Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Thematische Einführung und Zielformulierung
2. Die universale Hermeneutik nach Hans-Georg Gadamer
2.1 Hans-Georg Gadamer
2.2 Gadamers Hauptwerk: Wahrheit und Methode
2.3 Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik
3. Zentrale Begriffe zur Erschließung Gadamers universaler Hermeneutik
3.1 Wirkungsgeschichte
3.2 Zeitenabstand
3.3 Horizont
3.4 Gespräch
3.5 Vorurteil
4. Gadamers Auffassung des hermeneutischen Zirkels
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
6.1 Bibliografien
6.2 Online
1. Thematische Einführung und Zielformulierung
Seit Beginn der Menschheitsgeschichte liegt es in der Natur des Menschen, sich in seiner Umwelt zu orientieren und zurechtzufinden. Um dies zu gewährleisten, muss der Mensch seine Umwelt verstehen und Dinge richtig deuten. Dieser Gedanke betrifft aber nicht nur das Verstehen der Umwelt als Ganzes, sondern auch jedes kleinste Teil in ihr, welches ein Verstehen bedingt. Mit diesem Verstehen und Auslegen von Dingen befasst sich die Hermeneutik. Ursprünglich nur auf das Verstehen und Interpretieren von Texten bezogen, erfährt sie in ihrer langen Entwicklungsgeschichte über mehrere Epochen einen universalen Charakter und erlaubt, die Methode des Verstehens und Auslegens auf sämtliche, dem Menschen entsprungene geistige Werke auszuweiten. Hierzu sieht man allerdings ein Vorverständnis des Interpreten als notwendig, um das zu Interpretierende überhaupt erst einmal aufnehmen und einordnen zu können. Das Vorverständnis als notwendige Variable eines Verstehensprozesses wird besonders in der Hermeneutik von Hans-Georg-Gadamer erneut aufgefasst und der klassisch hermeneutische Ansatz auf einen Universalanspruch erweitert. Im Zentrum der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts steht damit nicht mehr nur die Auslegung und das Verstehen von schöpferischen Werken sondern der Blick wendet sich auf den Verstehenden selbst.
Das Ziel dieser Arbeit ist es einen biografischen Überblick Hans-Georg Gadamers zu geben und dessen Hauptwerk Wahrheit und Methode zu beleuchten. Anschließend widmet sich diese Arbeit Gadamers Sicht auf den Universalitätsanspruch der philosophischen Hermeneutik. Auf dem Weg eines umfassenden Verständnisses Gadamers Betrachtung des Verstehensprozesses wird daraufhin der Begriff der Wirkungsgeschichte und den damit eng verbundenen Zeitenabstand und Horizont diskutiert. Anschließend wird die Betrachtung auf Grundlage des bis dahin Erarbeiteten um die Begriffe Gespräch und Vorurteil erweitert. Im darauffolgenden Kapitel mündet die Fokussierung auf die für Gadamer bedeutenden Begriffe in der Darlegung des hermeneutischen Verstehensprozesses. In diesem Zusammenhang wird das Schlaglicht auf Gadamers Auffassung des hermeneutischen Zirkels werfen. Ihren Abschluss findet die Arbeit in einem zusammenfassenden Fazit.
2. Die universale Hermeneutik nach Hans-Georg Gadamer
2.1 Hans-Georg Gadamer
Hans-Georg Gadamer wurde 1900 als Sohn eines angesehenen Professors der pharmazeutischen Chemie in Marburg geboren. Früh widmete sich Gadamer der Literatur, beschäftige sich allerdings eher mit klassischer Lyrik als Philosophie. In den Jahren 1918 bis 1922 studierte Gadamer zunächst in Breslau Sankrit, Kunstgeschichte, Psychologie, Geschichte, Musikwissenschaft und Orientalistik und später Philosophie und Kunstgeschichte in Marburg und München.1 Indem er sich bereits früh Kants Kritik einer reinen Vernunft - eine Idee, die auch er später in seiner Sichtweise der Vorurteile innerhalb der Hermeneutik übernimmt - anliest, kommt der junge Gadamer in einen intensiveren Kontakt mit der Philosophie.2 Dies sollte nicht seine letzte Auseinandersetzung mit den Werken Kants bleiben, so studierte Gadamer unter anderem an der Marburger Universität, welche als eine der bedeutendsten Kant-Schulen zu dieser Zeit zählte. Nach vierjährigem Studium promovierte Gadamer an eben jener Universität bei dem angesehen Neukantianer Paul Natorp. Seine Dissertation widmete er Platon und veröffentlichte sein Werk 1922 unter dem Titel Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen. Die Thematik seiner Arbeit zeugte bereits früh davon, dass sich Gadamer von der naturwissenschaftlichen Perspektive einer kantischen Ethik distanzierte. Immerhin ist die Philosophie bei Platon dicht mit Dichtung und dem Musischem verbunden, Schwerpunkten denen sich Gadamer auch in seinem Hauptwerk widmen wird.3
In den Jahren 1923 bis 1928 studierte Gadamer in Marburg unter Martin Heidegger, welchem er darüber hinaus als Tutor assistierte. Mithilfe seines Lehrmeisters reichte Gadamer 1928 seine Habilitationsschrift mit dem Titel Interpretationen des platonischen Philebus ein, in der er sich mit Platos dialektischer Ethik beschäftigte.4 Diese Schrift veröffentlichte Gadamer zwei Jahre später und sie sollte bis zur Veröffentlichung seines Hauptwerkes seine letzte Buchpublikation bleiben. In den folgenden Jahren arbeitete Gadamer als Privatdozent und setzte nach dem Weggang Heideggers aus Marburg, die Lehre seines Lehrmeisters fort.
Während der Nazi-Zeit trat Gadamer weder der NSDAP bei, noch galt er als parteinah. Diese Unparteilichkeit verhalf ihm 1939 zu seiner Professur an der Leipziger Universität. 1945 wurde Gadamer zum Rektor der Universität berufen. Vier Jahre später zog es Gadamer nach Heidelberg, wo er die Nachfolge Karl Jaspers’ antritt, einem bedeutenden Vertreter der Existenzphilosophie. 1953 gehört Gadamer zu den Gründern der Philosophischen Rundschau, welche sich Neupublikationen des Faches widmete und später eine der einflussreichsten deutschen philosophischen Zeitschriften werden sollte.
Eine umfassendere Bekanntheit erhielt Gadamer erst mit der Veröffentlichung seines Hauptwerkes Wahrheit und Methode. Zehn Jahre Arbeit sollten vergehen bis Gadamer seinen über 500-Seiten starken Entwurf einer philosophischen Hermeneutik vorlegte. Der Veröffentlichung folgten einigeöffentliche Debatten, wobei diejenigen mit Betti, Derrida und Habermas zu den bekanntesten gehören.5 Insbesondere während der Studentenunruhen zum Ende der 1960 Jahre setzten sich die Debattierenden dafür ein, Gadamers hermeneutisches Konzept um ideologiekritische und psychoanalytische Positionen zu ergänzen. Für sein Schaffen wurde Gadamer mit einer Vielzahl an Auszeichnungen, Preisen und Würden bedacht. Unter anderem erhielt er den Pour le M é rite -Orden, das Bundesverdienstkreuz,sowie die Reuchlin-, Sigmund-Freud-, Hegel und Jasper-Preise. Gadamer verstarb mit 102 Jahren in Heidelberg.6
2.2 Gadamers Hauptwerk: Wahrheit und Methode
In seinem 1960 erschienenen Hauptwerk beschäftigt sich Gadamer mit der Frage, inwieweit uns die Hermeneutik bei der Lösung von Problemen zu helfen vermag. Dazu nimmt er eine Dreiteilung vor, wobei er die ersten beiden Teile den Fragen widmet, wie Kunstwerke zu verstehen sind (Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst) und wie aus geisteswissenschaftlicher Perspektive Geschichte interpretiert werden muss (Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften). Der dritte Teil seines Werkes (Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache) beschäftigt sich mit der Aufgabe der Hermeneutik im 20. Jahrhundert; Der Frage danach, wie wir die Welt zu verstehen haben. Dazu rückt Gadamer einen Aspekt in den Mittelpunkt seines Werkes, der den Universalitätsanspruch seines hermeneutischen Ansatzes begründet. Darauf soll im nächsten Kapitel vertieft eingegangen werden.7
Ursprünglich hätte sein Werk unter dem aufschlussreichen Titel Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik erscheinen sollen. Jedoch konnte sich Gadamers Verleger weder mit dem sperrigen Titel anfreunden, noch nachvollziehen, was damit gemeint sei. Die Umformulierung in Wahrheit und Methode hatte dagegen irreleitende, in gewisser Hinsicht gar provozierende Züge. Denn wer in dem Buch nach einer Methodik zur Wahrheitsfindung sucht, wird am Ende enttäuscht. Das Buch ist das Gegenteil einer kausalen und damit natur- oder geisteswissenschaftlichen Erklärung der Welt. Anders als andere hermeneutische Ansätze, in denen Hermeneutik als Methodologie verstanden wird, ist Gadamers „eigentlicher Anspruch [...] ein philosophischer: Nicht was wir tun, nicht, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage. Insofern ist von den Methoden der Geisteswissenschaften hier überhaupt nicht die Rede.“ 8
Gadamer sieht in der Hermeneutik keine Kunstlehre des Verstehens. Ihm geht es nicht darum Kunstregeln zu formulieren, mit deren Hilfe sich die Methodologie der Geisteswissenschaften beschreiben oder leiten lässt. In seiner hermeneutischen Überlegung sieht Gadamer etwas der methodologischen Wissenschaft Vorausgelagertem. Etwas, das eben jene erst ermöglicht, also den „Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet.“9 Und das bezeichnet Gadamer als diejenigen Bedingungen, die das Verstehen erst ermöglichen.10
Gadamer rückt damit die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt. Nur wer sich in andere Menschen hineinversetzt, seiner Intuition folgt, über Mensch- und Weltkenntnis verfügt und dabei solidarisch, geduldig und vorsichtig vorgeht, versteht die Kultur und die Menschen, die ihn umgeben. Und obwohl er sich von Diltheys hermeneutischen Ansatzes distanziert, bei dem die Hermeneutik eine Methode der Geistes- und Kulturwissenschaften ist, mit der man das Verstehen objektivieren und verallgemeinern könne,11 stellt er klar, dass er die Bedeutung der Methode in den Wissenschaften in keiner Weise diskreditieren will. Ganz im Gegenteil; Er erachtet methodologisches Vorgehen als unabdingbare Voraussetzung legitimer wissenschaftlicher Arbeit.12
2.3 Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik
Kurz, prägnant und aussagekräftig benennt Gadamer das Kernstück seines Ansatzes einer universalen Hermeneutik:
„Was verstanden werden kann, ist Sprache“ 13
Der Universalitätsanspruch in Wahrheit und Methode liegt in diesem einen Aspekt begründet und findet im dritten Teil des über 500-Seiten starken Werkes Beachtung. Doch warum ist nun genau dieser Aspekt derjenige, der dem universalen Anspruch der Hermeneutik gerecht wird? Nicht zuletzt, weil wir alle von der Sprache betroffen sind.14 Wir stehen in ihr und weder können wir uns ihrer entziehen, noch kann unsere sprachliche Erfahrung jemals aufhören.15 Wir erfahren unsere Umwelt, indem wir sie versprachlichen. Zwar ist die Sprache bei Gadamer ein allumfassender Begriff, doch so meint sie im Kontext einer universalen Hermeneutik nicht, dass wahrhaftig alles verstanden und versprachlicht werden kann. Mit der Universalität ist bei Gadamer vielmehr das vom Menschen überhaupt Aussagbare gemeint. Es ist schon allein der menschlichen Endlichkeit geschuldet, dass wir niemals dazu in der Lage sein werden, alles Auszusagende zu versprachlichen und damit zu verstehen.16 Insofern meint Versprachlichung bei Gadamer immer Verstehen. Wenn er von sprachlicher Überlieferung spricht, meint er damit die Sprache als Charakter des Verstehens derüberlieferung:17 „Denn sprachlich und damit verständlich ist das menschliche Weltverhältnis schlechthin und von Grund aus.“18 Indem Gadamer die Sprache in den Kern der Hermeneutik rückt, kann er zum einen argumentieren, dass er damit nicht nur einen falschem Methodologismus aus dem Weg geht, wie er im vorigen Kapitel beschrieben wird. Sondern sich darüber hinaus einem ideologischen Spiritualismus abwendet, der sich der Unendlichkeitsmetaphysik verschreibt und damit wieder den Menschen in Anbetracht seiner Endlichkeit in das rechte Licht rückt, wie es auch Heidegger tut.19
Doch anders als bei seinem Lehrmeister, bei dem der Universalitätsanspruch mit einer ontologischen Wende begründet ist, die den Mensch zum Ausgangspunkt hermeneutischer Betrachtung macht, spitzt Gadamer diese Betrachtung weiter zu, wenn er die Sprache in den Mittelpunkt rückt. Gadamers ontologische Wende widmet sich damit „einer ontologisch- phänomenologischen Deskription für jedes Phänomen des Verstehens, daher beschränkt sie [die Hermeneutik] sich nicht mehr auf die methodische Kunst der korrekten Auslegung.“20
Im hermeneutischen Unterfangen ist es also die Aufgabe der Sprache ein universales Weltverständnis zu ermöglichen, das der evolutionären Entwicklung ihrer selbst und der Entwicklung menschlicher Symbolbereiche gerecht wird. Gadamer zufolge müsse nicht nur das eigene Leben, sondern auch das soziale Umfeld des Menschen, die ihn beeinflussende Kultur und gar der Kosmos berücksichtigt werden, in dem er eingebettet ist.21
[...]
1 Vgl. Danzer, 2011, S. 144.
2 Vgl. Tietz, 2005, S. 7.
3 Vgl. Ebd.
4 Vgl. Tietz, 2005, S. 21.
5 Vgl. Grondin, 2000, S. 13ff.
6 Vgl. Danzer, 2011, S. 146f.
7 Vgl. Schönherr-Mann, 2010, http://www.goethe.de/ges/phi/prt/de5483251.htm [22.2.2014, 19:00]
8 Gadamer, 1975, S. XVI.
9 Gadamer, 1975, S. XXIX.
10 Vgl. Ebd., S. 279.
11 Vgl. Danzer, 2011, S. 149.
12 Vgl. Tietz, 2005, S. 29.
13 Gadamer, 1975, S. 450.
14 Vgl. Grondin, 2000, S. 234.
15 Vgl. Choi, 2008, S. 122.
16 Vgl. Grondin, 2000, S. 236.
17 Vgl. Choi, 2008, S. 120.
18 Gadamer, 1975, S. 451.
19 Vgl. Gadamer, 1975, S. 451.
20 Tsai, 2011, S. 27.
21 Vgl. Danzer, 2011, S. 151.