Die Darstellung der (Un-)Menschlichkeit in Herta Müllers Romanen "Herztier" und "Atemschaukel" am Beispiel der Ceauşescu-Diktatur in Rumänien


Hausarbeit, 2014

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Betrachtung der motivischen Hintergründe
2.1. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse: Das Essen und der Hunger als lebenssichernde Kräfte
2.2. Das Angstgefühl: Kollektive Ängste stehen individuellen Befürchtungen gegenüber

3. Die Darstellung der (Un-)Menschlichkeit
3.1. Der Identitätsverlust: Wie Menschen in tierische Verhaltensrollen gedrängt werden
3.2. Die kategoriale Denkweise des Regimes: Der Aufbau einer hierarchischen ‚Menschenordnung‘
3.3. Der Tod: Eine personifizierende Form der Zustandsveränderung im Kampf gegen die Verbrechen der Menschlichkeit

4. Die sprachliche Realisierung der physischen und psychischen Belastungen
4.1. Der fortdauernde Prozess der Verelendung: Die sprachlichen sowie räumlichen Grenzen der rumänischen Stadt- und Dorfbevölkerung
4.2. Die poetische Versinnbildlichung der Ceauşescu-Dikatatur: Die Neologismen Herztier, Hungerengel, Herzschaufel und Atemschaukel in einer sogenannten‚Freund-Feind‘-Beziehung

5. Schluss

6. Literaturverzeichnis
6.1. Primärliteratur
6.2. Sekundärliteratur
6.3. Internetquelle

1. Einleitung

Die Diktatur Ceauşescus ab den 1980-er Jahren des 20. Jahrhunderts wird in der Literatur als eine anachronistische ‚Schreckenszeit‘ dargestellt, in der die Menschen einer ständigen, nicht greifbaren Bedrohung ausgesetzt sind, die auf die Zerstörung des individuellen Charakters und des Selbstbewusstseins zielt (Vgl. Predoiu 2004, S. 129). Die stille Anpassung an das Regime, die Vergegenwärtigung der Überlebensstrategien sowie die Nutzung der Mehrsprachigkeit begleiten die Menschen in ihrem Alltagsleben und schützen sie zugleich vor dem Selbstmord oder dem Irrsinn, die als sogenannte „Endstationen des Lebens im totalitären Rumänien“ (ebd.) angeführt werden. In eine solch multikulturelle Region wird die Autorin Herta Müller hineingeboren, die zum einen „an der Schnittstelle zwischen mehreren Sprachen […] und zum anderen zwischen Dorf und Stadt und später in der Stadt zwischen Leben und Tod“ (Predoiu 2004, S. 8) aufwächst. Der menschenverachtende Umgang mit der rumänischen Bevölkerung sowie die gesellschaftlichen und individuellen Missstände innerhalb der Diktatur versucht Müller in ihren Romanen Herztier und Atemschaukel aufzuzeigen, in dem sie literarische Figuren als sogenanntes ‚Sprachrohr‘ nutzt, um die zu damaliger Zeit tabuisierten Themen wie körperliche Gewalt und psychische Verelendung öffentlich zu diskutieren.

Vor diesem Hintergrund wird die Frage der Arbeit sein, wie Müller das Phänomen der (Un-) Menschlichkeit präsentiert und wie die physischen und psychischen Belastungen sprachlich realisiert werden, denen die Menschen in der Diktatur täglich ausgesetzt sind. Um eine präzise Antwort auf diese Frage zu bekommen, werde ich zunächst die motivischen Hintergründe darlegen, in dem ich auf die Zentralmotive des Essens, des Hungers und der Angst genauer eingehen werde. Danach komme ich auf die Problematik des Identitätsverlustes sowie den Aufbau einer hierarchischen ‚Menschenordnung‘ zu sprechen, um dem Leser einen nachhaltigen Eindruck von Herta Müllers ‚Todesvorstellung‘ zu vermitteln. Da sie den Tod als keinen endgültigen Zustand, sondern lediglich als eine Zustandsveränderung ansieht und diesen mit Hilfe sprachlich-rhetorischer Figuren versucht zu beschreiben, lässt sich vermuten, dass Müller dem Leser nicht nur das menschliche unabdingbare körperliche Elend vor Augen führen will, sondern auch das sich langsam ‚entwickelnde‘ seelische Leid, das in Form einer sogenannten ‚Freund-Feind‘-Beziehung heranreift. Dieses Leid versinnbildlicht sie mit Hilfe diverser Neologismen, die in ihrer einzelnen Wortbedeutung positiv konnotiert sind und erst im Verlauf der Diktatur zu zusammengesetzten Wörtern mutieren, die das bösartige Gedankengut des Regimes wiederspiegeln.

2. Die Betrachtung der motivischen Hintergründe

2.1. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse: Das Essen und der Hunger als lebenssichernde Kräfte

Jeder Organismus benötigt Nahrung um zu überleben und dem ‚tödlichen‘ Hungergefühl zu entfliehen. Das Essen und der Hunger stellen die elementarsten menschlichen Bedürfnisse dar. Aufgrund dessen kann man sagen, dass sich in Herta Müllers beiden Romanen die Menschen durch Essen identifizieren lassen, da ihnen die Nahrung zum einen die nötige Kraft gibt ihren Lebenswillen aufrecht zu erhalten und zum anderen die Möglichkeit bietet ihren ‚individuellen Geschmack in Form von Genuss oder Ekel‘ (Vgl. Metzler 2012, S. 102) auszudrücken. Der persönliche Geschmack gibt den Menschen einen Teil ihrer geraubten Identität zurück und befähigt sie sich von der totalitären Denkweise des Regimes abzugrenzen. Diesen Moment beschreibt Wilko Steffens wie folgt:

„In einem Land, in dem der Diktator die Hungersnot schürt, um die Sorgen und Handlungen der Menschen auf die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu lenken und einzuschränken, wird das Denken automatisch eingeengt“ (Steffens o.J., S. 72).

So wird in dem Roman Herztier das Motiv des Essens aufgegriffen, welches nicht nur den kulinarischen Genuss, sondern auch den menschlichen Ekel wiederspiegeln lässt. Diesen Kontrast gibt Müller am Beispiel der Frauenfiguren Tereza und Lola wieder, die in ihrem Essverhalten nicht unterschiedlicher sein können. Tereza wird dem Leser als eine Arbeitskollegin der Ich-Erzählerin vorgestellt, die zusammen in einer Fabrik arbeiten. Da sie im Gegensatz zu den einfachen Arbeiterinnen die Kleidung, den Schmuck und das Essen aus dem Westen bevorzugt und sich durch die besagten Präferenzen aus der Menschenmasse hervorhebt, ist sie bei den Frauen aus dem Büro nicht sehr beliebt: „Sie dachten: Alles was Tereza [hat], ist eine Flucht wert. […] Kleider aus Griechenland und Frankreich, Schmuck aus der Türkei […] und als Essen hauchdünne Schinken-, Käse.-, Gemüse- und Brotscheiben“ (Müller 2007, S. 117f.). Terezas privilegierter Status löst bei den Fabrikarbeiterinnen Neid aus, da sie lediglich „gelblichen Speck“ (Müller 2007, S. 118) und „hartes Brot“ (ebd.) zu essen haben. In diesem Zusammenhang steht das Brot als Inbegriff des Lebensnotwendigen, da es als Hauptnahrungsmittel die leibliche Versorgung eines jeden Menschen sichert und im Gegensatz zu Früchten in der Natur nicht vorfindlich ist, sondern hergestellt werden muss (Vgl. Metzler 2012, S. 62). Aber auch die in der Natur befindlichen Güter sind rar, da nichts importiert werden kann: „Der Mohn fällt aus, […], der Mais bleibt klein, die Pflaumen sind schon längst geschrumpelt“ (Müller 2007, S. 152). Trotz der allgemeinen Essensknappheit scheint Tereza ihrer Lage nicht bewusst zu sein, da sie an dem Essen ihrer Großmutter stets etwas zu bemängeln hat: „Blumenkohl stinkt, Erbsen und Bohnen, Hühnerleber, Lamm und Hase stinken“ (Müller 2007, S. 153). Diese Situation rührt daher, da Tereza alle Nahrung als befremdlich ansieht, die sie nicht in kleine Würfel schneiden und zu Türmchen zusammenbauen kann, um sie anschließend ‚kleine Soldaten‘ zu nennen. Lüsebrink bezeichnet dieses verklärte Weltbild als Fremdwahrnehmung und beschreibt es wie folgt:

„Wer das Fremde thörigt [sic!] treibt und übt, der lernt das Eigene nicht oder er vergisst es. Sein Gemüth [sic!] wird durch das Ungleiche und Verschiedene zu früh verwirrt und verdunkelt und nach fremden Sitten hingelockt, er nimmt eine fremde Art […] an, und kann die Art und die Liebe des Eigenen […] künftig nicht mehr mit voller Seele erfassen“ (Lüsebrink 2008, S. 84).

Da Tereza keinerlei Vorstellungen hat wie das Essen produziert und zubereitet wird, bevor sie es verspeist, ekelt sie sich vor allem, auch vor sich selbst: „Sie griff in eine Schüssel Himbeeren, ihre Finger wurden rot“ (ebd.). Mit der Farbe rot assoziiert sie das Blut, welches sie an die schwindende Lebensenergie erinnert und sie den bevorstehenden Tod spüren lässt. In einem Brief, den Tereza der Ich-Erzählerin kurz vor ihrem Tod schreibt, versucht sie ihre fremde Art hinter sich zu lassen und zu ihren eigenen Wurzeln zurückzukehren: „Ich atme nur noch wie das Gemüse im Garten. Ich habe eine körperliche Sehnsucht nach dir. Die Liebe zu Tereza ist nachgewachsen“ (Müller 2007, S. 162). Lola hingegen wird dem Leser als eine Studentin vorgestellt, die von einem kleinen ärmlichen Dorf im Süden Rumäniens in die Großstadt zieht und die eine besondere Vorliebe für Innereien hat: „Rinderzungen, Schweinenieren oder die Leber eines Kalbs“ (Müller 2007, S. 19). Während die meisten Menschen von den Kleinigkeiten der geschlachteten Tiere angewidert sind, empfindet sie Lola als alltäglich und lagert sie im Kühlschrank: „Wenn ich den Kühlschrank öffnete, lagen ganz hinten im Fach eine Zunge oder eine Niere. Vom Frost wurde die Zunge trocken, die Niere platzte braun auf“ (Müller 2007, S. 23). Diese Handlung zeigt, dass sie sich mit den Innereien identifizieren kann, da sie glaubt ihr eigenes ‚kaputtes‘ Leben in den zerstörten tierischen Innereien wiederzuerkennen. Dieses Laster versucht Lola zu beseitigen, indem sie den Freitod wählt, da nach ihrer Auffassung nichts menschenunwürdiger und widerlicher sein kann als den Verlust der eigenen Organe zu spüren und wie ein geschlachtetes Tier zu sterben.

Während in Herztier das Essen als erlesenes und sorgfältig ausgewähltes Gut bezeichnet wird, das die höher gestellten Menschen von den einfachen Arbeitern unterscheidet, dient es in dem Roman Atemschaukel einzig und allein dazu das eigene Hungergefühl zu stillen. Da der Lageralltag der Deportierten von einem ständigen Hungergefühl überschattet wird, bezeichnet Müller diesen Zustand als ‚chronischen‘ Hunger. Darunter versteht sie, dass es „einen Hunger [gibt], der [jeden] krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt“ (Müller 2009, S. 24). Durch die klimaxartige Beschreibung des Hungergefühls zeigt die Autorin, dass der Hunger nicht vergänglich ist und sich immer weiter ausbreitet, sofern man ihn mit Nahrung nicht befriedigen kann. Zu welch erschreckenden Taten dies führt, wird anhand des fiktiven Ich-Erzählers Leopold Auberg gezeigt, der im Abfallhaufen hinter der Kantine nach Essen sucht:

„Meine Gier ist roh, meine Hände sind wild. […] Ich schiebe die Kartoffelschalen in den Mund und schließe beide Augen. […] Eine Schale gleich hinter die andere in den Mund geschoben, ohne Lücke wie der Hunger“ (Müller 2009, S. 88f.).

Auch die Planton-Kati, eine irrsinnige Frau, wird in ihrem Handeln von dem Hungergefühl gesteuert und sie sammelt in ihrer Verzweiflung alles auf, was sie an Essbarem auf dem Lagerhof finden kann: „Blüten, Blätter und Samen im Unkraut. Und allerlei Getier, Würmer und Raupen, Maden und Käfer. […] Um im Schneehof des Lagers [sogar] den gefrorenen Kot der Wachhunde“ (Müller 2009, S. 105). Vor diesem Hintergrund lässt sich bereits erahnen, dass die Lagerinsassen ausschließlich von ihren Instinkten geleitet werden und es für sie völlig nichtig ist, was sie essen. Das Essen sichert das Überleben der Deportierten und schützt sie vor dem Verhungern, der häufigsten Todesursache innerhalb des Lagers: „Die Ursache heißt bei jedem anders, aber mit ihr dabei war immer der Hunger“ (Müller 2009, S. 90). Auch wenn der Hunger allgegenwärtig ist und die meisten Opfer fordert, wird er totgeschwiegen, da jeder Mensch in [dem] „Geschmack des Essens“ (Müller 2009, S. 25) eingesperrt ist.

2.2 Das Angstgefühl: Kollektive Ängste stehen individuellen Befürchtungen gegenüber

Beiden literarischen Werken ist gemeinsam, dass Herta Müller den Leser in eine klaustrophobische Schreckenswelt entführt, in der die Protagonisten von ihren Ängsten beherrscht werden. Das Angst nicht gleich Angst bedeutet zeigt die Autorin, indem sie zweierlei Arten von Angstgefühlen aufzeigt: Während sie in Herztier von dem Gefühl der kollektiven Angst spricht, thematisiert sie in Atemschaukel die Angst des Individuums innerhalb des Arbeitslagers. Die Kollektivangst zeigt Müller exemplarisch an der Studentin Lola, die aufgrund eines gemeinschaftlichen Beschlusses nach ihrem vermeintlichen Selbstmord aus der Partei ausgeschlossen und aus der Hochschule zwangsexmatrikuliert wird:

„Der Turnlehrer hob als erster die Hand. Und alle Hände flogen ihm nach. Jeder sah beim Heben des Arms die erhobenen Arme der anderen an. Wenn der eigene Arm noch nicht so hoch wie die anderen in der Luft war, streckte so mancher den Ellbogen noch ein bisschen. Sie hielten die Hände nach oben, bis die Finger müde nach vorne fielen und die Ellbogen schwer nach unten zogen. Sie schauten um sich und stellten, da noch niemand den Arm herunterließ, die Finger wieder gerade und hoben die Ellbogen nach. […] Es war so still zwischen den Händen, sagte jemand im Viereck, dass man hörte, wie der Atem auf dem Holz der Bänke auf und ab ging. Und es blieb so still, bis der Turnlehrer seinen Arm auf das Pult legte und sagte: Wir müssen nicht zählen, selbstverständlich sind alle dafür“ (Müller 2007, S. 35f.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung der (Un-)Menschlichkeit in Herta Müllers Romanen "Herztier" und "Atemschaukel" am Beispiel der Ceauşescu-Diktatur in Rumänien
Hochschule
Universität des Saarlandes
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
20
Katalognummer
V275925
ISBN (eBook)
9783656685456
ISBN (Buch)
9783656685432
Dateigröße
545 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
darstellung, menschlichkeit, herta, müllers, romanen, herztier, atemschaukel, beispiel, ceauşescu-diktatur, rumänien
Arbeit zitieren
Tamara Köstenbach (Autor:in), 2014, Die Darstellung der (Un-)Menschlichkeit in Herta Müllers Romanen "Herztier" und "Atemschaukel" am Beispiel der Ceauşescu-Diktatur in Rumänien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275925

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