu den Armen suchte, als gutmütiger Mensch galt, sich gerne mit Kindern und deren Verhaltensweisen beschäftigte und immer versuchte seinem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen.

2.4 Zusammenhang Autobiographie und Werk

Die Begegnungen Korczaks mit den Menschen, die auf den Straßen Warschaus lebten, verarbeitete er in seinem Roman „Kinder der Straße“, welcher 1901 in der Zeitschrift „Leseraum für alle“ erschien (vgl. Langhanky 1993a, S. 3). Langhanky schrieb darüber:

„Autobiographisch, vorweg entwerfend wie alle Literatur, die Korczak schuf, ist das Buch halb zeitgeschichtlicher Roman, halb sozialpädagogisches Lehrbuch, das mit einer gehörigen Dosis Sozialromantik gewürzt ist “ (ebd.).

„Kinder der Straße ist ein Mixtum aus Trivialroman, naturalistischer Milieuschilderung und pädagogischen Träumen“ (Korczak 1996, S. 427, Hervorheb. im Original). Dauzenroth beschreibt das Werk wie folgt: „Die Erzählung wird zur Reportage aus den Weichselquartieren, aus Solec und Powisle, aus Buchten und abgetakelten Weichselkähnen - authentische Kapitel zur Geschichte der Armut, der Ausschweifung, des moralischen Elends“ (Dauzenroth 2006, S. 14).

Die Botschaft des sozialkritischen Werks richtete sich an eine Erziehung, die den Kindern aus den Armutsvierteln früh mit auf den Weg gegeben werden muss. Die Umsetzung durch die Eltern war allerdings nicht möglich und nur diese Erziehung konnte die Kinder retten (vgl. Lifton 1990, S. 51).

Neben dieser authentischen Erzählung aus den Warschauer Armutsvierteln, sind bei der im Roman vorkommenden Figur des Grafen Zarucki autobiographische Züge Korczaks festzustellen. Dementsprechend haben beide eine Vorliebe für die Beobachtung kindlichen Verhaltens (vgl. Korczak 1996, S. 48). Ebenso wie Korczak, beobachtet der Graf Zarucki die Kinder im Schlaf (vgl. Waaldijk 2002, S. 73) und beschreibt ihr Verhalten während der Nacht.

„Begeben wir uns nun in Manias Zimmer und betrachten wir das schlafende Kind. Mania schläft unruhig. Sie atmet schwer, spricht unzusammenhängend im Schlaf, sie preßt (!) die Hand gegen die Stirn, ihre Wangen sind gerötet. Aber sie schläft “ (Korczak 1996, S. 48).

Die Erfahrungen und Feststellungen des Grafen Zarucki bei dem ersten Kontakt mit den „Kindern der Straße“ spiegeln die Erlebnisse Korczaks während der Sommerkolonien wider.

„[...] der Graf sträubte sich anfänglich, er fürchtete neue Komplikationen, fürchtete die Kinder der Straße, weil er erkannt hatte, daß (!) die Arbeit mit ihnen schwer war. [...] Die Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Die Kinder blühten in der ländlichen Umgebung auf, lernten dazu, übten einen positiven Einfluß (!) auf ihre Umwelt aus“ (ders., S. 165)

Des Weiteren resultiert folgende Feststellung des Grafen aus den Untersuchungen und Beobachtungen Korczaks in den Armutsvierteln Warschaus.

„Manka und Jedrek waren nicht mehr der Mittelpunkt, um den sich alle Gedanken des Grafen drehten. Dennoch war sein Wunsch, aus der Beobachtung zweier Kinder zu lernen, inwieweit eine Veränderung der Lebensbedingungen und eine entsprechende Erziehung etwas bewirken - in der Praxis belohnt worden. Heute konnte er mit Entschiedenheit sagen, daß (!) es unter den 'Kindern der Straßer Kandidaten für wertvolle Menschen gab, wenn sie nur entsprechend angeleitet wurden“ (ders., S. 166).

2.5 Inhaltsangabe des Romans

„Er möchte die Rechte des Kindes auf Liebe, Achtung, Zuwendung, Unterstützung nicht als freundliche Herablassung der Erwachsenen verstanden wissen; er klagt die Eltern- und Erziehergeneration an, daß (!) sie dem Kind als einzigem Vermächtnis an die Zukunft nicht jenes bedingungslose Vertrauen gewähren, aus dem heraus allein eine bessere, eine menschliche Welt aufzubauen ist. So kämpft er für die Kinder; sie sollen ihre Bedürfnisse selbst benennen und abstimmen, sich im Heim weitgehend selbst verwalten, ihre Konflikte in Form regulierter Auseinandersetzung aufzuarbeiten lernen, erkennen, daß (!) es schwer, aber nicht unmöglich ist, vernünftig miteinander umzugehen “ (Licharz 1981, S. 7f.).

Die Hauptfiguren, um die es in dem Roman geht, sind zwei Kinder, die sich selbst „die Kinder der Straße“ nennen. Antek, ein zwölfjähriger Junge und Manka, ein zehnjähriges Mädchen leben in einer durch Armut und Gewalt geprägten Welt. Sie sind Halbwaisen und schlafen beide bei Anteks Vater, der sie dazu nötigt, tagsüber Geld durch Blumenkauf und Betteln auf der Straße zu verdienen.

Eines Tages kauft Graf Zarucki dem Vater die Kinder ab und nimmt sie mit zu sich auf das Land, um ihnen ein geordnetes, gebildetes Leben zu ermöglichen. Antek schlägt das Angebot nach einiger Zeit ab und geht zurück nach Warschau. Dort erlebt er ein weiteres Mal über einige Jahre hinweg das Straßenleben, Armut und Gewalt hautnah. Seine Gedanken schweifen während dieser Zeit häufig ab, weg vom Straßenleben hin zu einem Leben, wie es „die Herrschaften“ führen. Antek beginnt das menschliche Dasein auf der Straße zu reflektieren. Er nimmt kleinere Jobs an und erlernt mit viel Mühe das Lesen und Schreiben. Während seines Lebens auf der Straße lernt er einen verrückten alten Mann kennen, der Tränen sammelt. Dieser versucht zu beweisen, dass man durch die Tränen das Gift aus der Seele entfernen und Menschen zu besseren Menschen machen könne. Er lehrt Antek sein „Handwerk“ und dieser soll sein Archiv übernehmen. Antek geht allerdings zurück zum Grafen, um dort Manka wiederzusehen. Er bekommt Bildung beim Grafen, macht sein Abitur und studiert in Warschau Jura. Als Ironie des Schicksals soll er in seinem ersten Fall einen alten Kumpanen, ebenfalls ein „Kind der Straße“, verteidigen. Er hadert mit seiner Vergangenheit und gibt letztendlich seine wahre Identität, die des ehemaligen „Kindes der Straße“, preis. Sein damaliger Kumpan wird unter mildernden Umständen verurteilt. Graf Zarucki ist während der Verhandlung anwesend und erkennt, dass der Angeklagte sein Sohn ist. Der Angeklagte erhängt sich in seiner Zelle ohne die Wahrheit über seinen Vater zu kennen. Antek und Manka, inzwischen Herr Antoni und Fräulein Maria, heiraten am Ende des Romans.

Antek ist während der ganzen Geschichte, die etwa 15 Jahre seines Lebens widerspiegelt, hin und her gerissen zwischen dem Leben auf der Straße und dem Leben, wie es die „feinen Herrschaften“ führen - zwischen dem einfachen Leben, dem Alkoholtrinken, Freunde treffen, Stehlen, Prügeln, Unbesorgt sein und dem geordneten Leben, in dem man viel Wissen anhäuft und einen anständigen Beruf ausübt, sich vornehm kleidet und redet. Er wird letztendlich zu einem der „feinen Herren“, verleugnet zeitweise sein altes Leben und seine Herkunft. Diese Auseinandersetzung mit den beiden Lebensformen ist für Antek ein Kampf, den er immer wieder aufs Neue besiegen muss. Auch Manka schafft den „Absprung“ von der Straße, sie wird eine junge Frau, die Gutes tut.

Den beiden „Straßenkindern“ ist es gelungen, das Leben auf der Straße zu beenden.

Am Ende des Romans wird jedoch auch die Kehrseite gezeigt. Anteks Vater erinnert sich, dass er sich früher, als er Kind war, für Gerechtigkeit einsetzte und ungerechte Kinder, die Böses taten, prügelte. Aus einem anständigen Kind ist ein Säufer geworden, der dem Untergang verurteilt ist.

2.6 Übersicht „Straßenkinder“ in Deutschland im Bezug zum Werk

Um nun einen Überblick über die Lage von „Straßenkindern“ in Deutschland zu geben, folgen genauere Beschreibungen und Definitionen. Im direkten Anschluss an die Definitionen wird ein Bezug zu den „Straßenkindern“ aus Korczaks Roman hergestellt.

2.6.1 Begriffsbestimmung: Was bedeutet der Begriff „Straßenkind“ in der Bundesrepublik Deutschland?

Angela Romahn geht in ihrem Buch „Strassenkinder (!) in der Bundesrepublik Deutschland - Beweggründe - Straßenkarrieren - Jugendhilfe“ zunächst auf den Begriff „Straßenkind“ ein. Sie behauptet, dass das „Straßenkind“ ein reiner Pressebegriff ist, „der im Zusammenhang mit der Situation in der Dritten Welt entstanden ist und mit der deutschen Realität wenig zu tun hat“ (2000, S. 9f.). Laut Romahn fördere der Oberbegriff „Straßenkind“ im Gegensatz zu Begriffen, wie „Ausreißer“, „Trebergänger“ oder „Aussteiger“ „ [...] eine oberflächliche Betrachtungsweise sowie die Vorstellung von einem Idealtypus“ (dies., S. 9). Sie kritisiert weiter, dass Übergänge, individuelle Ausgestaltungen und graduelle Unterschiede von Straßenkarrieren dabei unbeachtet bleiben, wenn losgelöst aus dem Kontext der Betroffenen der Begriff „Straßenkind“ erscheine (vgl. ebd.). Das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) behauptet, dass „ 'Straßenkinder' keineswegs nur ein Medienphänomen [seien] [...], sondern aus der Sicht der Expertinnen13 durchaus eine - allerdings sehr vielfältige und differenzierte - Realität" (1995, S. 138 Hervorheb. im Original).

Bei dem Versuch der Klassifizierung des Begriffes „Straßenkind“ nennt Romahn drei Gruppen von Kindern und Jugendlichen, für welche die Straße eine große Bedeutung in ihrem Leben besitzt (vgl. DJI 1995 und IfSA 1996, zit. n. Romahn 2000, S. 10f.). Die erste von Romahn genannte Gruppe beschreibt Kinder und Jugendliche, die sich tagsüber auf die Straße flüchten, abends jedoch nach Hause kehren und dort schlafen. Zu einem endgültigen Bruch zwischen Minderjährigem und Erziehungsberechtigten ist es noch nicht gekommen. Diese Situation bezeichnet die Autorin als mögliche vorübergehende Phase (vgl. 2000, S. 10), „denn die Lage zuhause wird immer unerträglicher und das Kind verläßt (!) irgendwann endgültig die Familie“ (dies., S. 10f.). Die zweite Kategorie umfasst all jene Kinder und Jugendliche, die aufgrund des bereits abgebrochenen familiären Kontakts bei Freunden aus dem Milieu, der sogenannten Ersatzfamilie, unterkommen. Auch diese Situation wird als provisorisch bezeichnet, da Beziehungen zwischen „Straßenkindern“ oft als unzuverlässig wahrgenommen werden (vgl. dies., S.11). Kinder und Jugendliche, welche komplett ausgegrenzt sind und ganz auf der Straße leben, bilden die dritte Kategorie (vgl. ebd.). „Für sie ist die Straße der vorläufige Endpunkt einer langen Kette von mißlungenen (!) Integrationsversuchen“ (IfSA 1996, zit. n. Romahn 2000, S. 11). Romahn hält fest, dass der Begriff „Straßenkind“ hauptsächlich für die Kinder und Jugendlichen, die der dritten Kategorie angehören, geeignet zu sein scheint (vgl. 2000, S. 11).

Markus Heinrich Seidel formuliert in seinem Buch „Straßenkinder in Deutschland - Schicksale, die es nicht geben dürfte“ folgenden Definitionsvorschlag:

„Mit 'Straßenkindern in Deutschland' sind all diejenigen gemeint, die minderjährig sind und sich ohne offizielle Erlaubnis (Vormund) für einen nicht absehbaren Zeitraum abseits ihres gemeldeten Wohnsitzes aufhalten und faktisch obdachlos sind“ (1996, S. 36).

Er erweitert seinen Definitionsvorschlag um weitere Aspekte und weist auf die Randunschärfen seiner Definition hin. Nicht zu der oben aufgeführten Definition hinzugezählt werden dürfen Jugendliche, die sich nur tagsüber auf der Straße aufhalten und nachts zu Hause schlafen. Laut Seidel sei diese Gruppe zahlenmäßig nicht zu unterschätzen. Zu einer räumlichen Trennung zwischen Bezugspersonen und Minderjährigem sei es (noch) nicht gekommen; die familiäre Bindung sei zumindest noch in Resten vorhanden. Ein weiteres Augenmerk legt Seidel auf „Kurzzeitausreißer“, die ebenso nicht der definierten Gruppe angehören. Die Intention des Weglaufens von Zuhause zielt bei dieser Gruppe, so Seidel, beispielsweise auf das Ausüben eines gewissen Drucks auf Bezugspersonen ab. Des Weiteren postuliert Seidel, dass die Restriktion auf die Gruppe der Minderjährigen, Hilfseinrichtungen und Projekte nicht davon abhalten soll, „auch für 'überalterte Straßenkinder' aktiv zu werden“ (Seidel 1996, S. 37). In diesem Falle müsse, so Seidel, von jungen erwachsenen Obdachlosen gesprochen werden (vgl. ebd.).

Das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) hält in seiner Studie fest, dass es unter den Experten keine einheitliche Definition des Begriffs „Straßenkind“ gibt. Es wurden allerdings in wechselnder und umfassender Kombination folgende vier Merkmale für die Bezeichnung von „Straßenkindern“ genannt (vgl. 1995, S. 138).

1. Eine „weitgehende Abkehr von gesellschaftlich vorgesehenen Sozialisationsinstanzen, wie Familie oder ersatzweise Jugendhilfe­Einrichtungen, sowie von Schule und Ausbildung“ (ebd.).
2. Eine „Hinwendung zur Straße, die zur wesentlichen oder auch einzigen Sozialisationsinstanz und zum Lebensmittelpunkt wird“ (ebd.).
3. Eine „Hinwendung zu Gelderwerb auf der Straße durch Vorwegnahme von abweichendem, teilweise delinquenten Erwachsenenverhaltens, wie Betteln, Raub, Prostitution, Drogenhandel“ (ebd.).
4. Eine „faktische Obdachlosigkeit“ (ebd.).

Markus Heinrich Seidel weist auf die dennoch bestehenden Lücken der Kriterienliste hin. So findet „das 15-jährige Mädchen, das länger als ein Jahr vom Abbruchhaus aus die Realschule besucht und von Schulfreunden mit Nahrungsmitteln und Kleidung versorgt wird“ (1996, S. 35), in der aufgezeigten Merkmalliste keinerlei Beachtung. Zudem kritisiert er, dass keine Altersabgrenzung vorgenommen wurde (vgl. ebd.).

Das Institut für Soziale Arbeit (IfSA) bevorzugt „die Formulierung 'Kinder und Jugendliche in besonderen Problemlagen' als inhaltlich besser differenziertes Pendant zu 'Straßenkindern', denn nicht alle 'Straßenkinder' leben auf der Straße“ (IfSA 1996 zit. n. Romahn 2000, S. 12). Die Verwendung des Begriffs „Straßenkind“ müsse für den Benutzer unter Berücksichtigung zweier Richtlinien vorgenommen werden. Einerseits müssen sich die Benutzer darüber im Klaren sein, „daß (!) der Begriff ein bestimmtes Problem fokussiert, jedoch keineswegs mit einem festgelegten Personentypus assoziierbar ist“ (Romahn 2000, S. 13). Andererseits wird eine inhaltliche Differenzierung des Wortgebrauchs notwendig, „um der Verwendung des Begriffes im Sinne einer 'catch-all'-Kategorie entgegenzuwirken14 “ (ebd.). Der Oberbegriff „Straßenkind“ lässt sich laut dem IfSA, Stand 1996, in drei unterschiedliche Untergruppen einteilen (IfSA, zit. n. Romahn 2000, S. 13).

1. „Die Ausgegrenzten“: Bei dieser Gruppe von Kindern und Jugendlichen handelt es sich um jene, „die von zu Hause oder aus Einrichtungen geflohen sind oder aus der elterlichen Wohnung rausgeschmissen wurden“ (Romahn 2000, S. 13). Die Straße stellt für sie den „vorläufigen Endpunkt einer langen Kette von mißlungenen (!) Integrationsversuchen [dar]“ (ebd.). Sie halten sich in Milieus auf, „die durch minimale Integrationserwartungen charakterisiert sind“ (ebd.). Aufgrund der Intention von Entfernung der problematisch verlaufenden Sozialisationserfahrungen in Schule und Elternhaus, bewegen sich die Kinder und Jugendlichen über länger andauernde Zeit am Rande von oder in subkulturellen Kontexten (vgl. dies., S. 14). Minderjährige, unbegleitete Asylbewerber oder Flüchtlinge, die aufgrund ihrer individuellen Lebensumstände keine soziale Beziehung mehr haben, zählen ebenso zu der Gruppe der „Ausgegrenzten“ (vgl. ebd.).

2. „Die Auffälligen“: Das Verhalten dieser Gruppe von Kindern und Jugendlichen ist gekennzeichnet durch auffälliges Benehmen oder eindringliches Bettelverhalten. Oft wird die Straße von den „Auffälligen“ als Ort der Selbstinszenierung bzw. Identitätsfindung genutzt (vgl. Rolli 1998, zit. n. Romahn 2000, S. 14).

3. „Die Gefährdeten“: Für die Gruppe der „Gefährdeten“ stellt die Straße eine Art Zufluchtsort dar. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen wollen sich der elterlichen Obhut entziehen, haben sich aber noch nicht vollends von den Erziehungsberechtigten abgekapselt. Aufgrund dieses Verhaltens der Kinder und Jugendlichen besteht die Gefahr, dass sie sich entschlossen von Elternhaus und Schule distanzieren und von diesen marginalisiert werden. Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen aus der Gruppe der „Gefährdeten“ stammen aus sozial schwachen Familien und sind insbesondere in den Brennpunkten der Städte zu lokalisieren (vgl. Romahn 2000, S. 14).

Eine weitere Einteilung in drei Unterkategorien, bei welchen die Straße im Mittelpunkt steht, wurde bereits 1981 von Jordan und Trauernicht vorgenommen. Sie unterscheiden wie folgt:

1. „Ausreißer“: Bei der Gruppe der „Ausreißer“ laufen die Kinder und Jugendlichen aufgrund einer akuten Konfliktsituation von zu Hause weg und halten sich vorübergehend nur kurz auf der Straße auf (vgl. 1981, S. 18). Die bereits definierte Gruppe „Die Gefährdeten“, vom IfSA (1996) deklariert, kann zu der Gruppe der „Ausreißer“ hinzugezählt werden.

2. „Treber“: Diese Gruppe gleicht der bereits aufgeführten Gruppe der „Ausgegrenzten“. Die Gruppe umfasst Kinder und Jugendliche, „die aus massiven Konfliktlagen heraus aus den ihr Leben bestimmenden Sozialisationsinstanzen ausbrechen und in der Regel ohne festen Wohnsitz und regelmäßige Einkünfte eine häufig illegale Existenz in subkulturellen Lebenskontexten führen“ (dies., S. 19).

3. „Aussteiger“: Bei der Gruppe der „Aussteiger“ kommt es zumeist zu einem Bruch mit ihrem Herkunftsmilieu. Die Anforderungen und herrschenden Normen unter anderem von Sozialisationsträgern werden „durch Leistungsverweigerung, durch Rückzug, Desinteresse und Indifferenz“ (ebd.) nicht erfüllt (vgl. ebd.).

Jordan und Trauernicht betonen die Gemeinsamkeiten, die alle drei verschiedenen Subgruppen haben. Und zwar wirkt eine „[...] irritierende bzw. frustrierende Zukunftsperspektive[n] (z.B. erhöhte Leistungskonkurrenz, Jugendarbeitslosigkeit), Leistungsverweigerungen, Regelverletzungen und (erfolgreich) praktizierte Modelle alternativer Lebensorganisation motiv-und legitimationsschöpfend [...]“ (dies., S. 20).

Der Grund für die Überarbeitung der alten Begriffe von Jordan und Trauernicht haben laut Romahn verschiedene Gründe. Sie zitiert aus einem Beitrag zur Jugendhilfe von der Anlaufstelle für Straßenkids „Freezone“, indem sie sagt: „Die Schwäche liegt vor allem darin begründet, daß (!) man über ihre Theorie die Lebenswelt der Jugendlichen nicht zu fassen bekommt, [...] [und] der Karriereverlauf, die Ein- und Ausstiegsmuster nicht deutlich genug aus dem Konzept hervorgehen“ (Beiträge zur Jugendhilfe, „Freezone“ 1998, zit. n. Romahn 2000, S. 15f.). Die Begriffsbestimmung von Jordan und Trauernicht sei nicht mehr zeitgemäß, da in der Literatur um 1995 der Blickwinkel mehr auf den Verlauf der Straßenkarrieren gerichtet wurde (vgl. Britten 1995, S. 7).

Romahn verweist auf die allgemeine Gesetzeslage und insbesondere auf das Kinder- und Jugendhilfegesetz (Achtes Buch Sozialgesetzbuch), 8. Auflage, August 1997. Dort steht in § 42 Abs. 2 KJHG geschrieben, dass jedes Kind ein Recht auf Unterbringung hat. Weiter heißt es in § 7 Abs. 1 KJHG, dass Kinder illegal auf der Straße leben und damit Straftaten begehen. Aufgrund der Tatsache, dass jeder junge Mensch „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit [hat]“ (Kinder- und Jugendhilfegesetz, 8. Auflage, 1997, zit. n. Romahn 2000, S. 19), „ergibt sich in Bezug auf Minderjährige die Verpflichtung des Jugendamtes zur Hilfestellung“ (Romahn 2000, S. 19). Den Eltern bzw. den Personensorgeberechtigten kommt durch die Erziehungspflicht (§ 1 Abs. 2 KJHG) nach § 1631 Abs. 1 BGB eine tragende Rolle zu, denn sie sind „juristisch verpflichtet, den Aufenthaltsort bzw. den Wohnort ihrer Kinder zu bestimmen“15 (dies. S. 19f.). Romahn folgert daraus, „daß (!) die Kinder und Jugendlichen, die auf der Straße sind, dort illegal leben, da sie gegen das Aufenthaltsbestimmungsrecht ihrer Personensorgeberechtigten verstoßen“ (dies., S. 20).

Im Vergleich hierzu folgt nun eine Zuordnung der Hauptfiguren Antek und Manka aus dem Roman „Kinder der Straße“ in eine der aufgeführten Kategorien.

Laut Romahns ersten Unterteilung in drei Gruppen, für welche die Straße eine große Bedeutung hat, ist Antek in die erste Gruppe, derjenigen Kinder und Jugendlichen einzuteilen, die nachts zuhause schlafen, sich jedoch tagsüber auf der Straße aufhalten. Manka hingegen ist der zweiten Kategorie zuzuordnen, in welcher die Kinder und Jugendlichen zu ihrer Herkunftsfamilie keinen Kontakt haben, allerdings bei einer Ersatzfamilie unterkommen.

[...]


1 Geboren als Henryk Goldszmit. Im Verlauf der Arbeit werde ich stets den Namen Janusz Korczak verwenden, da er weltweit unter diesem Namen publizierte und auch rezipiert wurde.

2 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „Straßenkind" ausschließlich in Anführungszeichen aufgeführt (siehe Kapitel 2.6.1 Begriffsbestimmung von „Straßenkindern").

3 Es handelt sich um 16 Kriterien, auf die das Werk „Kinder der Straße" und die Situation von „Straßenkindern" in Deutschland hin untersucht werden. Die Entscheidung für die 16 Kriterien erfolgte anhand der Literaturrecherche.

4 Für eine bessere Lesbarkeit wird innerhalb der Arbeit die neutrale Form verwendet, um damit gleichermaßen Frauen und Männer (Mädchen und Jungen) zu berücksichtigen.

5 vermutlich erkrankte er an einer Psychose

6 In einer "Irrenanstalt"

7 Montaigne, Locke, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel

8 Mehrwöchige Ferienfreizeiten für sozialschwache und kranke Kinder auf dem Lande

9 Ostpolen unterstand der Zwangsherrschaft durch das zaristische Russland

10 Unter „Hygiene" verstand man damals das gesamte „Gesundheitswesen" (Hygiene im engeren Sinne, Gesundheitsvorsorge, Fürsorge, Seuchenprophylaxe etc.).

11 Anmerkung des Autors: „Verfrühte Geschlechtsentwicklung" (Korczak 1999a, S. 209).

12 Die Überschrift wurde von Korczak bewusst gewählt. „Streiflichter" hieß ebenso eine „Rubrik im [damaligen] Warschauer Kurier, wo hingebungsvoll über Lebensläufe ausländischer Philharmonie­Solisten und über Künstler-Jubiläen berichtet [wurde]" (Korczak 2002, S. 137); erschienen ist dieser Artikel in der radikalen-sozialen Zeitung „Glos". Für eine bessere Lesbarkeit wird innerhalb der Arbeit (handelt es sich nicht um ein wörtliches Zitat) die männliche Form verwendet. Dies bezieht sich im weiteren Verlauf auf alle Bezeichnungen, die eine Gruppe von Menschen umfassen. Wenn nicht ausschließlich von der weiblichen Form die Rede ist, sind mit dem Begriff sowohl die männlichen, als auch die weiblichen Personen gemeint.

14 Anmerkung der Autorin: „Bei einer 'catch-all'- Kategorie ist der empirische Gehalt sehr eingeschränkt. Deshalb kann sie mit beliebigem Inhalt gefüllt werden" (Romahn 200, S. 13).

15 Anm. der Autorin: „§ 1631 Abs. 1 BGB: 'Die Personensorge umfaßt (!) insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen'" (Romahn 2000, S. 20).

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Janusz Korczaks Roman „Kinder der Straße“ – gelesen als „Straßenkinder-Report“
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
2,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
105
Katalognummer
V265348
ISBN (eBook)
9783656549505
ISBN (Buch)
9783656548652
Dateigröße
1585 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
janusz, korczaks, roman, kinder, straße, straßenkinder-report
Arbeit zitieren
Anna Ehlting (Autor:in), 2013, Janusz Korczaks Roman „Kinder der Straße“ – gelesen als „Straßenkinder-Report“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265348

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