Sternchen, Raute: Elemente des Pop bei Rainald Goetz


Masterarbeit, 2013

76 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Pop und Popliteratur
2.1. Der deutsche Popdiskurs
2.2. ›Neue deutsche Popliteratur‹
2.3. Bestimmung des Begriffs Pop
2.3.1. Der gegenwärtige Stellenwert von Pop
2.3.2. Bestandteile eines Popphänomens

3. Merkmale des Pop in Heute Morgen und Schlucht
3.1. Oberflächlichkeit
3.1.1. Goetz’ ›Poetik des Jetzt‹
3.1.2. Das Buch als Objekt
3.2. Funktionalismus
3.2.1. Der Sound der Gegenwart
3.3. Konsumismus
3.3.1. Serialität und Masse
3.3.2. Rausch
3.4 Künstlichkeit
3.4.1. Selbstinszenierung
3.5. Stilverbund

4. Klassifikation von Heute Morgen und Schlucht
4.1. Kritik der Klassifikation
4.2. Kritik des Begriffs Pop(-literatur)
4.2. Kritik der Klassifikation von Heute Morgen und Schlucht

5. Fazit

Bibliographie

Abbildungsverzeichnis

Siglen

1. Einleitung

Das disparate Vorverständnis von Pop macht auf den ersten Blick definitorische Schwierigkeiten geltend. Komposita wie Popstar, Pop-Art, Popmusik, Popliteratur oder Popkultur weisen auf heterogene Phänomene, ein weites Begriffsfeld und somit auf eine schwere analytische Handhabbarkeit des Begriffs hin. Obgleich Pop auch eine Abkürzung vom englischen popular ist, muss zuvörderst ein Kurzschluss mit der populären Kultur vermieden werden.[1] Handelt es sich bei der populären Kultur, Populärkultur oder Massenkultur um ein schon in der Aufklärung wurzelndes Phänomen, das mit Merkmalen wie Einfachheit, Ursprünglichkeit, Ungekünsteltheit, Gemeinsinn, Verwurzelung im Regionalen und Nationalen verbunden ist,[2] ist es bei Pop aufschlussreicher und richtiger, sich auf die etymologische Verwandtschaft mit dem Verb to pop (= knallen) oder dem Laut pop (= Knall) zu besinnen, jenem Signum, das zentral platziert, Richard Hamiltons Collage Just what is it that makes today's homes so different, so appealing? (1956) zum Vorreiter der Pop-Art werden ließ.[3]

Die Beschäftigung mit der Literatur im Kontext von Pop kommt dabei um das Kompositum Popliteratur nicht herum, wenngleich dieser Begriff nicht weniger prekär zu sein scheint. Popliteratur als internationales Phänomen muss hier von der deutschen Ausprägung, der so genannten ›Neuen deutschen Popliteratur‹[4], unterschieden werden. Und auch innerhalb der ›Neuen deutschen Popliteratur‹ lassen sich die Werke wiederum verschieden klassifizieren. Nicht selten wird unterschieden zwischen »›erlaubtem‹ Suhrkamp-Pop«[5] oder auch »Akademiker-Pop«[6] und dem »›oberflächlichen‹ KiWi-Pop«[7]. Gemeint sind etwa Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister auf Seiten des Suhrkamp Verlages und Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Joachim Bessing, Benjamin Lebert oder Christian Kracht, die bei Kiepenheuer & Witsch unter Vertrag stehen.[8] Dass eine Klassifikation von Popliteratur nicht anhand von Verlagen vorgenommen werden kann, liegt auf der Hand. Der Wille jedoch, Subklassen der ›Neuen deutschen Popliteratur‹ zu finden, ist der Heterogenität der Texte geschuldet und durchaus nachzuvollziehen. Die vorliegende Arbeit setzt hier an und unterscheidet primär die literarische Strömung der ›Neuen deutschen Popliteratur‹ von der Textsorte Pop­literatur in einem noch darzulegenden Sinne von Pop.

Anhand zweier Werkkomplexe Rainald Goetz` wird diese spezifische Definition von Pop in Anwendung gebracht. Das von Goetz selbst durchnummerierte und in Bücher (resp. Bände) eingeteilte Werk umfasst bislang sechs Bücher mit 30 Einzelwerken, die von einer Fotoausstellung (Werknummer 6.4.2) über eine Langspielplatte (Wnr. 5.4.2) und einem Weblog (Wnr. 5.5) zum traditionellen Roman (Wnr. 6.3) reichen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich dabei auf das fünfte Buch Heute Morgen [9] und das sechste, noch nicht abgeschlossene Buch Schlucht [10]. Diese Auswahl hat folgenden Grund: Spätestens seit Rave (1998, Wnr. 5.1) gilt Goetz als einer der einflussreichsten Vertreter der deutschsprachigen Popliteratur in einem weiteren Sinne.[11] Nicht nur, dass er sich selbst um die Jahrhundertwende als ein Vertreter der Popliteratur verstanden hat, sondern auch dass das fünfte Buch Heute Morgen thematisch an der Popmusik ausgerichtet ist, lässt dieses Projekt zu einem beispielhaften Phänomen der Popliteratur in einem weiteren Sinne werden. Das 2008 mit dem Tagebuchessay Klage (Wnr. 6.1) begonnene Buch Schlucht hingegen scheint sich auf den ersten Blick zumindest thematisch vom Pop entfernt zu haben. Auch das deutsche Feuilleton apostrophiert Goetz nunmehr als »frühere[n] Popautor«[12] und nimmt einen ästhetischen und thematischen Bruch zwischen Heute Morgen und Schlucht an. Ohnehin scheint im Jahre 2013 die Popliteratur längst tot zu sein:

Jedes halbwegs sortierte Zeitungsausschnittsarchiv kann den [...] Eindruck bestätigen, dass in der Literaturkritik seit Ende der 1990er Jahre und nochmals verstärkt nach dem 11. September 2001 ein vergleichsweise breiter Konsens darüber herrscht, dass ›die Popliteratur‹ – was immer damit im Einzelnen gemeint war – ›tot‹ ist.[13]

Diese Diagnose ist zum einen der offenbaren Ungewissheit darüber, was Popliteratur sein kann, geschuldet, zum anderen und damit einhergehend wird Popliteratur zumeist als ein Genre gesehen, das einer dem Literaturgeschehen immanenten Fortschrittslogik folgt und nach seiner Hochphase in den 1990er Jahren im neuen Jahrtausend nur noch untergehen konnte. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 stehen hierbei exemplarisch für das Ende einer vormaligen ›Spaßliteratur‹ und für die Hinwendung zu einer neuen literarischen Ernsthaftigkeit.

Zu zeigen ist, dass mit einer trennscharfen Bestimmung von Popmerkmalen auch Texte, die nach dem vermeintlichen Tod der Popliteratur publiziert wurden, wozu das Projekt Schlucht von Rainald Goetz zu zählen ist, durchaus einer Popästhetik folgen und demnach unter die noch darzulegende Kategorie Pop gefasst werden können. Ziel der Arbeit ist es, die beiden Bücher Heute Morgen und Schlucht hinsichtlich ihrer Popästhetik als Textsorte zu klassifizieren, ohne damit die Individualität des klassifizierten Werkteils zu leugnen. Die Tatsache, dass Literatur immer mehr ist als eine einzelne Interpretation zu deuten im Stande ist, kann den scheinbaren Verlust, der bei einer Kategorisierung notwendiger­weise entstehen muss, insofern mildern, als die Interpretation keineswegs einen Vollständigkeits­anspruch verfolgt. Der Gewinn einer solchen Klassifikation liegt allerdings in der damit möglich werdenden Analyse durch ein Raster, das eine nähere Bestimmung von Pop zur Verfügung stellt. Die verschiedenen Bestandteile, die ein Pop-Text aufweisen muss, damit er als ein solcher verstanden werden kann, bieten eine Perspektive auf das Werk, die es zum einen vergleichbar mit anderen Texten und zum anderen diese Merkmale in einer Analyse allererst zu Tage fördert und benennbar macht.

Es wird sich herausstellen, dass Phänomene des Pop nach einer eminenten Definition von Thomas Hecken[14] sieben bzw. fünf Bezugspunkte aufweisen müssen, die unerlässlich sind, um sie als Pop-Phänomene zu erkennen und als solche zu klassifizieren. Nach einer vorausgehenden theoretischen Darlegung dieser Auf­fassung von Pop unter 2.3 werden im textanalytischen Teil dieser Arbeit die Bücher Schlucht und Heute Morgen auf diese Bezugspunkte hin überprüft. Anhand von prägnanten Beispielen aus beiden Büchern wird so die Popästhetik in ihren jeweiligen Ausprägungen herausgearbeitet und dargelegt. Dabei wird sich zeigen, dass nicht nur Heute Morgen, sondern gleichermaßen, entgegen des im deutschen Feuilleton angenommenen Bruchs im Werk Goetz’, Schlucht den dargestellten Popmerkmalen entspricht und somit ebenfalls der Textsorte Popliteratur zugeordnet werden muss. Im Einzelnen werden insbesondere die starke Ausprägung des Gegenwartsbezugs, die Hinwendung zur Materialität des Buchs, die im hohen Maße an Pop-Objekten aufgeladene Stimmung zur Vitalisierung der Rezipienten, die Rolle des Massenkonsums und das literarisch bearbeitete Phänomen des Rauschs, die Selbstinszenierungspraktiken des Autors Rainald Goetz sowie die der Popkultur geschuldete Verbindung verschie­dener Pop-Phänomene zu einem Stilverbund herausgearbeitet und kontextualisiert. Daran Anschließend wird in Kapitel 4 die Klassifikation der Werkteile kritisch beleuchtet. Dazu gehört zum einen eine Kritik der Bestimmung des Begriffs Pop und zum anderen die Kritik der Klassifikation selbst sowie eine Kritik der speziellen Klassifikation von Heute Morgen und Schlucht.

2. Pop und Popliteratur

Einer ersten Klarstellung bedarf die Verwendung der Begriffe Pop und Popliteratur. Wenn im Folgenden von (internationaler) Popliteratur im engeren Sinne die Rede ist, so bezieht sich diese auf die unter 2.3 abgeleitete Definition von Thomas Hecken. Da im Diskurs über Pop keine Einigkeit über den Begriff herrscht, bezieht sich die Rede von Popliteratur in einem weiteren Sinne auf diese unspezifische Form von Literatur. Im Folgenden soll zudem die deutsche Ausprägung von Popliteratur, die einen eigenen Diskurs hat, von einer internationalen Popliteratur im engeren Sinne unterschieden werden. Die ›Neue deutsche Popliteratur‹ wird hier zudem als literarische Strömung aufgefasst, während die internationale Popliteratur im engeren Sinne eine Textsorte darstellt.

Die Rede von Pop bezieht sich ebenfalls entweder auf einen engeren oder einen weiteren Begriff. Eine nationale Unterscheidung gibt es hier allerdings nicht, da die verschiedenen Popphänomene in einem viel höheren Maße als die Literatur internationalisiert sind. Dennoch gibt es auch auf deutscher Ebene einen einigermaßen begrenzten Diskurs über Pop. Dieser soll unter 2.1. vorgestellt werden.

2.1. Der deutsche Popdiskurs

Während die ersten akademischen Anstrengungen zum Thema Pop in den 1970er Jahren am Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham geleistet wurden, wurde in Deutschland der Diskurs über Pop im Popjournalismus der 1980er Jahre namentlich in Blättern wie Spex, Sounds, Tempo und Texte zur Kunst geprägt. Dabei bestanden zum einen eine Differenz zu den Genres Rock und Punk und zum anderen eine intensive Gegnerschaft zur Alternativkultur der 1970er Jahre und ihren Tendenzen zu Tiefsinn, Innerlichkeit und Konsum­feindlichkeit. Der wohl bekannteste Vertreter dieser ersten Generation von Poptheoretikern in Deutschland ist Diedrich Diederichsen. Diederichsen sah Pop um die Jahrhundert­wende als »Dummy-Term«[15], der beinahe synonym mit Öffentlichkeit gebraucht wurde:

Ob als Zeichen für den allgemeinen Werteverfall oder für attraktiv-transparente neue gesellschaftliche Verhältnisse: Der Pop-Begriff scheint nicht nur endlos zuständig, sondern auch endlos dehnbar zu sein. Zwar gab es schon zu seinen Anfangszeiten in den frühen 60ern unterschiedliche Verwendungsweisen, und einige sind hinzugekommen. Doch heute scheint schier alles Pop zu sein. Oder will Pop sein – vom Theatertreffen bis zur Theorie, von der sozialdemokratischen Kandidatenkür bis zur Kulturkatastrophe.[16]

Diederichsen unterscheidet in Der lange Weg nach Mitte einen spezifischen Pop (Pop I) der 1960er bis 1980er und einen allgemeinen Pop (Pop II) der 1990er Jahre. Während Pop I noch subversive Kräfte besessen und vor allem als Gegenbegriff zum etablierten Kunstbegriff Verwendung gefunden habe, stehe Pop II vielmehr im Gegensatz zur Politik und werde von Entwicklungen begleitet, die insbesondere die pluralisierte Öffentlichkeit, ihre verstärkte Durchlässigkeit gegenüber Popkulturen und die Pluralisierung und Überlagerung von Popkulturen, d. h. die Herauslösung und Vervielfältigung des Pop II aus dem Zusammenhang des Pop I, beträfen.[17] »In Pop I«, so Diederichsen, »dominierte die nachvollziehbare Verpflichtung auf eine Gemeinschaft, in Pop II dominieren die Überlagerungen«.[18]

Im deutschen Popdiskurs und in der internationalen akademischen Auseinander­setzung mit Pop spielte rückblickend das Moment der Umwertung und insbesondere die Neubewertung von Oberflächlichkeit eine große Rolle. Eine solche Umwertung sieht etwa der Poptheoretiker Moritz Baßler um 1980 sich vollziehen: »Pop nimmt – jetzt im Gegensatz zu den Authentizitätsgesten von Rock, Punk u. a. – eine Konnotation gepflegter Artifizialität an, die auch in Deutschland szenebildend wirkt«.[19] Diederichsen verweist zudem mit seiner häufig zitierten Bestimmung von Pop auf dessen transformatorisches Potenzial:

Pop ist immer Transformation, im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten: Klassengrenzen, ethnische Grenzen oder kulturelle Grenzen.[20]

Neben dieser grenzüberschreitenden Tendenz und der Umwertung von Oberflächlichkeit bestand der Diskurs ab den 1950er Jahren oftmals in der Anerkennung des Pop selbst. Ein deutscher Poptheoretiker der neueren Generation, Thomas Hecken, zeigt in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte des Pop dieses Phänomen auf. Die Begriffe Pop-Art und Popkultur wiesen darauf hin, dass Pop andere Meriten erlangen konnte, als allein aufgrund weiter Verbreitung und wirtschaftlicher Profite gemeinhin zu erzielen sind. »Zweifellos«, so Hecken, ist das ein Erfolg all jener, die seit den 1950er Jahren für eine kulturelle Anerkennung von Pop gestritten haben. Ein großer Teil des allgemeinen Redens über Pop bestand genau darin, diese Anerkennung zu betreiben und zu begründen. Das geschah auf zwei Arten und Weisen: Erstens indem man dekretierte, dass Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit, Eingängig­keit, Künstlich­keit positive (und nicht, wie zuvor üblicherweise angenommen, negative) Eigenschaften seien. [...] Die zweite Verteidigung oder gar Affirmation von Pop setzte wissenschaftlicher an, in empirischen Studien wie in theoretischen Grundsatzdebatten. Hier ging es vor allem um den Nachweis, dass Pop-Phänomene nicht bloß (oder sogar wenig) zur Passivität, Verrohung, Verdummung, Stereotypenbildung, Standardisierung beitra­gen.[21]

Mittlerweile, das zeigt auch die Anerkennung in den großen Zeitungen durch entsprechende Beiträge und Rubriken, ist die Annahme, dass sich Pop »zu einem höchst komplexen, vielfach semantisierten kulturellen Raum mit historischer Tiefe entwickelt hat«[22], weit verbreitet und Pop zu einem etablierten Phänomen des Kulturlebens geworden. Dabei ist festzustellen, dass Pop nicht als eine kurzlebige Phase im Sinne eines fortschreitenden Ablösungsprozesses von Stilepochen, wie er sich im Diskurs über die Moderne der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts verankert hat, präsentiert, sondern, dass Pop »offenkundig auf Dauer gestellt«[23] ist.

2.2. ›Neue deutsche Popliteratur‹

Im deutschen Popdiskurs der 1980er Jahre hatte vor allem die Popmusik einen herausragenden Stellenwert. Popmusik war Leitmotiv im Leben popsozialisierter Jugendlicher, wohingegen Literatur eher eine periphere Rolle zukam.

Der Grund des geringen Gewichts der Literatur für den avancierten Pop-Diskurs: Im Unterschied zu Platten, Auftritten, Werbebildern, Filmen, Fernsehserien geben die literarischen Neuveröffentlichungen jener Jahre nach Über­zeugung der Sounds -Redaktion keinen Anlass, eingehender – im Pop-Sinne – betrachtet zu werden. Deshalb schenkt man ihnen nicht einmal kritische Aufmerksamkeit.[24]

Dies sollte sich rund zehn Jahre später ändern. ›Popliteratur‹ war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einer der meist verwendeten Begriffe innerhalb des deutschsprachigen Literaturbetriebs[25] und um die Jahrtausendwende kursierte in den Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen sowie in Literaturzeitschriften in Verlagsprospekten oder in literaturwissenschaftlichen Seminaren die Rede von der Popliteratur.[26]

Leslie A. Fiedler war dabei der Erste, der 1968 von einer »Popliteratur« sprach.[27] Damit waren von ihm Autoren der Beat-Generation wie Allen Ginsberg, William S. Burroughs oder Jack Kerouac angesprochen. In Deutschland meinte der Begriff zunächst Schriftsteller wie Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte oder Jörg Fauser, die späterhin, wie auch die Klassifikation Diederichsens der Pop-Phänomene in Pop I und Pop II zeigt, den Status einer »Pop-Klassik«[28] zugesprochen bekamen und den nachkommenden Popautoren als Vorbild dienen sollten. Eine eigenständige Kategorie des deutschen Buchhandels und der deutschen Literaturkritik wird Popliteratur jedoch erst mit jener Generation ab Mitte der 1990er Jahre.[29]

Die neuere internationale Popliteratur der 1990er Jahre beginnt in Amerika mit Bret Easton Ellis (American Psycho, 1991) und in England mit Nick Hornby (High Fidelity, 1995). Der Initialroman der ›Neuen deutschen Popliteratur‹ ist Faserland (ebenfalls 1995) von Christian Kracht. In den nächsten Jahren folgen in Deutschland viel beachtete Romane wie Relax (1997) von Alexa Hennig von Lange, Soloalbum (1998) von Benjamin von Stuckrad-Barre, Tomboy (1998) von Thomas Meinecke, Gut laut (1998) von Andreas Neumeister, sowie die Programmreflexion Tristesse Royal (1999) vom selbsternannten ›popkulturellen Quintett‹, zu dem neben Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre noch Joachim Bessing, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg gehören.

Ein maßgebliches Kennzeichen des Umgangs mit dieser ›Neuen deutschen Popliteratur‹ der 1990er Jahre war »ihre fast ausnahmslos ablehnende Rezeption durch die etablierte Literaturkritik, die in größtmöglichem Gegensatz zu einer geradezu emphatischen Rezeption bei einem jugendlichen Publikum stand«.[30] Man machte den Popliteraten schnell fehlende politische Ambitionen und Geschäfts­tüchtigkeit zum Vorwurf. Entsprechend formuliert Thomas Hecken in seiner umfangreichen Geschichte des Pop:

Die wichtigste Kritik am gesamten Pop-Sektor besteht im Vorwurf der Kommerzialität. Pop bildet oftmals geradezu das Synonym für schiere Kommerzialität. Damit ist nicht nur gemeint, dass Pop-Gegenstände in der Marktwirtschaft um des Profits willen von Unternehmen hergestellt werden. Dies gilt schließlich für alle Produkte, die nicht lediglich für den Eigenbedarf oder den einer kleiner Gemeinschaft bestimmt sind. Für ihre Kritiker bilden die Pop-Produkte innerhalb des Kapitalismus deshalb den Inbegriff des Kommerziellen, weil sie in ihnen überhaupt keinen vernünftigen Zweck mehr erkennen können, außer dem, für Rendite zu sorgen.[31]

Kritiker der ›Neuen deutschen Popliteratur‹ hegten den Verdacht, dass Popliteratur schlicht eine verkaufsfördernde Begriffsprägung war, und was die ›Neue deutsche Popliteratur‹ in ihren Augen ausmachte, war die fehlende Auseinandersetzung mit der Kriegs- und Nachkriegszeit Deutschlands und stattdessen die naive Affirmation von Gegenwart und Jugend.

Mit zunehmender wissenschaftlicher Auseinandersetzung ab der Jahrtausend­wende wurde die Sicht auf die Popliteratur im weiteren Sinne zwar etwas differenzierter. Dabei blieb jedoch das Problem bestehen, dass immer noch nicht klar war, was eigentlich und genau unter der (Neuen deutschen) Popliteratur zu verstehen war. Im Journalismus wurde Pop im Gegensatz zur Pop-Art und Popmusik, die sich schnell als eigenes Genre etablierten, schlicht in Differenz zur Literatur gesetzt[32] und somit abqualifiziert:

Im deutschsprachigen Literaturbetrieb, für den Pop zunächst nicht viel mehr als ein merkwürdiges Fremdwort ist, wird die Koppelung von Pop und Literatur nicht als viel versprechende Verbindung, sondern als Markierung einer Differenz aufge­nommen.[33]

So zeichnet sich bis heute eine immer wiederkehrende Grundsatz­diskussion über den Begriff der Popliteratur ab und beinahe ausnahmslos stellen Autoren, die wissen­schaftlich über Popliteratur schreiben, ihren Monographien oder Beiträgen eine eigene Definition oder die Feststellung von der Unmöglichkeit Popliteratur zu definieren voran. Symptomatisch für die Forschungslage formuliert Sandra Mehrfort: »Die Schwierigkeit der wissenschaftlichen Betrachtung von Pop und insbesondere von Popliteratur liegt darin, dass es keine allgemeingültige Definition von ›Pop‹ gibt«.[34] Auch Rainald Goetz selbst hat diese Schwierigkeit in dem Artikel Und Blut (1985) in der Spex reflektiert:

Pops Glück ist, daß Pop kein Problem hat. Deshalb kann man Pop nicht denken, nicht kritisieren, nicht analytisch schreiben, sondern Pop ist Pop leben, fasziniert betrachten, besessen studieren, maximal materialreich erzählen, feiern. Es gibt keine andere vernünftige Weise über Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey super. Deshalb wirft Pop Probleme auf, für den denkenden Menschen, die aber Probleme des Denkens sind, nicht des Pop. So simpel diese Unterscheidung ist, so schwierig ist sie zu realisieren im Schreiben über Pop.[35]

Die Anstrengungen, die von einzelnen Autoren zur Bestimmung von Popliteratur immer wieder geleistet werden, finden dabei keinen Eingang in einen Gesamt­diskurs, sondern bleiben stets auf die eigene wissenschaftliche Arbeit beschränkt. Thomas Hecken untersucht in einem Aufsatz auf der Internetseite der seit Ende 2012 erscheinenden Pop-Zeitschrift den Sprachgebrauch von Pop:

In Diskussionen hört man oft, Pop, das sei schwierig zu definieren. Die Aussage ist verständlich, aber falsch. Viele hundert Varianten zeigen im Gegenteil, dass es äußerst leicht ist, Pop auf einen definitiven Begriff zu bringen. Schwierig ist es offenkundig nur, sich mit einer Definition so durchzusetzen, dass sie den Sprachgebrauch der meisten anderen Sprachteilnehmer prägt.[36]

Der Poptheoretiker Moritz Baßler definiert zum Beispiel Popliteratur im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft als »[p]ostmoderne Textsorte, die medial geprägten Erwartungen der jugendlichen Massenkultur zu entsprechen sucht«.[37] Diese Definition scheint typisch für die Rede von der Popliteratur, da im Popdiskurs weder geklärt ist, was unter postmoderner Textsorte noch unter jugendlicher Massenkultur genau zu verstehen ist.

Letztlich muss der sich nach über fünfzig Jahren bereits manifestierte Kanon der deutschen Popliteratur dazu herangezogen werden zu bestimmen, was die literarische Strömung ›Neue deutsche Popliteratur‹ ist und wer dazu gehört, die Lösung des Problems mithin empirisch gelöst werden. So beantwortet auch der Autor Georg Oswald in einem Aufsatz über Popliteratur die Frage: »Wann ist Literatur ›Pop‹?« mit: »Dann, wenn sie dafür gehalten wird«.[38]

2.3. Bestimmung des Begriffs Pop

Im Gegensatz zur literarischen Strömung der ›Neuen deutschen Popliteratur‹, die hier also nur empirisch und nicht begrifflich bestimmt werden soll, wird im Folgenden der Begriff Pop, und mit Hilfe dieses Begriffs die transnationale Textsorte Popliteratur, definiert werden.

2.3.1. Der gegenwärtige Stellenwert von Pop

Thomas Hecken vertritt in seinem Essay Pop-Konzepte der Gegenwar t die Ansicht, dass die Schlacht um Pop weithin geschlagen sei:

Mehr als genügend Leute haben sich [...] Lobes- und Verteidigungsweisen zu eigen gemacht, um den Rang von Pop in der kulturellen Hierarchie im oberen Bereich zu behaupten. Die Argumente sind mittlerweile fest verankert, teilweise werden sie sogar institutionell beschwert, man braucht sie deshalb nicht mehr stetig wiederholen oder ausdrücklich betonen. In der Praxis von Feuilletonisten und Wissenschaftlern, sich ausführlich und differenziert zu vielen einzelnen Pop-Gegenständen zu äußern, schwingt sie häufig unausgesprochen mit.[39]

Wenngleich Pop immer noch begrifflich unbestimmt bleibt, ist der Kampf um die Etablierung des Konzepts bereits Geschichte und es geht heute weniger darum, Pop einen Kulturnimbus zu verleihen als Debatten über den politischen Stellenwert von Pop zu führen. Hecken unterscheidet vier historische Varianten, die bis in die Gegenwart hineinreichen:

1. Die Einordnung von Pop in den kulturindustriellen Kontext, der verbunden ist mit der »seit den 1960er Jahren sehr bekannten kritischen Diagnose, dass Pop als besonders standardisiertes Kommerzprodukt die Einübung ins musterhaft autoritäts­hörige, gedanken- wie freudlose Verhalten betreibe und zugleich die Vollendung des Niedergangs autonomer Kunst darstelle«.[40] Pop steht hier unter dem Urteil Adornos und Horkheimers, dass die kulturindustriellen Erzeugnisse unter einem Schematis­mus stehen und stets Uniformität hervorbringen:

Für den Konsumenten gibt es nichts mehr zu klassifizieren, was nicht selbst im Schematismus der Produktion vorweggenommen wäre. Die traumlose Kunst fürs Volk erfüllt jenen träumerischen Idealismus, der dem kritischen zu weit ging. [...] Nicht nur werden die Typen von Schlagern, Stars, Seifenopern zyklisch als starre Invarianten durchgehalten, sondern der spezifische Inhalt des Spiels, das scheinbar Wechselnde ist selber aus ihnen abgeleitet.[41]

2. Die zweite Position ist eher eine radikal-demokratische und kommt aus der Richtung der Cultural-Studies. Sie verortet Pop als Vehikel von Subkulturen, die »zwar nicht politisch organisiert sind, aber durch ihren Hedonismus und ihre eigenständige Aneignung kulturindustrieller Erzeugnisse der herrschenden Ordnung alltäglichen Widerstand entgegensetzen«.[42] Die Anhänger dieser Position haben sich heute eher der queeren Szene zugewendet, legen die – wenn auch vage – Absicht zugrunde ein dezentriertes Multiversum zu schaffen und finden nach Hecken unter dieser Wandlung auch noch einige Zugkraft.

3. Eine dritte ebenfalls linke Auffassung gibt das Verständnis einer autonomen, Kreativität befördernden Kunst preis, weil sie dieses Ziel als »offizielle, kulturfromme Staatsdoktrin und wichtigen Bestandteil einer depolitisierenden Alternativbewegung ausmacht und verachtet«.[43] Stattdessen setzt diese Position auf die Glätte, Oberflächlichkeit und Funktionalität von Pop.

4. Die vierte Popauffassung stellt die liberale Pop-Affirmation dar. Hecken stuft diese als ein besonderes Popkonzept ein, da es über eine allgemeine liberale Haltung hinaus gehe und heute als klarer Sieger der vier Pop-Konzepte hervor­gegangen sei:

Pop wird von diesen Liberalen hervorgehoben und ausdrücklich bejaht, weil sie darin einen Motor ihres Projekts sehen, moralische Einschränkungen und konservative Traditionen zugunsten einer demokratisch geöffneten Kultur und freien, entgrenzten Unternehmertums zu beseitigen.[44]

Alle vier Konzepte von Pop eint, den gemeinsamen Gegner des bildungsbürger­lichen Konservatismus hinter sich gelassen zu haben. So scheint der kulturelle Werteunterschied zwischen Hoch- und Popkultur nunmehr abgemildert und sich die postmoderne Forderung nach »cross the border, close the gap«[45] zumindest teilweise eingelöst zu haben.

2.3.2. Bestandteile eines Popphänomens

Neben der politischen Aufladung und der ästhetisch-kulturellen Bewertung von Pop steht immer noch, wie bereits gezeigt wurde, die Definitionsfrage zur Diskussion. Im Folgenden soll die Pop-Bestimmung von Thomas Hecken, wie er sie in seinem Essay Pop-Konzepte der Gegenwart vorschlägt, zur Grundlage der weiteren Arbeit herangezogen werden. Diese Bestimmung dient also im Folgenden dazu, einen eminenten und bereits erprobten Begriff von Pop und in einer hier vorgenommenen Ableitung auch von Popliteratur als Textsorte zu benutzen, um eine analytische Basis für die Klassifikation des Goetzschen Werks zu erlangen.

Hecken führt sieben Bestandteile einer Pop-Auffassung an, die unerlässlich scheinen, um das Phänomen Pop zu bestimmen.

Dazu zählen Oberflächlichkeit, Funktionalismus, Konsumismus, Äußerlichkeit, Immanenz, Künstlichkeit und Stilver­bund,[46] die nun einer kurzen Erläuterung bedürfen.

Oberflächlichkeit. Im Zuge der gesellschaft­lichen Etablierung von Pop spielt ab den 1950er Jahren die Umwertung von Oberflächlichkeit eine entscheidende Rolle. Die vormalige Verurteilung der Oberflächlichkeit speist sich dabei primär aus drei historischen Quellen. Erstens ist die Abwertung von Wechsel und Flüchtigkeit der Erscheinungen eine genuin platonische. Platons Ideenlehre legt nahe, dass die hinter den Erscheinungen liegenden Ideen die eigentliche Gewissheit gegenüber den körperlich empfundenen Eindrücken sind. Während diese Erscheinungen oftmals trügerische sind, so ist die Erkenntnis jener Ideen die der Wahrheit entsprechende. So spricht Sokrates bei Platon kurz vor seinem Tod mit Simmias:

Wann also trifft die Seele die Wahrheit? Denn wenn sie mit dem Leibe versucht, etwas zu betrachten, dann offenbar wird sie von diesem hintergangen. – Richtig. – Wird also nicht in dem Denken, wenn irgendwo, ihr etwas von dem Seienden offenbar? – Ja. – Und sie denkt offenbar am besten, wenn nichts von diesem sie trübt, weder Gehör noch Gesicht noch Schmerz und Lust, sondern sie am meisten ganz für sich ist, den Leib gehen läßt und soviel irgend möglich ohne Gemeinschaft und Verkehr mit ihm dem Seienden nachgeht.[47]

Um die Wahrheit zu erkennen, ist es nach Platon also von Nöten die Oberflächlichkeit der leiblich wahrgenommenen Eindrücke zu ignorieren, um sich im Geiste gänzlich den Ideen anzunähern. Zweitens hat die Abwertung von Oberfläche eine lange christlich-religiöse Tradition. Die Entwertung der gegebenen Welt rührt von der Auffassung her, dass äußere Güter und diesseitiger Erfolg dem Schein nach täuschen können und nichts über die inneren, gottgefälligen Werte aussagen. Drittens ist die moderne Ablehnung einer dekorativen Oberfläche auch eine säkulare Version dieser Ansicht. Die funktionsfolgende, nüchterne Form ersetzt hier die kontingenten Verzierungen des Objekts.[48] Pop setzt dem die unnütze Auffälligkeit der Oberfläche ihrer Objekte entgegen. Dennoch ist Pop der modernen, asketischen Auffassung ›weniger ist mehr‹ nicht vollkommen untreu. Die Oberflächen des Pop sind vorzugsweise geschlossen, selten verläuft oder vermischt sich etwas. In der Pop-Werbung wie in der Pop-Art sind die Farben nicht nur bunt, sondern vor allem unmoduliert und weisen harte Grenzen zueinander auf.[49]

Für die Literatur bedeutet dies vor allem die Preisgabe des im klassischen Sinne Poetischen, das uneigentliche Sprechen durch rhetorische Figuren sowie der klassische Aufbau von Dramen durch das aristotelische Vorbild, von Romanen und Erzählungen durch Einleitung, Spannung und Endung, von Lyrik durch Metrik und Reim. Strukturell wird in der Popliteratur vielmehr auf Schnelligkeit, Diskontinuität und Fluktuation gesetzt.

Funktionalismus. Unter Funktionalismus versteht Hecken die von den Popphänomenen ausgehende Vitalisierung ihrer Nutzer. Insofern hat Pop immer auch eine Funktion:

Pop ist zwar moralisch weitgehend desinteressiert, tritt aber nicht mit dem Anspruch ästhetischer Interesselosigkeit auf. Es gibt hier mehr als einen Zweck: für Belebung sorgen, angenehm erregen, den Körper in Bewegung setzen, Attraktivität erhöhen und eine nette, heitere Stimmung oder eine coole Haltung bewirken.[50]

Somit treten Form und Funktion von Pop-Gegenständen auf der einen Seite auseinander, indem ihre Form im Sinne der Oberfläche weitgehend funktionslos im Gegensatz zum Gebrauchswert bleibt. Auf der anderen Seite folgt aus der Ästhetik der Oberfläche doch immer schon eine Funktionalität. Die poppige Oberfläche soll ›knallen‹ und beleben. Dies geschieht in der Popliteratur zum einen durch einen dem Pop-Habitus angepassten Sprachgebrauch und andererseits durch die Einbeziehung von Popmusik, die zu einem ganz spezifischen Sound der Texte führt.

Konsumismus. »Pop tritt dafür ein, dass nicht nur dem tätigen Leben ein hoher Rang zukommt. Konsumieren, also verzehren, ist zudem ein Pop-Kennzeichen, weil es den Gegensatz dazu bildet sich verzehren zu lassen«.[51] Hecken stellt dabei dem Rausch die anti-ekstatische Grundhaltung von Pop gegenüber. Der Rausch muss jedoch, wenn auch nicht als Grundhaltung, so doch als »Samstagnachtphänomen«[52] insbesondere im Kontext der Musik miteinbezogen werden. Auch hier gilt, dass das Konsumieren von Pop und Party der Vitalisierung untergeordnet ist, insofern der Rausch nicht als Vehikel für Verrohung, sondern für Affirmation von Jugend und Gegenwart dient.

Äußerlichkeit. Das vierte Popmerkmal, das Thomas Hecken bestimmt, ist die Äußerlichkeit:

Pop hält sich strikt an das sinnlich Gegebene. Auch Ableitungen werden nicht vorgenommen. An Innerlichkeit ist Pop ebenso wenig interessiert wie an psychologischer Umdeutung des Manifesten. In den Augen erkennen Pop-Anhänger einen schönen Glanz, nicht die Seele.[53]

In der Popliteratur wirkt sich dieses Merkmal, ebenso wie die Oberflächlichkeit, u. a. in einer Diskontinuität und Fragmentarität der Texte aus. Geprägt von der Cutup -Methode William S. Burroughs’, die Realitätspartikel von ihrem ursprüng­lichen Kontext isoliert und in poetische Zusammenhänge bringt, in denen ihr Authentizitätscharakter suspendiert ist, findet sich das collagenartige Arrangement auch in der deutschen ›Popklassik‹, etwa bei Rolf Dieter Brinkmann. Zunächst und zumeist jedoch spiegelt sich dieses Merkmal in der hohen Gegenwärtigkeit der Literatur wider. In der performativen Aktualität, in dem immer wieder aktualisierten Verfahren der Gegenwartsfixierung konstruiert das Schreiber-Ich eine ›Poetik des Jetzt‹, eine Geschichte der Gegenwart [54].

Immanenz. Im Gegensatz zum Anspruch der Transzendenz mancher Kunst bleibt Pop stets auf die Wesenhaftigkeit ihrer Gegenstände bezogen. An einer Autower­bung etwa gefällt dem Pop-Anhänger die Rhetorik des Zurschaustellens und das Aussehen des Autos, es geht ihm nicht um konnotative Nebenbedeutungen wie Freiheit und Abenteuer: »Was einem damit weltanschaulich bedeutet werden soll, erkennt der Pop-Anhänger zumeist wohl, ignoriert es aber, so gut es geht – und es geht nur gut, wenn ihm der sinnliche Eindruck gefällt, sonst wendet er sich ohnehin gleich ab«.[55]

Künstlichkeit. Die Künstlichkeit des Pop steht im starken Kontrast zur Urtümlichkeit populärkultureller Phänomene. Gerade hier lässt sich die Wichtigkeit der Abgrenzung von Pop zu Populärkultur absehen. Auch Moritz Baßler konstatiert das Merkmal der Künstlichkeit für den Bereich des Pop durch die Dichotomie von Künstlichkeit und Authentizität: »Pop bezeichnet die Möglichkeit einer ästhetischen Wertschätzung ohne Rekurs auf einen authentischen Ursprung«.[56] Hecken gibt einige Beispiele für diese Art künstlicher Objekte: »Plastik, Aufnahme- und Abspielgeräte, Schneideraum, Mischpult, Scheinwerfer, Schminke, Silikon, Dildos, Photoshop, Synthesizer- und Sampler-Software, Spraydosen, Keyboards zählen zu den wichtigsten Instrumenten und Materialien des Pop«.[57] Authentizität kann man somit von Popautoren und insbesondere von Ich-Figuren innerhalb der Popliteratur, die häufig auch die Autornamen tragen, nicht erwarten. Dies gilt ebenfalls für das öffentliche Auftreten und die Inszenierungspraktiken der Autoren. Pop verzichtet hier auf jegliche Authentizitäts­gesten und beinahe »vollständig auf die Kategorie der Eigentlichkeit«.[58]

Stilverbund. Schließlich gehen einzelne Pop-Objekte stets Verbindungen mit anderen Objekten ein:

Ein Pop-Gegenstand kommt niemals allein. Nicht nur gehören zum Pop-Objekt der Aufdruck und die Verpackung bindend dazu, ein spezieller Gegenstand steht auch in einer Reihe mit Dingen aus anderen Bereichen. Der Musikstil z.B. ist mit einer Frisur, einer Hose, einem Auto, einer Attitüde verbunden.[59]

Für die Popliteratur gilt dies genauso wie für die Popmusik. Häufig sind beide sogar eng aufeinander bezogen. Pop-Musikstücke werden oft in den popliterarischen Texten anzitiert oder die Struktur der Texte ahmt die Musik nach. Andererseits nimmt die Popmusik Textzeilen aus der (Pop-)Literatur auf, wie dies etwa in Deutschland am prominenten Beispiel der Hamburger-Schule-Band Blumfeld zu beobachten ist. Zum Stilverbund zählt ebenfalls eine bestimmte Form von Intermedialität der Texte dazu. Nicht selten finden z. B. poppige Bilder, Popzeitschriftencover, Bilder von Pop-Objekten in den Büchern der Popliteratur Eingang.

Vor dem Hintergrund, dass Hecken diese sieben Merkmale in Anbetracht der verschiedensten Popphänomene, die von Musik über Multimedia, Ökonomie, Kunst, Mode, Politik, Presse, Technologie und Marketing zu TV und Film reichen, formuliert hat, kann an dieser Stelle eine kleine Abwandlung der Merkmalsliste vorgenommen werden. Bezogen auf die spezielle Textsorte Popliteratur scheint die Differenzierung von Oberflächlichkeit, Äußerlichkeit und Immanenz nämlich nicht wesentlich zu sein. Allen drei Merkmalen ist in literarischer Hinsicht die Absage an klassisch poetische Formen und Figuren, psychologische Konsistenz und stringente Narrative eigen. Stattdessen bedeuten Oberflächlichkeit, Äußerlichkeit und Immanenz gleichsam das Programm der Fluktuation, die Schnelligkeit und Gebrochenheit von holistischen Ansätzen. So kann man die sieben Merkmale für die folgende Analyse schließlich auf fünf beschränken und die drei Merkmale Ober­flächlichkeit, Äußerlichkeit und Immanenz unter dem Stichwort ›Oberflächlichkeit‹ subsumieren.

[...]


[1] Die Differenzierung zwischen Pop und populärer Kultur oder Populärkultur wird in der Forschung nur selten vorgenommen, was nicht zuletzt zur Unschärfe der Begriffe beiträgt. Vgl. etwa die Verwendung des Begriffs ›Populärkultur‹ in Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006.

[2] Vgl. Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012 . Bielefeld 2012, 88-106, 97.

[3] Die Collage zeigt u. a. einen muskulösen Mann in Unterhose, der einen überdimensionalen kugelförmigen Lollipop wagerecht in Höhe seiner Hüften trägt. Der Lolli trägt die Aufschrift Lolli (klein) und Pop (groß) und bildet das Zentrum der Collage.

[4] Vgl. Frank Degler/ Ute Paulokat: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn 2008.

[5] Jörgen Schäfer: »Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit«. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Pop-Literatur. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband. München 2003, 7-25, 7.

[6] Dirk Frank: »Literatur aus den reichen Ländern«. Ein Rückblick auf die Popliteratur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski/ Till Huber/ Jan-Noël Thon (Hrsg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin 2011, 27-51, 41.

[7] Frank Degler/ Ute Paulokat: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn 2008, 8.

[8] Benjamin Lebert steht seit einiger Zeit im Hoffmann und Campe Verlag unter Vertrag. Die entscheidende Veröffentlichung Crazy (1999) wurde jedoch von Kiepenheuer & Witsch getätigt.

[9] Der komplette Titel lautet: Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe und geht auf einen Running Gag aus der Harald-Schmidt-Show zurück.

[10] Der komplette Titel lautet: und müsste ich gehen in dunkler Schlucht.

[11] Vgl. Dirk Frank: »Literatur aus den reichen Ländern«. Ein Rückblick auf die Popliteratur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski/ Till Huber/ Jan-Noël Thon (Hrsg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin 2011, 27-51, 41.

[12] Rainald Goetz: Ein Pamphlet für den Ernst. In: Die Zeit Nr. 16 vom 11. April 2013.

[13] Eckhard Schumacher: Das Ende der Popliteratur. Eine Fortsetzungsgeschichte (Teil 2). In: Olaf Grabienski/ Till Huber/ Jan-Noël Thon (Hrsg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin 2011, 53-67, 54.

[14] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106.

[15] Diedrich Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln 1999, 273.

[16] Ebd.

[17] Vgl. ebd., 275 f.

[18] Ebd., 278.

[19] Moritz Baßler: »Das Zeitalter der neuen Literatur«. Popkultur als literarisches Paradigma. In: Corina Caduff/ Ulrike Vedder (Hrsg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwarts­literatur. München 2005, 185-199, 191.

[20] Diedrich Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Marcel Hartges/ Martin Lüdke/ Detlef Schmidt (Hrsg.): Pop. Technik. Poesie. Die nächste Generation. Literaturmagazin Nr. 37, Reinbek 1996, 36-44, 38f.

[21] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012 . Bielefeld 2012, 88-106, 88 f.

[22] Moritz Baßler: »Das Zeitalter der neuen Literatur«. Popkultur als literarisches Paradigma. In: Corina Caduff/ Ulrike Vedder (Hrsg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwarts­literatur. München 2005, 185-199, 186.

[23] Ebd., 185.

[24] Thomas Hecken: Die verspätete Wende in der Kultur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski/ Till Huber/ Jan-Noël Thon (Hrsg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin 2011, 13-26, 14.

[25] Vgl. Frank Degler/ Ute Paulokat: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn 2008, 7.

[26] Sascha Seiler spricht von einer »Implosion« des Pop-Phänomens im Jahre 2002. Vgl. Sascha Seier: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006, 16.

[27] Vgl. Moritz Baßler: Pop-Literatur. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band III . Berlin 2003, 123.

[28] Dirk Frank: »Literatur aus den reichen Ländern«. Ein Rückblick auf die Popliteratur der 1990er Jahre. In: Olaf Grabienski/ Till Huber/ Jan-Noël Thon (Hrsg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre. Berlin 2011, 27-51, 29.

[29] Vgl. Moritz Baßler: Pop-Literatur. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band III. Berlin 2003, 124.

[30] Frank Degler/ Ute Paulokat: Neue deutsche Popliteratur. Paderborn 2008, 7.

[31] Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009. Bielefeld 2009, 278.

[32] Frühe Popautoren wie H.C. Artmann und Rolf Dieter Brinkmann bezeichneten ihre Popliteratur selbst auch als »Anti-Literatur«. Vgl.: Kerstin Gleba/ Eckhard Schumacher: 1964. In: Dies.: Pop seit 1964. Köln 2007, 17-24, 18.

[33] Kerstin Gleba/ Eckhard Schumacher: 1964. In: Dies.: Pop seit 1964. Köln 2007, 17-24, 17.

[34] Sandra Mehrfort: Popliteratur. Zum literarischen Stellenwert eines Phänomens der 1990er Jahre. Karlsruhe 2008, 46.

[35] Rainald Goetz: Hirn. Frankfurt/M. 1986.

[36] Thomas Hecken: Pop: Aktuelle Definitionen und Sprachgebrauch. Auf: pop-zeitschrift.de, September 2012. http://www.pop-zeitschrift.de/wp-content/uploads/2012/09/hecken-aufsatz-pop­definitionen-gegenwart-pop-zeitschrift.pdf, 1.

[37] Vgl. Moritz Baßler: Pop-Literatur. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band III. Berlin 2003, 123.

[38] Georg M. Oswald: Wann ist Literatur Pop? Eine empirische Antwort. In: Wieland Freund/ Winfried Freund (Hrsg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München 2001, 29-43, 30.

[39] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106, 89.

[40] Ebd.

[41] Theodor W. Adorno/ Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. 2003, 133.

[42] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106, 90.

[43] Ebd.

[44] Ebd.

[45] Vgl. Leslie A. Fiedler: Cross the border – close the gap. New York 1972.

[46] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106, 97.

[47] Platon: Phaidon (65b,6 f.) In: Platon: Sämtliche Werke übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Bd. 2. Reinbek bei Hamburg 2004, 119.

[48] Vgl. Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009. Bielefeld 2009, 265 f.

[49] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106, 97.

[50] Ebd.

[51] Ebd., 98.

[52] Ebd.

[53] Ebd.

[54] So der Untertitel des Werkzyklus’ Heute Morgen von Rainald Goetz in Anlehnung an eine Vokabel Michel Foucaults.

[55] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106, 98.

[56] Moritz Baßler: »Das Zeitalter der neuen Literatur«. Popkultur als literarisches Paradigma. In: Corina Caduff/ Ulrike Vedder (Hrsg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005, 185-199, 187.

[57] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106, 98.

[58] Moritz Baßler: »Das Zeitalter der neuen Literatur«. Popkultur als literarisches Paradigma. In: Corina Caduff/ Ulrike Vedder (Hrsg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwarts­literatur. München 2005, 185-199, 187.

[59] Thomas Hecken: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: Moritz Baßler et al. (Hrsg.): Pop. Kultur und Kritik. Heft 1 Herbst 2012. Bielefeld 2012, 88-106, 99.

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Sternchen, Raute: Elemente des Pop bei Rainald Goetz
Hochschule
Universität Hamburg  (SLM II)
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
76
Katalognummer
V279268
ISBN (eBook)
9783656738398
ISBN (Buch)
9783656738381
Dateigröße
1086 KB
Sprache
Deutsch
Arbeit zitieren
Kristin Maria Steenbock (Autor:in), 2013, Sternchen, Raute: Elemente des Pop bei Rainald Goetz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/279268

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