Mutismus bei Kindern. Definition, Erscheinungsformen, Ursachen, Diagnostik


Texte Universitaire, 2005

54 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition und Begriffsklärung

3. Erscheinungsformen des Mutismus (Klassifikation)

4. Erscheinungsbild des Mutismus (Symptomatik)
4.1. Das Schweigen - seine Funktion und Wirkung
4.2. Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmale
4.3. Sprachperzeptive und stimmliche Fähigkeiten
4.4. Äußeres Erscheinungsbild (Physische Merkmale)
4.5. Intelligenz

5. Auftreten (Epidemiologie)
5.1. Häufigkeit
5.2. Geschlechterverteilung
5.3. Zeitpunkt des Auftretens

6. Mögliche Ursachen (Ätiologie) und Risikofaktoren
6.1. Psychologische Ursachen
6.2. Organische Faktoren

7. Diagnostik

8. Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)

A. Anhang

1. Einleitung

Mutismus ist noch immer nur wenigen Menschen ein Begriff. Immer wieder werden Menschen mit Mutismus als dickköpfig und stur bezeichnet. Ihr Schweigen wird als Arbeitsverweigerung gedeutet. Und dies nicht nur von Laien, sondern auch von Ärzten[1], Psychologen und Pädagogen, denen dieses Störungsbild ein Begriff sein sollte und von denen Eltern Hilfe erwarten. Im Kindergartenalter wird den Eltern meist vermittelt: „Das legt sich schon wieder”. Dies kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Denn je länger eine Person schweigt, desto mehr manifestiert sich dieses Schweigen.

Mit meiner Arbeit möchte ich dazu beitragen, dass Mutismus bekannter wird und somit Verständnis für diese Kinder wecken. Das einzige deutschsprachige Werk, das sich ausführlich diesem Thema widmet, stammt von DOBSLAFF (2005). DOBSLAFF bezieht sich darin auf Kinder, die ausschließlich in der Schule schweigen. Er vertritt offensichtlich einen weit gefassten Begriff von Mutismus. So bezeichnet er beispielsweise auch Schüler, die nur bei bestimmten Themen oder phasenweise schweigen, als Schulmutisten. In anderer Literatur habe ich einen derart weit gefassten Mutismusbegriff nicht gefunden.

Einleitend werde ich mich nach einer Definition des Störungsbildes vor allem mit den verschiedenen Formen, Symptomen und möglichen Ursachen des Mutismus beschäftigen, um das Störungsbild möglichst genau darzustellen und dem Leser einen verstehenden Umgang mit Betroffenen zu ermöglichen. Anschließend werden wichtige Kriterien für die Diagnostik dargestellt, wobei auch auf die Differentialdiagnostik eingegangen werden soll, um den Mutismus von anderen Störungsbildern abzugrenzen. Wichtig erschienen mir hier im Hinblick auf eine (schulische) Förderung auch förderdiagnostische Fragestellungen. Ich werde mich in meinen Ausführungen vorrangig auf den selektiven Mutismus beziehen, da nahezu ausschließlich diese Form des Mutismus im Schulalter auftritt.

In vielen Quellen, vor allem in älterer Literatur, findet man noch den Begriff „elektiver Mutismus”. Er wurde erstmals 1934 von TRAMER verwendet, und gerät heute immer mehr in den Hintergrund, da er eine freiwillige Wahl des Schweigens vermuten lässt. Heute geht man jedoch nicht mehr davon aus, dass ein Kind sich freiwillig dazu entscheidet zu schweigen. Der Begriff selektiv wurde gewählt, da diese Kinder nur in bestimmten Situationen schweigen (vgl. BAHR 2004, 15). „In den USA hat die American Pychiatric Association mit der vierten Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) aus dem Jahr 1994 die Bezeichnung ’elective mutism’ offiziell in ’selective mutism’ geändert”[2] (BAHR 1996, 24), während nach der ICD-10-GM (Internationale Klassifikation psychischer Störungen - Version 2004) noch die Bezeichnung elektiver Mutismus (F94.0) vorgesehen ist. Ich werde in der vorliegenden Arbeit vorrangig den Begriff des selektiven Mutismus verwenden.

Das es den Mutisten oder das mutistische Kind nicht gibt, ist mir bewusst. Trotzdem möchte ich die Begriffe Mutist und mutistisches Kind zur besseren Lesbarkeit und um Wiederholungen zu vermeiden, verwenden. Damit möchte ich diese Kinder in keine Schublade stecken oder auf ihren Mutismus reduzieren. Jedes Kind hat seine individuelle Vergangenheit, die zum Mutismus beigetragen hat und bedarf anderer Hilfe, um das Schweigen durchbrechen zu können. Deswegen ist es immer wieder wichtig, das einzelne Kind zu betrachten und es zu verstehen zu versuchen. Nur dann wird es möglich, seinen Bedürfnissen, die sich nicht auf die Überwindung des Mutismus begrenzen, gerecht zu werden. Allzu leicht birgt eine Diagnose auch die Gefahr einer verengten Sichtweise in sich.

2. Definition und Begriffsklärung

Mutismus (lat. „mutus” = „stumm”) - im Sinne dieser Arbeit - bezeichnet ein Schweigen trotz weitgehend abgeschlossener Sprachentwicklung und intakter Sprach-, Sprech- und Hörfunktionen, das über einen längeren Zeitraum andauert (vgl. BAHR 1996, 11 u. 19). Er wird den sekundären Sprachstörungen zugeordnet. „Unter sekundären Sprachstörungen verstehen wir hier Sprachstörungen, die im Zusammenhang mit psychiatrischen Krankheiten oder in Folge solcher Erkrankungen nach zunächst normaler Sprachentwicklung auftreten” (LEMPP 1982; zit. n. HART- MANN 1997, 28). Ältere Bezeichnungen für Mutismus sind „Aphasia voluntaria” (= „freiwillige Stummheit” - KUSSMAUL 1877; zit. n. SCHOOR 2001, 184f) und „freiwilliges Schweigen” (HEINTZE 1932; zit. n. SCHOOR 2001, 185). Diese Bezeichnungen gelten als veraltet, da sie fälschlicherweise davon ausgehen, dass Betroffene bewusst schweigen wollen. Wird tatsächlich z.B. aufgrund religiöser Überzeugung freiwillig geschwiegen, so handelt es sich dabei nicht um einen funktionalen Mutismus, welcher meist unter Mutismus verstanden wird (vgl. HARTMANN 1997, 21 u. Kap. 3). „Schwer zu verstehen ist für viele, dass der Mutist nicht etwa mit jemandem nicht reden will, sondern nicht reden kann” (SALOGA 1983; zit. n. ebd., 22).

In neuerer Zeit wurde der Begriff „willentliche Sprachverweigerung” (NEUHÄUSER 1995; zit. n. HARTMANN 1997, 19) verwendet. HARTMANN kritisiert an diesem - neben der Annahme, das Schweigen geschehe willentlich - zusätzlich, dass von einer Verweigerung der Sprachnutzung ausgegangen wird. Jedoch sind viele Personen mit Mutismus dazu bereit, sich über die Schriftsprache zu verständigen, auch ist die Sprache an sich nicht beeinträchtigt. Lediglich das Sprechen ist bei Mutisten blockiert. Deshalb postuliert BÖHME, dass es sich bei Mutismus um das Symptom einer Sprech hemmung handle (1983; zit. n. HARTMANN 1997, 17 u. 19f).

Noch genauer beschreibt m.E. der Begriff „Kommunikationsstörung” den Mutismus, da bei Mutisten (zumindest bei selektivem Mutismus) auch das Sprechen an sich nicht gehemmt ist, sondern das Sprechen in besitmmten Situationen, vor allem mit bestimmten Personen. Auch HARTMANN ist der Auffassung, dass man bei Mutismus von einer Kommunikationsstörung sprechen sollte (vgl. 1997, 17). BAHR geht noch weiter und vertritt die Meinung, dass man bei Mutismus nicht von einer Kommunikationsstörung sprechen könne, sondern dass der Mutismus eine Störung der Kommunikation bewirke (vgl. 2002, 230).

Bei Mutismus handelt es sich (vorrangig) um eine psychisch bedingte Störung (vgl. HARTMANN 1997, 23). Bei Betroffenen besteht nach SCHOOR eine „massive Sprech- bzw. Kommunikationsangst” (1995, 216). „Sie fürchten Ich-schädigende Ereignisse und Konsequenzen” (ebd.). Der Mutismus stellt also eine Bewältigungsform kommunikativer Anforderungssituationen dar und geht nach BAHR mit einer geringen Selbstwirksamkeitserwartung bezüglich der eigenen kommunikativen Fähigkeiten einher (vgl. 1996, 186 u. www.mutismus.de/bahr.html).

BAHR spricht in diesem Zusammenhang auch von Kommunikationsbesorgtheit, wobei der Mutismus eine extreme Form dieser darstellt. MCCROSKEY, der dieses Konstrukt erstmalig vorstellte, ist der Auffassung, dass jede Person mehr oder weniger kommunikativ besorgt ist. Der Grad der kommunikativen Besorgtheit kann u.a. durch „die Neuheit und den formalen Charakter der jeweiligen Situation, das Hervorgehobensein, die Vertrautheit bzw. Gleichheit oder Ungleichheit in bezug auf die Kommunikationspartner, den Grad der Aufmerksamkeit und der Bewertung sowie die individuelle Vorgeschichte” (BAHR 1996, 114) bedingt sein (vgl. ebd., 113f). Mutisten zeigen sich in der Mehrzahl aller Situationen kommunikativ besorgt. Als Ursache für Kommunikationsbesorgtheit kommen beispielsweise Unregelmäßigkeiten bei der Verstärkung in Frage (vgl. ebd., 133).

„For example, a child may develop helplessness if the parent reinforces the child’s talking at the dinner table some days and punishes it on the other days. If the child is unable to determine why the parent behaves differently from day to day, the child is helpless to control the punishments and rewards.”

(MCCROSKEY 1984; zit. n. ebd., 116)

Wann spricht man nun aber von pathologischem Schweigen? Nicht jedes Schweigen ist als krankhaft zu bezeichnen. Wenn Kinder zum Beispiel in den ersten Tagen oder auch Wochen im Kindergarten schweigen, so bezeichnen die meisten Autoren dies noch nicht als Mutismus. Bei schüchternen Kindern wird die Schüchternheit und Gehemmtheit i.d.R. allmählich abnehmen, während bei mutistischen Kindern diese Tendenz nicht zu erkennen ist (vgl. BAHR 1998, 28). Es finden sich in der Literatur unterschiedliche Angaben dazu, wie lange ein solches Schweigen bestehen sollte, bevor man einen Mutismus diagnostizieren sollte. Nach den Leitlinien der DT. GES. F. KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE UND -PSYCHOTHERAPIE (2003) und nach DSM-IV sollte die Störung mindestens einen Monat bestehen (wobei der erste Monat nach Einschulung unberücksichtigt bleibt), bevor man von Mutismus spricht.

Mutistische Kinder sind laut Definition[3] aufgrund einer Beeinträchtigung ihrer seelischen Gesundheit und ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von Behinderung bedroht. Es besteht folglich die Möglichkeit bei Mutismus eine Behinderung fest- und ausstellen zu lassen. Ein Behindertenausweis verschafft finanzielle Vorteile, wie Nachteilsausgleich und Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen.

In der Literatur über Mutismus unterscheidet man meist zwischen einem selektiven und einem totalen Mutismus.

Selektiver Mutismus ist ein dauerhaftes, wiederkehrendes Schweigen in bestimmten Situationen (z.B. im Kindergarten, in der Schule) und gegenüber bestimmten Personen [...]. Dieses Schweigen tritt auf, obwohl die Sprechfähigkeit vorhanden ist. Ebenso ist die Redebereitschaft gegenüber einigen wenigen vertrauten Personen in vertrautem Umfeld gegeben.”

(BAHR 2004, 14 - Hervorhebung durch M. B.)

Meist sprechen selektiv mutistische Personen nur im engsten Familienkreis und evtl. mit weiteren vertrauten Personen. Seltener schweigen sie dagegen nur gegenüber den nächsten Bezugspersonen, z.B. dem Vater oder anderen bestimmten Personengruppen (vgl. HARTMANN & LANGE 2004, 13).

„Selektiv mutistisches Verhalten tritt in 95% der Fälle im außerhäuslichen Umfeld auf [...], in neuen, ungewohnten, öffentlichen Sprechsituationen mit fremdem Publikum. Die Kinder sprechen nicht mit fremden Personen, aber auch nicht mit vertrauten Menschen vor fremdem Publikum. Es sind Sprechangst auslösende Situationen [...], die u.a. Gefühle des Verlassenseins, der Hilflosigkeit, der Scham, der Minderwertigkeit und das Gefühl der kommunikativen Überforderung hervorrufen.”

(SCHOOR 2001, 186)

SALFIELD beschreibt den selektiven Mutismus als übersteigerten Schutz- und Verteidigungsmechanismus gegenüber Fremden (vgl. BAHR 1996, 195), er kann „Ausdruck einer starken inneren Ablehnung bestimmter Situationen [...] bzw. bestimmter Personen [...] sein” (HARTMANN 1997, 41).

Totaler Mutismus unterscheidet sich vom selektiven Mutismus dahingehend, dass in allen Situationen und gegenüber allen Personen - auch gegenüber vertrauten Personen - trotz abgeschlossener Sprachentwicklung geschwiegen wird. Dieses Störungsbild ist häufiger bei Erwachsenen anzutreffen, während selektiver Mutismus eher im Kindes- und Jugendalter auftritt (vgl. BAHR 2004, 14f).

Totaler Mutismus entwickelt sich entweder aus einem selektiven Mutismus, wird durch ein Trauma ausgelöst oder ist Begleiterscheinung einer psychiatrischen Erkrankung. Hierbei bleibt meist jegliche Lautäußerung aus, sogar Husten und Niesen oder Schluchzen werden unterdrückt. Allerdings ist das völlige Schweigen sehr selten anzutreffen (vgl. HARTMANN & LANGE 2004, 13).

SCHOOR bevorzugt die Bezeichnungen partielles für selektives und universelles für totales Schweigen. Für ihn klingt auch bei der Bezeichnung „selektiv” noch die freiwillige Wahl der Schweigesituation an, welche nicht gegeben ist und „die Bezeichnung ‚total’ lässt sich auch mit selektiv mutistischem Verhalten in Verbindung bringen, insofern, als in bestimmten Situationen jedwede lautliche Äußerung [...] total unterdrückt wird” (2001, 184).

Neben dieser phänomenologischen Einteilung des Mutismus finden sich noch weitere Einteilungsversuche in der Literatur, von denen einige im folgenden dargestellt werden sollen.

Zuvor möchte ich noch darauf verweisen, dass in der angloamerikanischen Literatur zunehmend Hinweise auf hirnorganische und genetische Ursachen zu finden sind während in der deutschsprachigen Literatur und in den internationalen Klassifikationen ICD-10 und DSM-IV unter Mutismus vorrangig ein psychogen bedingtes Schweigen verstanden wird (vgl. HARTMANN 2002, 217).

3. Erscheinungsformen des Mutismus (Klassifikation)

In der Regel wird in der Fachliteratur unter dem Begriff „Mutismus” der von LE- BRUN als „funktional” oder auch „psychogen” bezeichnete Mutismus verstanden. Hierbei handelt es sich um ein partielles oder vollständiges Schweigen bei weitgehend abgeschlossener Sprachentwicklung und Funktionsfähigkeit der Sprechwerkzeuge wie oben beschrieben. Neben dem „ funktionalen Mutismus” nennt LEBRUN noch den „ organischen Mutismus” peripherer Herkunft (z.B. bei Taubheit oder Laryngektomie) und einen „organischen Mutismus” zentraler Herkunft. Bei letzterem unterscheidet er zwischen einem „Entwicklungsmutismus” und einem erworbenem Mutismus (z.B. bei Aphasie) (1990; zit. n. BAHR 1996, 19). Beim psychogen bedingten Mutismus wird, wie oben erwähnt, zwischen einem totalen und einem selektiven Mutismus unterschieden. PANIAGUA & SAEED unterscheiden von diesen beiden zusätzlich den „ progressiven Mutismus”, welcher eine Übergangsform vom selektiven zum totalen Mutismus darstellt. Betroffene schweigen gegenüber allen Personen, zeigen aber sonst alle Merkmale eines selektiven Mutismus (1988; zit. n. BAHR 1996, 23).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1.: Klassifikation des Mutismus nach BAHR (1996)

SCHOOR unterscheidet den selektiven Mutismus als psychische Störung von Mutismus bei Psychosen und von einem hirnorganisch bedingten Mutismus (vgl. 2001, 184). Schwierig bei dieser als auch der Einteilung BAHRs ist, dass z.B. auch ein selektiver Mutismus u.a. organische Ursachen haben kann (vgl. Kap. 6.2).

Es wurden schon vielfältige ätiologische und symptomatologische Einteilungsversuche des funktionalen Mutismus unternommen, wobei sich jedoch vor allem die auf TRAMER zurückgehende schon vorgestellte phänomenologische Unterteilung zwischen einem „elektiven” (F94.0 nach ICD-10) und einem „totalen” Mutismus international durchgesetzt hat, da sie eine eindeutige Zuordnung eines Einzelfalles ermöglicht (vgl. BAHR 1996, 20 u. HARTMANN 1997, 23). Letztere ist jedoch in der Klassifikation der ICD-10 nicht vorgesehen.

Eine an TRAMERs Systematik angelehnte Unterteilung ist die von WEBER. Sie wurde von einigen Autoren übernommen. Er unterteilt den Mutismus, der bei ihm immer in Verbindung mit einer bereits bestehenden Hysterie oder einem hysterischen[4] Charakter steht, in

einen „ einfach-reaktiven Mutismus als orale Seite einer stuporös-depressiven Reaktion auf ein Schreckerlebnis, besonders leicht auftretend während der Sprachentwicklung, und

einem neurotischen Mutismus. Dieser letztere kann beruhen auf neurotischer Verarbeitung eines einfach-reaktiven Mutismus, der der Neurose gewissermaßen das Symptom in die Hand spielt, wie es häufig ist, oder auf selbstständiger neurotischer Entwicklung bei inneren und äußeren Konflikten, oder auf beidem.”

(WEBER 1950; zit. n. HARTMANN 1997, 29; Hervorhebungen durch M.B.)

Während sich erstere Form nach WEBER meist in einem totalen Mutismus äußert, trete der neurotische Mutismus meistens selektiv in Erscheinung. Selektiver Mutismus ist nach WEBER „ein Durchgangsstadium vom totalen Mutismus zur Heilung oder, ungleich seltener, von der Gesundheit zum totalen” (ebd.). Weiterhin sieht er den selektiven Mutismus als eine Regression des kommunikativen Verhaltens in die erste Zeit der Sprachentwicklung und den totalen als Regression in die Zeit vor Beginn der Sprachentwicklung (vgl. HARTMANN 1997, 30).

Eine der ältesten Einteilungen des Mutismus ist die von WATERINK & VEDDER. Sie differenzieren zwischen sechs verschiedenen Formen des Mutismus:

1. Hysterischer Mutismus: Er kommt nur selten bei Kindern vor und tritt gemeinsam mit hysterischen Symptomen auf.
2. Elektiver Mutismus: Hiermit wird das Schweigen von Kindern in bestimmten
Situationen beschrieben.
3. Heinz‘scher Mutismus: Das betroffene sensitive und zarte, schwache Kind schweigt aufgrund von Milieuwechsel.
4. Neurotischer Mutismus: Er wird durch eine Angstneurose ausgelöst.
5. Thymogener Mutismus: Ursache ist ein plötzlich auftretender Affekt, ausgelöst durch ein Trauma.
6. Ideogener Mutismus: Er basiert auf der „Idee, dass das Stimmorgan krank sei.”

(HARTMANN 1997, 28)

Bezüglich des selektiven Mutismus ist vor allem die Einteilung nach HAYDEN zu nennen, welche nach BAHR jedoch auch mit Unzulänglichkeiten behaftet bleibt, da sich Einzelfälle den Kategorien nicht immer eindeutig zuweisen lassen und die Kategorie des „Sprechangstmutismus” doch sehr dem Erscheinungsbild des Autismus gleiche (vgl. BAHR 1996, 22). HAYDEN unterscheidet folgende Formen (vgl. HAYDEN 1980; zit. n. ebd., 20f):

- Symbiotischer Mutismus: Bei ihm besteht eine enge (symbiotische) Beziehung zu einem dominanten Elternteil, meist der Mutter, welches das Kind an sich bindet, indem es dem Kind z.B. verbale Anforderungen abnimmt und eifersüchtig auf außerfamiliäre Beziehungen des Kindes reagiert. Das andere Elternteil verhält sich passiv. Das Kind zeigt manipulatives Verhalten, welches einem subjektiver Krankheitsgewinn dient.
- Sprechangst-Mutismus: Das Kind fürchtet sich davor, die eigene Stimme zu hören. Sie löst Angst aus. Betroffene Kinder wollen wieder sprechen.
- Reaktiver Mutismus wird durch traumatische Ereignisse ausgelöst (u.a. Misshandlungen, Verletzungen im Mund) und ist durch Depressionen, häufig auch Suizidversuchen und späterer Drogenabhängigkeit gekennzeichnet. Die Kinder sind zurückgezogen und zeigen ein verarmtes Sozialverhalten.
- Passiv-aggressiver Mutismus: Das Schweigen dient hier als Waffe und drückt als Trotzverhalten die Feindseligkeit des Kindes gegenüber seiner Umwelt aus. Sie zeigen gewalttätiges Verhalten. Häufig dienen diese Kinder in der Familie als Sündenbock. Der Mutismus ist der Versuch der Kinder Kontrolle auszuüben.

SCHACHTER unterscheidet noch einen „conduite mutism”, d.h. „gelenkten” Mutismus und meint damit einen Mutismus, der ausschließlich auf LehrerInnen und einige Klassenkameraden gerichtet ist (1977; zit. n. BAHR 1996, 27).

Ein neuerer Begriff ist der des Schulmutismus nach DOBSLAFF. DOBSLAFF spricht von Schulmutismus bei Kindern, die ausschließlich in der Schulsituation schweigen. Er unterteilt ihn in folgende Untergruppen (vgl. 2005, 20f):

1. Komplexer umgebungsbezogener Schulmutismus (Das Kind schweigt auf dem Schulgelände und im Schulgebäude, der Mutismus ist an den Ort Schule gebunden, außerhalb der Schule spricht es evtl. mit Schülern und Lehrern)
2. Schulpersonenbezogener Schulmutismus (Der Mutismus ist auf bestimmte Personen(-gruppen) in der Schule begrenzt)
3. Partieller Schulmutismus (Das Schweigen tritt phasenweise bei bestimmten Personen, Anforderungen, Themen, in bestimmten Fächern oder an bestimmten Orten auf)

Ergänzend möchte ich die Unterteilung von SPOERRI vorstellen. Er unterscheidet zwischen einem

- infantilen Mutismus (Schweigen, welches vorwiegend im Kindesalter auftritt), sowie einem
- adulten Mutismus (vorwiegend bei Erwachsenen) (vgl. 1986, 457f).

Den infantilen Mutismus beschreibt er als vorwiegend selektives oder vorübergehendes Schweigen. Er entwickelt sich langsam und stellt eine Regression dar. Betroffene zeigen häufig die Tendenz nonverbal zu kommunizieren. Der adulte Mutismus hingegen trete „im Rahmen eines kataton-schizophrenen Syndroms [...]; als Hemmungssymptom bei Depression; aufgrund von Wahnideen, Halluzinationen bei paranoiden Zuständen” (ebd., 458) oder bei Hysterie auf. Er stellt oft ein psychotisches Begleitsymptom dar (vgl. ebd., 457f).

Die verschiedenen Einteilungsversuche zeigen auf, dass Mutismus sehr unterschiedlich und vielfältig in Erscheinung tritt. Im folgenden soll daher näher auf die Symptomatik des Mutismus eingegangen werden, welche sich nicht auf das Schweigen begrenzt.

4. Erscheinungsbild des Mutismus (Symptomatik)

4.1. Das Schweigen - seine Funktion und Wirkung

„Jenny stand in meinem Spielzimmer viele, lange Minuten unbeweglich da und schaute nur vor sich hin. Nach etwa 45 Minuten gab es einen kurzen Blickkontakt zwischen uns. Das Schweigen eine Therapiestunde auszuhalten, ohne irgendetwas zu tun, um das Kind zu etwas zu bringen, bedeutet eine ungeheure Anstrengung” (KÜRSCHNER 1998, 166).

Das Schweigen ist das Hauptsymptom des Mutismus, daher ist es angebracht dieses Phänomen näher zu betrachten.

In westlichen Ländern wird das Schweigen häufig als unangenehm empfunden, während das Schweigen in anderen Ländern u.a. ein Zeichen von Weisheit ist oder dafür, dass man einer Meinung ist. Doch auch im Westen gibt es Situationen in denen Schweigen angemessen ist. Beispiele hierfür sind die berufliche Schweigepflicht, das Schweigen über persönliche Dinge, in der Kirche oder bei Trauer. Früher hatten gut erzogene Kinder ebenfalls möglichst zu schweigen.

Geschwiegen wird aus unterschiedlichsten Gründen: aufgrund von Zufriedenheit und innerer Ruhe, als Zeichen der Demut, aus mangelnder Motivation, aufgrund mangelnden Wissens, aufgrund eines Verbots zu reden oder wegen subjektiver Betroffenheit. Schweigen kann als Aufforderung oder Zustimmung verstanden werden, es kann Ausdruck von Trotz sein und es kann als passiv-aggressive Reaktion verstanden werden. Dazu passt, dass Kinder mit Mutismus häufig trotzig wirken und einige sich in ihren Familien kontrollierend, dominant, zum Teil sogar aggressiv verhalten. Geschwiegen wird ebenfalls aus Angst davor, etwas Falsches zu sagen, z.B. wenn man in Loyalitätskonflikte gerät und keinen Partner verletzen möchte. Gleichzeitig kann das Schweigen Ausdruck einer enormen Willensstärke sein, vor allem wenn dadurch auf vieles verzichten werden muss. Auch Personen, die ein geringes Selbstbewusstsein oder kein Vertrauen in den Dialogpartner haben, werden sich in einer Interaktion zurückhalten. Sprechen bedeutet immer ein Stück Selbstenthüllung. Personen, die schweigen, möchten sich also möglicherweise nicht enthüllen. Aussagen enthalten nicht nur eine Selbstkundgabe, sondern ermöglichen auch dem anderen, sie zu bewerten. Deshalb neigen unsichere Personen dazu, sich in Gesprächen zurückzuhalten, während sich selbstsichere Menschen vor einer Abwertung durch andere kaum fürchten. Ein Kind mit Mutismus schweigt z.B. in der Schule, weil es dort weder Sicherheit noch Zuverlässigkeit verspürt. BAHR unterscheidet zwischen Schweigen-Wollen (z.B. um nichts von sich preis geben zu müssen), Nicht-Reden-Dürfen (z.B. wenn ein Geheimnis gehütet werden muss), Nicht-Reden-Können (z.B. aufgrund von Sprachdefiziten) und einem Schweigen als Ausdruck der Zwecklosigkeit (vgl. BAHR 1996, 89 u. 104 u. 132; BAHR 2004, 9 u. 45f; DOBSLAFF 2005, 17 u. KÜRSCHNER 1998, 161).

„Wie auch immer: Wenn nicht gerade in Übereinstimmung geschwiegen wird (z.B. in einer Meditationsgruppe), haftet dem Schweigen etwas Unbestimmtes, Offenes an, das nach Auflösung drängt. Die Begegnung mit schweigenden Kindern ist daher schwierig und stellt eine wirkliche Herausforderung dar. Sie kann Ängste auslösen und verunsichern, sie frisst Zeit, kann wütend machen, zeigt einem die eigenen Grenzen auf und hält einen zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen unerwarteten Fortschritten und ärgerlichen Rückschritten in Atem.”

(BAHR 2004, 9f)

Schweigen wirkt störend, wenn es eine als normal empfundene Dauer überschreitet. Der Rede- und Gesprächsfluss wird unterbrochen, wird gestört. In der Regel unternimmt das Gegenüber Versuche diese Störung zu beheben, indem es u.a. die vorangegangene Frage wiederholt, Antwortmöglichkeiten vorgibt oder das Schweigen interpretiert. Diese „Entstörungsversuche” werden jedoch in der Kommunikation mit einer mutistischen Person erfolglos bleiben (vgl. BAHR 1998, 29f).

Schweigen ist ein „Nährboden für Missverständnisse” (BAHR 1996, 88), da es vom Gesprächspartner beinahe beliebig gedeutet werden kann. Es kann sowohl dazu führen, dass man unbeachtet bleibt, als auch dazu beitragen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Ist das Schweigen durch eine Sprechblockade bedingt, so kann dies unterschiedliche Ursachen haben: entweder ist der Vollzug blockiert (man weiß, was man sagen möchte, aber man kann es nicht aussprechen - die „Kehle ist wie zugeschnürt”), oder schon das Zugreifen auf Denk- und Sprachinhalte ist blockiert (gedankliches Chaos, „Filmriss”). Studien von DOBSLAFF zufolge wurden beide Möglichkeiten bei Schulmutisten angetroffen (vgl. 2005, 117f).

Bei Personen mit Mutismus fand man abgesehen von ihrem Schweigen in bestimmten Situationen weitere Symptome, die gehäuft auftraten und daher als mehr oder weniger typisch für Mutismus betrachtet werden können. Dabei soll aber die Tatsache, dass jedes schweigende Kind seine eigenen individuellen Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale hat, nicht aus dem Blick geraten. Immer wieder äußert sich der Mutismus auf andere Art und Weise. Betroffene unterscheiden sich u.a. darin, in welchen Situationen und vor welchen Menschen sie schweigen, wie sehr sie sich „zurückziehen”, wie schnell sie sich „öffnen”, ob sie schüchtern oder einfach nur „schweigsam” sind sowie in ihrem Grundcharakter, der sich meist nur zu Hause zeigt. Generell gilt, dass man zwischen dem Verhalten eines mutistischen Person in Situationen, wo sich sein Mutismus zeigt und in anderen Situationen wie z.B. zu Hause, wo sich die betroffenen Personen ungehemmt verhalten, unterscheiden muss.

4.2. Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmale

Die folgende Tabelle (Tab. 1) nach RÖSLER zeigt die Verteilung psychopathologischer Befunde bei Kindern mit neurotischem Mutismus.

Tabelle 1.: Verteilung psychopathologischer Befunde

(Quelle: RÖ S L E R 1981; in: HA RT M A N N 1997, 59)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

HARTMANN nennt als weiteres gehäuft vorkommendes Begleitsymptom Pavor nocturnus [5] und eine depressive Grundstimmung. SCHOOR weist außerdem auf Verhaltensauffälligkeiten wie z.B. Trennungsangst und Essstörungen hin. Einige dieser Symptome weisen auf eine Regression bzw. eine psychische Störung hin (vgl. HARTMANN 1997, 57f u. SCHOOR 2001, 189).

Das Hauptbegleitsymptom des Mutismus scheint eine chronische Angstbereitschaft zu sein. Mutistische Kinder zeigen übertriebene Ängste. Sie steigen z.B. nicht auf Klettergerüste und brauchen länger um das Fahrradfahren zu erlernen. Sie haben Angst davor, Fehler zu machen, sodass sie sich nur auf Spiele einlassen, bei denen ihre Gewinnchancen gut stehen. Wenn sie sich einmal überwinden zu sprechen, wählen sie ihre Worte sehr genau. Dieser Perfektionismus korreliert mit ihrer häufig geringen Frustrationstoleranz (vgl. HARTMANN & LANGE 2004, 23f). Oft wird auch davon berichtet, dass Kinder mit Mutismus sich hinter ihrer Mutter verstecken oder das Gesicht an diese drücken (vgl. u.a. DOBSLAFF 2005, 61).

Kommunikative Unsicherheit, vor allem in neuen kommunikativen Situationen oder bei Abwesenheit der sozialen Stütze „Mutter”, ausgeprägte Kontaktscheu und zeitlich begrenzte Sprechverweigerungen können nach DOBSLAFFals Frühsymptome oder Vorläufer eines mutistischen Verhaltens angesehen werden. Eine kommunikative Unsicherheit und Scheuheit sind also Eigenschaften, die Mutisten häufig schon vor Beginn des eigentlichen Mutismus zeigen (vgl. 2005, 25).

Bei vielen ist nicht nur die lautsprachliche Kommunikation gehemmt, sondern auch Prosodik, Mimik und Körpersprache allgemein werden kaum eingesetzt, da diese zusätzlich die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners auf den Sprecher lenken würden (vgl. ebd., 76). Häufig vermeiden Kinder mit Mutismus den Blickkontakt, ihr Blick ist gesenkt, der Körper vom Gegenüber abgewandt (vgl. SCHOOR 2001, 187), manche starren „durch einen hindurch”, viele haben einen ernsten bis gleichgültigen Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache verrät nicht viel, von dem, was sie denken. Sie wirken im Allgemeinen angespannt (vgl. HARTMANN & LANGE 2004, 11 u. 22) und haben eine rigide Körperhaltung, bei der die Extremitäten an den Körper gedrückt werden (vgl. ebd., 57). Vor allem beim totalen Mutismus werden meist jegliche Geräusche unterdrückt (vgl. HARTMANN & LANGE 2004, 13). Der Mund ist geschlossen, evtl. leicht zusammengepresst (vgl. ebd.). Einige haben Rituale entwickelt, z.B. beim Zu-Bett-Gehen. Einige zeigen prinzipiell die Bereitschaft und das Bedürfnis zu kommunizieren und kompensieren den fehlenden lautsprachlichen Austausch mit nonverbalen oder schriftsprachlichen Mitteln (vgl. HARTMANN 1997, 40).

Die bisher genannten Verhaltensweisen deuten auf eine allgemeine Handlungsunsicherheit, sowie Rückzugs- und Vermeidungsverhalten hin (vgl. DOBSLAFF 2005, 26). Personen mit Mutismus scheuen nicht nur das Gespräch mit anderen, sondern gemeinschaftlichen Kontakt im allgemeinen. Die Handlungsunsicherheit ist nach DOBSLAFF Folge des mangelnden Selbstbewusstseins mutistischer Kinder und führt zu einem stark reduziertem, nicht altersgerechtem Aktivitätsverhalten. Fühlen sich Kinder handlungssicher und haben ein stabiles Selbstvertrauen, so zeigen sie ein ausgeprägtes Neugier- und Erkundungsverhalten. Bei Kindern mit Mutismus ist dieses Verhalten kaum anzutreffen (vgl. ebd., 50). HILL & SCULL sprechen in diesem Zusammenhang auch von „selektiver Inaktivität”, die sich bei einem Jungen beispielsweise immer dann zeigte, wenn er sich beobachtet fühlte (1985; zit. n. DOBSLAFF 2005, 51). Mutisten neigen i.d.R. zu Negativerwartungen. DOBSLAFF berichtet beispielsweise davon, dass ein Kind mit Mutismus namentlich Schüler benannte, die ihn ausgelacht hätten, obwohl dies nicht der Realität entsprach (vgl. 2005, 78).

BAHR nennt weiterhin Eigensinnigkeit, einen starken Willen, schwere Handhabung, negatives und zerstörerisches Verhalten in der Familie, oppositionelles, kontrollierendes und manipulatives Verhalten, sowie Bockigkeit und Aggressivität als in einzelnen Untersuchungen mehrheitlich auftretende Verhaltensmerkmale (vgl. 1996, 43). Das ängstlich-gehemmte Verhalten trifft häufig nur auf den außerfamiliären Bereich zu. Zu Hause können diese Kinder sehr lebhaft und gesprächig sein und setzen sich nicht selten durch. Sie essen beispielsweise nur bestimmte Dinge, verweigern ihre Mithilfe im Haushalt oder weisen narzisstische Charakterzüge auf (vgl. HART- MANN & LANGE 2004, 23).

Grob lassen sich Mutisten ihrer Persönlichkeit nach darin unterscheiden, ob sie prinzipiell schüchtern und zurückhaltend sind oder ob ihr Schweigen Ausdruck von Willensstärke und Ablehnung ist. LESSER-KATZ (1986 u. 1988; zit. n. BAHR 1996, 22) unterscheidet deshalb zwischen einem Mutismus als Kampfreaktion und einem Mutismus als Fluchtreaktion:

- Mutismus als Kampfreaktion: Die Kinder zeigen oppositionelles, aggressiv- vermeidendes, verweigerndes Verhalten sowohl in der Schule als auch zu Hause und wahren körperliche Distanz.
- Mutismus als Fluchtreaktion: Der Mutimus geht einher mit Schüchternheit, passivem und unsicherem Verhalten und stark reduzierter Gestik und Mimik.

Es wird deutlich, dass Kinder mit Mutismus sehr unterschiedliche Charaktere haben können. Vor allem der Mutismus als Kampfreaktion lässt auf eine „Dominanz- und Kontrollsucht” (HARTMANN & LANGE 2004, 23) der Kinder schließen. Wie passt nun das Schweigen im außerfamiliären Bereich zu dieser Kontrollsucht?

„Das Schweigen [tritt] dort auf, wo aufgrund von eingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten (Sprachstörungen, Einschränkungen der sozialen Kompetenz, Rivalitätskonflikte) nicht nach bewährten Mustern kontrolliert werden kann. Die Ohnmacht, mit der Gehemmtheit Schweigen einer konsequenten Macht gegenüberzustehen, die noch größer als die eigene zu sein scheint, wird durch ein Machtgefüge innerhalb des Familiensystems ausgeglichen.”

(ebd., 24)

BAHR weist schließlich noch auf das Umherschweifen des Blickes und das aufmerksame Beobachten hin und deutet es als möglichen Versuch betroffener Kinder, die Kontrolle über eine Situation zu behalten (vgl. 1996, 146). Kinder mit Mutismus sind in der Regel sehr gute und aufmerksame Beobachter.

Sie sind häufig nicht ihrem Alter entsprechend selbstständig. Dies resultiert aus ihrer engen Bindung zur Mutter. Die Mutter wird von ihnen nicht nur zur Bewältigung von Situationen außerhalb des Hauses benötigt, z.B. als Sprachrohr, sondern ist auch zu Hause für das Kind und seine Alltagsbewältigung unentbehrlich. Auch damit übt das Kind Kontrolle und Macht über die Mutter aus (vgl. HARTMANN & LANGE 2004, 25). Auch HAYDEN ist der Überzeugung, dass der Mutismus Macht verleiht, sofern man darauf mit Zuwendung und Hilfe reagiert. Sie bezeichnet mutistische Kinder als „Meister der Manipulation” (1991, 27).

Ob Betroffene unter ihrem Mutismus leiden, variiert wahrscheinlich von Fall zu Fall und hängt davon ab, ob diese Kinder gerne sprechen würden, aber einfach „keinen Ton heraus bekommen”, oder ob sie z.B. keinen Anlass sehen zu sprechen und sich mit dem Mutismus gut arrangiert haben. Auch hängt es wohl davon ob, wie die Umwelt auf das Schweigen reagiert, ob mit Verständnis, Rücksichtnahme und vermehrter Zuwendung oder mit sozialer Isolation und Unverständnis. HARTMANN schreibt einerseits, dass „Kinder und Jugendliche [...] unter dieser eigendynamischen kommunikativen Hemmung leiden, ja geradezu verzweifelt sind” (HARTMANN & LANGE 2004, 60) und andererseits dass „ein Leidensdruck beim betroffenen Individuum häufig nicht besteht, im Gegenteil: ’Charakteristisch ist, dass sich bei längerem Bestehen des Syndroms ein Arrangement mit der Umwelt herausbildet: Spontanes Sprechen wird nicht mehr gefordert. Alle Partner finden sich ab, dass die Bedürfnisse des täglichen Lebens auch ohne verbale Äusserung (sic) des Kindes erfüllt werden”’ (HARTMANN 1997, 44f).

4.3. Sprachperzeptive und stimmliche Fähigkeiten

DOBSLAFF weist darauf hin, dass viele Kinder mit Schulmutismus scheinbar Hör- oder Verstehensprobleme haben und findet dafür vier mögliche Erklärungen: „ein mangelhaftes Sprachverständnis, eine Lautdiskriminationsschwäche im Sinne einer Retardation, eine zentral bedingte auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung und eine psychogene Hörblockierung” (vgl. 2005, 58). Für eine Lautdiskriminationsschwäche sprechen unter anderem die seiner Erfahrung nach bei Mutisten gehäuft auftretenden Artikulationsfehler sowie Differenzierungsfehler in der Rechtschreibung. Sprachverständnisprobleme liegen vor allem bei ausländischen und Migrantenkindern vor. Für eine psychogen bedingte Hörstörung spricht, dass es Schüler gibt, die vor allem bei Lärm und in Anforderungssituationen, also in Situationen, die eine innere Anspannung bewirken, gehäuft falsch handeln (vgl. ebd., 58f).

DOBSLAFF nennt weiterhin eine Einengung des Stimmfeldes, gehauchten Stimmeinsatz, belegte Stimme und eine geminderte Lautstärke als typische Merkmale mutistischer Kinder (ebd., 18). Diese resultieren vermutlich aus ihrer Gehemmtheit und daraus, dass diese Kinder nur selten sprechen.

4.4. Äußeres Erscheinungsbild (Physische Merkmale)

Als physische Merkmale bei Kindern mit Mutismus werden häufig Schwäche, Zartheit, körperliche Entwicklungsverzögerung und psychomotorische Auffälligkeiten genannt. Diese treten jedoch nicht mit einer überzufälligen (signifikanten) Häufigkeit auf. Ein permanenter Spannungszustand wird hingegen in den meisten Fällen festgestellt (vgl. BAHR 1996, 61; HARTMANN 1992, 496). Darüber hinaus beschreiben HARTMANN & LANGE Mädchen mit Mutismus als „adrette, akkurat gekleidete Prinzesschen, die weder eine Sandkasten- bzw. ’Matschphase’ durchschreiten, noch Spiele auf dem Fußboden ausüben” ( 2004, 23).

4.5. Intelligenz

Nach BAHR scheint zumindest bei Kindern mit selektiven Mutismus „mehrheitlich ein eher mittleres Intelligenzniveau zu dominieren” (1996, 41). Dennoch trifft man auch bei Kindern mit Entwicklungsstörungen oder Intelligenzminderungen auf Mutismus und ebenso bei Kindern mit überdurchschnittlicher Intelligenz. Man muss jedoch in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeit der Intelligenzmessung bei Kindern mit Mutismus hinweisen. Die Durchführung von Intelligenztests bei Personen mit Mutismus gestaltet sich aufgrund ihres Schweigens und aufgrund ihrer allgemeinen Gehemmtheit sogar bei nonverbalen Intelligenztests als schwierig, sodass nur schwer Aussagen über die Intelligenz getroffen werden können. Hinzu kommt, dass ein lang bestehender Mutismus das Kind am (schulischen) Lernen hindert und somit zu niedrigeren Ergebnissen führen kann (vgl. HARTMANN 1997, 50-53). Ebenso verhält es sich mit dem Selbstbild des Kindes:

„Bei jedem Lernenden sind die Leistungsbereitschaft und das Lernverhalten von den Vorstellungen über die dafür zur Verfügung stehenden Fähigkeiten geprägt. Ist nun das Selbstbild negativ geprägt, dann erbringt der Lernende nicht die Leistungen, zu denen er eigentlich imstande sein könnte.”

(DOBSLAFF 2005, 58)

Auch Konflikte in der Familie oder evtl. Hirnschädigungen (vgl. 6.2.2) können für eine Leistungsminderung mit verantwortlich sein.

DOBSLAFF ist der Auffassung, dass eine Intelligenzminderung

„als ein begünstigender Faktor für das Entstehen eines Schulmutismus angesehen werden [kann], allerdings nicht im Sinne einer unbedingt notwendigen, sondern eher im Sinne einer möglichen (verstärkenden) Bedingung. Die Defizit-Hypothese lässt sich auch auf diesen Sachverhalt ausdehnen. Eine verminderte Intelligenz bzw. ein aktuelles Wissensdefizit führt dazu, dass das Kind für die Bewältigung der Unterrichtsanforderungen nicht über die entsprechenden kognitiven Kapazitäten verfügt und demnach schnell inhaltlich überfordert und verunsichert werden kann.”

(ebd., 54)

5. Auftreten (Epidemiologie)

5.1. Häufigkeit

BAHR zufolge gibt es nur wenige Angaben zur Häufigkeit. Meist beziehen sich die Angaben auf den Anteil mutistischer Kinder am Gesamt einer bereits selektierten Gruppe, z.B. von Sonderschülern oder von Patienten einer Klinik. So finden CLINE & KYSEL unter 1000 Sonderschülern 3 Schüler mit Mutismus (1987; zit. n. BAHR 1996, 38f). Dieses Ergebnis ist jedoch abhängig davon, in wieweit mutistische Kinder in einer Sonderschule beschult werden. Andere Angaben hierzu schwanken zwischen 0,1% und 0,7% (vgl. BAHR 2004, 15). Bei fast 10 Millionen Schulkindern in Deutschland, kann man ausgehend von einem Mittelwert von 0,4% von 40.000 betroffenen Schülern ausgehen. Zu beachten ist auch, dass Mutismus nur selten überhaupt als solcher erkannt und diagnostiziert wird und dass die Angaben zur Auftretenswahrscheinlichkeit auch abhängig sind, vom jeweiligen Mutismusbegriff. Über die Häufigkeit von Mutismus im Erwachsenenalter liegen mir keine Angaben vor.

5.2. Geschlechterverteilung

BAHR führt verschiedene Untersuchungen zusammen und findet bei 276 untersuchten Fällen ein Verhältnis von 1,6 : 1 (Mädchen : Jungen). Er betrachtet diesen Unterschied als nicht extrem und somit geschlechtsspezifische Verursachungsfaktoren als spekulativ (vgl. 1996, 40). HARTMANN stellt fest, dass „Studien über Prävalenzen in beide Richtungen vor[liegen], so dass eine empirische verallgemeinernde Geschlechtsspezifität bisher nicht abgesichert ist” (1997, 48). Auch verweist er auf die ICD-10, nach der der Mutismus mit ungefähr gleicher Häufigkeit beim weiblichen und männlichen Geschlecht vorkommt (vgl. ebd.). Dennoch lassen sich einleuchtende Gründe dafür finden, warum Mädchen häufiger betroffen sein könnten. SCHOOR, der den Mutismus als „Kommunikationsbehinderung der Mädchen” bezeichnet, führt sechs mögliche Gründe dafür an (1996; zit. n. BAHR 2004, 16):

- Stilles, angepasstes Verhalten wird bei Mädchen eher akzeptiert als bei Jungen.
- Mädchen haben häufiger Trennungsängste als Jungen.
- Mädchen haben ein schnelleres Reifungstempo als Jungen, lernen dadurch früher, ihre körperlichen Aktivitäten zu kontrollieren, und werden dadurch in ihrem Drang nach Erkundung der Umwelt gebremst, was zur Unterstimulation beiträgt.
- Jungen werden in unserer Gesellschaft immer noch, oft unterschwellig, bevorzugt, was bei Mädchen eher zu Minderwertigkeitsgefühlen führen kann.
- Mädchen befinden sich eher in dem Konflikt, zugleich hübsch oder gar ’ver- führerisch’ auf der einen Seite, aber bescheiden und still auf der anderen Seite sein zu sollen.
- Mädchen sind häufiger Opfer von sexuellem Missbrauch, den sie durch Schweigen geheim zuhalten versuchen

Weiterhin führt BAHR in diesem Zusammenhang die Hypothesen von KAGAN und SCHULZ an. Letztere geht davon aus, dass der weibliche Organismus stressanfälliger sei. KAGAN dagegen begründet das häufigere Vorkommen bei Mädchen damit, dass diese Temperamentsmerkmale besitzen, „die Gehemmtheit begünstigen” (KAGAN 1994 u. SCHULZ 1999; zit. n. BAHR 2004, 17).

5.3. Zeitpunkt des Auftretens

Je nach Ursache ist ein plötzliches Auftreten des Mutismus oder ein sich langsam entwickelnder Mutismus wahrscheinlich. Man kann zwischen einem tendenziell häufigeren Auftreten im frühen Kindesalter (drittes und viertes Lebensjahr - so genannter Frühmutismus) und dem Auftreten bei Eintritt in die Schule (so genannter Spät- oder Schulmutismus) unterscheiden. Bei ersterem besteht häufig schon lange zuvor eine gewisse Scheuheit, während sich bei letzterem der Mutismus meist erst mit Eintritt in die jeweilige Institution manifestiert. Für ein gehäuftes erstes Auftreten im dritten und vierten Lebensjahr sprechen u.a. die Trotzneigung der Kinder in diesem Alter, das typische Verstummen von Kleinkindern in Angstsituationen (bei Mutisten ist hier vor allem an Angst vor Überforderung zu denken) und das noch instabile seelische Gleichgewicht. „Die Differenzierung der kindlichen Persönlichkeit, die sprunghafte Entwicklung der Sprache sowie der positiv erlebte Lernprozess, dass es einen eigenen Willen haben und diesen der Erwachsenenwelt entgegensetzen kann, führen beim Kind dazu, dass es sich von nicht akzeptierten Menschen bzw. von unbehaglich erlebten Situationen zu distanzieren versucht” (HARTMANN 1997, 66). Im Schulalter kommt es erneut zu Erstmanifestationen, da der Schulbesuch eine neue unbekannte (Anforderungs-) Situation darstellt, die oft eine erste Loslösung von der Mutter sowie die „Auseinandersetzung mit der extrafamiliären Gemeinschaft” (ebd., 68) mit sich bringt. Das Kind steht vielen Problemen erstmals alleine gegenüber. In einigen Fällen kommt es aber auch noch nach dem Schuleintritt zu Erstmanifestationen (vgl. BAHR 1996, 40 u. HARTMANN 1997, 67- 70). Diese wurden dann meist durch einen Schock oder ein Trauma ausgelöst oder treten in Verbindung mit Psychosen auf und äußern sich im totalen Schweigen (vgl. HARTMANN 2004, 30 u. HARTMANN 1997, 67-70).

Auf mögliche auslösende Faktoren bei Mutismus soll im nun folgenden Kapitel näher eingegangen werden.

6. Mögliche Ursachen (Ätiologie) und Risikofaktoren

„Die Multikausalitätsannahme schließlich besagt, dass bei der Entstehung psychischer Störungen eine Vielzahl von Faktoren beteiligt sind, dass also nicht ein linearer Ursache-Wirkungszusammenhang, sondern ein komplexes Wirkungsgefüge [...] verantwortlich für pathopsychologische Erscheinungen ist” (BAHR 1996, 15).

Bei jeder vom Mutismus betroffenen Person wirken unterschiedliche Faktoren in unterschiedlicher Gewichtung zum Entstehen des Störungsbildes bei.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.: Einteilung des Mutismus nach den ätiologischen Faktoren

(Quelle: HA RT M A N N 1997, 109)

Die Abb. 2 verdeutlicht, dass sowohl physiologische Faktoren wie Entwicklungsstörungen, psychotische Grunderkrankungen und hereditäre[6] Dispositionen als Ursache in Frage kommen, als auch psychologische Faktoren wie neurotische und stresstheoretische Problemlösungsmechanismen, Konditionierungsprozesse und Milieueinwirkungen. Häufig liegen jedoch sowohl physiologische als auch psychologische Verursachungsfaktoren vor und wirken ineinander (psychophysiologische Faktoren), wie es z.B. das Diathese-Stress-Modell nach HARTMANN aufzeigt. Der milieutheoretische Ansatz ist nicht von andern Ansätzen abzugrenzen und ließe sich unter diese subsummieren (vgl. HARTMANN 1997, 110).

Zuvor möchte ich anhand einer Liste von SCHOOR einen Überblick über Faktoren, die einen Mutismus begünstigen können, geben. Diese müssen, wie erwähnt, nicht notwendigerweise zum Schweigen führen und werden auch nicht bei jedem Mutisten zu finden sein (2001, 190):

- Migration,
- Schweigsamkeit in der Familie, vor allem schweigsame oder sprechscheue Mütter,
- psychische Störungen in der Familie, vorrangig bei den Eltern,
- familiäre Disharmonien u.a. auch körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch,
- abnorme Erziehung wie Überbehütung,
- „anregungsarmes Sprechumfeld” durch z.B. stark dialektal sprechende Eltern, Sprachdefizite der Eltern, Isolation der Familie,
- belastende Lebensereignisse wie z.B. Trennung von einer engen Bezugsperson und Erlebnisse, die das Selbstwertgefühl verringern,
- Schüchternheit bzw. Gehemmtheit (entweder die „gesunde” Gehemmtheit gegenüber Unbekanntem oder Angst vor Ablehnung aufgrund schlechter Erfahrung - bei letzterem nimmt die Angst mit dem Vertrautwerden nicht ab)
- biologische Stressoren wie Krankheiten, Verletzungen, äußeres „unattraktives” Erscheinungsbild, Entwicklungsverzögerung, „Hypersensibilität für Stress und eine biologisch determinierte Disposition zu erhöhter Angstreaktion bei Belastungen”, sowie
- hirnorganische Schädigungen (häufig prä- oder perinatale Schädigungen), die wiederum Auswirkungen haben können auf die Entwicklung der Sprache und der Kognition und durch z.B. fehlende Responsivität in der Mutter-Kind- Beziehung auch auf die psychosoziale Entwicklung).

Im Folgenden wird näher auf die schon genannten Faktoren und auf Erklärungsansätze zum Mutismus eingegangen. Am häufigsten werden lerntheoretische oder psychoanalytische Erklärungsmodelle herangezogen, weshalb ich mit der Darstellung dieser beider Ansätze beginnen möchte.

6.1. Psychologische Ursachen

6.1.1. Psychoanalytischer Erklärungsansatz

Im Hebräischen sind die Bezeichnungen für Kehle und Seele (hebr. näfäsch) identisch. Hier wird deutlich: liegt mir etwas auf der Seele, so hat dies Auswirkungen auf meine Stimme. Auch Redewendungen im Deutschen weisen darauf hin: „es verschlägt mir die Stimme”, „wie abgeschnürt, „einen Klos im Hals haben”, „sprachlos sein”. Das Seelenempfinden wirkt sich auf die Stimme aus. Der Gemütszustand einer Person lässt sich häufig aus dem Klang ihrer Stimme erschließen.

Der psychoanalytische oder psychodynamische Ansatz geht davon aus, dass das Schweigen auf einem seelischen Konflikt beruht. Das Schweigen stellt hier eine neurotische[7] Bewältigungsstrategie eines seelischen Problems oder Konflikts, wie z.B. Traumatisierung (durch Schockerlebnisse wie Unfälle, Kriegserlebnisse, aber auch Schuleintritt oder Wohnortwechsel), Trennungsängste, narzisstische Persönlichkeit oder Sozialphobie, dar. Die Ursache ist hierbei dem Betroffenen nicht bewusst. Ein Trauma wird beispielsweise „verschwiegen”, um es ungeschehen zu machen oder die Sprachlosigkeit aufgrund des Schocks bleibt weiter bestehen („es hat ihm die Sprache verschlagen”). Bei Verlust- und Trennungsängsten erzeugt das Kind durch sein Schweigen eine enge Beziehung und Abhängigkeit zu der Person, die es zu verlieren fürchtet. Das Schweigen kann im Falle von Trennungsangst auch als stiller Schrei um Hilfe verstanden werden. Trennungsangst kann ebenfalls mit der Angst verbunden sein, eine vertraute Kommunikationssituation verlassen zu müssen, weshalb dann in unbekannten Situationen geschwiegen wird. Weiterhin wird das Schweigen als Schutzmaßnahme genannt, die hilft Energien einzusparen und als Abwehrmechanismus, der das Bekanntwerden unerwünschter Triebansprüche nach außen hin verhindern soll (vgl. BAHR 1996, 60f u. HARTMANN & LAN- GE 2004, 26f u. SCHOOR 2001, 192). Meist wird das Schweigen in Verbindung gebracht mit frühkindlichen Erfahrungen. Der klassischen Psychoanalyse zufolge verdrängt der Mensch vorrangig sexuelle und aggressive infantile Triebwünsche und Gefühle (vgl. BAHR 1996, 31).

[...]


[1] Aufgrund des besseren Leseflusses wird bevorzugt nur die männliche Form bei Personenbezeichnungen benutzt

[2] Zitate wurden der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst

[3] Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist” (nach §21 des SGB IX (Viertes Buch des Sozialgesetzbuches)).

[4] hysterisch meint hier: theatralisches und demonstratives Verhalten

[5] Man versteht darunter wiederholte Episoden plötzlichen nächtlichen Erwachens. Das Erwachen beginnt mit Wimmern, Keuchen oder einem durchdringenden panischen Schrei (MEDIZINFO - http://www.medizinfo.de/kopfundseele/schlafen/schpavor.htm)

[6] erblich

[7] Neurose: „Neurosen sind psychische Störungen ohne jede nachweisbare organische Grundlage, in denen der Patient beträchtliche Einsicht und ungestörte Realitätswahrnehmung haben kann und im allgemeinen seine krankhaften subjektiven Erfahrungen und Phantasien nicht mit der äußeren Realität verwechselt. Das Verhalten kann stark beeinträchtigt sein, obwohl es im allgemeinen innerhalb sozial akzeptierter Grenzen bleibt, aber die Persönlichkeit bleibt erhalten. Die wesentlichen Symptome umfassen: ausgeprägte Angst, hysterische Symptome, Phobien, Zwangssymptome und Depressionen” (ICD-9-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation; zit. n. HARTMANN 1997, 72). Der Begriff ’Neurose’ wird heute weitgehend vermieden.

Fin de l'extrait de 54 pages

Résumé des informations

Titre
Mutismus bei Kindern. Definition, Erscheinungsformen, Ursachen, Diagnostik
Université
Justus-Liebig-University Giessen
Note
2,0
Auteur
Année
2005
Pages
54
N° de catalogue
V276709
ISBN (ebook)
9783656697763
ISBN (Livre)
9783656716020
Taille d'un fichier
1300 KB
Langue
allemand
Mots clés
mutismus, kindern, definition, erscheinungsformen, ursachen, diagnostik
Citation du texte
Melanie Buß (Auteur), 2005, Mutismus bei Kindern. Definition, Erscheinungsformen, Ursachen, Diagnostik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/276709

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